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Zu Münster im Elsass war's und im August; ein prächtiger Sommermorgen und doch nicht heiß. In der Nacht hatte es über dem Vogesenkamm gewittert; die Luft war kühl und wundersam klar. Und an diesem klarsten aller Tage sollt' ich ein Gespenst sehen, so seltsam und wehmütig und grotesk zugleich, wie nur je eines auf Erden seinen Spuk getrieben hat, ein richtiges Gespenst, das nicht mehr lebt und doch nimmer sterben kann.
Und das kam so. Kurz vor meiner Reise hatte mich eine Arbeit veranlaßt, die Memoiren des Casanova durchzusehen, nicht die Auszüge, welche die Spekulation auf niedriges Gelüst in Millionen Exemplaren verbreitet hat, sondern das vollständige achtzehnbändige Werk, das heut' nicht hundert Menschen in Europa kennen. Welch ein Buch! – der scharfgeschliffene Riesenspiegel einer merkwürdigen Zeit. Was jene häßlichen Auszüge enthalten, ist ja auch drin, aber daneben alles Eigentümlichste eines Jahrhunderts. Eine der merkwürdigsten Episoden, von keinem »Bearbeiter« aufgenommen, weil sie nicht schlüpfrig ist, spielt im Bade Sulzbach. Der Abenteurer zwingt einen französischen Offizier, der jedesmal das Spiel abbricht, sobald er gewonnen hat, durch Hänseleien zu der Wette um fünfzig Louisdor, wer es länger am Spieltisch aushalten werde. Gestattet sind nur Unterbrechungen von einer Viertelstunde. Am festgesetzten Tage beginnt die Partie Pikett um drei Uhr nachmittags; bis nach Mitternacht halten die Zuschauer aus, dann spielen die beiden allein die Nacht hindurch. Am Morgen umdrängen die Kurgäste den Spieltisch, es wird Mittag, dann Abend, die Neugierigen weichen nicht, die Barmherzigen unter ihnen bringen den Kämpfenden eine Stärkung, denn ums Geld geht's kaum mehr, keiner ist im Vorteil, aber das Spiel ist zu einem Duell geworden. Vergeblich flehen die Damen die beiden totenblassen, immer mehr verfallenden Männer an, aufzuhören; sie spielen auch die nächste Nacht durch. Am Morgen fällt der Offizier ohnmächtig vom Stuhl; die Wette ist entschieden. Dies seltsame Duell hebt sich von dem Hintergrund eines üppigen Badelebens ab; französische Adelige, Baseler Patrizier, Abenteurer und Kurtisanen aus aller Herren Länder drängen sich in den Kursälen und auf den Promenaden, trinken den Brunnen und gebrauchen die Mixturen des Apothekers, vor allem aber spielen sie, und setzen ein, jeder, was er hat: Geld, Ehre, Schönheit, Gesundheit und Leben. Also das Spaa des XVIII. Jahrhunderts, ein überaus lustiger Ort, den Casanova nur deshalb »traurig« findet, weil sein Herz gerade unbeschäftigt ist. Wo aber, fragt' ich mich, liegt dies Sulzbach? Offenbar irgendwo im Elsaß, denn auf dem Weg aus den Ardennen nach Basel kam der geniale Abenteurer hier durch. Aber seltsam – auf keiner Karte fand ich den Ort und er war doch damals (1762) eine blühende Stadt, von Tausenden besucht. Konnte sie spurlos verschwunden sein?!
Vierzehn Tage später sollte ich mit noch größerem Interesse so fragen. Mein Leben lang hatte ich nichts von Sulzbach gehört, da führten mich die Studien für dieselbe Arbeit – und sie betraf nur ein Stück Sittengeschichte des XVIII. Jahrhunderts, nicht etwa des Elsaß – wieder darauf. Ich las die Biographie Eulogius Schneiders; auch er ein echtes Kind seines Jahrhunderts, wie Casanova, gelehrt, sinnlich, abenteuerlich wie dieser, sogar gleich dem geistreichen Italiener ursprünglich Priester, und doch eine völlig andere Natur. Wie der merkwürdige Mensch aus einem jungen Wüstling ein gelehrter, strenger Mönch, dann wieder ein höchst weltlich gesinnter Professor, dann – von der Revolution wie von gärendem Most berauscht – der blutdürstige öffentliche Ankläger des Straßburger Tribunals wird, schließlich selbst, in seiner Hochzeitsnacht verhaftet, den Tod auf der Guillotine zu erdulden, verdiente wohl einmal von einem Dichter geschildert zu werden, dessen Scharfblick die Widersprüche aufhellen könnte. In Sulzbach spielte – im Sommer 1792 – eine der glänzendsten Episoden seines Lebens. Der Donnerer des Straßburger Jakobinerklubs, der Redakteur des mächtigen »Argos«, verbringt hier zwei Wochen der Erholung und des Triumphs. Die ganze Gesellschaft huldigt ihm, am eifrigsten die »Bürger« und »Bürgerinnen«, die eben erst die Krone aus dem Batisttuch entfernt haben. Der Winzerssohn aus Wipfeld in Franken ist noch Priester, und mit seinen runden Augen, den dicken Lippen, dem plumpen Bauernschädel wahrlich kein schöner Mann – aber wie süße Augen machen ihm die Ex-Marquisen, die reichen Patrizierinnen aus Straßburg und Mülhausen! Es wird getanzt, gespielt, der Hof gemacht, alles wie da Frankreich noch ein Königreich war; selbst die Gäste vom rechten Rheinufer fehlen nicht ganz, denn die Quellen gelten nun einmal für heilkräftig, und im Speisesaal fallen Tag und Nacht die Karten und rollen die Würfel. Freilich nicht mit jedermann kann hier ein vorsichtiger Mensch spielen; jeder dritte Mann ist ein Abenteurer, jede zweite Dame eine »Sulzbacherin«, wie die elegante reisende Kurtisane damals auf hundert Meilen in der Runde heißt. Diese ganze merkwürdige Gesellschaft wirbelt vierzehn Tage lang um den mächtigen Jakobiner, jeder Tag ein Fest, jede Nacht ein Bacchanal, bis der generöse Eulogius (ci-devant »Schneider-Jürgen«) sich seinerseits glänzend revanchiert, ganz im Stil der Zeit, sehr üppig und sehr patriotisch. Er errichtet auch hier einen »Freiheitsbaum«, die Spitze mit einer Jakobinermütze, der Stamm aber mit einer Tafel geschmückt, auf der die Verse stehen:
Wer das Gesetz verehrt,
Den Staat bezahlt, den Nächsten liebt,
Fürs Vaterland sein Leben giebt,
Der ist der Freiheit wert!
Trockene Verse, aber sie werden mit sehr viel Champagner begossen und dann liegen sich alle in den Armen, und es regnet mehr oder minder patriotische Küsse ... Schneider war längst wieder in Straßburg und hatte viel zu tun, die Guillotine nicht rosten zu lassen, aber mitten in seiner Blutarbeit dachte er der lustigen Tage im glänzenden Sulzbach. »Wenn ich nicht geschworen hätte«, schrieb er seinen dortigen Freunden, »mein Leben auf dem Posten einzubüßen, den mir die Vorsehung angewiesen, würde ich meine Laufbahn in Eurem herrlichen Thale im Genusse der Natur beschließen.« Also ein sentimentaler Henker. Das Schicksal hat ihm ein verdienteres Ende bereitet.
