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Berlin ausgenommen, kenne ich keine Stadt im Reich, die sich seit einem Menschenalter so gewandelt hätte wie Straßburg. Aber Berlin ist nur eben aus einer unhistorischen, großen, armen eine ebensolche riesige, reiche Stadt geworden; der Grundcharakter ist derselbe geblieben. Anders hier; das alte, nicht überall schöne, aber im Charakter merkwürdig einheitliche Straßburg ist heute ein Gemisch von Alt und Neu; daneben ist im Norden und Osten eine gewaltige, im guten wie im unguten Sinn des Worts moderne Stadt erstanden; mehr als den Namen haben beide nicht gemein.
Natürlich galt mein erster Gang dem Münster. Noch ragt es »herrlich wie am ersten Tag«, trotz der Buntheit im Stil an Schönheit der einzelnen Teile an malerischem Reiz von keinem Dom der Welt übertroffen; noch übt das Innere durch die Größe und den Adel aller Maße, den rosigen Ton des Vogesensandsteins denselben licht-feierlichen Eindruck; noch ist der krähende Hahn der astronomischen Uhr um Mittag die Wonne aller Fremden und Taschendiebe; noch immer überblickt man von der Plattform ein gewaltiges Stück deutscher Erde. Aber das Stadtbild unten ist ein verändertes; in dem einstigen eintönigen Grau der Altstadt schimmert viel neues Weiß; wo sich einst gegen Osten der Festungswall erhob, hinter ihm das kahle Feld dehnte, gleißt nun im Sonnenschein eine Stadt wie von lauter Paläster; der Wall ist gesunken, aber weit draußen ragt auf mehr als eine Meile Entfernung ein neuer, von einem der vierzehn Riesenforts zum andern gespannt; Straßburg ist noch immer, nun erst recht, eine gewaltige Festung. Liebevoll wird das Münster erhalten und neu geschmückt: das Kreuz über der Turmlaterne, das ein Schuß 1870 schief legte, ragt längst wieder aufrecht; der Vierungsturm ist stilvoll abgeschlossen, das Chor mit hübschen Fresken geziert. Freilich, die häßlichen Arkaden unten sind noch nicht beseitigt, die alten Häuser dicht vor der Fassade stehen auch noch. Dicht daneben steht das einst schönste Wohnhaus Alt-Straßburgs, das Kammerzellsche Haus. Als ich es zuerst sah, war das Fachwerk über dem steinernen Erdgeschoß morsch und verwittert; wie eine ehrwürdige Greisin mutete es an, auf deren feinen Zügen doch noch ein Abglanz der einstigen Schönheit liegt. Heute gleicht es seinem Urbild, wie etwa das Liebesduett in einer Oper dem wirklichen Zwiegespräch eines zärtlichen Paars; die alten Fresken am Holzbau sind schrecklich schön erneuert und obendrein das Erdgeschoß bemalt – von Geschäfts wegen, denn was vor einem Menschenalter ein verfallendes Patrizierhaus war, ist nun eine »stilgerecht« hergestellte »altdeutsche« Kneipe. So verkündet das Haus heute nicht so sehr, wie die Inschrift über der Tür besagt, »in erneuter Pracht Alt-Straßburgs Herrlichkeit und Macht«, als vielmehr die traurige Wahrheit, daß alles seine Zeit hat und der Tod zumeist besser ist, als unwürdiges Leben ...
Dann suchte ich die Stätten der unvergeßlichen Feier von 1872 auf. Das alte Bischofsschloß, damals die Universität, steht noch, wird aber nun für das städtische Museum eingerichtet; wie einst, roch's auch heute hier nach frischem Mörtel. Ich trat in den Hof; hier, unter einem Zeltdach, fand die feierliche Eröffnung statt; hier hielt Anton Springer die Festrede, trotz seines deutsch-böhmischen Dialekts die wirksamste, die ich je im Leben gehört habe, dabei in der Zeitdauer so sorglich ausgerechnet, daß bei den Schlußworten: »Möge der Geist der Wahrheit, die Liebe zum Vaterlande nie aus diesen Räumen weichen! Das walte Gott!« die Mittagsglocken des nahen Münsters einfielen, ein Effekt ohne gleichen. Heute sind hier alte Römersteine aufgestellt; einige Herren, die sie besahen, sprachen »dütsch«, als ich näher kam, französisch ... Dann suchte ich das große Haus neben dem früheren Bahnhof auf, wo wir nach der Rückkehr vom Odilienberg am 2. Mai 1872 beim Kommers Scheffels Festlied zuerst gesungen hatten: »Stoßt an drum; Neustraßburg soll leben – Als Straße für geistfrisches Streben – Als Burg der Weisheit am Rhein!« Aber der Bahnhof war eine Markthalle geworden, und das Haus stand nicht mehr; an seiner Stelle erhebt sich die neue Synagoge ... Und als ich den alten, behaglichen Luxhof aufsuchen wollte, wo wir allabendlich gekneipt hatten, da fand ich ihn nicht mehr, er war abgebrannt. Dreißig Jahre! Und wie viele von den Jünglingen, die da mit mir um den kleinen, runden Tisch gesessen, waren nun schon tot. Besonders um einen that's mir leid, einen frischen, lieben, begabten Menschen; hier wurden wir Freunde und blieben es bis zu seinem frühen Tod; Carl Caro hieß er, der Dichter des einst oft aufgeführten Lustspiels »Die Burgruine« und einiger übermütiger Lieder, die noch heut gesungen werden, ohne daß die Leute seinen Namen wissen; am Tisch des »Luxhof« hat er sie uns zuerst vorgesungen. Dreißig Jahre! ... Ganz betrübt ging ich nach der Thomaskirche, wo ich einst eine vortreffliche Festpredigt angehört hatte, und dort endlich konnte ich wieder lächeln. Nicht über das einfache, uralte Kirchlein, auch nicht über das schöne Mausoleum, das seine größte Sehenswürdigkeit ist, aber über die Erklärungen des Sigrists; sie waren noch aufs Wort dieselben, über die Caro und ich einst Thränen gelacht hatten. »Dieses ist das hoch berühmte Mausoleum für den bekannten Marschall Moritz. Er wird von Sachsen genannt, weil ein starker sächsischer König und eine sächsische Gräfin, die ihrer Schönheit wegen Aurora oder Königsmark hieß, seine Eltern waren, aber er war Marschall von Frankreich. Sie sehen, wie er hier traurig die Treppe hinuntergeht, denn unten rechts steht ja leider schon der Tod und öffnet den Sarg, wo er sogleich hinein muß. Die Dame oben rechts, die ihn zurückhalten will, ist das Königreich Frankreich, und der große nackte Herr unten links, der sich betrübt auf seine Keule stützt, ist ein starker Römer, der sich Herkules geschrieben hat, denn dieser Moritz war auch stark.« Dann vor einer andern Sehenswürdigkeit: »Dieses ist der steinerne Sarg des Bischofs Archilochus aus dem IX. Jahrhundert. Weil dies aber eine protestantische Kirche ist, so sage ich ihnen: er war Katholik.« Das Merkwürdige ist nun, daß der Mann, wenn er die Schaustücke seinen Landsleuten »dütsch« oder französisch expliziert, keinen Unsinn schwatzt. Offenbar handelt es sich um eine nach der Eroberung von 1870 zu Geschäftszwecken (es wird Eintrittsgeld erhoben) hastig, vielleicht von einem Schalk hergestellte, hochdeutsche Übersetzung, die nun ein Kirchendiener nach dem andern memoriert. In Erinnerung war mir noch die Erklärung der trauernden Frauengestalt vor dem Denkmal des Professors Jakob Oberlin, weil sie Caro immer zitierte: »Diese Dame ist nicht die Frau Professorin, sondern die Wissenschaft; man erkennt es daran, weil sie so sehr trauert.« Nur in einem hatte sich der Text gewandelt. In einem der Kirchengewölbe wird auch unter Glas und Rahmen die Mumie eines Mädchens aufbewahrt: »Dieses ist die Tochter des Herrn Grafen von Nassau, sie war zwölf Jahre alt. Vor 1870 hatte sie noch Haare auf dem ganzen Kopfe, damals sind sie ihr ausgefallen.« Damals hieß es »vor 1848« und hatte also ein stumpfes Spitzchen gegen die Revolution: jetzt scheint fast eins gegen die Annexion daraus geworden ...
