Gustav Frenssen
Peter Moors Fahrt nach Südwest
Gustav Frenssen

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Kapitel XVI.

Es gab in den vier Tagen, die wir noch in diesem Lager blieben, dreimal am Tag Fleisch von schlappen Ochsen und Reis; andre Lebensmittel waren nicht da. Wasser war zwar genug vorhanden, da aber der Feind wochenlang und in Massen, samt seinen großen Viehherden, um diese Wasserlöcher gehaust hatte, waren sie ganz verschmutzt. So kam es, daß in wenigen Tagen der zehnte Mann an der Ruhr erkrankte. Ich blieb leidlich gesund; aber als ich unter einem Busch ein wenig Gras für mein verhungerndes Pferd suchte, bekam ich einen Dornstich in die Hand, die schnell anschwoll und einige Tage schlimm aussah. Es war offenbar die ganze Gegend verpestet: Wasser, Erde, Busch und Luft.

Dann kam die Nachricht, daß der Feind nach Überwindung und Umgehung der großen Durststrecke, auf der Tausende von ihm umgekommen waren, weit im Osten, am jenseitigen Rand des Sandfeldes, an kümmerlichen Wasserstellen säße. Da beschloß der General, ihm dorthin zu folgen, ihn anzugreifen und zu zwingen, nordostwärts in den Durst und in den Tod zu gehn, damit die Kolonie für alle Zeit vor ihm Ruhe und Frieden hätte.

So zogen wir nun also in gewohnter Weise mit einem ungeheuren Troß von Ochsenreihen, Kapwagen, Karren und Treibern, die unsre Verpflegung in die Einöde schleppten, nach Osten zu in die weite Steppe, die kein Weißer vor uns betreten hatte; man wußte nur von ihr, daß sie sehr wasserarm war. Unterwegs stieß ein großer Transport frischer Pferde zu uns, so daß wir wieder alle beritten waren. Es war das vierte Pferd, auf dessen Rücken ich mich setzte; der Leutnant, der viele und weite Patrouillen geritten hatte, stieg auf das sechste. Wir waren in unsrer Abteilung vierhundert Mann. Der Sand war tief, und die Sonne sengte. Und nachts, auf der Erde, den Kopf auf dem zusammengedrückten Hut oder auf dem Sattel, gab es einen kurzen Schlaf; die Sterne schienen klar, und ein eisiger Wind wehte. Die Kost war eintönig und dürftig. Aus den verseuchten Wasserlöchern des Lagers hatte sich mancher den Typhus getrunken, der brach nun aus. Auf dem geschüttelten, harten Wagenbrett mußte der Kranke tagelang zurückfahren, bis er an ein Feldlazarett kam; da lag er ohne Stärkung und ohne Kühlung und ohne Reinlichkeit wochenlang auf dürftigem Graslager. Je weiter wir in die Steppe hineinkamen, desto lästiger wurden ziemlich große Fliegen, die um diese Jahreszeit aufkamen; sie waren so gierig, daß wir sie mit den Fingerspitzen aus Augen- und Mundwinkeln holen mußten. Daß sie in unsrer Suppe schwammen, kümmerte uns schon lange nicht mehr. In der zweiten, dritten Woche fingen die neuen Pferde schon wieder an, schwach zu werden; bald blieb das eine und das andre am Wege liegen. Die Ochsen wurden bei den weiten Märschen und der dürftigen Weide schlapp und schlapper. Kleider, Stiefel und Sattelzeug wurde wieder rissig und schmutzig; wir sahen aus, als hätten wir uns im Staub gewälzt.

Als wir drei Wochen marschiert hatten und wir die Gegend erreichten, wo der Feind sitzen sollte, zeigte es sich, daß er noch weiter nach Osten gezogen war und an den allerletzten dürftigen Wasserstellen saß. Da mußten wir weiter hinterher. Abends sahen wir hier und da nach Osten hin Grasbrände, die er angemacht hatte, und die Feuer einzelner seiner Horden, die sich von der Hauptmasse lösten und nach Westen hin, der alten Heimat zu, durchzubrechen suchten, um dem grausen Dursttode zu entgehn. Es wurden Patrouillen ausgeschickt, daß sie nicht durchkamen, damit sie nicht in der Heimat einen ewigen Kleinkrieg mit uns führten.

In der vierten Woche kam ich endlich einmal wieder aus dem Kompanieverband heraus. Mit einer Patrouille von zwanzig Mann, die ein Leutnant führte, ritten wir aus dem Nachtlager nach Norden, um die Gegend zu erkunden, von der es Karten nicht gab, besonders um etwa eine gute Wasserstelle zu finden. Es waren in der Gegend zwar viele Wasserstellen; aber von dreien waren immer zwei vertrocknet, und die dritte gab erbärmlich wenig Wasser. Der gewesene Offizier, den ich den Gebannten nannte, ritt auch mit. Wir waren nach Mitternacht ausgezogen und ritten bis neun Uhr. Da sattelten wir ab und rasteten. Wir hatten aber noch nicht lange im Schatten einiger Büsche gelegen, da spürten wir einen brenzligen Geruch, der rasch stärker wurde, so daß wir es trotz unsrer Gleichgültigkeit für richtig hielten, uns nach der Ursache umzusehn; da kam auch schon der Posten gelaufen und sagte, daß der Wind einen mächtigen Grasbrand auf uns zutriebe. Wir schimpften auf den Feind und standen auf und sattelten schon in aller Eile; denn Qualm und Feuer, das durch den Qualm grell blinkte, kam in breiter Front auf uns zu. Da unsre Pferde unruhig wurden, sich bäumten und durcheinander fuhren, gingen wir, so rasch wir konnten, ohne irgendeine Verabredung, die Pferde an der Hand, nach einer Stelle, wo die Lichtung sich senkte. Wir waren eben da und hatten eben angefangen, noch eine kleine Strecke Gras abzuschneiden und zu raufen: da kamen sie schon an wie eine kleine, glühende Kinderschar, die, sich an den Händen haltend, vorwärts tanzte; hier und da sprang eine höher als alle andern und duckte sich gleich; im Springen brausten und bliesen sie einen entsetzlich dürren, heißen Atem vor sich her, den sie uns in Mund und Augen jagten. Einige von uns hatten von dem kalten Kaffee, den sie in ihren Wassersäcken hatten, auf ihre Taschentücher gegossen; andere duckten sich hinter ihren Pferden; andre drückten ihr Gesicht gegen die feuchten Wassersäcke. Dann gab es einen kurzen Augenblick großer Verwirrung; die Pferde bäumten sich wild, der Atem stand, ein Kamerad stolperte und wurde hochgerissen. Da war es vorüber. Wir sahen aus wie die Schornsteinfeger, schimpften und schüttelten die Köpfe und sahen uns an; und mußten zuletzt über das Abenteuer lachen. Ich aber lachte noch besonders in mich hinein, da ich an den Schelmen von der holsteinischen Heide dachte, den seine Mutter zuweilen in den Backofen geschoben hatte, wie er sagte. Dem hätte ich dies Abenteuer gegönnt.

