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Der Erbprinz ging mit dem Kammerherrn durch die Gartenanlagen, welche drei Seiten des fürstlichen Schlosses umgaben. Er sah gleichgültig auf die Farbenpracht der ersten Blumen und das junge Grün der Bäume, welches wie ein durchsichtiger Schleier um die Äste schwebte, heut war er noch schweigsamer als gewöhnlich; während der Vogel aus den Zweigen über ihm seine Weise pfiff, die Wellen der Frühlingsluft würzig von den Baumwipfeln wehten und gelben Blumenstaub auf seinen Hut streuten, klapperte er mit der Lorgnette. »Wer pfeift dort?« fragte er endlich, aus seiner Teilnahmlosigkeit erwachend. Der Kammerherr sagte ihm, daß es eine Amsel sei. Der Prinz suchte den schwarzen Vogel mit den Gläsern und fragte dabei nachlässig: »Was tragen die Leute vor uns?«
»Es sind Stühle für den Pavillon,« versetzte der Kammerherr, »er wird dem Professor Werner eingerichtet. Das Haus ist jetzt selten geöffnet, früher bewohnte es der gnädigste Herr zuweilen selbst auf einige Tage.«
»Ich erinnere mich nie darin gewesen zu sein.«
»Wollen Hoheit vielleicht die Räume betrachten?«
»Wir können vorbeigehen.«
Der Kammerherr lenkte auf den Pavillon zu, bei der Tür stand der Hofmarschall, welcher gerade zum Rechten sehen wollte. Der Erbprinz grüßte, warf einen flüchtigen Blick auf das Haus und wollte vorübergehen. Es war ein kleiner vergrauter Steinbau in verwegenem Zopfstil, um Tür und Fenster muschelartige Arabesken und dicke Gehänge von steinernen Blumen, welche von kleinen wassersüchtigen Engeln an Bändern gehalten wurden, die Bänder waren wie aus Elefantenleder geschnitzt, die Genien sahen aus, als wären sie aus schwarzem Sumpf gekrochen und eben erst in der Sonne getrocknet. Unter dem jungen Laub stand der finstere Bau wie eine große Kommode, in welcher alle gewelkten Blumen, die der Garten je getragen, und alle Moosbärte, die der Gärtner je von den Bäumen gekratzt, für spätere Geschlechter aufbewahrt werden.
»Es ist ein plumpes Haus,« sagte der Prinz.
»Gerade das düstere Aussehen hat dem gnädigsten Herrn immer wohlgefallen,« versetzte der Hofmarschall. »Wollen Ew. Hoheit nicht das Innere ansehen?« Langsam ging der Prinz die Stufen hinauf und durchschritt die Zimmerreihe. Noch war der Modergeruch in den langverschlossenen Räumen nicht durch das Räucherwerk gebändigt, in allen Kaminen flammten die Scheite, aber die Wärme, welche sie verbreiteten, kämpfte noch gegen die feuchte Luft. Die Einrichtung der Zimmer war durchaus regelrecht und vollständig. Schwere Türvorhänge mit großen Quasten und geschweifte Möbel mit vieler Vergoldung und weißen Kappen zur Schonung der seidenen Überzüge, Spiegel mit breiten Barockrahmen; um die Kamine Laubgewinde aus grauem Marmor, darüber geschnörkelte Vasen und Nippsachen aus gemaltem Porzellan. Im Ankleidezimmer stand auf einem Marmoruntersatz unter Glasglocke eine große Uhr, über dem Zifferblatt goß eine nackte vergoldete Nymphe aus ihrer Urne Wasser, welches zu gelbem Eis gefroren war. Alles war reich ausgestattet, aber die ganze Einrichtung, Möbel, Porzellan, Wände sahen aus, als hätte nie ein Auge mit Freude darauf geruht, nie eine sorgliche Hausfrau sich des Besitzes gefreut. Die Uhr war einst ein Geburtstagsgeschenk für den regierenden Herrn von einem gleichgültigen Verwandten gewesen, sie war flüchtig betrachtet beim Kauf und ebenso freudelos beim Empfange, jetzt war sie mit einer Nummer eingetragen worden in die große Liste, sie hatte sich in den ersten Jahren bemüht, durch Ticken ihr Zimmer behaglich zu machen, ihre Glasglocke hatte immer den Schall gedämpft, endlich hatte sie die unnützen Versuche aufgegeben und beharrte darauf, die zwölfte Stunde zu zeigen. Jetzt, wo der Kastellan sie von neuem aufzog, tickte sie wieder müde und abgespannt, aber man sah ihr den Wunsch an, auch diese Anstrengung zu beenden. Es waren vornehme Allerweltssachen, sie hatten zuerst in den großen Gesellschaftsräumen gestanden, welche bei Hoffesten geöffnet werden, sie hatten aufgehört modisch zu sein und waren in Seitenzimmer gebracht worden. Jetzt war ihre Bestimmung, im Verzeichnis fortgeführt zu werden von einem Zeitalter auf das andere, und alljährlich einmal gezählt, ob sie noch vorhanden waren. So lebten sie ein unsterbliches Dasein, geschont und nicht gebraucht, bewahrt und nicht beachtet, und dabei sollten sie immer höher hinauf gefördert werden aus den Kavalierstuben in die Zimmer der Unterbeamten, zuletzt nach langer Ruhe auf den Boden.
»Es ist feucht und kalt hier,« sagte der Prinz, an den Wänden umherblickend, und beeilte sich, wieder ins Freie zu kommen.
»Wie gefällt Ew. Hoheit die Einrichtung?« fragte der Hofmarschall.
»Sie geht an,« versetzte der Prinz, »bis auf die Bilder.«
»Einige sind freilich etwas frei,« gab der Marschall zu.
»Meinem Vater wird lieb sein, wenn Sie diese beiseite stellen. Wann wird Herr Professor Werner erwartet?«
»Heut gegen Abend,« versetzte der Kammerherr. »Haben Hoheit vielleicht den Wunsch, den Gast nach seiner Ankunft zu empfangen oder selbst zu begrüßen?«
»Fragen Sie deshalb an,« erwiderte der Prinz.