Den Eindruck, daß das letzte Menschenalter das Stadtbild gründlicher gewandelt hat, als die vier oder sechs, die ihm vorangegangen sind, hat man überall. Es sind dieselben Straßen mit denselben Namen, aber bis zur Unkenntlichkeit gewandelt. Wer vom Schloß die Ill entlang geht bis zur »Gedeckten Brücke« hin, mag, wenn er die Ufer übersieht und in die Gäßchen zur Rechten und Linken hineinguckt, getrost glauben, man schreibe etwa anno Domini 1620, wo eben die Furia des Glaubenskriegs losgebrochen; das Auge hat da größere Wonne, als an heißen Augusttagen die Nase, das ist wahr, aber malerisch und merkwürdig ist der Anblick. Und Ähnliches sieht man noch in manchen krummen Gäßchen der Altstadt; nur ist derlei heut die Ausnahme, während es 1872 die Regel war, und die Regel ist heute ein Gemisch von Alt und Neu. Das ist an sich natürlich; noch mehr, es ist höchst erfreulich, daß so zahllose Neubauten mitten zwischen den Giebelhäusern stehen oder sie ganz verdrängt haben; das deutet ja auf Thatkraft, Wohlstand, jähe Entwicklung, rasche Zunahme der Bevölkerung. Die Seelenzahl hat sich seit 1870 nahezu verdoppelt (nun etwa 160 000), der Sterblichkeitsziffer aber von rund 30 pro Tausend auf rund 22 verringert. Wahrlich, das sind Zahlen, die einen den Verlust von tausend alten Häusern verschmerzen ließen! Zudem sind die Kirchen und öffentlichen Bauten fast sämtlich erhalten; außer den schon erwähnten die Alt-St. Peters- und Wilhelmerkirche, das uralte Münsterlein St. Stephan, das Schloß, das schöne, vom Schöpfer des Heidelberger Friedrichsbaus erbaute »Hotel du Commerce« u. s. w., dazu manches stattliche alte Patrizierhaus. Aber dies Alte ist wunderschön, oder doch hübsch und zum mindesten malerisch, und das Neue ist zumeist unhübsch und nüchtern – dies allein finde ich bedauerlich und meine, daß es sich leicht hätte vermeiden lassen. Die Nürnberger z. B. haben es vermieden; sie reißen nun auch die alten, dumpfen Häuser nieder und bauen neue, luftige auf, aber in einem Stil, der, ohne die alten Muster sklavisch zu kopieren, doch gleichsam die Ehrfurcht gegen die greisen Nachbarn wahrt und den Charakter des Stadtbilds nicht zerstört. Hier ist das geschehen; die Neubauten zeigen alle erdenklichen Stilarten und -Unarten, die meisten sind nüchterne Häuser mit etwas protzigem Schmuck oder auch ohne solchen. Die Einheitlichkeit des Stadtbilds von 1870 ist dahin; geht das hier noch ein Menschenalter ebenso fort, dann wird diese Altstadt eine völlig uncharakteristische »moderne« Stadt sein, in der sich die Gotik des Münsters und die Renaissance des »Hotel du Commerce« seltsam ausnehmen werden.
Natürlich hat sich auch das Leben gewaltig verändert. Noch giebts hier vielleicht mehr Handwerker und Krämer als anderwärts, aber ein Wahrzeichen der Stadt ist ihre Zahl nicht mehr, und man findet sie nur noch in den engen krummen Gäßchen, nicht, wie einst, in den Hauptstraßen. Dort giebt's große Bazare, dort stattliche Niederlagen von Kleider-, Stiefel-, Wäsche- und Möbel-Fabriken, dort große Bierlokale und moderne Weinstuben; in den Gäßchen aber führen die armen Meister seufzend die Nadel, den Pfriem oder den Hobel, oder führen ihn auch nicht, sondern jammern mit dem Nachbar-Krämer über die neue, schlechte Zeit, wenn sie nicht eben in den kleinen Wirtsstübchen ihren Kummer und Zorn vertrinken. Es ist dieselbe Erscheinung wie überall, nur hier stärker sichtbar als anderwärts, weil Straßburg die Entwicklung von der altbehaglichen Kleinbürger- zur modernen Handelsstadt so jählings durchgemacht hat. Die Stadt ist heute wohlhabend, nicht allein durch die guten Grundstückgeschäfte mit dem Reichsfiskus, sondern auch durch die wachsende Steuerkraft der Bewohner. Straßburg ist der Hauptstapelplatz der Reichslande für Getreide; Weizen und Hafer wird importiert, Gerste und Hopfen exportiert; die Tabakmanufaktur, die Bierbrauerei, der Blumen- und Gemüsebau, die Schuh- und Kleiderfabrikation blühen; für die berühmten Gänseleberpasteten fließen jährlich etwa drei Millionen Mark in die Stadt. Auch ist sie nicht, wie einst befürchtet wurde, in sinkendem, sondern in steigendem Maße der Vermittler zwischen dem deutschen und dem französischen Handel und wird es erst recht werden, wenn der neue Rheinhafen ausgebaut ist. Dazu das viele, viele Geld, das die starke Garnison, das Beamtenheer, die blühende Universität in die Stadt bringen. Kurz, den Straßburgern geht's heute gut, aber sie rühren sich auch wacker. Welches Hasten in den Straßen! Nicht allein der anstellige, bewegliche Volkscharakter, auch die eiserne Notwendigkeit hat aus dem »Strosburjer Stekelburjer« (Pfahlbürger, wie die Kleinbürger im Gegensatz zu den Patriziern hießen) einen hastenden Großstädter gemacht. Die »verd- Prüße«, die »verfl- Schwowe« gründeten Fabriken, errichteten Bazare und Niederlagen; das Schimpfen nützte nicht dagegen; da machte man's ihnen endlich nach. Freilich – das sagte mir Jedermann – so rastlos wie im Ober-Elsaß wird hier nicht gearbeitet; bei den eigenen Landsleuten steht der Sohn der »wunderschönen Stadt« im Ruf der Gewandtheit, aber auch der Lässigkeit.
Da ist mir das geflügelte Wort wieder aus der Feder geglitten und es paßt doch heut' noch weniger als vor dreißig Jahren. Das gilt auch von den Denkmälern der Stadt, die älteren sind besser als der Nachwuchs. Davids »Gutenberg« (in Straßburg soll seine erste Presse gestanden haben) ist freilich kein Deutscher, sondern ein Franzose, aber doch eine gute Statue; eine stille stolze Entdeckerfreude liegt auf dem Antlitz: »Et la lumière fut«, sagt nicht bloß die Inschrift, sondern auch dieser Ausdruck der Züge. Fein und vornehm wirkt auch das Bronzestandbild Lezay-Marnesias, des besten französischen Präfekten, den Straßburg je gehabt hat, und zum mindesten höchst charakteristisch ist ein anderes Werk desselben Künstlers, Graß, das Kleber-Denkmal am gleichnamigen Platz – ohne Spur von monumentaler Ruhe und Größe, die Sphinx zu Füßen des Generals eine hübsche, aber sehr kokette Französin, die Hauptgestalt voll Pose und das Ganze doch voll Verve; ein redender Beweis, was in der französischen Bildhauerschule des XIX. Jahrhunderts an Gutem und Schlechtem zu lernen war. Nebenbei bemerkt, was alles kann dieser Kleberplatz dem Beschauer erzählen! – hier schlug einst Eulogius Schneider mitten zwischen den uralten Häusern der alten Reichsstadt, die noch wenig von Frankreich wissen wollte, die Guillotine auf und ertränkte den Widerstand der Patrizier in Strömen von Blut; hier, auf dem »Paradeplatz« zettelte Napoleon der Kleine 1836 seinen bald darauf kläglich endenden Putsch an, hier hielt er als Kaiser Heerschau über seine Bataillone; heut' ist's die Stätte rastlosen Lebens, wo sich alle Straßenbahnen kreuzen; in den Anlagen aber, die üppig aus dem blutgedüngten Boden aufsprießen, finden sich des Abends unzählige Liebespaare zusammen, als gelte es heut' die Lücken zu ersetzen, welche die Guillotine einst in die Zahl der Bewohner gerissen hat.