Man wird nun begreiflich finden, daß ich aufhorchte, als nach abermals drei Wochen der Name Sulzbach an mein Ohr schlug. Das war zu Münster am Biertisch, wo ich allabendlich mit dortigen Bekannten zusammensaß. Der Stadtarzt kam spät; er habe noch gegen Abend nach Sulzbach müssen. »Das berühmte Sulzbach?« fragte ich eifrig. Er lächelte. »Ja, der Badeort.« – »Und der liegt so nahe?« – »Freilich, eine Viertelstunde Bahnfahrt und dann nicht viel länger zu Fuß.« – »Da muß ich hin! Wie sieht's denn jetzt dort aus?« Aber er: »Was wissen Sie von Sulzbach?« Ich sagte es ihm. Er lächelte wieder. »Da ist's wohl für Sie am interessantesten, ich sage Ihnen nichts, sondern Sie sehen sich alles selber an.«
An jenem klaren Augustmorgen machte ich mich auf den Weg. Zuerst mit der Bahn gegen Colmar zu, die rasche Fecht entlang. Berge und Burgen zu beiden Seiten bis Weier im Thal, dem altersgrauen, von grünen Reben umhegten Städtchen. Es liegt nördlich der Fecht, wie alle Orte im Münsterthal, nur Sulzbach ausgenommen; alle Leute, die mit mir ausstiegen, gingen links hin, nur ich wandte mich nach rechts. Das war das erste, was mir auffiel; ich besuchte ja seit Wochen täglich ein anderes altes Nest des Gaus; nie vorher war ich in diesem schönen Thal allein geblieben. Aber mein Trost war mein getreuer Weggenoß, die neueste Auflage von Mündels Vogesenführer, ein sehr dickes, aber kreuzbraves Buch, und da stand: »Nach Sulzbach Wagen am Bahnhof.« Freilich war keiner zu sehen, aber das focht mich nicht an; der dicke Onkel Mündel lügt nicht, dacht' ich; ist der Wagen noch nicht da, so kommt er. Inzwischen fehlte es mir an Kurzweil nicht. Die Aussicht vom Bahnsteig ist herrlich. Schon die Farben erquicken das Auge: nur Grün, ein wenig Weiß, einige Pünktchen Rot, aber wie stimmen sie zusammen, heben sich hier scharf ab, fließen dort ineinander. Weißlich grün sind die Wiesen, saftgrün die oberen Matten, dazwischen steht das Graugrün der Reben, und sie alle umschließt das Schwarzgrün der Tannen. Dazu die Formen; schlank, edel, sanft, geschwungen schiebt sich ein Bergkegel neben den anderen, von einzelnen Hütten bedeckt, von grauem Mauerwerk gekrönt. Mitten drin das alte Weier, rings Reben, soweit das Auge blickt, zur Rechten und Linken und auf dem Berg, an den sich das Städtchen schmiegt; hoch oben ein graues Kirchlein. Nichts Gewaltiges, aber war je eine Berglandschaft heiter und anmutig zu nennen, dann diese. So von dem Beschauer gegen Norden, zu seiner Linken aber, also im Westen, das Fechtthal, und über ihm, im Duft der Ferne verschwimmend, die gewaltigen runden Kuppen der Hochvogesen: der Hoheneck und der Nachstebühl, auch sie dicht bewaldet; etwas niedriger, wie ein Riesensmaragd in der Sonne gleißend, die Matte des baumlosen Kahlenwasen. Nicht minder Schönes sieht man gegen Osten: da hebt sich der herrliche Waldberg, der einst dem Barbarossa gehörte und noch heute der Hohenstaufen heißt, dem Blick entgegen, an seinen Hängen zerbröckelndes Gemäuer, die Burgen Hohhattstatt und Schrankenfels.
Nachdem ich aber dies alles betrachtet, wandte ich mich wieder nach Süden, wo eine Platanenallee ins Thal von Sulzbach führt. Aber da war noch immer kein Gefährt zu sehen und kein Mensch; nur die Grillen zirpten im Grase, und von einer Wiese her klang eine helle Mädchenstimme: »Esch schteiht eine Lind' im tiefe Thal« – kein Wunder, daß das Lied auch hier noch lebt, es ist ja im Elsaß gewachsen ... Unschlüssig stand ich, denn ich gehe ja gern, nur nicht auf staubiger Thalstraße, wie sie mir hier winkte. Dann trat ich auf die Sängerin zu, ein blutjunges Ding mit feurigen Schwarzaugen im hübschen Bronzegesicht. »Boschurr!« erwiderte sie freundlich meinen Gruß und ergänzte ihn nach Landessitte durch eine Frage, die auch noch zur Begrüßung des Wanderers gehört: »Wo we (wollt) I her (hin)!?« Ich sagte es und fragte nach dem Wagen. Sie lachte laut auf, »Na' Sülzba a Wotürle (voiture)?!« Es stehe aber im Buch hier. »Joo!« sagte sie langgedehnt wie sich erinnernd. »Desch esch amol gsi!« Ihr »Gruossele« (Großmütterchen) erzähle, nach Sulzbach sei sogar einst von Colmar ein »Omnebüs« gegangen. Aber jetzt Fuhrwerk nach Sulzbach unterhalten – da wär's ja noch klüger »Fliegehax z'röschte«. Das hörte ich mit Bedauern, denn Fliegenfüße zu braten, ist kein nahrhaftes Geschäft. Aber es sei doch ein Bad dort, sagte ich, ein Sauerbrunn?! – »A Badle – nei! A Süerbrünn – joo.« Und dann lachend, daß man alle zweiunddreißig Zähnchen sah: »D' Lüt saje: In Sülzba' esch alles süer.«
Mit diesem Wort im Ohr marschierte ich vorwärts. Die Wanderung war angenehmer, als ich gedacht hatte. Das Gewitter hatte den Staub getilgt, und die prächtigen Platanen gaben Schatten, lustig rauschte der Wind in ihrem Geäst. Ein mäßig breites Thal, und, seltsam genug, just auf der Nordseite Weinberge auf steiler Halde, gegen Süden bewaldete Hügel und über beiden höhere Berge, hier der Hohenstaufen, ihm gegenüber der Oberfeldberg. Gleich am Eingang des Thales, weitab der Straße am Fuß des Hohenstaufen, sah ich ein Stücklein bröckelnder Burgmauer; aber auf meiner Karte stand sie nicht, auch der dicke Onkel sagte nichts darüber, und ein Mensch, den ich hätte fragen können, war nicht zu sehen. Endlich begegnete mir ein alter Mann, der in seinem blauen Leinwandkittel, dem französisch geschnittenen Käppi und dem weißen Henriquatre im durchfurchten Gesicht recht wie ein Invalide des zweiten Kaiserreichs aussah. Aber auf meine Frage erwiderte er in norddeutschem Dialekt, was ich gesehen hätte, seien vermutlich die Reste der Burg Giersperg gewesen; »hier haben einmal«, fügte er bei, »Raubritter gehaust, die vom Schweiße des Proletariats lebten. Die Burg wurde zerstört und die Ritter gehängt, die Raubritter von heute sitzen ruhig in ihren Kontors und schreiben Fabriksordnungen.« Dialekt und Ausdrucksweise fielen mir auf; ich fragte, woher er wäre. Ein Berliner, aber schon zwanzig Jahre im Elsaß und jetzt Arbeiter in Mülhausen. Da sei er wohl eben zur Erholung im Sulzbacher Bad gewesen, fragte ich. Er lachte. »Nee, der Mumpitz (berlinisch Schwindel) hat ja fast aufgehört! Ich wollte hier Aufklärung stiften!« – »Nun, und haben Sie viel davon gestiftet?« Er spuckte grimmig aus. »Sklavenvolk! Sie finden alles in der Ordnung, auch daß sie nichts zu beißen haben!«