Als der Prinz mit seinem Begleiter die Treppe zu seinen Zimmern im Schlosse hinaufstieg, begann der Kammerherr: »Die Frau Professorin hat sich früher einmal über die Blumen gefreut, welche Ew. Hoheit ihr sandten, darf ich dem Hofgärtner den Auftrag geben, die Zimmer damit zu versehen?«
»Tun Sie, was Ihnen passend dünkt,« versetzte der Erbprinz kalt. Er trat in seine Wohnung, sah hinter sich, ob er allein war, und ging mit schnellen Schritten zu dem Fenster, von welchem er über den geschorenen Rasenplatz und die blühenden Gebüsche auf den Pavillon sehen konnte. Er starrte lange zum Fenster hinaus, dann nahm er ein Buch vom Tisch und setzte sich in die Sofaecke, zu lesen, aber er legte das Buch wieder auf den Tisch, ging hastig auf und ab und sah auf die Uhr.
Die Hoftafel war vorüber. Die Damen warfen einen halben Blick hinter sich, ob ihr Hintergrund der Abschiedsverbeugung günstig sei, die Herren faßten die Hüte unter den Arm, der Hofmarschall trat in die Nähe der Tür und hielt mit gefälligem Anstand seinen Stock unter dem Goldknopf, sichere Anzeichen, daß die höchsten Herrschaften an den Aufbruch dachten. Die Prinzeß, welche noch in Trauer war, kreuzte den Weg des Bruders: »Wann kommen sie? Ich bin neugierig,« fragte sie leise.
»Sie sind vielleicht schon da,« antwortete dieser vor sich niedersehend.
»Ich fahre heut zum erstenmal ins Theater,« fuhr die Prinzessin fort, »kannst du, so komm in die Loge.«
Der Prinz nickte. Dem Marschall kam eine Meldung, er trug sie zu dem Fürsten. »Dein Lehrer Professor Werner ist angekommen,« sagte der Fürst laut zum Sohne, »du wirst den Wunsch haben, ihn zu begrüßen.« Er neigte sich gegen den Hof, die jungen Herrschaften schwebten hinter ihm aus dem Saale.
Der Kammerherr eilte dem Pavillon zu, ruhiger folgte der Hofmarschall. Ein fürstlicher Wagen hatte die Reisenden von der letzten Station abgeholt, die Bäume des Parkes, die Anlagen und die erleuchteten Fenster des Residenzschlosses flogen an den Reisenden vorüber. Der Pavillon war nicht mehr ein unförmlicher Bau, wie heut am Tage vor dem rücksichtslosen Strahl der Sonne und den gleichgültigen Augen der Hofherren. Der Mond beschien die Front, er übermalte mit schimmerndem Firnis die Mauern, versilberte die Backen der Engel und die dicken Tulpenblätter ihrer Blumengewinde und hob von der hellen Wandfläche die Schatten der vorspringenden Gesimse kräftig ab. Aus der geöffneten Tür drang Kerzenglanz, Lakaien in reichbetreßter Livree hielten die schweren Armleuchter. Der Haushofmeister, ein freundlicher Mann in Frack und Kniehosen, stand im Hausflur und begrüßte die Ankommenden mit verbindlichen Worten. Hinter den Lakaien stieg Ilse am Arm des Gatten über den Teppich der Stufen, und als der Diener den Türvorhang zurückschlug und die Zimmerreihe im Kerzenglanz strahlte, unterdrückte sie mit Mühe einen Ausruf des Erstaunens. Der Haushofmeister führte durch die Zimmer und erklärte kurz ihre Bedeutung, Ilse erkannte mit schnellem Blick, wie stattlich und bequem auch die Nebenräume waren. Bewundernd stand sie vor der Blumenfülle, die in Vasen und Schalen aufgestellt war, sie dachte, ob ihr kleiner Prinz diese zarte Aufmerksamkeit gehabt, und war einen Augenblick enttäuscht, als der Beamte erklärte, der Herr Kammerherr habe dies gesandt. Während ihr ein artiges Mädchen vorgeführt wurde, das ausschließlich für ihren Dienst bestimmt war, stand Gabriel noch im Vorzimmer und überlegte, wohin er sich und sein Rüstzeug tragen sollte, damit die Stiefel des Herrn Professors morgen früh dem Glanz des Hauses keine Schande machten, bis auch ihn einer der Lakaien in seine höhere Behausung einführte und kameradschaftlich auf die Laterne eines Gasthauses aufmerksam machte, das für ruhige Stunden vorzüglich gelegen sei.
Noch ging Ilse wie betäubt von der Herrlichkeit durch die Gemächer und prüfte gerade den Verschluß der Fenster, um frische Luft einzulassen, denn der starke Geruch der Hyazinthen bedrohte mit Kopfschmerz, da kam der Kammerherr und hinter ihm der Hofmarschall, auch ein artiger Herr von sehr feinem Wesen, und beide sprachen ihre Freude aus, den Professor und seine Gemahlin hier zu begrüßen, sie erboten sich zu jedem guten Dienst und erklärten an den Fenstern die Lage des Pavillons. Plötzlich riß der Lakai die Flügeltüren auf: »Des Erbprinzen Hoheit.«
Der junge Herr trat langsam über die Schwelle, er verneigte sich stumm vor Ilse und bot dem Professor die Hand: »Mein Vater trug mir auf, Ihnen seine Freude auszusprechen, daß Sie seinen Wunsch erfüllt haben,« und zu Ilse gewandt fuhr er fort: »Möchte Ihnen die Wohnung so bequem sein, daß Sie Ihr Quartier an der Waldwiese nicht zu sehr vermissen.«
Ilse sah mit inniger Freude auf ihren Prinzen; er war, wie ihr schien, noch ein wenig gewachsen, seine Haltung war immer gedrückt, aber die Wangen waren doch etwas gerötet, es ging ihm nicht schlecht, das war wohl zu sehen. Auch der kleine Bart war stärker und stand ihm gut.