Abends gelangten wir an Wasserlöcher, die vertrocknet waren; wir gruben sie etwas tiefer und schliefen die Nacht, indem wir die Sättel im Kreise hinlegten und jeder sich hinter seinen Sattel legte. Die Pferde wurden in aller Eile auf einem ziemlich guten Weideplatz mit gesammelten und abgehauenen Dornzweigen eingekraalt. Der Leutnant und der Gebannte wachten abwechselnd im Kreis der Schlafenden; zwei Posten, stündlich abgelöst, umkreisten sie; ein Mann stand im Pferdekraal.

Als die Reihe der Wache an mich kam und ich hinausging, war die Nacht so bitter kalt, daß ich mir allerlei Bewegung machte, um ein wenig Wärme zu halten. So stieg ich auch zweimal auf einen niedrigen, verfallenen Termitenhaufen und sah nach den Feuern, die hier und da, meist aber ziemlich fern, durch die Nacht leuchteten. Dabei fiel mir eines auf, das nicht weit von uns im dichten Busch brannte. Ich merkte es mir und sagte es bei meiner Ablösung dem Leutnant, der neben dem heruntergebrannten Feuer auf der Erde saß.

Da machten wir uns vor Morgengrauen auf und entdeckten richtig die Stelle im Busch und umschlichen sie. Sie hockten, fünf Mann und acht oder zehn Weiber und einige Kinder, um das trübe, kleine Feuer, in Lumpen, ganz erstarrt. Wir drohten ihnen, daß sie sich nicht rühren sollten, und durchsuchten die Bündel, die neben ihnen lagen, und fanden zwei Gewehre und gestohlene, wahrscheinlich unsern Toten geraubte Unterkleider; der eine der Männer aber trug einen deutschen Waffenrock, der die Namenzeichen eines unsrer gefallenen Offiziere trug. Da führten einige von uns die fünf Männer zur Seite und erschossen sie. Die Weiber und Kinder, die jämmerlich verhungert aussahen, jagten wir in den Busch.

Als wir wieder an die Stelle kamen, wo wir übernachtet hatten, war in die tiefer gegrabenen Löcher so viel Wasser gesickert, daß wir jedem Pferd ein Kochgeschirr voll geben konnten und auch ein wenig in unsre Wassersäcke taten. Das Wasser war im Geschmack nicht so ganz übel; es hatte aber, wie fast überall im Sandfeld, einen Gehalt von Glaubersalz und hatte davon, wie der Leutnant es nannte, eine entschieden durchschlagende Wirkung.

Wir fanden diesen ganzen Tag keine gute Wasserstelle, und der Leutnant war sehr ärgerlich, während wir uns immer noch freuten, daß wir einmal wieder aus dem Kompanieverband heraus waren und allein durch das weite, grenzenlose Land zogen. Während wir bis an den Abend ritten, erzählte er uns seinen Plan, daß wir unsern nächsten kleinen Posten aufsuchen sollten, der schon seit einigen Wochen in der Nähe kampierte, um feindliche Horden am Rückzug in die Heimat zu verhindern. Bei dem wollte er sich befragen.

Aber gegen Abend, ehe wir nach den Angaben, die wir bekommen hatten, bei jenem Posten sein konnten, wurden die Büsche plötzlich üppiger, das Gras saftiger, einige große Bäume stiegen aus dem Busch, einige Hühner flogen auf: kurz, wir merkten, daß wir an Wasser kamen, wurden sehr froh und stolz, daß wir so findige Leute wären, und setzten unsre müden Tiere in Trab. Und sieh da, seitwärts auf der Lichtung, wahrhaftig, da war ein kleiner Teich oder mehr nur eine Pfütze mit blankem Wasser. Wir kamen an, stiegen ab, und einige knieten schon und tranken; die Pferde standen bis zum Knie im Wasser neben uns. In dem Augenblick kam ein fremder Kamerad die Anhöhe heruntergelaufen und schrie: »Ums Himmels willen, trinkt nicht von dem Wasser. Trinkt nicht: es ist Typhus darin.« Wir ließen ab und schoben die Schultern hoch; einige wurden ernst; andre lachten leichtfertig. Oben auf der Anhöhe war ein kleines Feldlazarett neu eingerichtet, das wir noch nicht kannten. Wir blieben diese Nacht in der Nähe, doch abseits von den Typhuskranken und abseits von dem bösen Teich. An seinem Wasser hatten sich – wie sich nach einigen Tagen und Wochen zeigte – sechs von uns den Typhus getrunken und zwei davon den Tod.

Am andern Morgen zogen wir in aller Frühe weiter und fanden gegen zehn Uhr richtig den Posten, den wir suchten.

Sie hausten, fünfzehn Mann, auf einer Lichtung in einem kleinen Lager, das sie rundum mit einem Dornverhau verschanzt hatten. Innerhalb dieses Verhaus hatten sie sich zwei Laubhütten gebaut und ein großes Kochloch gemacht. Außerhalb gingen in einiger Entfernung ihre Pferde und ihr Vieh, nämlich vier Kühe, die sie sich aufgegriffen hatten und die sie melkten. Dazu hatten sie sich ein ältliches Buschweib gefangen, das ihnen die Wäsche besorgte und Holz sammelte. Der Leutnant, ein untersetzter Mann mit rötlichem Haar, der den Posten befehligte, hatte wegen seines Haares und weil er unermüdlich tätig und sehr findig war, streifende feindliche Banden zu erspähen und aufzuheben, den Namen »der rote Freibeuter« bekommen.