Nachdenklich ging ich weiter, nach zehn Minuten tauchte links vom Wege auf einem Hügelchen eine große Kirche auf, von den Häusern des Orts war noch nichts zu sehen. Also eine zweite Kuriosität; das Gotteshaus fern vom Ort ist mindestens im Elsaß noch seltener als Reben an der nördlichen Thalwand. Hingegen ist der Rahmen der Kirche der landesübliche: eine sehr hohe, glatte, dicke Mauer umgiebt im Viereck Kirche und Friedhof wie eine Festung, und die kleine Eingangsthür unter einem Giebelchen gleicht einer Ausfallspforte. Ich trat ein und stieg die Stufen zur Kirche empor. Ein Bau, an dem reichlich zwanzig Geschlechter der Menschen mitgeschaffen, der Unterbau uralt, wohl aus dem VIII. Jahrhundert, das schöne Chor gotisch, nach den edlen schlanken Verhältnissen und dem Maßwerk der Fenster zu schließen aus dem XIV. Jahrhundert, alles übrige in den folgenden Zeiten stillos erneuert, obendrein kürzlich blank überstrichen. Und wie die Kirche selbst, so erzählt der Friedhof, der sie umgibt, von sechs Jahrhunderten. Vor dem Portal ein herrliches Grabmal: ein kräftig erblühtes, schönes Weib mit Schleier und Rosenkranz, das Haupt auf einem Kissen ruhend, alles wunderbar erhalten, selbst die Spitzen und Borden an der reichen Tracht einer Edelfrau des XIV. Jahrhunderts. Auch von der Inschrift ist noch die Jahreszahl 1351 lesbar, der Name nicht mehr. Der Stein ist nun, offenbar um ihn besser vor Regen und Schnee zu wahren, aufrecht gestellt, was ja dem Eindruck der liegend gedachten, überlebensgroßen Gestalt schadet, aber es bleibt genug übrig, ihn lange auf sich wirken zu lassen. Ein anderes, gleichfalls selten schönes Grabmal ist an der Außenseite der Kirche eingemauert; es zeigt zwei Gestalten, einen Ritter mit derbem, finsterem Antlitz und vollständig gewappnet (Pickelhaube, Schulterplatten, Harnisch, Beinschienen und Eisenschuhe), neben ihm eine Dame mit sanften Zügen in Schleier, Brusttüchlein und herabwallendem Kleid. Beide treten auf einen Löwenkopf, beider Hände waren einst betend gefaltet; jetzt sind's nur die des Ritters, die der Dame fehlen. Die Inschrift in gotischer Minuskel besagt, daß hier »der edel vest jucker Jacob vo Hatstadt« begraben sei, verstorben »uff sant Jacobtag« 1514, »der sele got gnad«; die Dame ist »jucke Jacobs hüsfröge, die edle Frow mergen (Margarethe) vo rotsamhuse«, und, wenn ich das Datum richtig entziffert habe, »nach sant Jürgen tag« 1518 verstorben. Bei ihr fehlt die Anrufung der göttlichen Gnade; nach ihrem sanften, gütigen Antlitz zu schließen, war sie ihrer ohnehin sicher. Der Löwe zu ihren Füßen ist das Wappentier der Hattstatter ... Noch einige andere Steine aus dem XV. und XVI. Jahrhundert sind hier zu finden, aber minder schön gemeißelt und von der Zeit ärger mitgenommen; offenbar auch verschlechterte sich die Qualität des Sandsteins immer mehr; auf den Barocksteinen des XVIII. Jahrhunderts ist gar kaum noch ein Wappen, ein Name zu unterscheiden, auf einem glaubte ich »Paris«, auf einem anderen »Anvers«, auf einem dritten »Zürich« zu entziffern, also Kurgäste von fern her. Im XIX. Jahrhundert werden die Steine immer bescheidener, die deutschen Inschriften weichen den französischen; freilich bleiben die Namen urdeutsch, z. B. »Laurent Wagner, ancien maire et son épouse Elisabeth Stiffling.« Das gilt auch von den Steinen aus letzter Zeit; ich habe einen einzigen gefunden, der eine deutsche Inschrift trug. Das ist aber doch immer einer mehr, als ich sie auf manchem anderen Friedhof des Landes entdecken konnte ...
Ich trat in die Kirche; hell durchflutet das Licht Schiff und Chor, stolz und schlank wölbt sich die Kuppel; die Rippen des Gewölbes ruhen auf mit Köpfen ornamentierten Konsolen. Man sieht sofort, das ist nicht das Bethäuslein eines Fleckens, sondern eine Prunkkirche, die einst reiche Gönner hatte. Dennoch war ich auf die Freuden nicht gefaßt, die ich hier erleben sollte. Schon das Altarbild: Johannes der Täufer, der Schutzpatron der Kirche, ist keine üble Arbeit, wirklich wertvoll aber ein auf Holz gemaltes Triptychon. Die beiden Gemälde der Außenseite, die offenbar die beiden Donatoren vorstellen, einen Bischof und einen Ritter, sind schön, prächtig aber die Innenbilder, Darstellungen des jüngsten Gerichts, namentlich das Mittelbild, der heilige Michael, die Seelen wägend, voll Farbenpracht. Das Triptychon ist um 1520, also in den Zeiten des Matthias Grunewald gemalt, und mindestens das Mittelbild wäre seiner nicht ganz unwert. Der schönste Schmuck der Kirche aber ist das herrlich gemeißelte, leise polychromierte Sakramentshaus, in reichster Gotik. Auf einer Konsole steht die Gestalt des heiligen Christophorus mit der Keule, das bärtige Antlitz von frommer, demütiger Güte durchleuchtet, auf dem Nacken das liebliche Jesuskindlein, eine rührende, echt deutsche Gruppe. Darüber erhebt sich das prächtige Eisengitter des Häuschens, von zwei gemeißelten Engeln bewacht, mit den Emblemen der vier Evangelisten geschmückt, über ihm in zwei Stockwerken ein sich verjüngender Aufbau mit den Gestalten des Heilands und der Madonna, denen flatternde Cherubim huldigen. Es ist alles sehr schön, aber am schwersten machte mir doch der Christophorus das Scheiden.
Als ich aus der Kirche trat, klang Hundegebell an mein Ohr; ein Knäblein lief mit seinem Hündchen um die Wette zwischen den Gräbern dahin. Als es mich erblickte, blieb es stehen und guckte mich aus seinen strahlenden blauen Augen an, ein etwa achtjähriges blondes, kräftiges Kind, schöner als einer der Cherubim am Sakramentshaus. Ich trat auf das Kind zu; der Hund wies mir knurrend die Zähne, begann aber zu wedeln, als ich das Kind streichelte. »Junge, wie heißt Du?« Keine Antwort, nur die blauen Augen blickten mich freundlich an. »Nun?« Das Kind schwieg. Ich trage auf meinen Wanderungen immer Obst bei mir, mir löscht's den Durst, und kleine Abnehmer finde ich auch immer am Wege; die schönste Birne zog ich hervor und hielt sie dem Kinde hin, das darnach griff. »Nein, erst sage Du, wie Du heißt!« Da umflorten sich die strahlenden Augen, und er deutete auf Mund und Ohr. Das wunderschöne Kind war taubstumm. So gütig und so grausam ist nur die Natur.