Und die neuen Denkmäler? Fast gilt von ihnen, was man in meiner Jugend von den Wiener Dramatikern sagte: »Gottlob, es sind nicht viele!« Der »junge Goethe« ist ja noch nicht sichtbar, aber das alte Haus auf dem Fischmarkt, gegenüber dem Kittelgäßchen, wo er beim Kürschner Schlag wohnte, haben sie mit einem sonderbaren Medaillonbild geschmückt; es zeigt den Jüngling von sonniger Schönheit als einen unhübschen, langnasigen, melancholischen Menschen. Der Straßburger Litterarhistoriker Froitzheim hat das Haus festgestellt – heut' ist ein »Magazin populaire« drin, ein Fünfzig-Pfennig-Bazar. Hätte Goethe so ausgesehen, die arme, schöne Friederike von Sesenheim hätte nicht ihr Herz an ihn verloren und wäre auch von den seltsamen Forschungen des Herrn Froitzheim über ihre Sittlichkeit verschont geblieben. In der Züricher Straße haben sie einen Brunnen mit der Büste Johann Fischarts hingestellt; ich habe mir die Züge des genialen Straßburger Satirikers eigentlich geistreicher gedacht, aber das steht dahin. Eins jedoch weiß ich: dieser Renaissancebrunnen ist so gemacht, wie jenes Bild des antiken Malers, der von dem einen Modell das schönste Ohr, vom andern die schönste Nase u. s. w. kopierte und dennoch ein fragwürdiges Kunstwerk zusammenbrachte; hier sind mit gleichem Enderfolg alle schönen Brunnen Deutschlands benutzt ... Viel größer noch ist ein Brunnendenkmal am Weinmarktplatz mit den Bildnissen der drei deutsch-elsässischen Dichter Ehrenfried, Adolf und August Stöber. Als ich in den Zeitungen davon las, freute ich mich darüber, denn das waren drei tüchtige Männer und begabte Dichter: Ehrenfried Stöber (1779-1835), der »Eckstein deutschen Wesens im Elsaß«, als Verfasser des Lustspiels in Straßburger Mundart »Daniel« wie als Schilderer heimischer Zustände für seine Landsleute vorbildlich, sein älterer Sohn August (1808-1884), der getreue Sagensammler und Balladendichter der Heimat, der jüngere Adolf (1810-1892), ein feiner Lyriker von edlem, sicherem Nationalgefühl. Auch fand ich's einen hübschen Gedanken, daß man das Denkmal auf dem alten Platz errichtete, wo ihr Familienhaus steht. Aber als ich nun vor dem Denkmal stand –, da freute ich mich wirklich viel, viel weniger.
Auf dem Heimweg vom Stöberdenkmal stieß ich auf ein altes Wahrzeichen Straßburgs, den »Ysere Ma«. Es ist die Erzfigur eines Gewappneten mit Lanze und Schwert, die einst ein Schwertfeger als Schild hoch oben an sein Haus stellte. Ich wäre vermutlich vorbeigegangen, ohne das Wahrzeichen zu bemerken, doch zeigte es eben ein Straßburger Bürger einem Vetter vom Lande; so sah ich's mir denn auch an und fragte den Straßburger, ob sich eine Sage d'ran knüpfe. »Excusez – weiß nix d'rvun«, erwiderte er mit höflichem Bedauern; es giebt thatsächlich keine solche Sage. Dann aber stach ihn der Haber, dem »Schwowe« eins auszuwischen. »Letschte Oschtere«, erzählte er dem Vetter, »isch üns' liewe Ysere Ma üs Paris heimkumme; da isch er uf d'r Exposition universelle gsi; er hat dort groß Sückzeß g'hett. Nadirli packt d'Berliner glych 's Schalusitätsfiewer (»Jalousietäts-Fieber«) un sie wollen ihn partout a kreije (kriegen). Awer m'r saaue (sagen): s' isch uns zu viel Ehr', sie müsschte sie gedulde, bis daß' emol grün schneit.« Die Beiden wollten sich ausschütten vor Lachen und auch ich war nicht betrübt. Wer eben vom Stöber-Denkmal kommt, weiß, daß es unter den Elsässern selbst in Zeiten, wo dies an den Kragen ging, gute Deutsche gegeben hat; nun gar, dacht' ich, wird alles kommen, wie es kommen muß. Zudem hatte der schalkhafte Mann mir zu Ehren die letzte Redensart unvollständig wiedergegeben, denn die vernünftigen Leute hier zu Lande pflegen zu sagen: »Biß daß a mol grün schneit, oder d' Franzose wieder kumme.«
Es wird auch im Elsaß alles kommen, wie es kommen muß; die deutschen Elsässer können und werden in dem für immer deutsch gewordenen Lande nicht ewig im Schmollwinkel stehen, und dann wird auch die soziale Kluft, die heute das Alt-Straßburg der Bürger vom Kaiserlich deutschen Neu-Straßburg trennt, sachte ausgefüllt sein. Heute besteht sie noch, und es ist kaum zu sagen, ob die alte und die neue Stadt, die denselben Namen tragen, sich mehr durch die Gesinnung ihrer Bewohner oder durch ihre Architektur von einander unterscheiden.
Wie aus der Erde gestampft ist dieses Neu-Straßburg in den letzten zwanzig Jahren emporgewachsen: prunkende Paläste, riesige Wohnhäuser, ungeheure Kasernen an breiten, schnurgeraden Straßen und höchst regulär abgezirkelten Plätzen, dazwischen moderne Kirchen und neue Anlagen, kurz eine jählings auf Kommando entstandene Stadt. Aber nicht bloß der Wille der neuen Gewalthaber, ihr berechtigter Wunsch, ihre Macht sichtbar zu verkörpern, auch die Notwendigkeit hat aus der Sand- und Ackerfläche zwischen der Altstadt und dem Festungswall das blinkende Steinmeer erstehen lassen, dessen grelles Weiß das Grau der Altstadt in breitem Gürtel im Norden und Osten, zuletzt auch im Süden umschließt und schon heute eine weit größere Fläche bedeckt als sie. Man brauchte Kasernen für das Besatzungsheer der Festung; die Franzosen hielten hier 1870 rund 18 000 Mann, die Deutschen jetzt in Friedenszeiten annähernd die gleiche Zahl. Welche Wohnräume ein solches Heer erfordert, kann sich die Phantasie schwer ausmalen; das Auge sieht's mit Staunen; außer dem alten Bau nahe dem Bahnhof und zwei neuen Riesencarrés im Norden ein ganzes Kasernenviertel im Südosten der Stadt; von der Metzgerthor- bis zur Pionierkaserne sind's rund zwei Kilometer, von der Kaserne am Nikolausring bis zum südlichen Zitadellenthor etwa ebensoviel, eine Entfernung wie in Berlin von dem Brandenburger Thor zum Rathaus. Also vier Quadratkilometer Kasernen, dazwischen das Arsenal, das Zeughaus, das Militärhospital, eine Garnisonkirche; das Kasernenviertel von Neustraßburg bedeckt einen weit größeren Flächenraum als die innere Stadt Wien! ... Man brauchte Räume für die Universität und ihre Institute; obwohl die medizinischen Anstalten im Süden, nahe dem Bürgerspital errichtet sind, und einen nicht zu kleinen Stadtteil für sich bilden, die Universitätsbibliothek wieder nach Norden gelegt ist, erstreckt sich das neue Universitätsviertel im Osten vom Kollegienhaus bis an die technische Schule etwa einen Kilometer weit! ... Man brauchte Amtsräume für die neue Verwaltung; Straßburg war unter französischer Herrschaft nur die Hauptstadt des Departements Bas-Rhin, nun ist's die einer großen Provinz; um den Kaiserplatz liegen die prunkvollen Bauten, die diesen Zwecken dienen. Vor allem aber brauchte man Wohnungen für das Heer von Offizieren und Beamten, Gelehrten