Sie erwiderte: »Ich wage mich noch kaum umzudrehen, es ist wie in einem Feenschloß, man erwartet jeden Augenblick, daß ein Geist aus der Wand springen wird und fragen: befehlen Sie vielleicht, durch die Luft zu fahren? vier Schwäne halten mit einem goldenen Wagen am Fenster; man braucht auch keinen Stuhl, um hineinzusteigen, denn die Fenster reichen ja bis auf den Fußboden. – Die Parkstraße sendet ihre Huldigungen, und für die Sendung, welche mir der Herr Kammerherr unter die letzten Christbäumchen machte, sage ich Ew. Hoheit noch von Herzen Dank.«
Der Professor trat zum Prinzen, nannte ihm die Namen einiger Amtsgenossen, welche sich ihm zu geneigtem Andenken empfehlen ließen, und bat, dem Fürsten seinen Dank für die gastliche Aufnahme auszusprechen, bis ihm selbst die Ehre werde, sich dem hohen Herrn vorzustellen. Alles kräuselte sich in runden und zierlichen Schnörkeln, die Lampen und silbernen Armleuchter glänzten, die Hyazinthen sendeten aus allen Glöckchen süßen Wohlgeruch, die geschlossenen Vorhänge gaben den Zimmern ein trauliches Aussehen und an der gemalten Decke hielt ein fliegender Amor ein rotes Mohnbüschel über die Häupter der Gäste.
»Heut überlassen wir Sie der Ruhe, Sie müssen ermüdet sein,« schloß der Prinz den Besuch, und der Kammerherr versprach morgen bei guter Stunde dem Professor mitzuteilen, wann der Fürst ihn empfangen werde. Kaum hatten die Herren sich entfernt, als ein Diener meldete, daß zum Diner im Nebenzimmer serviert sei. »Jetzt am Abend?« wandte Ilse schüchtern ein.
»Das hilft nichts,« versetzte der Professor, »du hast den ersten Schritt getan, erweise auch ferner deine Tapferkeit.« Er bot ihr in dieser ritterlichen Luft den Arm, der Mann mit den Tressen führte in das Nebenzimmer und rückte die Stühle des reichgeschmückten Tisches. Die Gänge wollten kein Ende nehmen, trotz Ilses Widerspruch schnurrte das volle Mahl ab, und sie sagte endlich: »Ich lasse mir alles gefallen, diesen Geistern gegenüber hilft kein Sträuben; wer in einem Fürstenschlosse lebt, muß auch seine Dreistigkeit haben.«
Als die Mahlzeit endlich abgetragen und Ilse auch ihrer Sorge um Gabriel enthoben war, begann sie sogleich sich geschäftig einzurichten. Während sie auspackte und in Schränke und Schubkästen legen ließ, sagte sie heimlich zum Gatten: »Das ist ein sehr schöner Willkommen, Felix, und ich habe jetzt ein rechtes Vertrauen, daß alles gut gehen wird.«
»Hast du denn je daran gezweifelt?« fragte der Professor.
Ilse antwortete: »Ich habe eine heimliche Angst gehabt bis zu dieser Stunde, weiß selbst nicht warum, jetzt aber ist sie verschwunden, denn die Menschen sind hier alle freundlich und sehen gutherzig aus.«
Der Prinz ging durch die Anlagen dem Schlosse zu. Hinter ihm unterhielten sich die beiden Kavaliere.
»Das ist ja eine außergewöhnliche Erscheinung,« sagte der Hofmarschall, »eine Schönheit ersten Ranges, darin ist Rasse.«
»Es ist eine in jeder Hinsicht ausgezeichnete Frau,« versetzte der Kammerherr laut.
»Das haben Sie mir schon einmal gesagt,« erwiderte der Hofmarschall, »ich wünsche Ihnen nachträglich Glück zu dieser Bekanntschaft von der Universität.«
»Wie gefällt Ihnen der Professor?« fragte ablenkend der Kammerherr.
»Er scheint ein gescheiter Mann,« entgegnete der Hofmarschall gleichgültig. »Nun, es ist lange her, seit der Pavillon eine solche Schönheit bewahrt hat.«
Der Prinz wandte sich um, er sah beim Schein des großen Kandelabers am Schlosse, daß die Herren einen schnellen Blick miteinander austauschten.
Der Wagen des Prinzen hielt an der Treppe, er stieg ein ohne Wort und Gruß für seine Begleiter und fuhr in die Oper. Dort trat er in den Salon der fürstlichen Loge.
»Wie gefallen sich die Fremden in ihrem Pavillon?« fragte der Fürst freundlich.
»Sie sind mit allem zufrieden,« versetzte der Erbprinz, »aber die Räume sind feucht, und sie werden für längeren Aufenthalt ungesund sein.«
»Sie waren das doch bis jetzt nicht, soviel ich mich erinnere,« versetzte der Fürst kalt, »ich hoffe, auch du wirst dich davon überzeugen.« Und zu dem Kammerherrn gewandt befahl er: »Morgen nach dem Frühstück wünsche ich Herrn Werner zu sprechen.«
Der Erbprinz ging in die Loge seiner Schwester und setzte sich stumm an ihre Seite.
»Wo sind die Plätze der Fremden?« fragte die Prinzessin.
»Ich weiß nicht,« erwiderte der Prinz. Die Prinzessin sah fragend hinter sich. »Gegenüber, die Fremdenloge,« erklärte der Kammerherr, »aber sie haben heut wohl noch mit ihrer Einrichtung zu tun.«
»Was ist dir, Benno?« fragte die Schwester nach dem ersten Akt, »du hustest.«
»Ich habe mich ein wenig erkältet, es geht vorüber.«
Nach dem Theater zog sich der Prinz in sein Schlafzimmer zurück und klagte gegen Krüger über Kopfschmerz und rauhen Hals. Als er allein war, öffnete er das Fenster und sah über die Anlagen nach dem Pavillon, dessen Lichter wie Sterne durch die Nacht schimmerten. Der Prinz horchte, ob er einen Ton von drüben erlauschen könne. Ihm war warm, denn er nahm seine Halsbinde ab und stand lange unbeweglich am Fenster, bis die kühle Nachtluft sein Zimmer durchzogen hatte und drüben das letzte Licht erloschen war. Dann schloß er leise die Flügel und ging zu Bett.