Sie ist's im kleinsten und im größern, das ganze Sulzbach ist ja ein Beweis dieser Güte und Grausamkeit zugleich. Freilich, ganz durch die Natur allein ist Sulzbach nicht emporgekommen und nicht durch sie allein heut ein Gespenst; die Menschen haben zu beidem kräftig mitgeholfen. Das wollte der erste Sulzbacher, den ich nun wirklich sprach, nicht Wort haben. Es war ein ältlicher Mann mit einem schmalen Gesicht, in dem ein paar gute, sanfte, treue Augen standen, Hundeaugen möchte ich fast sagen, denn etwas von der stummen Qual der Kreatur war auch in ihnen. Die Rebenharke auf dem Rücken, kam er daher und grüßte freundlich: »Boschurr! Güte Tag!« – doppelt reißt nicht. Da sich hinter der Kirche der Weg wiederholt gabelt, gab er mir liebenswürdig, obwohl's ein Umweg für ihn war, das Geleite ins Städtchen. Peter Zindt hieß er, und da er mir einige Stunden später zum Abschied sagte: »Wir bliiwe Fründ!« so darf ich ihn wohl meinen Freund nennen. Was mir zuerst sein Herz gewann, war das Lob der Kirche, namentlich des Sakramentshäuschens. Ja, sagte er stolz, so ein »heilig Hüsle« gebe es im ganzen Elsaß nicht, das sage sein Einziger und der müsse es wissen, denn er sei Priester und jetzt Missionar in Deutsch-Afrika, dabei der beste Sohn, der sich auch nach der Heimat zurücksehne, darum habe er ihm auch gestern – er zog den Frachtschein hervor – »a Fäßle Sülzbacher«, Eigenbau, gesendet, damit er unter den »nige (neue) schwarze Christelüt« mindestens den heimischen Trank nicht entbehre. Ich fragte, ob der Wein auch den weiten Transport und die Tropenhitze gut überdauern werde, hatte aber damit wider Willen an eine wunde Stelle gerührt. Ganz gewiß, rief er eifrig, gut abgelagerten Sulzbacher könne man auch nach dem Mond versenden, aber so wie ich hätte gestern auch der Stationschef in »Wihr« (Weier) gefragt, und ich zweifelte wohl auch nur deshalb, weil ich von den Wihrern Spottreden über den Sulzbacher Wein gehört hätte. Nein, beteuerte ich, was sie denn sagten?! Aber er schüttelte nur schmerzlich den Kopf; erfahren sollte ich es doch, jedoch erst, nachdem wir ganz gute Freunde geworden. Damals aber lenkte ich von dem Thema ab, indem ich meinte, es sei ihm wohl hart gefallen, seinen Einzigen so weit fortgehen zu lassen. Freilich wohl, seufzte er, aber daß er geistlich geworden, sei doch ein rechtes Glück, denn ein Sulzbacher Ackerbürger zu sein, das sei »gar bitter und süer«. Und es sei doch einmal eine so »geldriiche und ruhmriiche« Stadt gewesen; ob ich was davon wüßte? »Nur wenig«, sagte ich und das war ja auch die Wahrheit, aber auch wenn ich schon damals all die alten Schmöker durchstöbert hätte, die ich mir dann aus der trefflichen Colmarer Stadtbibliothek geholt habe, ich hätte nicht anders geantwortet. Denn ein Peter Zindt sagt's einem immer viel lebensvoller, als alle Bücher und darum bat ich sehr darum.
Er nickte, und da wir gerad ans erste Häuslein des Städtchens gekommen waren, vor dem eine Bank stand, so setzten wir uns hin, und Peter Zindt erzählte. Mit seinen Worten kann ich leider nicht alles wiedergeben, denn Notizen mochte ich mir nicht machen; das nimmt dem Erzähler die Unbefangenheit. Also: Die Sulzbacher Quellen seien uralt, schon in der Heidenzeit, wo die Menschen »schier nackig« herumgelaufen wären, hätten hier viele wieder »rohde Bäckle« gekriegt, auch ein »gar aldher Kaiser« Julius Cäsar – er sprach den Namen ganz richtig – hätte hier sein »Mogeledrücke« weggebadet. Auch der Kaiser »Scharlemanje« (Charlemagne) hätte hier eine »Appetitkur« gemacht, der habe dann den Ort dem Kaiser von Österreich geschenkt und dieser vor tausend Jahren den Herren von Schauenburg. Unter ihrem Regiment habe die Stadt Mauern und Graben erhalten, denn der Räuber im Lande seien gar viele gewesen, besonders die Giersperger »rächte Säckleschniider«. Die Quelle freilich sei dann versiegt, aber die Stadt habe durch Acker- und Weinbau ein gutes Leben gehabt. Da sei nach Gottes Willen die Quelle an anderer Stelle wieder entdeckt worden durch ein »feins Kühele«. Diese feine Kuh nämlich entfernte sich immer vom Weideplatz am Fuße des Oberfeldbergs, und wenn sie wiederkam, war sie »fascht lüschtig« und gab auch bessere Milch als die anderen. Der Hirt, dem dies auffiel, folgte ihr und sah, wie sie gierig aus einer Quelle trank, und als er ihrem Beispiel folgte, ward auch er »lüschtig«. Da kamen denn abermals die Kranken herbeigeströmt und »alle Doktors« aus der ganzen Christenheit baten, Bücher darüber schreiben zu dürfen, was ihnen verstattet wurde – und Sulzbach ward reich und groß. Denn die Schauenburger Herren waren gar nobel; sie gaben kein »Loschemang«, die Kurgäste mußten bei den Bürgern wohnen. Aber dann kamen die Revolution und die großen Kriege, und da hatten die Leute nicht Zeit noch Geld, sich zu kurieren und liefen mit Blutarmut, verdorbenem Magen und Skrofeln herum, statt sie hier wegzutrinken und wegzubaden. Als aber die Kriegsnot um war, da wollten die Leute nicht wiederkommen. Und wollten und wollten nicht! Manche meinten, man habe es seit hundert Jahren dumm angefangen, auch seien einmal gar zwei Badeunternehmer dagewesen, die sich gegenseitig schlecht gemacht hätten, und es gehe das Sprüchlein: »Was a feins Kühele geschtift hatt', han zwii Ochse verwüscht!« Wieder andere meinten, es sei eben so vom Schicksal beschlossen, Sulzbach liege ja auf der »unrächte Siit« (der unrechten Seite, nämlich südlich der Fecht, während alle anderen Orte im Thal, die sämtlich aufblühen, wie bereits bemerkt, nördlich des Flusses liegen) und darum sei hier auch 1844 just am Tage Johannis des Täufers, ihres Schutzpatrones, ein furchtbarer Brand gewesen; also selbst ihr Fürsprech vor Gott könne nichts gegen die Bestimmung! Aber beides scheine ihm, Peter Zindt, unrichtig und das vom Schicksal sogar unchristlich, es sei weder selbstverschuldetes Unglück, denn ihre Urgroßväter seien doch auch schwerlich klüger gewesen als sie, noch liege es an der »unrächte Siit« und der »Beschtümmung«, denn auf Erden und im Himmel bestimme nur Gott der Herr. Sondern er sage immer: es sei Gottes Wille so, aber warum Er das so wolle, wisse er freilich nicht, denn die Leute hier seien »guet, fromm und demüteglech«. Der stete Rückgang freilich sei Thatsache; viele zögen fort, und die Badegesellschaft bestehe jetzt aus einer Hebamme aus Ensisheim und einer Schneiderin aus Colmar, und mit dem Versand des Brunnens als Tafelwasser gehe es auch nicht sonderlich. »Vor hundert Jahr«, schloß er wehmütig, »esch ä Sprüchle im ganzen Elsaß gsi: ›Nur in Sulzbach trinket der Bauer Süerwasser.‹ Das Sprüchle gilt no, awer das ›nur‹ isch an eine andere Stell gewackelet. Jetzt müsch es heiße: ›Nur der Bauer trinket in Sulzbach Süerwasser‹, oder gar: ›In Sulzbach trinket der Bauer nur Süerwasser.‹ Denn wer kann sich noch a Gläsle leischte, und wär's vom Eigene?«