und Studenten, für die andere, gewaltig hinzuströmende Bevölkerung. Gewiß war je eine Stadt nicht die Tochter einer Fürstenlaune, sondern der Notwendigkeit, so ist's Neustraßburg, gleichwohl ist dies jähe Wachsen merkwürdig, ja verblüffend. Vor zwanzig Jahren stand hier noch kein Stein auf dem andern; heute hat der Wanderer, der diese Stadt in ihrer ganzen Ausdehnung vom Nordwesten zum Südosten durchqueren wollte, eine halbe deutsche Meile zurückzulegen, annähernd dieselbe Entfernung, wie vom Brandenburger Thor zum Friedrichshain. Haus an Haus, Palast an Palast – und der älteste Bau ist 1884 vollendet! Nun wächst aber die Stadt noch immer; der Garten Contades, noch 1872 ein Ausflugspunkt, ist längst vom Häusermeer umschlossen; es dehnt sich jetzt bis an die Orangerie, die einst gar ein entlegener Park war, ähnlich wie der Tiergarten nun mitten in Berlin liegt, während die Häuserreihen bereits bis dicht an den Grunewald reichen. Auch die meisten anderen großen Städte im Reich sind ja seit 1870 in erfreulicher Entwickelung begriffen, aber so sinnfällig ist sie kaum irgendwo wie nächst Berlin in Straßburg. Freilich, Berlin und die meisten anderen Städte der Welt wachsen nach Westen; hier erstehen die Viertel der Reichen, während der Osten der Armut oder doch der Arbeit verbleibt; das ist eine so oft bestätigte Erscheinung, daß man ein Gesetz daraus ableiten könnte: wie viele Pflanzen wachsen auch die Städte der Sonne nach, nicht ihr entgegen. In Straßburg war's von je her anders; das vornehme Viertel war das östliche zwischen Schloß und Broglieplatz, im Westen, um die »Gedeckte Brücke« hauste und haust noch heute das Proletariat, denn dieses Viertel liegt tiefer und ist darum minder gesund als das Schloßviertel; die Vornehmen gingen nach Osten nur, weil sie mußten. Und ebenso hat ein zwingender Grund Neu-Straßburg hier und nicht im Westen erstehen lassen: die Erweiterung des Wallgürtels gab im Osten ein großes Terrain frei, im Westen ein kleines. Selbst wenn man zwischen dies Prunkviertel von Alt-Straßburg und die Neustadt die ärmlichen Quartiere im Westen hätte legen wollen, es wäre unmöglich gewesen. So gelangt man denn heute in zwei Minuten vom vornehmsten Platz Alt-Straßburgs, dem Broglie, zwischen dem neu aufgebauten Theater und der gleichfalls aus ihren Ruinen erstandenen Präfektur, wo jetzt der Statthalter haust, über ein Illbrücklein auf den Kaiserplatz, den stolzesten Neu-Straßburgs.
Aber dieser schmale Zweig der Ill scheidet, sagt' ich schon, zwei Welten: die langsam gewordene, trotz aller Neubauten noch altertümlich anmutende, und die moderne, die in zwei Jahrzehnten gemachte Stadt. Ähnliches ist auch anderswo zu sehen – überall giebt's alte und neue Viertel, aber Gleiches kaum irgendwo, weil eben hier das Alte gar so alt und das Neue gar so neu ist. Welche der beiden Städte malerischer, charakteristischer ist, braucht nicht erst gefragt zu werden, aber es wäre ungerecht, ja thöricht, Neu-Straßburg durch diesen Vergleich abzuthun. Wir können nicht bauen, wie Erwin von Steinbach oder Johannes Schoch, der Meister des »Hotel du Commerce«, und was das Wohnhaus des XX. Jahrhunderts betrifft, so wollen wir's auch gar nicht. Neu-Straßburg will mit dem Maß unserer Tage gemessen sein, und so angeschaut, ist's ein im Ganzen erfreuliches Stadtbild; durchaus modern, für den heutigen Stand deutscher Baukunst, und zwar natürlich ebenso für das Gute, wie das minder Gute dieser Kunst höchst bezeichnend.
Unsere Vorfahren zogen enge, wir breite Straßenzüge; das ist verständig; wir wissen nun, daß Luft und Licht die besten Ärzte sind. Nur muß auch hier ein gewisses Maß eingehalten sein; wir machen zu breite Straßen, darunter leidet der Eindruck des Straßenbildes, auch wenn es sonst hübsch wäre. Ins Maßlose geht dies vielfach im neuen Berlin; diese Straßen sind gleichsam Zwitter von Straße und Platz, sie machen den Eindruck von unheimlich langen und schmalen, schlauchartigen Plätzen. Dieser Fehler ist auch im Innern Neu-Straßburgs nicht überall vermieden; an der um die Stadt laufenden Ringstraße könnten vollends nur ragende Paläste zur Wirkung kommen; im Ganzen aber ist das richtige Maß eingehalten.
Je rascher eine Stadt ersteht, je dringlicher das Bedürfnis nach Wohnungen ist, desto unsolider pflegt die Bauweise zu sein. Unsere Ahnen bauten ein Haus für sich, eine Wohnstätte für ihr Geschlecht mit dem Traum, daß sie es bis in die fernsten Tage bleibe; heute bauen Gesellschaften oder Einzelne in der Absicht, mit Nutzen zu verkaufen, sobald das Dach gesetzt ist. Es giebt Häuser in Berlin, auf Schöneberger und Charlottenburger Grund, die, vor zehn Jahren erbaut, schon jetzt alt aussehen und in zwanzig Jahren wacklig sein werden; selbstverständlich kann man auch hier viele solche Häuser sehen, aber doch nicht mehr, sondern weniger, als man voraussetzen möchte. Das sagten mir selbst die Elsässer, die der Neustadt nicht grün sind. Also auch dies ist besser als anderwärts, und das Protzen mit billigem, schlechtem Schmuck nicht schlechter. Auch hier giebt's Marmor und Alabaster aus Stuck, falsches Gold, gemalte Mosaiken, Talmi-Bronzen, Glasmalereien aus der Fabrik u. s. w. Aber das ist keine Schwäche Neu-Straßburgs, sondern menschliche Schwäche, die nur heute ins Ungeheure gesteigert erscheint.
Über das Geschmacksniveau der Zeit kann sich nur ein Einzelner erheben, nie eine Gesamtheit; das gilt auch von den Fassaden dieser Wohnhäuser. Der Stil unserer Zeit ist, für das Wohnhaus keinen Stil zu haben; jeder macht, was er will und kann, und benutzt die Muster, die ihm geläufig sind. Auch hier trifft man romanische, gotische, Renaissance- und Rokokohäuser in buntem Gemisch, dazwischen ganz nüchterne Zinskasernen, die durch das bißchen Stuck oder die gußeisernen Balkondrachen noch armseliger erscheinen. Ganz so, wie etwa in einem Viertel Neu-Berlins sieht's übrigens nicht aus, schon weil hier die Häuser breiter und minder tief gebaut werden, aber etwa wie in den neuen Straßen von Karlsruhe oder Stuttgart, also süddeutsch und gar nicht französisch. Alles in Allem: legt man das Durchschnittsmaß unserer Zeit an, so braucht sich Neu-Straßburg seiner Wohnhäuser nicht zu schämen; an Talenten ist unter den hiesigen Architekten sichtlich kein Mangel; einzelne Häuser sind sehr hübsch, nur läßt eben das heillose Stilgemenge zu keinem harmonischen Gesamteindruck kommen. Das ist schade, denn es hätte sich hier leichter erzielen lassen als anderwärts. Fast all diese Häuser sind ja gleichzeitig entstanden, ein bißchen sanftes Zureden an Bauherrn und Architekten hätte die grelle Buntscheckigkeit verhindert.