Vorsichtig war das nicht, denn der Prinz, dessen Gesundheit ohnedies leicht gestört wurde, fühlte sich am nächsten Morgen stark erkältet, der Leibarzt ward eilig gerufen, der Prinz mußte das Bett hüten.
Als dem Fürsten die Erkrankung des Erbprinzen gemeldet wurde, geriet er in sehr üble Laune. »Gerade jetzt,« rief er, »er hat alles Unglück eines kränklichen Menschen.« Noch als der Professor gemeldet wurde, war die Weise, in welcher der Fürst die Meldung annahm, so kalt und wegwerfend, daß der Kammerherr um die nächste Stunde des Professors besorgt wurde. Indes übten die lange Gewöhnung, sich huldreich darzustellen und die sichere Haltung des Professors besänftigenden Einfluß; nach wenigen einleitenden Worten versetzte der Fürst die Unterhaltung nach Italien, es fand sich, daß der Professor in Briefwechsel mit einem vornehmen Römer von ungewöhnlicher Gelehrsamkeit stand, den der Fürst zu seinen näheren Bekannten zählte, und daß er in Italien auch in den Kreisen gelebt, welche dem Fürsten bei seiner letzten Reise wohlgetan hatten. Dadurch wurde der Professor dem Fürsten allmählich in ganz anderes Licht gestellt, er hatte ihn als ein gleichgültiges Werkzeug herzugeholt und sah jetzt in ihm einen Mann, der persönliche Beachtung zu fordern hatte, weil er mit andern bekannt war, deren Stellung der Fürst respektierte. Darauf fragte der Fürst, wie es mit der verlorenen Handschrift stehe, und beobachtete lächelnd den leidenschaftlichen Eifer des Professors, als dieser ihm von der neuen Spur berichtete, die er in den Akten gefunden. »Es wird gut sein, wenn Sie mir in einer Denkschrift den ganzen Stand der Angelegenheit auseinandersetzen, das kommt meinem Gedächtnis am besten zu Hilfe; fügen Sie bei, welche Förderung Sie von mir oder meinen Beamten irgend wünschen.« Der Professor war dafür sehr dankbar.
»Ich lasse mir nicht nehmen, Sie selbst in das Antikenkabinett zu führen,« fuhr der Fürst fort, »ich will dabei erfahren, wie ein Gelehrter, der volles Sachverständnis hat, die stillen Freuden eines übel unterrichteten Sammlers ansieht.«
Die Türen flogen auseinander, der Gelehrte betrat an der Seite des Fürsten die weiten Säle. »Wir gehn zuerst flüchtig durch die Zimmer, damit ich Ihnen kurz Inhalt und Anordnung vorführe,« sagte der Fürst. Er berichtete, der Professor blickte auf eine Fülle von hübschen und lehrreichen Überresten des Altertums, auf vieles, was ihm ganz neu war. Bald überließ der Erklärer den Gelehrten seinen eigenen Auge. Und jetzt gab dieser die Erläuterung: hier eine Inschrift, die wahrscheinlich noch niemand abgeschrieben hatte, dort ein Tongefäß mit bedeutsamem Bilde, dort eine Statuette, merkwürdiges Nebenstück zu einem berühmten antiken Bildwerk, hier die unbekannte Münze eines römischen Geschlechts mit einem Familienwappen, dort wieder eine lange Reihe von Amuletten mit rätselhaften Zeichen. Es war dem Fürsten Freude, Unscheinbares als bedeutend zu erkennen und jeden Augenblick über Wert und Namen neue Aufschlüsse zu erhalten, der Professor aber hatte den Takt, lange Erklärungen zu vermeiden. Gerade war für ihn eine Zeit gekommen, wo er, nicht durch größere Arbeit beschäftigt, eine heitere Empfänglichkeit für Eindrücke mitbrachte und bei jedem Schritt empfand, wie reizvoll die neuen Anschauungen waren, welche er erhielt. Denn sehr vieles stand hier, was zu näherer Untersuchung lockte. Von dem schönen Behagen, welches er darüber fühlte, ging etwas auf den Fürsten über. Seine Fragen und die Antworten des Professors nahmen kein Ende, bei vielen Stücken freute den Fürsten zu erzählen, wie er dazu gekommen, und der Professor wußte ihn immer mit kleinen Geschichten ähnlicher Funde zu neuem Berichte zu veranlassen. So vergingen einige Stunden, ohne daß der Fürst Ermüdung merkte, und er war höchst erstaunt, als ihm die Meldung wurde, daß die Stunde des Diners nahe sei. »Das ist nicht möglich,« rief er, »Sie verstehen die schwerste aller Künste, die Zeit vergessen zu machen. Ich erwarte Sie bei Tafel, morgen sehen Sie, ungestört durch mein Dazwischenreden, die Sammlung noch einmal an, dann gönnen Sie mir auch darüber schriftlichen Bericht, was die Aufstellung zu wünschen läßt, und wie zu machen ist, daß das Beachtenswerte auch der Wissenschaft zugute kommt.«
Bei Tafel – es war niemand anwesend als einige Kavaliere, denen der Professor nach dem Rat des Kammerherrn schon am Morgen seinen Besuch gemacht – wurde die Unterhaltung fortgesetzt. Der Fürst erzählte viel von Italien und verfehlte nicht, im leisen Anschlag auch die persönlichen Beziehungen des Professors zu Bekannten des Fürsten durchklingen zu lassen, damit sein Hof über den Mann, der ihm gefiel, unterrichtet werde. Es war eine hübsche rollende Unterhaltung, und ehe der Fürst die Gesellschaft verließ, wandte er sich noch einmal zum Professor und sagte: »Ich wünsche lebhaft, daß Sie sich bei uns wohlfühlen, ich hoffe auf mehr als einen Tag, der für mich so anmutig wird als der heutige.«
Auch dem Professor war der Tag eine rechte Erfrischung gewesen, und in gehobener Stimmung sagte er beim Herausgehen zu dem Obersthofmeister: »Des Fürsten Hoheit versteht gut, Wohltuendes zu sagen.« Der Obersthofmeister neigte artig das weiße Haupt: »Das ist der Beruf der Fürsten.«
»Wohl,« fuhr der Professor freudig fort, »aber so warmes Eingehen auf Einzelheiten bei einem ziemlich entlegenen Gebiet wissenschaftlicher Forschung war mehr, als ich vorausgesetzt habe.« Der Obersthofmeister machte eine höfliche Bewegung, welche andeuten sollte, daß er nicht gesonnen sei, zu widersprechen, ließ sich einen altfränkischen kleinen Mantel umhängen, neigte sich schweigend gegen die Herren, welche in ähnlicher Tätigkeit begriffen waren, und stieg in seinen Wagen.