So die Geschichte von Sulzbach in Peter Zindts Auffassung. Die zünftigen Historiker stellen leider vieles nüchterner dar. Ob Julius Cäsar am »Mogeledrücke« gelitten, steht dahin, aber wenn ja, so hat er sich's nicht in Sulzbach kuriert, denn der römische Ursprung der Quellen ist eine Erfindung des XVII. Jahrhunderts; damals war's die kräftigste Reklame, etwas römisch sein zu lassen. Ähnlich steht es um Karl den Großen; nur sein Appetit ist verbürgt, aber das war eine Gabe der Natur und nicht die Folge einer Sulzbacher Appetitkur, denn auch damals waren Ort und Bad noch nicht vorhanden. »Sülzpach« findet sich erst 1222 erwähnt. Das Dorf war ein von den Hohenstaufen den Lothringer Herzögen erteiltes Lehen, das diese an ein Geschlecht, das sich »von Sulzbach« nannte, dann an die Hattstätter, endlich an die Schauenburger begaben; ein österreichisches Lehen wurde es erst durch Franz I., den letzten Lothringer, den Gatten Maria Theresias. Eine gewisse Bedeutung errang das Dorf früh durch seine trefflichen Weine; darum wurde es schon 1275 zur Stadt erhoben, mit Mauer und Graben umgürtet, doch blieben die Bewohner dem Herzog und seinen Lehnsträgern untertan und hatten geringe Rechte. Ausdrücklich bezeugt ist, daß sie wenig wehrhaft und allzu friedlich gewesen; als die Weierer die Raubburg der Giersperger brachen, taten die Sulzbacher nicht mit, obwohl sie von diesen »Säcklischniidern« am meisten geplagt waren. Ein Zeichen ihrer »demüteglechen« Gesinnung war es auch, daß sie katholisch blieben, als der Sturmhauch der Reformation durchs ganze Münsterthal brauste. Das Schicksalsjahr ihrer Geschichte ist 1603, da die Quelle aufgefunden wurde, aber das »feine Kühele« ist nur Sage; es war kein Zufall, sondern Spürsinn der Menschen, der sie zutage brachte. Im Jahre zuvor war der Sauerbrunnen von Geberschweier am östlichen Abhang dieses Bergzuges plötzlich versiegt, gleichzeitig zeigte das Felsgeröll des Oberfeldbergs ob Sulzbach einen Ansatz ockergelben Rostes; da vermutete der damalige Lehnsträger von Sulzbach, ein Herr von Schauenburg-Herlisheim, mit Recht, daß das Wasser nun hier seinen Weg suche, und da ein Bad damals ein fast noch kräftigerer Geldmagnet war als heute, so ließ er nachbohren und bekam die Quelle glücklich zu fassen. Nun schaffte er aber auch die nötige kräftige Reklame, bewog den Erzherzog Leopold von Österreich, damals Bischof von Straßburg, und den letzten regierenden Grafen von Rappoltstein, Eberhard, zum Besuch des Bades, sorgte für Lustbarkeiten aller, nach der Sitte der Zeit auch recht bedenklicher Art und gewann schließlich einen der berühmtesten Ärzte jener Tage, Dr. Johannes Jacobus Mezius zu Freiburg i. Br., zur Abfassung einer Badebroschüre. Ich habe das kuriose Schriftchen durchgesehen. »Sultzbachischen Hailquellenbrunnens Vortrab oder Kürtzlicher bericht etlicher New erfundenen Saurbrunnen zu Sultzbach in dem berümbten Volckreichen Sanct Gregorij Thaal Elsässischer Landschafft gelegen Sambt beygefügter Krafftreichen Würckung und derselben ordentlichen gebrauch« – so der Titel. Man sieht, es waren nun schon »etliche Quellen«; der Besitzer hatte das Wasser verschieden fassen lassen und den einen Auslauf den »Ertzherzogen-Quell«, den anderen »Rappoltsteinischen-Quell« genannt, beide aber wurden, wie Mezius berichtet, »von Unverständigen etwas geschmacks halben der Dintenbrunn« geheißen, ein dritter Auslauf speiste das »new auferbawete Badhauß.« Als Vorbereitung für die neue Trinkkur verordnet Mezius »Purgation und Aderlaß, seines Leibes Blödigkeiten abzuwenden«, nach 14 Tagen Trinkens »morgens um fünf, abends nach zwei« dürfe nach abermaliger Purgation zur Badekur übergegangen werden, am ersten Tage eine halbe, am nächsten Tage eine ganze, am dritten anderthalb Stunden u. s. w., bis man »den ganzen Tag darinnen verharren kann«, dann geht's wieder langsam bis auf eine halbe Stunde täglich herab. Man sieht, eine ausgiebige Badekur, aber die Diät läßt sich ertragen; Mezius schreibt die feinsten Sachen vor: »Auwerhahnen, Phasianen, Schnepffen« u. s. w., gestattet aber den Armen »grobes Rindfleisch und Habermuß«, weil »Gottes gütige Hand« sie auch dabei wird gesund werden lassen. Als Bestandteile der Quellen bezeichnet Mezius »ein schön lieblich Stein- oder Berg-Salz«, eine »Krafftmäßige essentz des Eysens unn weniges Kupfers«, einen »wohlgeleuterten alaun«. Das Salz »thut reinigen«, das Eisen »heilet und starcket«, der Alaun »haltet zusammen«. Kein Wunder, daß es nach Mezius kaum eine Krankheit gibt, die hier nicht geheilt werden könnte.
Einigen Erfolg hatten aber die Quellen wirklich, eben ein alkalischer, eisenhaltiger Sauerbrunnen; zweifellos sprudelten sie einst auch stärker. Es war also nicht blos Reklame, die Sulzbach berühmt machte; der Ruhm und Zulauf dauerte ja zwei Jahrhunderte an; Reklame ohne Verdienst ist nie so langatmig. Zudem finden sich unter den rund zwei Dutzend Werken über Sulzbachs Blütezeit auch die Arbeiten ernsthafter Gelehrter, die sicherlich nur ihrer Überzeugung folgten; auch unter den Dichtern, die Sulzbach besangen, meinten's gewiß die meisten ehrlich. Der überschwenglichste freilich, ein Anonymus von 1639, der seinen Hymnus in lateinischen Distichen schrieb (die Colmarer Bibliothek bewahrt das Manuskript), kann leicht bei dem Edlen von Schauenburg frei Quartier gehabt haben, denn einen »fons sacer« nennt man selbst den kräftigsten Sauerbrunnen nicht ohne besonderen Grund. Aber daß die Besitzer das Licht von Sulzbach unermüdlich auf den höchsten Scheffel stellten, ist ebenso zweifellos, wie daß es ihnen neben den Kranken nur allzu sehr um die Gesunden zu tun war. Das »öffentliche Spielhaus« bot neben Hasardspielen »von Morgen bis Mitternacht«, wie ein Schilderer von 1874, der Basler Mieg, berichtet, auch »Musik, Gaukelspiele und Komödie« – dazu das Heer von »Sulzbacherinnen«. Es sei so recht ein Ort, meint Mieg, »wo man sich mit Bemeistern eigener Begierden stärken könne.« Aber dazu kamen gewiß nicht viele hin ...
Es ging mit Sulzbach wie mit allen Modebädern: solang der gute Wind weht, haben sie Zulauf weit über Verdienst, und schlägt er um, weit unter Verdienst. Nur erscheint hier alles ins Ungeheuerliche gesteigert: die Blüte wie der Verfall. Bis ins erste Kaiserreich ging's noch leidlich, unter den Bourbonen nicht mehr; es waren eben neue Bäder emporgekommen, und das Hasardhaus durfte nicht fortbestehen. Da fand sich ein tapferer, kluger und reicher Mann, der's nochmals versuchte, ein Schweizer, namens Gonzenbach; er kaufte 1842 die Quellen und that das Mögliche. Als zwei Jahre später die furchtbare Feuersbrunst die Gasthöfe und die besseren Häuser für die Kurgäste vernichtete, baute er ein großes Kur- und Badehaus, schuf Gärten und Anlagen, und gewann, da Sulzbach thatsächlich den meisten Kniebisbädern ebenbürtig, zum Teil überlegen ist, ein Stücklein des alten Rufs zurück. Da entdeckte ein Herr Schangel, an den das alte Schlößlein der Schauenburge gekommen war, auch eine Quelle, und der Kampf ging los, jeder der Konkurrenten machte die Quelle des anderen schlecht, und das Publikum glaubte beiden. Schangel unterlag zuerst, aber der arme Gonzenbach hatte auch nur ein Pyrrhussieg erfochten. Um 1895 war alles aus und die »geldriiche, ruhmriiche« Stadt ein armes Dorf geworden.