Bunt genug sehen zum guten Teil auch die Monumentalbauten Neu-Straßburgs aus. Alles prächtig, kostspielig, gediegen, aus bestem Material; wie an Geld ist auch an Raum nicht gespart, was hier in der neuen Stadt ja freilich auch nur eine pure Geldfrage war; das Meiste in seiner Art gut, aber das Ganze doch – nur den Kaiserplatz abgerechnet – eine hübsche Mustersammlung zur Geschichte der Baukunst, nicht ein einheitliches Pracht- und Prunkviertel. War je die Gelegenheit dazu geboten, so hier; sie ist leider nur auf dem Kaiserplatz genützt worden.
Bedauerlich ist auch, daß der stolzeste Bau dieses Platzes, wie Neu-Straßburgs überhaupt, der Kaiserpalast, in den Dimensionen mißraten ist. Was dem sehr begabten Künstler vorschwebte, war sichtlich ein Riesenbau; der Stil – Florentiner Renaissance – wirkt nur in großen Maßen wuchtig und monumental, in kleinen leicht plump. An einem solchen Riesenpalast hätte auch der Säulenvorbau mit Balkon und Giebel, der reiche Skulpturenschmuck, die mächtige Kuppel ruhig und feierlich gewirkt. Anders heute, wo sie an dem vergleichsweise kleinen Bau von rund 70 Meter Front und etwa 30 Meter Höhe (ich habe freilich nur mit den Augen schätzen können) unruhig und lärmend wirken. Das Malheur voll zu machen, liegt der kleine, plumpe Palast mit dem Riesenschmuck der Kuppel und der Statuen auf gleichem Niveau wie der Platz und sieht daher wie in die Erde gedrückt aus, etwa so, als hätte man einem vierschrötigen Kerlchen einen gleißenden Riesenhelm aufgesetzt, unter dessen Wucht es in die Kniee geknickt ist. Spricht man mit einem Elsässer darüber, so jammert er über das viele Geld, das hier unnütz verthan sei; ganz mit Unrecht, die 2½ Millionen flossen aus Reichsmitteln, und von Verschwendung kann hier nicht die Rede sein, sondern vom Gegenteil. Mit 2½ Millionen schafft man keinen imponierenden Palast mit üppigem Skulpturenschmuck, entweder mußte man das Dreifache gewähren oder, wenn man sparen wollte, einen andern Stil wählen; wie sehr die Wirkung eines Bauwerks auch von den Maßen abhängt, wie verhängnisvoll ihre willkürliche Reduzierung ist, sieht man selten so deutlich wie hier ...
Dem Kaiserpalast gegenüber liegt die Bibliothek und das Gebäude des Landesausschusses, auch sie im selben Stil mit Säulenvorbau, Kuppeln und Statuen, beide minder phantastisch und besonnener erdacht als der Palast, auch in den Dimensionen harmonischer, im Gesamteindruck monumentaler, wenn auch im Detail gewiß nicht talentvoller. Gegen die Altstadt hin bleibt der Platz frei, hier schließt das drüben liegende Theater und die Residenz das Bild ab; nach der Nordseite hin sollen sich die Ministerien erheben. Ist einmal der Platz ausgebaut, so wird er zweifellos trotz kleiner Mängel nicht allein einer der prunkvollsten, sondern auch der schönsten Deutschlands sein. Es war eine gute Idee, auf demselben Platze die kaiserliche Macht, die Wissenschaft und das eigene, in der Selbstverwaltung ausgeprägte Leben des Reichslands zu verkörpern. Und kann man auch schwer den Gedanken bannen, daß in der Stadt, wo die Gotik, die deutsche Renaissance und das Rokoko durch so Herrliches oder doch Schönes vertreten sind, einer dieser Stile naturgemäßer gewesen wäre als der hier gewählte, daß man die scharfe äußere Scheidung von Allem, was drüben seit einem Jahrtausend deutsche Bürgerkraft geschaffen, lieber hätte vermeiden sollen, so erweist sich doch auch hier, daß die Florentiner Renaissance ein trefflicher Prunkstil ist, etwas kalt, aber von pompöser Wirkung. Hoffentlich verdirbt man diese Wirkung nicht, indem man für die Ministerien einen andern Stil wählt.
Was man, den Kaiserplatz abgerechnet, in Neu-Straßburg an öffentlichen Bauten sieht, ist, sagt' ich schon, recht bunt. Das Katastergebäude deutsche Frührenaissance, die evangelische Garnisonkirche Frühgotik, die katholische Spätgotik, die Kreisdirektion und die Realschule deutsche Spätrenaissance, der Justizpalast und die Herz-Jesu-Kirche italienische Renaissance, romanisch wieder ist die Synagoge. Talentvolle, zum Teil schöne Bauten, nur erscheint das Ganze, unmittelbar nach einander betrachtet, so künstlich, so unhistorisch, so unorganisch, so unruhig, und das liegt nur an dem bunten Wechsel der Formen und dem Mangel an rechter Beziehung zwischen dem Zweck des Bauwerks und seinem Stil. Warum z. B. muß die evangelische Garnisonkirche die herben Formen der Frühgotik nachstammeln, warum die Synagoge die des Hochromanismus? Gegen beide Bauten läßt sich sonst nichts sagen, aber wo uns die Form ausgeklügelt und willkürlich erscheint, da leidet der Eindruck.
Anderes wieder ist gar zu nüchtern, z. B. die Zolldirektion in echtem Berliner Zinshausstil, oder arg verhauen, wie das riesige Hauptpostamt, heute der größte Profanbau Straßburgs, der ein ganzes Häuserkarree einnimmt. Das ist nicht gut, denn nun kann man sich überzeugen, daß er von allen vier Himmelsrichtungen gleich häßlich aussieht. Damit wird jeder Beschauer bald fertig sein, aber andere Fragen werden ihn lange beschäftigen. Zunächst, was das wohl für ein Stil sein mag; Einiges ist gotisch, Anderes in Renaissance und wieder Anderes ist überhaupt nichts als eben Mauerwerk mit Fenstern drin. Der Bau hat seine Geschichte; als die Architekten des Reichspostamts mit den Plänen hervortraten, protestierte alle Welt dagegen, sogar die zu Hilfe gerufene Berliner Akademie der Künste, aber dem Postbismarck Stephan gefiel's, der angedrohte Plan wurde ausgeführt. »Schön wie ein Traum«, pflegt man zu sagen, aber »häßlich wie ein Traum« hat auch seine Berechtigung; in der Wirklichkeit sollt' es so was gar nicht geben. Aber das ist nur eine ästhetische, nur eine praktische Frage: Ist ein Postamt fürs Publikum da oder das Publikum fürs Postamt? Hier ist das Erste verneint, das Letzte mit einer Rücksichtslosigkeit bejaht, die überall tadelnswert wäre; in Straßburg, inmitten einer widerstrebenden, erst sachte zu gewinnenden Bevölkerung, war's eine Sünde. Das Hauptpostamt ist etwa eine Drittelmeile vom Bahnhof und dem Geschäftsviertel, ebensoweit von den wichtigsten Hotels entfernt; der Geschäftsmann, der Fremde und wer auch immer nach acht Uhr noch telegraphieren will, hat eine Reise zu machen; im Viertel aber, wo es steht, giebt es wenig Postverkehr. Auch dagegen – und dagegen erst recht – wurde, so lang es Zeit war, Sturm gelaufen; Herr von Stephan gab auch in diesem Punkt nicht nach. Und doch war er ein feingebildeter Mann, liebte das Elsaß, wo er oft seine Ferien zubrachte, und hatte sonst bestes Verständnis für die Bedürfnisse des Publikums; aber eigensinnig war er zuweilen freilich bis zum Unbegreiflichen ...