Der Fürst war an Geist und Bildung der Mehrzahl seiner Standesgenossen überlegen. Er hatte viel von der Schwungkraft seiner Jugend in das höhere Mannesalter gerettet, sein körperliches Befinden war vortrefflich, und er pflegte seine Gesundheit sorgfältig, er durfte sich im Notfall noch Anstrengungen zumuten, welche einem jüngeren Mann hart gewesen wären. Als junger Herr hatte er sich den Wallungen der damals modischen Poesie mit offener Empfindung hingegeben, höher und freier fühlen als andere Menschen war ihm eine willkommene Lehre gewesen. Er hatte damals in Briefwechsel mit namhaften Gelehrten und Künstlern gestanden, erzählte gern, wie er einem hervorragenden Geist da und dort nähergetreten war, und eine berühmte Sängerin bewahrte noch in alten Tagen ein besonders kostbares Armband, das er ihr einst auf der Bühne in leidenschaftlicher Begeisterung selbst um den Arm gelegt hatte. Aber seine Jugend und Manneszeit war in einen schwachen, kränklichen Zeitraum unserer Entwicklung gefallen. In den Jahren, wo ein fremder Eroberer die deutschen Fürsten behandelt hatte, wie die große Mehrzahl derselben verdiente, hatte er auch, noch ein Jüngling, sich vor dem Fremden gebeugt und den Sinkenden zu rechter Zeit verlassen, um sich die Aussicht auf sein Land zu retten. Seitdem hatte er über verkümmerte Menschen geherrscht, denn er hatte sein Gebiet in einer Zeit großer Erschöpfung übernommen, er hatte wenig darin gefunden, was er zu ehren und zu scheuen gezwungen war, selten ein Recht, das von festen Männern gegen ihn geltend gemacht wurde, keine öffentliche Meinung, welche stark genug war, seinen Übergriffen die geschlossene Faust eines einmütigen Entschlusses entgegenzuhalten. Sein Land wurde durch die Beamten regiert, die Beamtenstellen immer wieder vermehrt, über jeden verlorenen Schlüssel einer Dorfkirche wurde ein Aktenbündel angelegt, er ließ dies weitläufige Formenwesen, in dem die Bevölkerung wie erstarrt dahinlebte, ruhig gewähren und sorgte nur dafür, daß die Beamten, wo einmal sein persönlicher Vorteil in das Spiel kam, gefügige Diener waren, welche ihm Geld schafften und ein begangenes Unrecht ihres Herrn behend der Öffentlichkeit entzogen.
Er selbst war, wo er mit seinem Volk in Verbindung trat, leutselig und von bester Laune, machte den Bittenden leicht, ihm zu nahen, hörte gefällig alle Klagen und schob teilnehmend die Schuld auf die Beamten. Er war nicht unpopulär; zuweilen murrten Unzufriedene über die hohen Steuern und über kostspielige Ausgaben ihres Fürsten, hier und da drang eine Anekdote aus seinem Privatleben in die Öffentlichkeit, aber die neue Zeit, welche sich auch in seinem Lande regte, kämpfte nur schwach in unbehilflichen Anläufen gegen die Grundsätze seiner Regierung. Und obgleich er als Regent keine Neigung zeigte, Übelstände aus eigenem Willen zu bessern, erschien er den Fernstehenden doch als ein humaner, persönlich gutherziger Mann. Er hatte für jeden einen freundlichen Gruß, ein gnädiges Wort bereit, er wußte viel von den Privatverhältnissen seiner Untertanen und erwies den einzelnen bei Gelegenheit seine persönliche Teilnahme; er liebte die Kinder, denn er blieb bisweilen auf der Straße vor hübschen Knaben und Mädchen stehen und fragte nach ihren Eltern, veranstaltete alljährlich den Schulkindern seiner Residenz ein Fest, erschien selbst dabei, lachte und freute sich über ihre Spiele.
Sein Hof war in vieler Beziehung ein Muster von Ordnung und gefälligem Schein. Auch gegen seine Umgebung blieb er der vornehme Mann und erreichte, was für einen Fürsten das schwerste ist, daß die, welche ihn täglich umkreisten, fast immer ein Gefühl seiner Überlegenheit hatten. Er war nie Militär gewesen, er enthielt sich nicht sarkastischer Bemerkungen über die kriegerischen Neigungen anderer Friedensfürsten und sein Hof blieb lange Zeit frei von der militärischen Umgebung, welche an Nachbarhöfen den Dienst der alten Chargen in den Hintergrund drängte und Übelstände der früheren Hofordnung mit neuen vertauschte, welche nicht geringer waren. Doch allmählich machte er auch der Mode einige Zugeständnisse, auch seine Adjutanten wurden einflußreiche Mitglieder des Hofhaltes. Der Dienst bei ihm galt nicht für bequem, und er war trotz seiner Ruhe von den Herren seines Hofhaltes gefürchtet. Denn es gab Stunden, wo, wie es schien, sein gehaltenes Wesen nicht nur mit Härte versetzt war, sondern mit einer ganz fremdartigen Zutat, in solchen Augenblicken fiel ein zynischer Scherz oder ein brüskes, herausforderndes Urteil von seinen Lippen und er verlor jede Rücksicht auf Stimmung und Ansprüche seiner Umgebung. Aber Kavaliere und Adjutanten ertrugen die geheimen Dornen ihrer Stellung ohne die laute Kritik, welche sonst wohl von der Umgebung hoher Herren ausgeht. Denn der Fürst verstand es, sie vor Fremden zu heben. Er hielt streng auf Etikette, auch zu ihren Gunsten, vertrat geschickt ihren Vorteil bei den höflichen Geschenken, bei Orden und Brillanten, welche fremde Herrschaften seinem Hofe zu machen verbunden waren; er mutete ihnen nie zu, was gegen die Würde ihres Amtes war. Und er wußte Fremden gegenüber sich und seinen Hofstaat stets würdig zu behaupten.