Aber es sieht nicht aus wie andere Dörfer; mindestens auf deutscher Erde habe ich, soweit ich gewandert bin, nichts Gleiches gesehen und kaum Ähnliches ... Wie ich, von Peter Zindt geleitet, die erste Straße durchschritt, da sah ich freilich nur, worauf ich gefaßt war: armselige Häuslein und neben den Wegspuren Gras; höchstens die Stille und Öde konnte einem auffallen; es war gegen zehn Uhr vormittags und nirgendwo ein Mensch zu sehen. Wo die denn seien? fragte ich meinen Begleiter. Die Erwachsenen in den Weingärten, war die Antwort, die Kinder in der Schule; jedoch viel Gewimmel gäb's hier nie, auch sei lange nicht mehr jedes Haus bewohnt. Aber auf dem »Hauptplatz«, da finde man immer »Lüt und liicht (vielleicht) a Wägele«. Nun, diesmal war's auch dort totenstill; nur zwei Hunde dehnten sich auf dem grasbewachsenen Pflaster, und ein Brünnlein plätscherte verschlafen in der Sonnenglut. Ein mittelgroßer Platz, auf drei Seiten von dürftigen Häusern umgeben, nur eines etwas stattlicher, das Wirtshaus »Zum Müller von Sanssouci«, »'s ischt unser Hotell«, erläuterte Zindt; »auch Bäder thut der Wirt ausrichte, da wohne und bade unsere Kurgäscht, die Madam und die Schneiderin ... Ich wiiß net, was das heut' ischt«, fügte er bei, »geschtern waren drei Lüt' auf'n Platz und vorgeschtern a Wägele.« Ich tröstete ihn, alle Tage könne es eben keinen solchen Verkehr geben, und wandte mich der vierten Seite des Platzes zu, die mich weitaus mehr interessierte. Hier steht eine morsche Kapelle, die Jahreszahl »1760« bedeutet jedenfalls nur den Umbau; das schmucklose Innere zeigt Mauerwerk mit verbautem, romanischen Fenster und einem gotischen Tabernakel. Eiskalt und modrig war drinnen die Luft, die Bänke staubbedeckt und die Fensterchen von Spinnengewebe überzogen. Der Raum, erläuterte Zindt, werde nur noch zu Nottaufen benutzt, und das komme kaum mehr vor; »auch die rächte Christetauf esch schon in Sülzba eppes Rar's – wenig Lüt, arme Lüt, da kann's net viel Kindlein gebe!« An der Kapelle steht das Brünnlein, aus einer Renaissancesäule mit dem Löwen der Hattstatter kommt das Wasser, das moosbedeckte Brunnenbecken ist wohl so alt wie die Stadt selbst. Daneben einige uralte, hohe Häuser, wacklig und verfallen, aber einst so stattlich und schön wie nur irgend deutsche Bürgerhäuser des XVI. Jahrhunderts. Ich besah sie mir aufmerksam, aber Zindt meinte: »Da habe mir in der Stadt noch ganz annere!« In der Stadt, fragte ich, da seien wir ja. »Nei«, lachte er, »das isch ja d's Fohbur (Faubourg)« – in das wirkliche Sulzbach kämen wir erst. Und er wies auf die Spuren einer Umfassungsmauer und eines Tores, an dem vorbei sich zwischen den hohen Häusern ein Gäßchen öffnete.
Dies alte Sulzbach nun – wie verzaubert kam ich mir vor, als ich's durchschritt. Eine behäbige deutsche Kleinstadt so um 1600, über die jählings ein großes Sterben gekommen, daß nun die leeren Häuser sachte zerbröckeln, aber nur die Zeit hat daran gerührt und Sturm und Regen, aber keines Menschen Hand ... Ein Gewirre enger, krummer Gassen und winkeliger Plätze; kleine und große, armselige und reiche Häuser mit wankenden Giebeln und bröckelnden Erkern, die Türen verschlossen, die Fenster erblindet. Keines, an dem nicht was Besonderes zu sehen wäre: hier eine stattliche, mit verwittertem Steinzierat und Farbenresten geschmückte, reichgegliederte Fassade, dort ein mächtiger, knapp über dem Erdgeschoß aufsteigender, nach oben Stockwerk für Stockwerk vorspringender Giebel, daß das Haus wie ein vorgeneigter Greis dasteht, hier wieder ein düsterer, plumper Bau wie ein Burgturm, dicke Mauern, kleine romanische Fenster, die wie Schießscharten aussehen, und dort auf schlankem, lustigen, fensterreichen Unterbau ein zierlicher mit Schnitzwerk und Balkönchen geschmückter Fachwerkbau. Und alles alt und alles verfallen, nirgendwo ein Neubau, kaum irgendwo die Spur der erhaltenden Menschenhand ... Dazu die unsägliche Öde und Stille; nur einmal begegnete uns ein altes Weiblein, ein andermal guckte aus einem Fenster ein blasses Kind hervor; ich gesteh's, mich durchfröstelte es trotz der heißen Sonnenglut ... Dazu die Reden meines guten Peter. »Da wohnet niemand mehr«, hieß es vor jedem zweiten Hause, »die Lüt sind weggezoge.« Oder »Alles verschtorbe, die Erwe möchte herzlech gern verkaufe, aber wer thut in Sülzba kaufe?!« Und von den Häusern, die noch bewohnt waren: »Dem sein Vater hat noch an Kurgäscht ä groß Stück Geld verdient; er salwer geht in die Fabrik na' Wihr!« Oder von einem der stattlichsten Häuser: »Das sin amol die riichste Lüt hier gsi, und Bürgermeischter; jetzt is er Handlanger in Colmar une sie hungert sech so durch!« Es war mir schließlich lieber, wenn der freundliche Mann schwieg, da konnte ich glauben, die Menschen seien einst ausgestorben, denn der Tod ist besser, als solches Hinsiechen und Versinken in immer größeres Elend. Aber das arme Sulzbach ist ja eben kein Toter, sondern ein Gespenst, das nicht leben noch sterben kann.
Wohl eine Stunde gingen wir so umher, die Sonne stieg immer höher, drang bis in den engsten Winkel und erhellte all den Verfall immer erbarmungsloser, und immer noch öffneten sich neue Gäßchen und Plätzchen. Und doch ist vor sechzig Jahren fast ein Drittel der Stadt verbrannt! Aber in seiner Blütezeit war ja Sulzbach eine Stadt von 2 000 Einwohnern und Kurgäste gab's ebenso viele, die brauchten Raum. Jetzt sind's noch etwa 550 Seelen, unaufhaltsam geht's abwärts, 1850 waren es 1100, 1871 850, 1889 750, 1895 650 Seelen: wann wird das glänzende Städtchen von einst, das nun auch offiziell zum Dorfe herabgesunken ist, ganz verödet sein?! ...
Die Häuser verfallen, die Menschen sterben und mit ihnen ihre Geschichten. An vielen Häusern sind noch Wahrzeichen zu sehen, eine Hand, ein Helm, ein Zwillingspaar, ein Bock und dergleichen; sie hatten alle ihre Bedeutung, aber selbst mein Führer kannte sie nicht mehr. Vielleicht, schlug er bescheiden vor, wüßte der Weibel (Gemeindediener) mehr oder der Herr Schulmeister. Und da es just elf Uhr schlug und wir nah dem Schulhaus waren, so geleitete er mich dorthin.
