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Das Meer

Auf einem Felsen am Meer saß Amynt mit seinem Sohne, dem zarten Hilkar. Lange schon hatte sich der Knabe nach diesem Augenblicke gesehnt, denn er hatte viel gehört von der Meeresfläche und der Gewalt ihres Anblicks.

Oft hatte er gebeten: O Vater, nimm mich mit auf die Höhen, daß ich niederfallen möge vor der großen, erhabenen Natur, die sich dort offenbart in dem unermeßlichen Wasserreiche!

Aber Amynt wollte ihm das hohe Schauspiel erst gewähren, wenn sein Geist fähiger sein würde, die Wunder der Schöpfung zu fassen. Jetzt war die Zeit gekommen, wo er ihn würdig fand, Gott anzubeten in dem erhabensten Tempel seiner Allmacht.

Ein leises Sturmgewölk zog empor, die Wellen stiegen in unruhiger Bewegung hoch und höher, und die Brandung brach sich schäumend an der Felswand, von deren Höhe der Knabe schwindelnd hinab sah in das schrankenlose Reich.

Lange stand er und starrte in die Ferne, dann klammerte er sich fester an den Vater und rief: »O halte mich, Vater, mir wird so seltsam zu Sinn bei diesem unermüdlichen Kämpfen und Ringen der Flut! Ich habe mir das Meer als ein Bild ruhiger Größe gedacht, aber dieser rastlose Kampf widerspricht ihm. Ein heimliches Grauen übermannt mich bei seinem Anblick, und ich schaue geängstigt und beklommen in die empörte Tiefe hinab.«

»Du siehst das Meer vom Sturme bewegt,« entgegnete der Vater. »Keiner vermag in diesem Aufruhr die ruhige Erhabenheit zu entdecken, die ihm sonst eigen ist. Es gleicht dem Menschen, den Gott zu seinem Ebenbilde erschuf, den aber der Kampf wilder Leidenschaften weit von seinem erhabenen Vorbild entfernte.

Betrachte dies Wogengewühl, wie es sich unruhig emporhebt und eine Welle die andre überragen und darniederschlagen will. Sie möchten alle den Himmel erstürmen, dessen Bild längst aus der unruhigen Flut entschwand.

So langt der Mensch, von leidenschaftlicher Begier entstellt und verblendet, vergebens nach den Sonnenhöhen des Friedens, des dauernden Glückes. Mit ungestümer Hand will er zu sich herabziehn, was nur als ein freies Pfand göttlicher Huld in des Sterblichen Schoß fallt. Aber fern und ferner schwindet ihm das ersehnte Gut, und wenn er es endlich errungen zu haben meint, so war es nur Dunst und Wolkenschatten gleich diesem, in dessen Nebel die unruhige Welle ihr Haupt taucht.«

»Aber des Friedens seliges Bild,« erwiderte Hilkar, »darf es sich nimmer der Sehnsucht kund geben?«

»Möge die Natur, mein Sohn, dir selbst diese Frage beantworten!« sprach der Vater und verwies den forschenden Knaben auf den folgenden Tag.

Beide gingen nun die Höhe hinab, denn ein zweites Wetter zog empor, drohender denn das erste, und der Weg war noch weit zu dem Tal, wo ihre Hütten standen.

Aber am Morgen, als die Sturmnacht vorüber und der Himmel ein einziger blauer Saphir war, da weckte der Vater den schlummernden Knaben und zog ihn rasch mit sich fort und führte ihn auf die schimmernde Felshöhe.

Schon hatte sich die Sonne mit glühenden Wangen aus dem kühlen Flutenbett gehoben, schon tanzte ihr zitterndes Licht in tausend Schwingungen auf dem Meeresspiegel. Still und lautlos ruhte die unendliche Fläche im Purpurglanz des Morgens.

Sanft hoben sich die Wellen, wie die Pulsschläge eines friedlichen Herzens, und auf jeder Welle ruhte des Himmels Bild und das Antlitz der Sonne, als gehörten alle zu einem Reiche, denn die Grenzen der Höhe und Tiefe waren in eins verschmolzen durch den Widerschein des himmlischen Lichtes.

Aber der Knabe warf sich nieder in unaussprechlicher Rührung und faltete die Hände und sprach: »Ja, nun habe ich das Herrlichste gesehn, was die Erde gibt, das erhabene Bild der seligsten Ruhe.«

»So bewahre es tief in deinem Herzen, mein Sohn,« sprach der Vater, »es ist das Bild des in sich zufriedenen Gemütes! Wie der Himmel sich nur auf der ruhigen Fläche widerspiegelt, so wohnt die Tochter des Himmels, das Glück, auch nur in ungetrübten, friedlichen Seelen. Bewahre darum dein Herz rein von ungestümen Wünschen und Forderungen, so wird der Himmel darinnen wohnen und deine irdische Welt schon hier eins sein mit dem lichthellen Jenseits, wie jene Purpurfläche mit dem Firmament, zwischen denen das Auge keine Grenze zu entdecken vermag, weil über beide ein Lichtschleier geworfen ist, dem himmlischen Glauben ähnlich, der zwei Welten liebend zu einer verbindet.«


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