Seine Gemahlin war früh gestorben; der bleichen, zarten Dame bewahrten die Bewohner der Residenz immer noch ein dankbares Andenken. Man erzählte, daß die Ehe keine glückliche gewesen sei, doch die Trauer des Fürsten nach dem Verlust war heftig und dauernd, er sprach noch immer mit großer Zärtlichkeit von der Geschiedenen und heftete selbst alljährlich am Todestage einen Kranz an ihr Grabgewölbe.
Er hatte zwei Kinder. Das älteste, die Prinzessin, war nach dem Tode des Gemahls an den Hof zurückgekehrt, und der Fürst behandelte sie vor den Augen des Hofes und des Volkes mit besonderer Rücksicht. Dem Hofprediger hatte er ihretwegen sein ganzes Herz aufgeschlossen. »Ich sähe sie gern aufs neue vermählt, sie hat das Recht, Ansprüche an das Leben zu machen, das Herz ist warm, die Natur kräftig, und meinen Erfahrungen nach hat ein langer Witwenstand für eine Fürstin viele Übelstände. Aber ich fürchte, sie wird widerstreben. Ich bin gegen dies Kind vielleicht immer ein schwacher Vater gewesen. Sie wissen, hochwürdiger Herr, wie sehr sie immer mein Liebling war.« Darauf hatte der fromme Herr mit gefalteten Händen ausgerufen: »Ich weiß es, und ich weiß, wie warm das Herz der durchlauchtigsten Prinzessin an ihrem geliebten Vater hängt.« Auch das Volk merkte, daß der Fürst ein guter Vater war. An jedem Geburtstage der Tochter wurde großes Hoffest befohlen, und als der Fürst einst in dieser Zeit auf Reisen gewesen war, erschien er doch wider Erwarten am Abend des Geburtstages in der Loge der Prinzessin, küßte noch in Reisekleidern die hohe Dame vor allem Volk auf die Stirn und sagte, daß er seine Rückkehr beeilt habe, um ihr zum Feste seinen Glückwunsch zu bringen. Auch sonst versäumte er keine Gelegenheit, ihr kleine Artigkeiten zu erweisen, die bei jedem Vater den Eindruck liebenswürdiger Ritterlichkeit machen, beim regierenden Herrn doppelt wertvoll sind. Vor jedem Ball sandte er selbst der Tochter einen Blumenstrauß, und jedesmal ließ er sich denselben vorher durch den Hofgärtner in das Schloß bringen, um ihn anzusehen. Er hatte gern, wenn angesehene Reisende auch vor den Gemächern der Prinzessin ihre Ankunft meldeten, und achtete genau darauf, ob sie sich während ihrer Tournee durch den Saal auch gut unterhielt. Die Nebensterne irdischer Hoheit haben bei ihrem Umkreisen in der Gesellschaft auf die Bewegungen der Hauptsonne geheime Rücksicht zu nehmen, die Prinzessin vergaß wohl einmal vor einem angenehmen Gast diese Rücksicht, dann verzögerte der Fürst um ihretwillen seinen Aufbruch, sah lächelnd nach ihr hin und hatte einen bequem stehenden Kavalier noch etwas Scherzhaftes zu fragen. Der Hof wußte freilich, daß in solchen Augenblicken die Scherze herber Natur waren, und man beeiferte sich dann, gar nicht in seiner Nähe zu stehen. Denn trotz der großen Mühe, welche sich der Fürst gab, sein Verhältnis zur Prinzessin gut darzustellen, behauptete man doch, daß er sie in der Stille mit Abneigung betrachtete. Wohl ist einem Fürsten möglich, seiner täglichen Umgebung in wichtigen Dingen undurchdringlich zu bleiben, aber es ist fast unmöglich, sie dauernd zu täuschen.
Anders war die Stellung des Vaters zum Sohn. Dieser war als ein kränklicher, schüchterner Knabe durch die herrische Weise, in welcher der Vater seine Erziehung überwachte, noch unsicherer geworden. Der Knabe hatte keine Anlage gehabt, sich wirkungsvoll darzustellen, noch jetzt wurde ihm schwer, in der Unterredung mit Fremden seine Schüchternheit zu überwinden. Wenn ihm die Liste der Eingeladenen überreicht wurde und er überlegte, was er mit den einzelnen sprechen solle, so fielen ihm selten gescheite Fragen ein, und was er dann etwa vorbrachte, kam noch so ungeschickt heraus, daß man deutlich merkte, er hatte den Kram einstudiert. Selbst dem Hofe gegenüber war der Prinz schweigsam und teilnahmslos, Damen und Herren waren deshalb geneigt anzunehmen, daß er ein wenig bête sei. Der Vater behandelte ihn mit Nichtachtung, und dem Sohne gegenüber klang seine Stimme zuweilen kurz und hart, als wenn es sich nicht der Mühe lohne, die Geringschätzung zu verbergen.