Er kam gerade von einem solchen Streifzug zurück. Wenn seine Mutter, eine Bürgermeistersfrau, ihn gesehn hätte, hätte sie sich entsetzt: sein Haar war rattenkahl geschoren, sein Bart war stoppelig, sein Rock war dreckig, seine Hosen nicht ohne Risse und seine Stiefel waren ziemlich heruntergetreten; ein halbes Dutzend Perlhühner, die er auf dem Rückweg geschossen hatte, hingen an einem Riemen aus frischer Ochsenhaut von der Schulter; und als er nachher seine Brust etwas öffnete, sah ich, daß er wenigstens heute kein Hemd hatte: es war wohl in den wringenden Händen des dürrbeinigen Buschweibes. Er freute sich sehr, als er uns sah, und erzählte uns, über sich selbst spottend, von seiner hiesigen Bedeutung und täglichen Tätigkeit. Dann lud er uns zum Mittagessen ein.

Nun war es immer so, daß, wenn man Kameraden von einer andern Abteilung traf, man über dreierlei sprach, zuerst über den Feind, dann über Ereignisse im Heer, zum dritten über allerlei Kochkunst. Nachdem Punkt eins und zwei genügend besprochen waren, führte er uns mit wichtiger Miene zu einer Stelle in der Ecke des Lagers, wo ein wenig dünner Rauch aus der Erde stieg. Er nahm ein Stück Holz und schob die Erde vorsichtig zur Seite; da kamen zwei Kochgeschirre heraus, eingepackt in Kuhmist, der leise glühte. Zwei Mann kamen heran und hoben die Geschirre mit großer Geschicklichkeit aus der Grube hervor, und der Leutnant erzählte, daß die Geschirre sechzehn Stunden in dieser Glut gestanden hätten. Dann nahm er den Deckel ab und forderte uns mit Stolz auf, daran zu riechen. Da war es eine schöne Bouillon, und das Fleisch war auch mürbe. Wir mußten es sehr loben und aßen es auch gern; wir waren aber etwas bedrückt, daß sie und nicht wir diese große Erfindung gemacht hatten.

Als wir nun so umhersaßen, jeder seinen Kochgeschirrdeckel in der Hand, hatte der rothaarige Leutnant noch eine andre Überraschung: eine ziemlich neue Nummer einer südwestafrikanischen Zeitung. Da sie in seinem Lager schon von Hand zu Hand gegangen war, war sie schon sehr schmutzig und lappig geworden; doch griff unser Leutnant eilig danach und breitete das Blatt aus und sah, von ungefähr oder nicht, auf die Stelle, wo neue Dekorierungen standen: da sah er plötzlich auf, mit zusammengebissenen Zähnen, und sah nach dem Gebannten, der ein wenig seitwärts von uns saß und nach seiner Weise vor sich hin auf die Erde sah, nannte seinen Namen und sagte: »Kamerad, sehn Sie mal hier!« Der fuhr aus seinen Gedanken auf und kam und kniete hinter ihm und sah auf die Stelle, die jener zeigte, und atmete kurz und schwer. Der Leutnant sah uns an und sagte leise: »Er ist zur Dekorierung eingegeben.« Da konnte der Gebannte sein heftiges, innerliches Schluchzen nicht mehr zurückhalten; er weinte sehr; wir aber umdrängten ihn und schüttelten ihm die Hand, die meisten mit feuchten Augen. Dann schrieb er eine Postkarte an seine Frau und Kinder, und wir alle mußten unterschreiben: ein Leineweber aus Oberschlesien, ein Schornsteinfeger aus Berlin, ein Knecht aus Oldenburg, ein Graf aus Bayern, ein Schlossergesell aus Holstein und andre. Wir waren noch alle in Fahrt und Aufregung über diese Begebenheit, da kam der Posten vom Viehkraal her und meldete: »Herr Leutnant, die bunte Kuh will kalben und kann nicht.« Der rote Leutnant sah ganz perplex darein: »Was?« sagte er, »kann nicht? Natürlich kann sie.« Da lachten wir über ihn und waren sehr gemütlich; und der Knecht aus Oldenburg half der Kuh. Dann ritten wir weiter. Von einer guten Wasserstelle wußte der Rote nichts; er sagte, man müsse sich das Trinken abgewöhnen.

Nachmittags, auf dem Rückweg zu unsrer Abteilung, überholten wir eine Proviantkolonne, mit deren Führer sich unser Leutnant eine Zeitlang unterhielt. Die andern sprachen derweil mit der übrigen Bedeckung. Ich aber konnte meine Augen nicht von einem Treiber abwenden, der, die lange Peitsche über der Schulter, mit langen, würdevollen Schritten neben seinen Ochsen herging. Hinter ihm ging seine Frau, ein kleines zweijähriges Kind im Tuch auf dem Rücken; dann kamen, weiter im Gänsemarsch, nach der Größe abgestuft, noch drei halbwüchsige Kinder. Eine Scheckpfeife, die gemeinsames Eigentum der Familie war, ging vom Mann die Reihe entlang bis zum letzten kleinen Achtjährigen, der sie, nachdem er einige Züge getan hatte, im Trab vorlaufend, seinem Vater wiederbrachte. Nur das kleinste hatte für den Tabaksgenuß noch kein Interesse; es versuchte – und ich glaube mit Erfolg – von seinem Sitz auf dem Rücken der Mutter, nach ihrer Brust zu langen, die lang und schlaff auf den Leib herunterhing.