Um die Betrachtung des monumentalen Neu-Straßburg mit etwas Erfreulichem abschließen zu können, habe ich mir ein Wort über das lateinische Viertel für den Schluß aufgespart. Einen schöneren, größeren, zweckdienlicheren Bau, als er heut dasteht, hat sich gewiß auch im Mai 1872 niemand von uns im Traum ausgemalt. Wer vor dem gewaltigen Kollegienhaus (in italienischer Renaissance, wie die Bauten am Kaiserplatz) steht und zu der Pallas Athene über dem Mittelbau emporblickt, den säulengetragenen Lichthof übersieht oder in der prächtigen Aula verweilt, darf Stolz über das Beste empfinden, was wir Deutschen haben. Auch die Bauten für die einzelnen Institute suchen ihres Gleichen. Kommt man dann ins Kasernenviertel, so denkt man sich: »Nun ja, das Reich der Deutschen ist nun auch von dieser Welt, und wir brauchen auch Kasernen; so lang wir darüber nicht vergessen, was unser höchster Besitz und unser edelster Stolz ist, steht es gut um uns!«
In der Neustadt wohnen auch viele Elsässer, aber hier überwiegen die »Altdeutschen«, wie in der Altstadt die Einheimischen. Man erkennt dies leicht, denn sie unterscheiden sich auch ein wenig für den Blick von einander, noch mehr fürs Ohr. Gewiß, Deutsche sind auch die Elsässer, nur in den höchsten Schichten sieht man zuweilen den Zusatz französischen Bluts, aber sie kleiden sich eleganter als die Eingewanderten, haben auch andere Manieren; ob bessere, das ist Geschmackssache. In der Damen-Mode ist Straßburg ein Klein-Paris; die Straßburgerin kleidet sich chik, aber auch auffallend; gegen dunkle Farben hat sie dieselbe Abneigung wie ihr Vorbild an der Seine; schwarz kleidet sich nur das arme Mädchen, das, gleichviel wie, sein Brot verdienen muß. Sie ist graziöser als die Norddeutsche, aber auch recht kokett, und in der Anwendung von Verschönerungsmitteln, oder was man so nennt, minder bedenklich als – Gottlob! – unsere Frauen. Eleganter tragen sich auch die Herren: die Schneiderrechnung des elsässischen Anwalts oder Arztes ist gewiß doppelt so groß als die seines preußischen Kollegen; auch der bessere Handwerker, der Kommis putzen sich nach Kräften heraus; freilich sah ich an einem Sonntag in der Orangerie Anzüge, die noch einem totkranken Hypochonder ein Lachen abgenötigt hätten. Auch in den Umgangsformen ist das französische Vorbild unverkennbar, freilich – wie's bei jeder absichtsvollen Nachahmung geht – ein im Guten selten erreichtes, im Schlimmen überbotenes Vorbild; was der wackere Straßburger Drechslermeister und Dichter Daniel Hirtz den vornehmsten seiner Mitbürger um 1840 vorwarf, daß sie's »afficht triewe« (treiben), könnte er heute einem weit größeren Kreise ins Stammbuch schreiben. Eine Annäherung an die Sitten und Umgangsformen in Deutschland hat seit 1870 jedenfalls nicht stattgefunden; das bestätigten mir »Altdeutsche« und Elsässer, wie es mich auch meine eigenen Augen lehrten.
Und die Sprache?! Hier nun gar gebe ich keineswegs bloß subjektiv Eindrücke, sondern das Ergebnis so sorglich und so zahlreich, als in vier Tagen möglich, eingezogener Erkundigungen. Die Kenntnis des Hochdeutschen hat natürlich in den letzten 30 Jahren, dank dem Zuzug, dank der Schule und weil ja deutsch die offizielle Sprache ist, ungemein zugenommen; nur der Proletarier kann nicht hochdeutsch sprechen, sonst jedermann. Aber diese Kenntnis wird nur soweit genützt, als es eben sein muß, und um keinen Satz mehr; hochdeutsch spricht der Elsässer nur mit dem »Altdeutschen«, von dem er amtlich oder geschäftlich abhängig ist, nie mit seinem Landsmann; mit dem spricht er »dütsch« oder französisch. Man kennt die Anekdote von dem Engländer, der in Leipzig in einen Laden mit der Aufschrift »English spoken« tritt und auf die Frage, wer hier englisch rede, die Antwort erhält »Merschdendhels die Fremden«; das Hochdeutsche als Umgangssprache ist in Straßburg auf die »altdeutschen« Kreise beschränkt. Anders das Französische. In der letzten Regierungszeit Napoleons III. beherrschte (nach einer Feststellung von 1866) etwa ein Drittel der Gesamtbevölkerung das Französische in Wort und Schrift; das zweite Drittel konnte es nicht schreiben, aber verstehen und sprechen oder doch radebrechen; das letzte verstand und sprach nur die Mundart. Genaue Kenner der Bevölkerung, darunter Beamte und Lehrer, die es wissen müssen, haben mich versichert, daß sich diese Verhältnis-Ziffern, was die einheimische Bevölkerung betrifft, nicht unerheblich verschoben haben; von den Eingeborenen, die etwa 7/12 der Gesamtbevölkerung bilden, könne nicht, wie einst, jeder Dritte, sondern jeder zweite Straßburger französisch sprechen und schreiben; von der anderen Hälfte verstehe es wieder jeder Zweite so leidlich; nur etwa ein Viertel sei heute der Sprache ganz unkundig. Das sei, meinten Einige, doch auch an sich keine betrübliche Erscheinung. Gewiß nicht; »quot linguae, tot animae«, und in diesem Grenzland hat das Französische naturgemäß mehr Bedeutung als rechts vom Rhein. Aber erwägt man, daß das Französische in der Schule nicht gelehrt wird, daß sich diese Verbreitung innerhalb eines Menschenalters deutscher Herrschaft vollzogen hat, so giebt die Thatsache zu denken. Zu ihrer Erklärung reicht gewiß nicht aus, daß die Leute von der Notwendigkeit des Französischen überzeugt seien; man muß den alemannischen Trotz und die andauernde Sympathie für Frankreich in Rechnung ziehen. Auch als Umgangssprache hat das Französische (immer in Hinblick auf die einheimische, nicht auf die Gesamtbevölkerung ausgesprochen) zugenommen – und zwar auf Kosten der Mundart; in manchen Kreisen, die vor dreißig Jahren untereinander nur in der Mundart sprachen, wird nun auch französisch parliert. Allerdings wird der Fremde geneigt sein, diesen Gebrauch zu überschätzen, denn in Hörweite des »Schwowe« spricht der Straßburger ganz besonders gern französisch, auch wenn's ihm ein wenig hart ankommt. Anders, wenn er sich harmlos unter Landsleuten oder im Hause bewegt; da ist's nur in einem engen Kreise Gewohnheit, französisch zu sprechen.
Die Straßburger Mundart, ein Zweig des Alemannischen, klingt einem zunächst wie »Schwizerdütsch« ins Ohr: das »e« und »en« werden abgeworfen, »Stub«, »asse« (essen); das »a« wird »o«, die Diphthonge zu langen Vokalen, das »g« am Schlusse klingt wie ein »j«, das »u« wird zum »ü«; »Stroßburj« = Straßburg, »min« = mein, »Hüs« = Haus. Dann merkt man die Unterschiede: der wichtigste ist der Mangel an Gutturallauten, die im Schweizer Dialekt so überreichlich vertreten sind, daß Gottfried Keller 1886 in meinem Beisein scherzen konnte, wer zuerst in die Schweiz komme, könne glauben, daß sich alle Leute erbrechen wollten. Merkwürdig ist namentlich der Einfluß des Französischen auf den Dialekt. Daß »Affrunt« Beleidigung, »Ambra« (embarras) Verlegenheit, »Laretrait« Zapfenstreich bedeutet, leuchtet einem sofort ein; andere Ausdrücke sind so germanisiert, daß man sie mühsam erkennt. Mein Droschkenkutscher erzählte mir stolz, seine Braut habe zweitausend Mark auf der »Kestebank«; als ich fragte, was das für eine Bank wäre, meinte er erstaunt, derlei gebe es ja in Berlin gewiß erst recht, dort seien die Leute so sparsam. Endlich stellte sich heraus, er meinte eine Sparkasse (»Caisse d'epargne«). Im Gewirr des »kleinen Frankreich« an der Ill fragte ich eine alte Frau nach der »Gedeckten Brücke«, »'s Bunggewehr? – do!« (»Pont couvert«.) Und »Kanapee« heißt »Kanabett«, eine Kerze aber gar »Schandellicht«! So stark ist der unbewußte Drang des Volksgeistes, das Fremde in Eigenes zu wandeln.