Auch das Schulhaus ist ein altes, wackliges Häuslein, von dem ein recht schadhaftes Trepplein auf den Platz hinabführt, aber mir war's, als fiele mir ein Alp von der Brust, als ich davor stand. Denn da waren doch Menschen, kleine, lustige, zappelige Menschen, die lachend und sich puffend das Treppchen hinabturnten. Oben aber erschien der Schulmeister, ein kleiner Mann, in etwas stark benutztem Rock, aber mit einem strengen Antlitz und so würdevollem Wesen, wie ich es nur noch einmal im Leben an einem Menschen gesehen habe. Aber dieser Mensch war ein Berliner Kanzleirat.
Die Wahrzeichen von Sulzbach hat mir der Würdige nicht erklärt, aber dafür sollte ich mit ihm etwas so Lustiges erleben, daß ich's erzählen muß.
Ich trat, während mich die Schulkinder neugierig beguckten, an das Treppchen heran und wollte es eben emporsteigen, als mich eine abwehrende Handbewegung des Schulmeisters zurückhielt. Da blieb ich denn unten stehen und zog den Hut.
»Was wünschen Sie?«
Ich brachte schüchtern mein Anliegen vor.
Der Herr Lehrer zog die Augenbrauen empor. »Namen, Wohnort und Beschäftigung?« fragte er. Ich gab Bescheid.
Da trat der Würdige vor, steckte die Hand in den Rockausschnitt, wie Zeichner zopfige Beamte karikieren, und sprach also – ich hab's mir sofort ins Notizbuch geschrieben und kann's daher wörtlich wiedergeben:
»Ich bin Herr N. J., Hauptlehrer hiesiger Knaben- und Mädchenschule und nicht minder Dirigent derselben. Ihre Bitte muß ich ablehnen. Denn erstlich beginnt jetzt meine der Muße gewidmete Erholungszeit. Zum zweiten kümmere ich mich nicht um die Altertümer dieses Dorfes, was ja mehr die Bauern, als einen gebildeten Herrn angeht. Zum dritten aber ist für solches der Weibel da, an welchen sich zu wenden ich anheimstelle.«
Starr und stumm stand ich da und neben mir Peter Zindt und um uns beide die Kinder. Da klang es plötzlich aus einer Ecke, die wohl ich übersehen, aber nicht der Würdige oben, von drei hellen Kinderstimmen:
»Bannwärt, Bannwärt,
'sch hätt' Triewe geschtohle!«
Das heißt hochdeutsch: »Bannwart (Flurschütz), man hat Trauben gestohlen!« Die verborgenen Sänger wiederholten es unablässig; die anderen Kinder brachen in wildes Lachen und Johlen aus; auch Zindt lächelte, der Würdige aber wurde krebsrot und verschwand. Ich erzähle, wie ich's gesehen habe; was es bedeutete, ist mir nicht klar geworden.
Peter Zindt war betrübt ... »Ich bin nur a Rebma'«, sagte er, »aber ich muß sage: das isch net rächt gsi von dem Herrn N. J.« Er begründete es auch sehr eingehend; vor langen Zeiten hätten »alle Doktors« über Sulzbach geschrieben, jetzt aber kümmere sich niemand um den Ort. »Kommet nun einer und will's beschriiwe, so müsch ma's frundli verstatte, auch fein drum bitte, 's war a (auch) davor a Gläsle Wein net z'viel!« Und nun sei ich so abgekanzelt worden. Aber nun wolle er mindestens den Weibel holen. Er lief nach dessen Hause und kam betrübt wieder: »Er kann net! Er hat si' den Moge mit Flume (Pflaumen) vollg'schlage und hat Buuchweh!« Da führte mich Zindt selbst weiter, obwohl dies nicht blos seine der Muße gewidmete Erholungszeit, sondern sogar seine Mittagszeit war.
Zunächst ging's wieder durch eine totenstille, alte Straße, zum »Schauenburger Schlößle«. Es ist ein Bau des XV. Jahrhunderts, finster, plump und schmucklos, die überaus dicken Mauern mit einer feuchten Moderschicht überzogen; ein Eckturm steht noch und verfallene Ringmauern sind noch erkennbar. Wie's so in all seiner Düsterkeit vor einem liegt, konnte man viel eher glauben, das sei ein Gefängnis gewesen, als der Wohnsitz eines wohlhabenden, regsamen Geschlechts. Und noch weniger sieht's einem modernen Kurhaus ähnlich, und doch hat es durch zwanzig Jahre auch diese Aufgabe erfüllt; hier hauste Gonzenbachs Konkurrent Schangel. Hinter dem Haus ließ er die Bäder errichten; der Bau verfällt nun und liegt schon halb in Trümmern. Blickt man hinein, so sieht man die Mäuse lustig durch die Kabinen jagen, an einem der Fenster aber klebt noch heute eine pomphafte Anzeige der Eröffnung am 24. Juni 1876: »Das Wasser dieser neuen Quelle kann vermittels der Analyse den besten und bekanntesten Säuerlingen zugesellt werden. Es ist nicht nur sehr geeignet, eine schwache Gesundheit zu erstärken, sondern ist, auch mit Wein vermischt, ein angenehmes Trinken.« Nun, das ist ja kein angenehmes Lesen, und der Verfasser kann gewiß nicht den ersten Stilisten zugesellt werden; aber an ihm lag's nicht, wenn alles mißriet. Auch an der Quelle nicht, die wirklich heilkräftig war, wenn auch die kaum noch leserliche Inschrift an einem Täfelchen im Garten: »Supérieure aux autres eaux similaires par sa grande quantité de fer« etwas zu viel behauptet. Aber schließlich lohnte sich nicht einmal die Erhaltung ihrer Fassung, und so versickerte sie. Im Garten jedoch ringsum sproßt lustig das Unkraut, und der einst mißhandelte Taxus wächst nun wie ihm beliebt und macht die schmalen Pfade gangbar.
Vom »Schlößle« ging's einen engen Weg, an Resten der alten Stadtmauer vorbei, dann in einer Lücke zwischen dieser Mauer zum »Kurhaus Gonzenbach«. Ein großer, dreistöckiger Bau, zu beiden Seiten sind im Rechteck zwei mächtige Flügel angebaut, sichtlich eine Nachahmung moderner französischer Schloßbauten. Auch hier ein großer verwilderter Garten, durch den man sich mühselig den Weg bahnen muß; auch hier, wenn man rings um das Haus geht, der Blick in verfallende Korridore und zerbröckelnde Badezellen und auch hier keine Menschenseele. »Ist das Haus bewohnt?« fragte ich meinen Führer, als ich von allen Seiten, auch vorne hinaus, die Fensterläden geschlossen sah. »Aawer joo!« rief er eifrig. »Hier ischt do der Versand von unser ruhmriich Wasserle.« Und er führte mich in eine Halle im linken Flügel. Dort öffnete sich im Boden der Schacht des Brunnens. Unten stand ein Junge, der gemächlich eine Flasche nach der anderen füllte und dann mit einem Verschlusse versah, wie man ihn an Seltersflaschen sieht. Nachdem er ein Dutzend beisammen hatte, stieg er aus dem Schacht und beklebte sie mit einer Etikette: »Quelle Gonzenbach. Genehmigt durch die Kaiserl. Universität. Charles Mann, Eigentümer, Sulzbach.« Daß die 1872 begründete Universität Straßburg die 1603 entdeckte Quelle ihrerseits »genehmigt« habe, konnte mich nicht wundern; sie wäre eben sonst ohne Genehmigung ins vierte Jahrhundert ihrer wechselvollen Existenz eingetreten, wohl aber war mir das Tempo dieses modernen Brunnenversandes verwunderlich, denn derselbe Junge packte auch die Flaschen in eine Kiste. Ob er dann die Kiste auch zur Bahn führe, fragte ich den Jungen. »Joo«, erwiderte er stolz, »der Herr Mann, der Herr Schaw und ich mache all's salwer (selber).« Dann reichte er mir ein frisch gefülltes Glas. Es schmeckte etwas säuerlich und moussierte; ein ganz angenehmes Getränk, das die geforderten zehn Pfennige wert war.