Als ich noch in Betrachtung dieses Bildes dahinritt, rief mich der Leutnant und sagte mir, daß, nach der Aussage des Kolonnenführers, der oberste von unsern Ärzten, selbst krank, und mit einem einzigen kranken Begleiter und einem schwarzen Diener, vor etwa drei Stunden diese Pad gezogen wäre, um unsre Abteilung zu erreichen; nun wäre aber seine Spur nicht zu finden, und es wäre zu befürchten, daß er eine andere Pad gezogen wäre, die ihn nicht zu einer Wasserstelle führen würde. Ich sollte mit zwei Mann reiten und sehn, ob ich ihn fände, und ihn zu unsrer Abteilung geleiten.

Ich war sehr froh über den Auftrag und vollführte ihn mit besonderem Glück; denn als wir etwa eine Stunde zurückgeritten waren, wobei ich jede Spur, die über die Pad lief, wie ein alter Jäger betrachtete, entdeckte ich zu meiner großen Freude, daß die drei Reiter an einer Stelle, die sandig genug war, die Spur deutlich zu zeigen, nach rechts von der Pad abgebogen waren, um den Versuch zu wagen, das Lager auf dem kürzesten Weg quer durch den Busch zu erreichen. Wir verfolgten nun also ihre Spur und sahn die drei einsamen Reiter bald vor uns in sehr dünnem Busch, wie sie auf sehr müden Pferden dahinzogen. Links ritt der Doktor, an seiner kurzen, kräftigen Figur zu erkennen; ich hatte ihn vor dem letzten Gefecht mehrmals gesehn. Sein Begleiter, der zur Linken ritt, hing im Sattel, als wenn er schliefe; dann und wann langte der Doktor nach ihm, um ihn zu halten oder ihn aufzurütteln. Der schwarze Diener ritt als Wegführer einige zwanzig Meter voran. Ich schüttelte den Kopf darüber, daß der Arzt mit so geringer Begleitung und Bedeckung von Lazarett zu Lazarett kreuz und quer durch dies weglose, durstige und von feindlichen Horden durchstrichene Land reiten mußte, und setzte mein müdes Pferd in Trab. Da sah sich der schwarze Diener auch schon um und meldete uns. Der Doktor gab seinem Begleiter wieder einen Knuff, wandte sein Pferd und nahm sein Gewehr aus dem Schuh. Da viele Feinde unsre Uniform trugen, auch unsre Schlapphüte, unter denen unsre verbrannten Gesichter fast schwarz aussahn, zumal ja die Sonne fast senkrecht herunterschien, so hielt er uns vorläufig für Feinde. Als wir aber die Hüte abnahmen, erkannte er uns. Da sah ich denn, daß sein Begleiter schwer krank war und sich nicht recht mehr im Sattel halten konnte, und daß der Doktor selbst, der beim Gefecht, vor vier Wochen, noch stattlich und frisch ausgesehn hatte, sehr zusammengefallen war und müde und fiebrig aus tiefliegenden Augen sah. Er war seit sechs Wochen von Abteilung zu Abteilung geritten und hatte gestern und heute siebzig Kilometer gemacht und in zwanzig Stunden nicht geschlafen. Während er mich nach woher und wohin fragte und aus meinem Wassersack trank und, dazwischendurch, den Schwarzen auslümmelte, der aus lauter Gleichgültigkeit und Faulheit den Wassersack nicht gefüllt hatte, halfen die Kameraden dem Begleitsmann vom Pferd und führten ihn abseits, daß er sein Bedürfnis verrichtete. Dann hoben wir ihn mit aller Macht aufs Pferd und ritten langsam weiter.

Spät abends kamen wir todmüde zu unsrer Abteilung, die an vertrockneten Wasserlöchern die Nacht zubrachte. Es war eine sehr kalte, unfreundliche Nacht. Ein scharfer, schneidender Wind fuhr über die Steppe und jagte seinen, dürren Sand über die verdurstenden Menschen und Tiere.

Am folgenden Tag kamen Gewitter über uns hin. Wie von allen Seiten stieg dunkles Gewölk auf; Donner rollten gewaltig über die weite Ebene, glühende Peitschen zuckten lang über den Himmel; Regen fuhr nieder. Aber nach einer Stunde war alle Feuchtigkeit wieder weg, und ein stürmischer Wind blies uns den Sand ins Gesicht, daß wir Augen und Mund nicht öffnen konnten. Wir schützten uns abends im Biwak vor der schneidenden Kälte, indem wir Zeltbahnen als Windschirme aufstellten; in deren Schutz kochten wir mit schlechtem Wasser bei kümmerlichem Feuer unsre alltägliche Mahlzeit, zähes Fleisch und Reis, und redeten stumpf und wenig. Fern im Osten standen mächtige Rauchwolken, von Feuer durchglüht. Der Feind verbrannte auf seinem Rückzug in die Wüste die spärliche, trockne Weide.

Am andern Tag, vor Mittag, sollten wir an einer Stelle im trocknen Flußbett Wasser finden. Wir fanden auch Löcher; sie waren aber leer. Da stiegen zwanzig Mann hinein und gruben sie tiefer; aber es kam kein Wasser. So konnten wir also weder trinken noch kochen. Auch die Pferde konnten, ungetränkt, nicht weiden; die vertrocknete Schleimhaut konnte das trockne, grobe Gras nicht verarbeiten. Es blieb nichts übrig, als weiter zu ziehn. Wir stiegen ab und führten die Pferde und gingen im tiefen Sand und heißer Sonne, mit ausgedorrtem Halse, gegen wehenden Sand an, ein langer, müder Zug. Ab und zu strauchelte ein Pferd; der Reiter riß es hoch und redete ihm zu, freundlich oder barsch. So wurde es Nacht und dunkel. Der Boden wurde steinig und hart, und wir konnten die Spur nicht mehr sehn. Da machten wir Halt, stellten Wachen rund um uns, zündeten einige Feuer an und lagen dumpfschlafend auf der Erde. Die Pferde standen und lagen neben uns an den Feuern.