Auch auf die Syntax hat das Französische Einfluß geübt. Ich besuchte einen lieben alten Freund, einen Norddeutschen, und verabredete mich mit ihm und seiner Frau, daß ich sie nachmittags zu einem Spaziergang abholen wollte; die Kinder sollten mit. Der Jüngste, sieben Jahre alt, sah dem mit großer Spannung entgegen; als ich anklingelte, öffnete er mir selbst und stürzte mit dem Ruf: »s'isch ne!« zu den Eltern. Das heißt wörtlich »Er ist ihn«, bedeutet: »Er ist es« und ist offenbar eine Übersetzung von »C'est lui«. Derselbe Junge erzählte mir, sein Lehrer greife sich immer an die Stirn, als ob ihm das »Latätel« weh thäte (der Dialekt nimmt stets das französische Wort samt dem Artikel auf, der Priester heißt also: »Der Labeh«). Er wie seine beiden älteren Geschwister sprachen unter einander während des ganzen Weges den Dialekt – und der Vater stammt aus Königsberg, die Mutter aus Kiel! »Dagegen ist nichts zu machen«, meinte mein Freund, »sie bringen's aus der Schule und von der Straße heim!« Aber ich meine, dagegen sollte auch nichts gemacht werden; es ist ja trotz der welschen Brocken ein guter deutscher Dialekt und hilft mindestens in der heranwachsenden Generation die Kluft zwischen »Altdeutschen« und Elsässern überbrücken.
Daß diese Kluft heute besteht, leugnet auch der größte Optimist nicht. Schon die Wahlen beweisen es. In den Reichstag entsandte Straßburg zuerst einen Protestler, dann vorübergehend einen deutschfreundlichen Mann, hierauf Bebel – lediglich aus Oppositionslust, die Sozialdemokratie ist hier nicht stark – zuletzt einen Liberalen, der es aber nicht wagte, sich einer der »Ordnungsparteien« anzuschließen, sondern nur Hospitant der »Freisinnigen Vereinigung« war. Was einem an kleinem Ulk auf den Straßen begegnet oder erzählt wird, will nicht schwer genommen sein, wohl aber die soziale Abscheidung; das ist eine richtige chinesische Mauer, in der es keine Pforte gibt. Außer meinem Freunde suchte ich noch einen Elsässer auf, den ich von einem Sommeraufenthalt her näher kannte. Beide Herren sind Altersgenossen, Universitätsfreunde, Kollegen, in den angenehmsten geschäftlichen Beziehungen, beide leben sehr gesellig, auch die Frauen sind einander sympathisch, aber ein Verkehr von Haus zu Haus besteht nicht. Mein Freund meinte: »Er will eben nicht; es würde ihm schaden«, und der Elsässer etwas verlegen: »Das geht leider nicht!« Beide haben starke künstlerische Interessen, aber mein Freund ist Mitglied des »Kunstvereins« und die Elsässer haben einen andern zu gleichem Zweck. Wo sogar die Kunstvereine getrennt sind, darf man sich nicht wundern, daß jede der Parteien ihren Gesang-, Touristen- u. s. w. Verein hat, von den Kasinos zu schweigen. In das behagliche Haus der Kasinogesellschaft am Sturmeckstaden setzt kein Elsässer, in das schöne elsässische Kasino am Gutenbergplatz kein Altdeutscher den Fuß. Wenn es wahr ist, was man mir sagte: »In Straßburg ist das Verhältnis noch am besten« – und da es jedermann sagte, ist's wohl so – so sind wir im Elsaß nach einem Menschenalter noch recht weit vom Ziele.
An wem liegt die Schuld? Natürlich schieben sie sich beide Parteien zu und beide, wie ich glaube, mit Recht. Die Elsässer verkennen nicht, welchen gewaltigen Aufschwung in materieller und geistiger Hinsicht Stadt und Land seit dreißig Jahren genommen haben, nur schreiben sie das Verdienst sich allein zu, während die Regierung ihren reichen Anteil daran hat. Die Zugehörigkeit zu einem großen, reichen, von inneren Erschütterungen verschont gebliebenen Staat bedeutet sehr viel; der Regierung ferner dankt Straßburg die Universität, das musterhafte Schulwesen, die Stadterweiterung, die Anlage des Rheinhafens, den Ausbau des Bahnnetzes; aber auch an direkten materiellen Gaben hat gerade Straßburg recht viel erhalten. Für die bei der Belagerung erlittenen Schäden bekam die Stadt 40 Millionen Mark Entschädigung, wahrlich eine reich bemessene »Meschanterie«, wie Schadenersatz auf Straßburgisch heißt (»dommages intérêts«), für die zerstörte Stadtbibliothek eine halbe Million Mark und eine neue Bibliothek. Auch der oft gehörte Vorwurf, man schenke ihnen Prachtbauten, die sie selbst bezahlen müßten, ist ganz (so bezüglich des »Kaiserpalastes«) oder zum größten Teil unbegründet; zu den 13 Millionen für die Universitätsbauten z. B. hat das Land 3 Millionen beigesteuert. Begründet aber ist die Klage, man verwalte gar zu viel, mische sich in Alles, wolle es am grünen Tisch entschieden haben. Dieses Bevormundungssystem, das Mißtrauen in die Kraft und Einsicht der Selbstverwaltung, sind Schattenseiten des herrschenden Systems im Reich, und werden nirgendwo fühlbarer als hier, wo es die Leute nicht gewohnt waren. Dazu der ewige Wechsel in den Grundsätzen; Möller war streng, aber ruhig und gerecht; Manteuffel fahrig, würdelos, allzu mild und zwischendurch ein Polterer; er verdarb so viel, daß der greise Hohenlohe und der gegenwärtige Statthalter es bis heute nicht gut machen konnten, zudem der Wind aus Berlin bald eisig, bald lau wehte. Jetzt, wo der »Diktatur-Paragraph« abgeschafft ist, geht es hoffentlich im raschen Tempo wohlwollender Entschiedenheit vorwärts. Zwei Hauptgründe, die in Straßburg die Kluft offen halten, wollen noch erwähnt sein. Erstlich die schwierigen konfessionellen Verhältnisse. Die Protestanten, die Katholiken und die Juden der Stadt stellten sich nach 1870 verschieden zur Regierung; die Protestanten hoffnungsfreudig, die Katholiken feindselig und mißtrauisch, die Juden abwartend. Die Protestanten wurden enttäuscht, als die Regierung die Katholiken gewinnen wollte und ihnen gerade hier viel, sehr viel zu Liebe that – an der Universität wie in der Stadt –, den Katholiken war's und ist's noch immer nicht Freundlichkeit genug, und die Juden wurden durch die saubere Mode des Antisemitismus, die einzelne preußische Beamte und Gelehrte zuerst hierher verpflanzten, abgestoßen. Damit komme ich zum zweiten, vielleicht dem wichtigsten Punkt. Der Korporalston, der ja selbst in Pommern oder Posen nicht der schönste aller Töne ist, paßt nicht hierher; er macht die Leute unwillig und sie übertragen die Abneigung gegen die Tonart Einzelner auf die Regierung. Die Beamten vom Rhein und aus Süddeutschland kommen mit den Elsässern weit besser aus.