Ich wollte zur Erinnerung einen Prospekt des Unternehmens mitnehmen und ging darum ins Bureau. Drinnen saß der Thür zunächst an einem Pult ein junger Bursche, und ihm gegenüber ein dicker, rotbackiger Mann, beide der Hitze wegen in Hemdärmeln. Ich unterbrach sie leider in einer sommerlichen Bureauarbeit, in die sie sehr vertieft waren; der junge Mensch fing Fliegen, und der dicke Mann nickte vor sich hin. Bei meinem Eintritt fuhren sie auf, und der junge Mann fragte: »Wolle Sie a Kommande mache?« Nein, ich bäte nur um einen Prospekt. »Pour quoi faire?« fragte der Dicke. »Das Wasser kennt so scho jeder!« Ich wollte mich eben darüber unterrichten, ich sei ein Fremder und kennte es noch nicht. – »Woher?« Ich sagte es. Er wurde mißtrauisch. »Berlin?« wiederholte er langgedehnt. »Votre profession?« – »Schriftsteller!« – »Aha! Da isch aber dann Ihre Müh verthan. Ich lass' beim Herrn Saile in Colmar drücke und hab' billigschte Preis!« – »Nein«, klärte ich auf, »nicht Schriftsetzer, sondern Litterat!« Da kämen wir noch weniger in ein Geschäft, war seine Antwort, er inseriere nicht. »Das Sulzbacher Wasser ischt das bescht', l'Europe entière le sait!« Auch ein Inserat wollte ich nicht, beteuerte ich, nur einen Prospekt. Da bekam ich ihn endlich und wollte gehen. Aber da hatte inzwischen der Dicke mit dem Jungen gezischelt und rief mich zurück; ich sollte mit Stolz erfahren, daß die Presse auch in Sulzbach als Großmacht gilt. »Ich bin der Herr Charles Mann aus Ensisheim«, sagte der Dicke freundlich, »der Propriétaire von der source und wollt' Ihne saje: lasse Sie sich unten a Glasle gebe – c'est gratuit – vous comprenez – totalement gratuit. Bon voyage, monsieur!«
Der Prospekt, den ich mir so sauer errungen hatte, ist kurz und kräftig gehalten. Der chemischen Analyse folgt der Satz: »Daraus geht hervor, daß dieses Wasser unter allen bestbekannten Mineralwassern den ersten Rang einnimmt.« Auch wird es »als sicheres Heilmittel mit nachweislichem Erfolge von den höchsten ärztlichen Autoritäten verordnet.«
Es war längst Mittag und mein guter Zindt wahrscheinlich noch hungriger als ich. Dennoch führte er mich noch zu der Stelle, wo einst das »Kühele« die Quelle entdeckt haben soll – es ist aber nichts mehr zu sehen als morsche Bretter, die den Schacht verdecken – und durchschritt dann mit mir getreulich wieder die gespenstische alte Stadt, bis wir am Hauptplatz standen. Meine Einladung zu einem kleinen Imbiß und einem Gläschen Wein schlug er zunächst rund ab; er könne leider mich nicht einladen, aber umgekehrt schicke sich's nicht. Nun, schließlich ging er doch mit zum »Müller von Sanssouci«, und wir aßen Münsterkäse und tranken Wein, denn »'s Fleisch reichet nur für die Kurgäscht«. Der Wirt mochte von meinem Begleiter erfahren haben, wer ich sei, denn er setzte sich zu uns und unterhielt mich von seiner Loyalität gegen die deutsche Regierung. Ich fragte, woher sein Schild rühre. »Vom Großvater«, war die Antwort, der sei Müller gewesen, habe so geheißen und sich darum den berühmtesten aller Müller zum Patron gewählt. Auch im Bild war die Potsdamer Mühle zu sehen. Dann erzählte mir der Mann, der mich in seiner schlauen Schmiegsamkeit immer wieder an den »Herrn Maire« in Gustav Stoßkopfs gleichnamigem Lustspiel erinnerte, von seiner Entdeckung einer neuen Quelle, die nun sein Badehaus speise. Ein vortreffliches Wasser, wie auch die Analyse ergebe. Mein Freund Zindt ermunterte ihn, sie mir zu zeigen, aber davon wollte der Wirt nichts wissen. Endlich kam er doch mit dem Schriftstück angerückt. Da sei, sagte er, ein »Malheurle« passiert. Man habe ihm gesagt, die Analyse eines für Heilzwecke bestimmten Wassers koste mehr, als die eines gewöhnlichen Brunnens, und darum habe er bei der Einreichung seinen Zweck verschwiegen. »Das thut ja nichts«, tröstete ich, »der Chemiker hat gewiß auch so die Wahrheit geschrieben.« – »Das scho'«, sagte der Wirt, »awer – lese Sie!« Und ich las. Der Analyse war folgender Schlußsatz beigefügt:
»Eine unangenehme Beigabe aber ist der große Eisengehalt, der die Gebrauchsfähigkeit beeinträchtigt. Da das Wasser aber einem frisch gegrabenen Brunnen entspringt, so ist es nicht unmöglich, daß das Eisen nur im Anfang vorhanden ist und allmählich verschwindet.
Der Vorstand des Laboratoriums der Kais. Polizei-Direktion zu Straßburg.
Dr. Karl Heckner.«
Dies die Empfehlung für ein neues Eisenbad! Ich mußte lachen, daß mir die Thränen über die Backen liefen, und die beiden Männer stimmten ein. Dann fragten sie, wie mir der Wein schmecke und strahlten, als ich ihn nach Gebühr lobte; die Burgunder Reben haben sich hier gut akklimatisiert. Das möge ich aber auch, bat Peter Zindt, »dene Lüt in Wihr« erzählen, damit sie ihre Schandreden einstellten. Und nun erfuhr ich endlich, was sie eigentlich sagten. Da die Sulzbacher Reben auf der Nordseite des Thals wachsen, so sind sie etwas dickschalig und reifen spät. Um nun diese Härte und Zähigkeit der Schale zu verhöhnen, sagen ihnen die Wihrer nach, die Sulzbacher bestimmten die Zeit der Weinlese so: Nachdem alle anderen Leute im Elsaß ihren Wein bereits eingebracht, gingen sie mit ihrem Maire auf die Spitze des Rebenhügels ob der Kirche, füllten einen Sack mit Trauben, setzten den Maire darauf und schleiften ihn zu Thal. Sitze der Maire, unten angekommen, trocken, so werde noch zugewartet; sitze er feucht, so folge nun die Sulzbacher Weinlese. Ich tröstete, vor bösen Zungen sei eben der beste Wein nicht sicher. Darauf Zindt: ja, wenn sie nur mehr Weinberge hätten, dann könnte das Dorf fortbestehen. So aber gehe es zugrunde. Er hatte feuchte Augen, als er dies sagte, und auch ich war ergriffen.
Zum Abschied geleitete er mich noch zum Dorfe hinaus bis nah an die Kirche. Auf jenem Bänklein, auf dem er mir die Geschichte von Sulzbach erzählt hatte, saßen eine dicke und eine dünne Frau in ärmlicher, städtischer Tracht; die eine strickte, die andere nähte. Peter Zindt grüßte sie freundlich, ja unterwürfig: »Bonsüaar, gute Abend! – Ünsere zwei Kurgäscht!« flüsterte er mir zu.
Armes Sulzbach! Vielleicht sind's überhaupt seine letzten Kurgäste.