Gegen Mitternacht stieg langsam der Mond auf über der weiten Steppe. Wir zogen die Wachen ein, sattelten und zogen weiter und kamen nach drei Stunden zu der Wasserstelle, welche unsre Patrouillen ausgekundschaftet hatten. Der Mondschein war so hell, daß wir schon von weitem die Wasserlöcher sahen, die als dunkle Stellen auf der kalkigweißen, gespenstisch hellen Fläche lagen. Zur Seite standen hier und da einzelne schöne, hohe Bäume. Zwei Termitenhügel standen grau und hellbeschienen unter ihnen. Es sah aus wie ein schön geebneter, marmorbelegter Platz in einem herrlichen Park, Statuen zur Seite unter hohen, stillen Bäumen. Die Pferde hoben die Köpfe; ihr Schritt wurde munterer; die verschlafenen, verfrorenen und verhungerten Reiter wurden lebendig. Nun waren die ersten am ersten Wasserloch. Aber ihre Pferde wandten sich ab und gingen zum zweiten und gingen zum dritten. Da kamen auch wir heran und spürten den aasigen Geruch, der wie ein böses, schreckliches Ungeheuer platt und gierig auf der ganzen schönen, mondbeschienenen Lichtung lag. Die Löcher waren voll von verwesendem Vieh. Da standen die Pferde mit hängenden Köpfen da, und wir neben ihnen, die aufeinander gelegten Hände aufs Gewehr aufgestützt. Und mancher wankte, verschlafen und ausgehungert, im Stehn.

Wir mußten weiter, den Rest der Nachtkühle auszunutzen. In dieser nächtlichen Stunde hat mancher gedacht: ›Wärst Du zu Hause geblieben! Könntest Du jetzt zu Hause sein; nie wieder gehst Du in die Fremde.‹ Aber sein stolperndes Pferd weckte ihn aus seinem Traum. Und wenn das Pferd nach einigen stolpernden Schritten zitternd stand und dann plötzlich vorn in die Knie fiel und sich stöhnend auf die Seite legte und die nachfolgenden gleichmütig an ihm und seinem liegenden Pferd vorbei weiter zogen und es dann hieß: »Nun, steh nicht so lange! Schnell die Packtasche ab und häng' sie Dir um!«, dann wurde mancher ganz wach; dann hieß es: »Hinter Dir und zu beiden Seiten unter den dürren Büschen trabt und läuft der Tod. Nur nach vorn ist Leben und Heimkehr.« Er bückte sich nach der Packtasche, warf noch einen langen Blick in die Augen seines Pferdes und trabte voran. An der Pad entlang lag eine Menge kleiner, erloschener Feuerstellen; daneben allerlei liegengelassenes Gut, eigenes und gestohlenes, besonders Kleider und Sättel; auch christliche Bücher, welche die Missionare ihnen geschenkt oder verkauft hatten. Der ganze Weg war voll von gefallenem Vieh. Wir hatten den Fluchtweg des Feindes erreicht. Eine Patrouille kam mit der Nachricht, daß unsre andere Abteilung einen Teil des Volkes überrascht, mit Granaten beworfen und auseinander gesprengt hatte. Am andern Tag erreichten wir endlich eine gute Wasserstelle und vereinigten uns hier mit der andern Abteilung. Vereint wollten wir nun den Feind, der an der nächsten und letzten Wasserstelle saß, angreifen und ihm den Garaus machen. Es war allgemein der Glaube, daß es ein Gefecht werden würde wie das vor vier Wochen, ebenso schwer und verlustreich.

Der General wollte seine Soldaten, die er nun vereint hatte, in Reih und Glied sehn, auch in Erwartung des Gefechts den Geist heben; also befahl er für den andern Tag Parade und Gottesdienst.

Da nahmen wir denn auf der weiten Lichtung Aufstellung: die Reiter, und die zu Fuß gehn mußten, und die Artilleristen bei ihren Kanonen. Die Ochsen, die schwarzen Treiber, die Kapwagen und der Himmel über der weiten Steppe sahen zu. Wir standen schön in Reih und Glied, und großartig klang es: »Guten Morgen, Soldaten!« – »Guten Morgen, Exzellenz!«; aber die Pferde waren mager, zottig und müde; und die Kleider und Stiefel zerrissen; und Hunger und Krankheit stand vielen im Gesicht.

Am Nachmittag um vier traten wir zum Gottesdienst an. Der Pastor war immer bei einer andern Abteilung gewesen, so daß ich ihn erst vor einigen Tagen zum erstenmal gesehn hatte. Er war ein großer, starker Mann und trug die Uniform und die hohen Stiefel wie wir und saß mit Gewehr und Patronengurt im Sattel. Auch jetzt, da er vor der Kiste stand, die mit einem roten Tuch bedeckt war, trug er die Uniform und die Reiterstiefel; er hatte aber ein goldenes Kreuz vor der Brust hängen und trug am Arm eine blau-weiße Binde mit rotem Kreuz. Es wurde zuerst das Lied gesungen: »Wir treten zum Beten vor Gott den Gerechten«; dann fing er an zu sprechen und sagte, ein Naturvolk habe sich gegen die Obrigkeit erhoben, die Gott ihm gesetzt hätte; dazu habe es sich mit entsetzlichen Morden befleckt. Da hätte die Obrigkeit uns das Schwert in die Hand gegeben; das sollten wir morgen wieder brauchen. Möchte jeder von uns als ein braver Soldat es redlich führen. Es wäre eine ernste Stunde; es möchte wohl geschehen, daß der eine oder der andre morgen den Abend nicht erlebe. Wir wollten Gottes Angesicht suchen, daß er uns etwas von seiner Heiligkeit und Ewigkeit schenke; dem, der sich ihm ergebe, habe er eine ewige Ruhe und Frieden vorbehalten. Wir merkten, daß es dem Pastor Ernst mit seinen Worten war, und daß er ganz und gar an sie glaubte; und wir wußten alle, es ginge in ein ernstes Gefecht und vielleicht in raschen Tod oder jammervolle Verwundung und traurigen Transport; und dann noch stand uns allen das bevor: schwerer, weiter, mühsamer Weg durch schreckliche Krankheiten und heißen Hunger und quälenden Durst, bis wir wieder nach der fernen Heimat kamen. Darum hörten auch alle mit großem Ernst zu. Dann nahmen wir die Hüte ab zum Gebet.