Soviel von meinen Straßburger Eindrücken. Es war sehr interessant dort, aber auch sehr heiß, und während ich mir alte und neue Bauten ansah und weise politische Gespräche führte, wuchs meine Sehnsucht nach Berg und Wald, Kühle und Stille mit jeder Minute. Ich wußte auch, wo ich sie stillen wollte, an jedem Tag wußt' ichs, aber freilich an jedem was Anderes. Als ich kurz nach meiner Ankunft in der kochenden Mittagsglut über den Schloßplatz schritt – die Quadern dampften und von dem rötlichen Sandstein des Münsters ging ein versengender Hauch, als hätte er sich entzündet – da stand vor meinen Augen lockend ein anderes Bild: ein Haus auf der Höhe, rings schimmernde Schneegipfel und tief unten der blaue See. Das war Rigi-Scheidegg; acht Sommer hatte ich oben verbracht und wußte die Freunde, die mich dorthin gezogen, wieder oben; wenn ich mich des Abends auf den Weg machte, konnte ich mit ihnen am nächsten Morgen den einsamen Seeweg gehen, zu dem Mönch, Jungfrau und Eiger so herzlich herübergrüßen ... Tags darauf hatte ein Brief meiner Sehnsucht ein anderes Ziel gegeben, und während ich aus dem Portal der Bibliothek den Kaiserplatz übersah – ein Flimmern lag über den Steinmassen drüben und über den Blumenbeeten in der Mitte wie ein grauer Schleier – da sah ich ein anderes Bild: wieder ein blauer See, aber seine Wellen rollten bis dicht ans Haus, zur Linken eine kühne, trotzige Felsenwand, zur Rechten anmutige Hügel – das war Gmunden am Traunsee, auch dies ein mir liebvertrauter Ort und auch dort fand ich Freunde. Freilich, etwas weit war's, aber ich hatte ja Zeit ... Anders am dritten Tage, da war ich mit liebenswürdigen Menschen in der »Orangerie«; im Wirtshaussaal hinter uns zotete sich ein berliner Überbrettl vor einem Dutzend Zuhörern aus, vor uns schlichen die Spaziergänger durch die schwüle Dämmerung dahin. Mein Gastfreund und seine Familie wollten am nächsten Morgen nach Titisee im Schwarzwald; die nahen Vogesen lockten ihn nicht. »Was ich davon gesehen habe«, meinte er, »ist ja ganz hübsch, aber wer elf Monate immerzu französisch parlieren hört, und ebenso lang um sich hier gespannte Mienen sieht, was der Unhold aus ›Schwoweland‹ wieder Unerhörtes von sich geben wird, will's mindestens im Ferienmonat behaglich haben. Kommen Sie doch mit uns!« Ich kenne den Schwarzwald, bin auch einmal in Titisee gewesen, und das freundliche Bild stand flugs vor meinen Augen: Alles grün, blaugrün der See, hellgrün die prächtigen Matten, tiefgrün der Tannenwald. Auch war das Leben dort wirklich behaglich. Warum also nicht? Nur wollte ich ihnen nachkommen, einen Tag mindestens mußte ich noch in Straßburg bleiben, mir die Denkmäler ansehen, auch nochmals das Münster besteigen, denn als ich am Tag meiner Ankunft auf der Plattform war, hatte der schwüle Dunst alles verschleiert.
Nun, am nächsten Morgen war's um so herrlicher; über die Stadt, die neuen Wälle hinweg konnte der Blick im klaren, noch rötlich schimmernden Licht dieses Sommermorgens wie ins Unendliche fliegen. Da glänzte die Ebene gegen Süden von unzähligen Ortschaften: weiße Inselchen im lichtgrünen Meer der Felder. Zur Linken, gegen Osten, ein dünner, schmaler, langer Dunstschleier über einer ebenso unabsehbar langen, schwärzlichen Linie: die Morgennebel über dem Rhein und die Pappeln an seinem Ufer. Dann weiter gegen Osten eine rötlich überhauchte Wolkenbank, die immer blauer schimmerte, je goldiger das Rot der Sonne wurde, der Schwarzwald; vom Eichelberg im Norden bis zum Blauen im Süden; nur der breite, eigensinnig gezackte Rücken der Hornisgründe, die scharf umrissene Kuppe des Kaiserstuhls mahnten das Auge, daß dies ein ewig ragender Bergzug sei, nicht vergängliches Gewölk. Gegen Westen aber eine andere Wolkenbank, in diesem Licht fast schwärzlich anzusehen, und genau ebenso mächtig von Norden nach Süden gestreckt, die Vogesen, vom zackigen Gipfel des Hohbarr ob Zabern gegen Süden immer höher ansteigend bis zum mächtigen Felsen des Schneebergs, dann sich ins Breuschthal senkend, um abermals zum breiten Rücken des Odilienberges anzusteigen; von da, je weiter gegen Süden, im Duft der Ferne immer mehr verschwimmend, vielleicht noch Berge, vielleicht nur Wolken ... An die zwei Stunden stand ich oben und konnte mich nicht sattsehen an dem schönen Bilde, und wie ich so stand und schaute, klang's mir zuerst auf: »Warum willst du nicht lieber in die Vogesen, sie scheinen, von hier gesehen, ebenso mächtig, wie der Schwarzwald, und ebenso waldreich!« Aber dann hatte ich wieder nur meine Freude an dieser Stunde, ohne an die nächste zu denken. Welch ein Anblick! – wirklich ein Bild voll Farbe und Leben, nicht eine Landkarte, wie wir sie zuweilen von Berggipfeln überblicken; diesen Eindruck verhütet hier die vergleichsweise geringe Höhe des Turms und die Lage Straßburgs inmitten der Ebene zwischen den beiden Bergzügen. Nicht eine Aufwallung patriotischen Gefühls, sondern das eigene Auge läßt einen hier erkennen: Wie unnatürlich schnitt einst die Rheingrenze durch ein Gebiet, das zusammengehört, eben ein riesenbreites Stromthal, an beiden Ufern von Menschen desselben Stammes, derselben Sprache, bewohnt, hüben und drüben von ähnlich geformtem Waldgebirg umrahmt, den »zwo Rheinburgen«, wie man's im XV. Jahrhundert so treffend nannte. Was Elsaß und Baden, es ist ein Gau! Und wieder tauchte mir die Frage auf: Willst du nicht, statt die Bekanntschaft mit den Schwarzwaldbergen zu erneuern, ihre Brüder, die Vogesen, kennen lernen?! Immer höher stieg die Sonne, immer blendender spannte sich ihr Lichtnetz über die Landschaft; ich ruhte mir die Augen aus, indem ich die Namen der Besucher am Gemäuer ansah. Hier steht an einem Seitenpfeiler auch: »Goethe. Lavater. Pfenninger.« Goethe! Mir klang die herrliche Schilderung auf, die er in »Dichtung und Wahrheit« gegeben hat, und in der Stimmung, in der ich nun war, faßte mich die Sehnsucht, gleich ihm wechselweise »die Aussichten in eine wilde Gebirgsgegend« und »in ein heiteres, fruchtbares, fröhliches Land« zu genießen.
Ich ging die Treppe hinab, 330 Stufen, da hat man Zeit zu überlegen. »Warum nicht?« dachte ich. »Aus Furcht vor den ›gespannten Mienen‹? Vielleicht ist's garnicht so arg und sie können auch freundliche machen! Und wenn nicht, interessanter als im Schwarzwald wirds jedenfalls sein! Du deinerseits willst nie vergessen, daß es diesen Leuten ähnlich geht, wie ihren ›Vogesen‹. Das ist ja der alte deutsche Wasichenwald, dessen Rauschen in unserem Nibelungenlied wiedertönt; daß ihn die Römer ›Vogesus‹, die Franzosen ›Vosges‹ und dann auch wir ›Vogesen‹ nannten, dafür kann eigentlich dieser deutsche Bergwald nichts. Und können seine Bewohner was dafür, daß wir, ohnmächtig und zersplittert, sie zwei Jahrhunderte lang den Fremden überließen, in deren Horn sie tuten mußten, und ist's nicht zu viel verlangt, daß sie nun urplötzlich wieder in unser Horn tuten sollen, als wären die zwei Jahrhunderte ein spurlos geschwundener Augenblick?!« Den Ort aber wußte ich nun auch. Man hatte mir hier gesagt die »Schlucht« sei das Schönste, die Paßhöhe an der Grenze; auch stehe das große »Hotel Altenberg« dicht daneben. So ging ich vom Münster aufs Telegraphenamt, mir dort ein Zimmer zu bestellen, und vom Amt zum Buchhändler, wo ich mir gleich einen Haufen Reiseführer einhandelte. Sie alle rühmten die »Schlucht«. Und als die Antwort kam, im »Hotel Altenberg« sei ein Zimmer erst in einigen Tagen frei, schlug ich nach, was der nächste größere Ort sei. »Münster i. E.« Schön, also dorthin.
Und so fuhr ich am nächsten Morgen nach Münster.