Darin aber tat man dem Fürsten unrecht. Ein regierender Herr sieht in dem Sohne leicht den jüngeren Mitbewerber. Der Sohn wird sein Nachfolger, er ist dazu da, schon in dem nächsten Geschlecht seinen Vater vor aller Welt zu widerlegen, seine Einrichtungen umzustoßen, die Unzufriedenen und Gegner zu versöhnen. Es ist unvermeidlich, daß ihm einmal, wenn er Herr geworden, der Blick auf vielem haftet, was unter der früheren Regierung nicht gut gewesen ist, daß ihm alles zugetragen wird, was sein Vater im geheimen gefehlt und gesündigt hat. Das war auch für den Fürsten Grund genug, den Erbprinzen fremd und kalt zu behandeln. Jetzt war er ein Nichts, ein machtloser Sklave, der jeden Taler nur durch die Gnade des Vaters erhielt, einst sollte er alles sein. Aber der Sohn war in seinen Augen unbedeutend, wie willenlos bewegte er sich in vorgeschriebenem Gleise, er hatte nie getrotzt, war mit allem zufrieden, hatte sich schweigend und ehrerbietig jedem Befehle gefügt, es war nicht anzunehmen, daß er in Wahrheit selbst regieren würde, er konnte den Vater schwerlich in Schatten stellen. So kam zu der ruhigen Nichtachtung, welche in der Seele des Vaters lebte, allmählich ein kühles, fast mitleidiges Wohlwollen. Die furchtsame Unterwürfigkeit des Prinzen war dem Fürsten sehr bequem, es wurde ihm behaglich, das schwache Rohr, welches die Zukunft seiner Familie tragen sollte, für das Leben mit den Stützen zu versehen, welche der Fürst zu geben verstand. Ihm gegenüber gab er sich, wie er war, was er etwa für ihn tat, geschah mit der Empfindung, daß er nicht sich, sondern einem andern Gutes erwies.
Und gerade jetzt, wo der Fürst sich bemüht hatte, dem Erbprinzen eine Freude zu machen, wurde dieser krank!
Ilse ging mit Gabriel durch die Zimmer und versuchte die Einrichtung nach ihres Herzens Wunsch zu stimmen, sie rückte über den Tischen, prüfte den Zug an den Vorhängen und betrachtete mißtrauisch die Malerei der Porzellanvasen. »Kaufen Sie in der Stadt einen Lampenschleier, den hängen wir über die große Uhr.«
»Es ist ohnedies noch eine andere da, welche sich nicht weigert, zu gehen,« versetzte Gabriel. »Auch hört man die Uhr vom Schlosse, aber sie schlägt so traurig, daß man die Geduld darüber verliert. Mich wundert, daß in dieser schönen Einrichtung eines fehlt, und das ist eine Uhr mit dem Kuckuck. Der würde sehr passen, er macht Leben, wenn er seine Tür öffnet und tiefe Komplimente schneidet, es ist ganz wie bei Hofe. Denn höflich sind sie hier, wenn auch das Gemüt hinterlistig ist. Dem Lakaien traue ich nicht, er fragt mich zu sehr aus. Wie wär's, wenn man den abschaffte? Ich bin doch allein imstande, mit dem Mädchen diese Wirtschaft zu besorgen. Gekocht kann nicht werden, es ist gar keine Küche da, man muß wegen jedem Topf warmen Wassers hinübergehen unter die Weißjacken, die im Keller wie Geister durcheinander wirtschaften.«
»Da hilft nun nichts,« entschied Ilse, »wir müssen uns in die Ordnung gewöhnen, Hoffart will Not leiden, Geheimnisse haben wir nicht und ich weiß, Sie werden vorsichtig sein.«
»Die Gärtner haben auch einen Tisch und Stühle vor das Haus gestellt und Blumen darum,« sagte Gabriel, »darf ich die Arbeit hinuntertragen? Die Sonne scheint warm.«
Ilse trat vor das Haus, neben der Tür war ein Raum durch aufgestellte Topfgewächse abgegrenzt, ein traulicher Platz im warmen Mittagslicht, man übersah aus dem grünen Versteck die Wege und den geschorenen Rasenteppich bis zu den Mauern des Schlosses. Ilse saß auf dem Gartenstuhl nieder, hielt ihre Stickerei in den Händen und blickte hinüber auf den großen Steinpalast, der sich mit seinem Turm und neuen Seitengebäuden einige hundert Schritt von ihr erhob. Dort wohnten die Großen der Erde, denen sie plötzlich so nahegekommen war. Sie zählte die Reihe der Fenster und dachte, daß viel mehr als hundert Stuben und Säle darin sein müßten, alle stattlich und vornehm eingerichtet, und sie überlegte, wieviel Menschen wohl dazu gehörten, ein solches Gebäude zu füllen, damit es nicht leer und öde aussehe. Der Tritt eines Mannes störte ihre Gedanken. Ein Herr in gesetzten Jahren ging auf dem Kiesweg, er näherte sich, es war der Fürst. Ilse stand erschrocken auf, der Fürst trat langsam auf sie zu. »Madame Werner?« fragte er, seinen Hut berührend. Ilse verneigte sich tief, ihr pochte das Herz, unvorbereitet stand sie dem Manne gegenüber, der ihr in der ganzen Mädchenzeit als der höchste Mensch auf Erden gegolten hatte. Wenn sie ihn einmal gesehen, war es immer nur in vornehmem Vorüberschreiten gewesen, und doch hatten ihre Gedanken seit den Jahren, wo sie ihn mit Krone und Zepter eines Kartenkönigs schmückte, in scheuer Ehrfurcht an ihm gehangen. Oft, wenn sie den Erbprinzen ansah, hatte sie versucht, sich vorzustellen, wie sein Vater sein müsse; was sie etwa über ihn gehört, hatte nicht geholfen, ihr die Bangigkeit zu vermindern.