Abends um zehn Uhr machten wir uns auf. Das Land war leicht wellig, mit dünnem Busch bedeckt. Wir zogen oben auf der Höhe einer Welle entlang und sahen im Mondschein die weichen, schönen Linien der Hügel; unten in der Niederung lief ein breiter, heller Streifen, das Sandbett eines Flusses. Es wurde vier Uhr, und es wurde Morgen; vom Feinde war nichts zu sehen. Aber wir dachten: ›Wenn wir die Höhe vor uns erreicht haben, werden wir den Feind sehen.‹ Es ging trotz der heißer werdenden Sonne weiter. Die Spitze erreichte die Höhe und verschwand. Kein Schuß. Die vordere Kompanie erreichte die Höhe. Kein Schuß. Wir sahen, wie die Artilleristen die Staubkappen von den Geschützen nahmen. Weit von vornher fielen einige Schüsse. Nun erreichten auch wir die Höhe. Vom Feinde war nichts zu sehen als unten in der Ferne eine ungeheure, schwere Staubmasse, die rasch durch die Steppe vorwärtszog.

Da war es klar, daß dem stolzen Volke aller Mut und alle Hoffnung vergangen war; daß sie lieber den Tod in der Wüste wollten, als weiter mit uns kämpfen.

Wir ruhten ein wenig an der vom Feinde verlassenen Wasserstelle und an seinen noch brennenden Feuern; dann zogen wir auf müden Pferden weiter. Gegen Abend, als wir am Flusse entlang zogen, kamen wir zu einer Stelle, wo Wasser sein sollte. Wir fanden auch einige alte Wasserlöcher, daneben Hunderte von neuen, welche die Feinde gestern gemacht hatten. Sie waren bis vier Meter tief und tiefer: aber Wasser hatten sie nicht.

Es kam aber die Meldung, daß ungefähr fünf Reitstunden weiter noch eine letzte Wasserstelle wäre, an welcher Haufen Feinde säßen. Da wurde beschlossen, daß wir sie da noch vertreiben müßten und wollten. Wenn wir sie von dort verjagt hatten, dann blieb ihnen nichts weiter als das Sandfeld.

Um ein Uhr in der Nacht traten wir an und zogen, müde Pferde und Reiter, sieben Stunden. Da kamen wir zu der Stelle; aber Wasser war nicht da. Von einer Anhöhe aus sahen wir, wie zwei mächtige Staubwolken eilig nach Osten und Nordosten zogen, hinein in den Dursttod. Aber auch wir waren am Ende. Der vierte Mann war an Ruhr oder Typhus krank; die anderen überangestrengt. Von unseren Pferden waren über die Hälfte gefallen; unsere Kleider und Sättel waren zerrissen. Und wir waren sieben Stunden von der nächsten dürftigen Wasserstelle entfernt und vierundzwanzig von der besseren. Es war die Gefahr nicht fern, daß wir hier am Rande der Wüste hängen blieben. Darum befahl der General, die Verfolgung abzubrechen.

Doch sollten einige Patrouillen versuchen, noch einige Stunden weit vorzustoßen. Es meldeten sich, wie zu allen Patrouillenritten, so auch jetzt zu diesem letzten schweren, Freiwillige genug. Da ich ein guter Reiter war, bekam ich das Pferd eines Unteroffiziers, der eben krank aus dem Sattel geglitten war, und ritt mit der einen Patrouille aus dem Lager. Ein Oberleutnant, der aussah wie ein Gelehrter, führte uns. Wir ritten und ritten; wir rasteten eine Stunde. Dann zogen wir weiter. Wenn wir zehn Minuten schwerfällig getrabt hatten, sprangen wir ab und führten die Pferde, und zwar so, daß einer zwei Pferde zog und der andere sie von hinten her antrieb. So ging es ziemlich rasch vorwärts. Dem Oberleutnant wurde die Stimme in der vertrockneten Kehle heiser von dem Kommandieren: »Absitzen ... Aufsitzen ... Trab!«

Einige Male sahen wir von einer kleinen Erhöhung die Staubmasse, die sich langsam vorwärts schleppte; aber wir kamen ihr wenig näher. Wir dachten, sie sollten rasten; dann wollten wir sie mit unserer letzten Kraft erreichen und durch unsere Erscheinung und unser Gewehrfeuer aufschrecken und noch weiter in die Öde jagen. Die Sonne brannte entsetzlich heiß auf das weite, dürre Land. Mein Hals war so ausgetrocknet, daß ich jedesmal, wenn ich dem Drange zu schlucken folgte, vor Schmerz leise stöhnte. Ich hatte zuweilen ein plötzliches Gefühl der Angst, daß ich aus dieser schrecklich dürren, heißen Luft herausmüßte und weg von dieser stechenden Sonne, sonst würde sich mein Verstand plötzlich, mit einem schrecklichen Aufschrei, verwirren. Ich konnte nicht widerstehen und trank das letzte Wasser im Sack und befeuchtete mit dem feuchten Sack meine brennenden Augen. Bald danach fing einer von uns zwanzig an, im Sattel zu wanken und vor sich hin zu murmeln; als ich mich nach rückwärts umsah, wie es mit den anderen stand, hingen zwei oder drei bleich und stumpf im Sattel, andere ritten mit tiefliegenden geschlossenen Augen. Der Unteroffizier sah mich mit einem Blick an, als wenn er sagen wollte: »Es ist ein Wahnsinn, daß wir noch weiter reiten.«

Gleich darauf ließ der Oberleutnant auch Halt machen und ließ fünf absteigen und sich hinlegen. Wir deckten sie vor der Sonne mit ihren Mänteln zu und zogen weiter. Aber nach ungefähr einer Stunde konnten fünf oder sechs die Pferde nicht mehr führen; die Glieder waren ihnen wie Blei. Zwei zitterten an allen Gliedern und erbrachen sich. Wir ließen sie sich hinlegen und deckten sie zu; sie lagen noch nicht, da schliefen sie schon wie Tote.

Ich merkte, daß der Oberleutnant sich sehr ärgerte, daß er nicht weiter konnte, obgleich er selbst kaum mehr sprechen konnte. Er stand und sah mit dem Glase nach der Anhöhe hinauf, hinter der die Staubwolke verschwunden war – es lag noch wie ein Dunst über der Höhe –; er wollte gern, daß wir uns da oben zeigten, wenn etwa die Feinde jenseits der Höhe Halt gemacht hätten, in der Hoffnung, die deutschen Truppen wären nun endlich umgekehrt. Ein Schutztruppler, der mit dabei war, trat an ihn heran und sagte, daß er und sein Pferd wohl noch kräftig genug wären, ein bis zwei Stunden zu reiten, zumal es gegen den Abend ginge. Da trat auch ich heran und bot mich an, mit ihnen zu reiten. Wir machten mit den andern ab, daß sie zu den ersten fünf zurückkehren und dort bis zehn Uhr auf uns warten sollten. Kämen wir bis dahin nicht, so sollten sie den Rest der Nachtstunden benutzen, zum Lager zu kommen. Ich hatte die heimliche Meinung, daß die beiden ihren Plan nicht eher aufgeben würden, als bis sie vor Übermüdung zusammenbrächen. Da wollte ich bei ihnen sein; denn ich hielt mich für stärker als sie.

Nach einer halben Stunde machten wir uns auf. Das Führen der Pferde gaben wir auf; wir blieben im Sattel. Nach einer Weile kamen uns drei Kühe entgegen; sie waren entsetzlich mager und brüllten kläglich; dem einen Tier war mit einem Messerschnitt die Seite aufgeschnitten, wohl um das hervorquellende Blut zu trinken. Wir ritten eine Weile weiter; da lag eine Ziege am Weg und neben ihr ein Knabe mit magern, merkwürdig langen Gliedern, als hätten sie sich im Sterben gereckt. Wir bogen kaum aus mit unseren Pferden, daß sie ihn nicht traten; es ist merkwürdig, wie gleichgültig uns Mensch und Menschenleben ist, wenn es von anderer Rasse ist. Nach einer halben Stunde oder mehr näherten wir uns der Höhe; der Schutztruppler ritt voran, das Gewehr zur Hand; der Oberleutnant und ich hinterher. Es ging sehr langsam. Da spähte ich von ungefähr nach einigen Büschen hinüber, die, in einer Entfernung von ungefähr fünfzig Metern, dichter beieinanderstanden als die andern, und sah zwischen und unter den Büschen, Schulter dicht an Schulter, Menschen sitzen in Klumpen, ganz unbeweglich. Einige hatten die Köpfe ganz tief auf der Brust, die Arme lang herabhängend, als wenn sie schliefen; andre saßen an Busch oder Nachbar angelehnt, mit offenem Mund, rasch und trocken atmend, und sahen uns mit blöden Augen an; einige, Frauen und Kinder, hatten sich schräg zur Seite auf die Beine und den Schoß der Sitzenden gelegt. Ich hatte den beiden andern leise gesagt, was ich sah; sie warfen einen langen Blick hinüber, sagten aber nichts. Wir ritten weiter. Der Schutztruppler zeigte noch zwei- oder dreimal in die Büsche; ich sah darüber hin. So erreichten wir die Höhe und spähten über die Steppe, die wie ein gelblich graues Meer in unendlicher Weite und lautloser Stille zu unseren Füßen lag. Die langen Strahlen der untergehenden Sonne lagen wie Streifen dünnen hellglänzenden Tuchs drüber.

Wir sprangen von den Pferden und lockerten die Gurte und legten uns auf die Erde. Das Pferd des Schutztrupplers fing an, über sein Gesicht zu schnuppern; er merkte es nicht, er war schon eingeschlafen. Der Oberleutnant stand wieder auf und sagte mit mühsamer, heiserer Stimme: »Stehn Sie auf! Wenn wir einschlafen, verschlafen wir die Nacht; und dann sind wir verloren.« Ich stand auf, und wir beide standen eine Weile in dumpfem Sinnen zwischen Wachen und Schlafen. Die Sonne versank in der roten Glut; es wurde kühler; die Pferde wurden etwas muntrer und fingen an, mit müden Schritten einige Büschel abzureißen. Nach einer Weile erwachte der Schutztruppler und fragte mit kläglicher Stimme, ob nicht ein einziger Tropfen Wasser da wäre. Ich sagte: »Nein.« Er sagte: »Der Oberleutnant hat etwas.« Ich sagte: »Nein.« Da sagte er, er könne es nicht mehr aushalten ohne Wasser; er hätte sich zuviel zugetraut; er müsse hier sterben.

Der Oberleutnant, der, sich am Sattel seines Pferdes haltend, im Stehn halb geschlafen hatte, war bei einem Schritt seines Pferdes aufgewacht und tröstete ihn: »Ermuntern Sie sich; wir brechen gleich auf. Dann geht es nach Haus; der Krieg ist ja nun zu Ende.« »Ja,« sagte der Schutztruppler, »der ist zu Ende: vierzigtausend von ihnen sind tot; all ihr Land gehört nun uns. Aber was hilft es mir; ich muß hier sterben.« Er bat kläglich: »Haben Sie nicht einen einzigen Tropfen Wasser?« Der Oberleutnant schüttelte den Kopf: »Sie wissen, daß ich nichts habe. Nutzen Sie noch ein wenig; die Nacht ist da; die wird uns frischer machen.«

Der Schutztruppler stand schwerfällig auf und ging mit gekrümmtem Rücken seitwärts die Anhöhe hinunter, wo einige Büsche standen. Ich sagte: »Was will er? Ich glaube, er ist von Sinnen; er will Wasser suchen.«