Der Fürst sah mit Wohlgefallen auf das schöne Weib vor ihm, welches in stummer Betroffenheit den schmeichelhaftesten Gruß entgegenbrachte. »Sie sind mir nicht fremd,« begann er, »und Sie haben Ursache, mit den Jahren zufrieden zu sein, welche seit meiner Fahrt über den Hof Ihres Vaters vergangen sind. Versuchen Sie jetzt, wie sich's bei uns lebt. Auch wir freuen uns des Frühlings, und ich sehe, die Sonne blickt freundlich auf den Platz, wo Sie sich ansiedeln.« Er setzte sich auf einen Gartenstuhl, indem er auf einen andern wies. »Lassen Sie sich in Ihrer Arbeit nicht stören, ich bin ein Spaziergänger, der einen Ihrer Stühle erbittet, wenige Minuten zu rasten.«
»Die Arbeit lag in müßiger Hand,« antwortete Ilse, »ich sah hinüber nach dem Schloß und überdachte, wie groß der Haushalt sein muß, der so viel Raum fordert.«
»Es ist ein alter Bau,« bemerkte der Fürst, »manches Jahrhundert hat gearbeitet, ihn zu vergrößern, und doch will nach der Meinung meiner Beamten der Raum immer noch nicht reichen. Man breitet sich leicht anspruchsvoll aus. Aber gerade dann erfreut es wieder einmal, sich ganz ins Enge zu ziehen, ich selbst habe sonst diesen Pavillon bewohnt, allein, mit wenigen zuverlässigen Dienern. Solche Einsamkeit tat wohl.«
»Das kann ich mir denken,« versetzte Ilse teilnehmend. »Uns kleinen Leuten aber ist neu, ein so großes Wesen so prächtig eingefaßt zu sehen. Schloß und Hofraum stehen unter den blühenden Bäumen, wie ein großer Edelstein im Golde. Mir ist's von Herzen lieb, daß ich Ew. Hoheit Haus und Leben jetzt so in der Nähe erblicke, man hat doch einen Anhalt und weiß, wie man sich die Umgebung des gnädigsten Landesherrn denken soll.«
»Sie betrachten sich also noch als Kind des Landes?« sagte der Fürst lächelnd.
»Das ist natürlich,« antwortete Ilse. »Von klein auf habe ich von Ew. Hoheit als unserm Oberherrn gehört, sooft ich in die Zeitung sah, fand ich Ew. Hoheit Namen unter den Befehlen, überall habe ich Ew. Hoheit Bild gesehen, und seit ich in die Kirche ging, habe ich für Ew. Hoheit Glück und Gesundheit gebetet. Das gibt ein Verhältnis, es ist freilich einseitig, denn Ew. Hoheit können sich nicht um uns alle kümmern, wir aber denken und sorgen viel um den Landesherrn.«
»Und besprechen ihn auch zuweilen unzufrieden.« versetzte der Fürst in guter Laune.
»Wie's gerade kommt, gnädigster Fürst,« erwiderte Ilse ehrlich, »man spricht auch von seinen Nachbarn nicht immer das Beste. Zuletzt in Ernst und Not kommt doch das gute Herz zum Vorschein. Ebenso ist es mit dem Landesherrn, jeder macht sich von ihm ein Bild nach seinem Wissen und Meinen, hofft auf ihn und zürnt mit ihm, zuletzt denkt er doch daran, daß sein Fürst und er zueinander gehören.«
»Es wäre zu wünschen, daß so billiger Sinn sich an jedem Untertan erwiese,« entgegnete der Fürst. »Aber die Treue wankt, die persönliche Zuneigung schwindet.«
»Viele wissen auch zu wenig von ihrem Landesherrn,« entschuldigte Ilse, »wie soll man ihm gut werden, wenn man wenig von ihm sieht? Denn das Sehen tut viel; wir um Rossau haben selten die Ehre, unsern Fürsten mit Augen zu erblicken.«
»Die Gesinnung jener Gegend wird mir als unzuverlässig geschildert,« versetzte der Fürst.
»Wir sitzen im Winkel, aber wir haben auch unser Herz. Ew. Hoheit erinnern sich kaum noch an die Mädchen von Rossau, welche Ew. Hoheit vor siebzehn Jahren an der Ehrenpforte empfingen. Es waren ihrer zwanzig, mehr hatte die kleine Stadt nicht aufgebracht. Sie trugen aber alle die Landesfarben an Mieder und Rock, die Kleider mußten sie sich natürlich selbst kaufen. Eines der Mädchen war blutarm, sie war aber hübsch und sollte nicht wegbleiben, da nähte sie wochenlang vorher in der Nacht, sich das Geld zum Kleide zu schaffen. Noch in ihrer letzten Krankheit, denn sie ist jung gestorben, bat sie, man möchte ihr im Sarge dasselbe Kleid anziehen, denn der Tag war ihre größte Freude und Ehre gewesen. Ew. Hoheit aber konnten sich damals gar nicht aufhalten, fuhren schnell durch die Ehrenpforte und haben vielleicht die Mädchen nicht einmal gesehen.«
Während Ilse sprach, warf sie verstohlen Semmelkrumen zur Seite. Der Fürst sah auf ihre Hand. Ilse entschuldigte sich. »Der Fink ruft seinem gnädigsten Landesherrn zu: Gib, gib! Die kleinen Brotesser hier sind gut gezähmt.«
»Sie werden wahrscheinlich von der Dienerschaft gefüttert,« sagte der Fürst.
»Die Tiere zu lieben ist auch unsere Landesart,« rief Ilse, »und zahme Vögel stehen einem Herrenschloß gut, denn hier soll alles ein fröhliches Zutrauen haben.«
Dem Fürsten fiel der Handschuh zur Erde, die loyale Ilse bückte sich eilig danach, der Herr sah einen Augenblick sinnend auf Ilses Kopf und Büste. Er stand langsam auf. »Ich hoffe, Madame, daß auch Sie unter die Fröhlichen gehören, welche gutes Vertrauen zu dem Besitzer dieses Grundstücks haben. Als Hauswirt, der sich nach dem Befinden seiner neuen Mieter erkundigt hat, wünsche ich Ihnen, daß Sie hier selbst etwas von dem Behagen empfinden, mögen, welches Sie andern mitzuteilen wissen.« Er grüßte artig zu Ilses ehrfurchtsvoller Verneigung und ging dem Schlosse zu.
Dort erwartete ihn der Kammerherr, über das Befinden des Erbprinzen zu berichten: »Se. Hoheit ist leider noch genötigt, das Bett zu hüten.«
»Er soll sich ruhig pflegen,« versetzte der Fürst gnädig, »und das Zimmer ja nicht zu früh verlassen.«