In dem Augenblick kam aus dem Busch, in dem der Schutztruppler verschwunden war, ein kurzes Geräusch von Schelten, Laufen und Springen. Gleich darauf erschien er und hielt einen baumlangen, magern Schwarzen in europäischer Kleidung an der Hüfte und riß ihm das Gewehr aus der Hand und schalt in fremder Sprache auf ihn ein und zerrte ihn zu uns heran und sagte: »Ein deutsches Gewehr hat der Lump; Patronen hat er nicht mehr.« Er war ziemlich munter geworden, fing an, auf ihn einzureden, drohte ihm und stieß ihn in die Knie. Der Schwarze hockte und antwortete auf jede Frage mit einem großen Wortschwall und mit raschen, sehr gelenkigen und merkwürdigen Bewegungen der Arme und Hände. »Er sagt, er hat den Krieg nicht mitgemacht.« Dann fragte er wieder und deutete nach Osten, und der Schwarze deutete auch dahin und antwortete dies und das, wovon ich nichts verstand. Der Schutztruppler sagte: »Er lügt mir die Haut voll.« Er drohte ihm mit dem Gewehr und fragte weiter. So ging es eine Weile. Ich höre noch die beiden leise kreischenden, vertrockneten Stimmen, die des Deutschen und des Fremden. Dann hatte er wohl genug erfahren und sagte: »Der Missionar sagte einmal zu mir: ›Mein Lieber, vergessen Sie nicht: die Schwarzen sind unsere Brüder;‹ nun will ich meinem Bruder seinen Lohn geben.« Er stieß den Schwarzen von sich und deutete: »Lauf weg!« Der sprang auf und versuchte, in langen Zickzacksätzen schräg hinunter über die Lichtung zu kommen.

Aber er hatte noch nicht fünf Sprünge gemacht, da traf ihn die Kugel, daß er lang nach vorn hinschlug und still lag.

Ich knurrte ein wenig; ich dachte, der Schuß könnte feindliche Haufen, die etwa noch zurückgeblieben waren, auf uns aufmerksam machen; der Oberleutnant aber meinte, mir wäre nicht recht, daß er den Schwarzen erschossen hatte, und sagte in seiner gelehrten, bedächtigen Weise: »Sicher ist sicher. Der kann kein Gewehr mehr gegen uns heben und keine Kinder mehr zeugen, die gegen uns kämpfen; der Streit um Südafrika, ob es den Germanen gehören soll oder den Schwarzen, wird noch hart werden.«

Der Schutztruppler lehnte sich in schweren Brustschmerzen an sein Pferd und erzählte mit seiner gequälten Stimme: »Als wir einmal da im Süden mit unserm Hauptmann am Feuer saßen, da sagte er, zwei Millionen Deutsche würden hier wohnen; ihre Kinder, sagte er, würden sicher durchs Land reiten und ihre Gespielen besuchen und würden unterwegs ihre Pferde an den alten Wasserstellen tränken und an vielen neuen, welche überall gegraben würden. Aber ich werde nichts davon sehn, krank bin ich, schrecklich krank. Habt ihr nicht einen einzigen Tropfen Wasser?« Er hielt sich am Sattel seines Pferdes und sah mit stieren Augen über die Steppe, über welcher die Sterne erschienen.

Der Oberleutnant redete ihm zu und setzte es durch, daß er sich hinlegte, und deckte den Mantel über ihn. Er selbst stand mit der Uhr in der Hand neben seinem Pferd und hob die Uhr im Takt, um sich wach zu halten. So standen wir beide eine gute Weile. Darauf sagte er: »Diese Schwarzen haben vor Gott und Menschen den Tod verdient, nicht weil sie die zweihundert Farmer ermordet haben und gegen uns aufgestanden sind, sondern weil sie keine Häuser gebaut und keine Brunnen gegraben haben.« Dann kam er auf die Heimat zu sprechen und sagte dies und das und meinte: »Was wir vorgestern vorm Gottesdienst gesungen haben: ›Wir treten zum Beten vor Gott den Gerechten,‹ das verstehe ich so: Gott hat uns hier siegen lassen, weil wir die Edleren und Vorwärtsstrebenden sind. Das will aber nicht viel sagen gegenüber diesem schwarzen Volk; sondern wir müssen sorgen, daß wir vor allen Völkern der Erde die Besseren und Wacheren werden. Den Tüchtigeren, den Frischeren gehört die Welt. Das ist Gottes Gerechtigkeit.«

Der Schutztruppler war eingeschlafen; der Oberleutnant stand aufrecht, zuweilen ein wenig schwankend, die Uhr in der Hand. Ich stand neben meinem Pferd, halb wachend, halb schlafend. Der Mond ging auf; die Nacht wurde kalt und windig. Nach einer Weile sagte der Oberleutnant: »Aber der Missionar hat doch recht, daß er sagt, daß alle Menschen Brüder sind.«

Ich sagte: »Dann haben wir also unsern Bruder getötet;« und sah nach dem dunkeln Körper, der lang im Grase lag.

Er sah auf und sagte mit seiner heisern, schmerzenden Stimme: »Wir müssen noch lange hart sein und töten; aber wir müssen uns dabei, als einzelne Menschen und als Volk, um hohe Gedanken und edle Taten bemühen, damit wir zu der zukünftigen, brüderlichen Menschheit unser Teil beitragen.« Er stand und sah in Gedanken über die weite, mondbeschienene Steppe und wieder auf den stillen, toten Körper.

Ich hatte während des Feldzugs oft gedacht: ›Was für ein Jammer! All die armen Kranken und all die Gefallenen! Die Sache ist das gute Blut nicht wert!‹ Aber nun hörte ich ein großes Lied, das klang über ganz Südafrika und über die ganze Welt und gab mir einen Verstand von der Sache.

Nach einer Weile deutete er mit der Hand, daß wir aufbrechen wollten. Er ging mit schweren Schritten zu dem Schlafenden, weckte ihn und brachte ihn mit Mühe in die Höhe und befahl mir, die Gurte der Pferde anzuziehn. Dann halfen wir dem Schutztruppler in den Sattel, stiegen auf und ritten davon.

Wir fanden die Zurückgelassenen beisammen in tiefem Schlaf; der Unteroffizier allein saß auf einem Sattel in ihrer Mitte und wachte.

Es war ein mühsamer Ritt durch den Rest der Nacht. Einige baten immer wieder um Wasser; zwei mußten im Sattel gestützt werden. Ich selbst weiß wenig von diesen Stunden; mein Geist war weit weg in Traum und Schlaf. Eine Stunde nach Sonnenaufgang, als die Hitze anfing lästig zu werden, erreichten wir das Lager.

Sie rüsteten zum Aufbruch. Der Feldzug war zu Ende.


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