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Gegenwärtig hat das ungeheure politische Interesse alles andere verschlungen, eine Krise, in der alles, was sonst gegolten, problematisch gemacht zu werden scheint.
Hegel
Die zweite Etappe des neunzehnten Jahrhunderts beginnt mit der Julirevolution vom Jahre 1830 und endet mit der Februarrevolution vom Jahre 1848. Diese Einteilung bietet sich als so selbstverständlich an, daß es kaum ein Geschichtswerk geben dürfte, in dem sie nicht angewendet wäre. Hieß die Parole der Romantik: weg von der Realität, weg von der Gegenwart, weg von der Politik, so lautet nunmehr das Schlagwort Realismus: das Denken und Fühlen des Zeitalters kristallisiert sich mit prononcierter Ausschließlichkeit um Fragen des Tages und die europäische Seele stimmt ein millionenstimmiges politisches Lied an. Dieser lärmende Kampfgesang mußte sich erheben, den ganzen Erdteil erfüllend und alles andere übertönend; und daß er sich erhob, war zuvörderst das Werk jener, die ihn mit ebenso unklugen wie unmenschlichen Mitteln zu unterdrücken versucht hatten. In ihm sang das Fatum; aber garstig.
In diesem Geschichtsabschnitt wird Europa zum erstenmal häßlich. Wir sagten im ersten Buch, daß jeder historische Zeitraum in eine bestimmte Tages- oder Nachtbeleuchtung getaucht sei; diese Welt hat zum erstenmal eine künstliche: sie liegt im Gaslicht, das schon in den Tagen, wo der Stern Napoleons sich zum Untergang neigte, in London aufflammte, fast gleichzeitig mit den Bourbonen in Paris einzog und in langsamem und zähem Vordringen sich schließlich alle Straßen und öffentlichen Lokalitäten eroberte. Um 1840 brannte es überall, sogar in Wien. In diesem [lauen] und trüben, scharfen und flackernden, prosaischen und gespenstischen Licht bewegen sich dicke geschäftige Kellerasseln von Krämern, deren abenteuerlich mißgebaute Kleidung uns nur deshalb nicht voll zum Bewußtsein kommt, weil die unserige von ihr abstammt. Der Oberkörper steckt in der schlotterichten Röhre des Gehrocks, der den Frack in die heutige Rolle des Abendfestkleids verdrängt, der Hals in dem grotesken Kummetkragen. Das triste und unpersönliche Schwarz wird immer mehr dominierend, so daß alsbald jeder Mensch, der Anspruch darauf macht, für seriös zu gelten, einem Notar oder Bestattungsbeamten gleicht; daneben ist nur noch das schmutzige Braun oder Grau zulässig, und höchstens die Weste prangt in allerhand (meist geschmacklosen) Mustern. Die Hosen sind lächerlich weit, gern abscheulich kariert, der »Steg« zieht sie nach Art der Reithosen über die Schuhe, wodurch ihre Fasson vollends unmöglich wird. Über dem Rock erhebt sich der Vatermörder, bis zum heutigen Tage Provinzkomikerrequisit, mit dem gestärkten und gefältelten Vorhemd, in dem zwei gänzlich unmotivierte Goldknöpfe stecken, und der unförmig breiten schwarzen oder weißen Halsbinde, in der zwei durch ein Kettchen verbundene Busennadeln sich höchst barbarisch ausnehmen. Dazu in Friseurlöckchen gebranntes Haar und bei der jüngeren Generation auch bereits allerhand absonderliche Haarbildungen im Antlitz: Backenbärte, Schifferbärte, Seehundsbärte, Bocksbärte, Henriquatres. Neu (zumindest in seiner Allgemeinheit) ist auch das geränderte Monokel am albern wirkenden breiten Band, das kein Dandy entbehren kann, und der »Cigarro«, der eigentlich die Urform des mexikanischen Tabakgenusses war, aber erst jetzt durch die Einführung des Deckblatts mit der Pfeife in siegreiche Konkurrenz tritt, in Preußen auf der Straße zuerst überhaupt verboten, dann durch Polizeiverordnung »wegen Feuersgefahr« in ein Drahtgestell gesperrt, von Byron besungen, von Heine refüsiert, von Schopenhauer beschimpft. Er verhält sich zur Pfeife wie die Nervosität der neuen schnelldenkerischen Zeit zur Behaglichkeit und Nachdenklichkeit der alten: man kann sich einen modernen Börsenmann nur schwer ohne eine dicke Zigarre vorstellen, aber unmöglich mit einer Pfeife. Übrigens wird erst durch die Zigarre das Rauchen salonfähig und verdrängt dadurch schrittweise das Schnupfen, das bisher gerade für elegant galt.
Auch die Damentracht ist durch einige recht unvorteilhafte Neuerungen charakterisiert. Zunächst gelangt wieder der unschöne Reifrock zur Herrschaft, wegen der Wülste aus crin, Roßhaar, die ihn in Fasson halten, Krinoline genannt, dem die drei- und vierfachen Volants noch eine besondere Plumpheit verleihen: er wirkt jetzt nicht mehr als bizarres, aber unmutiges Instrument der Koketterie wie der »Hühnerkorb« des Rokokos oder als Requisit steifer, aber stilvoller Grandezza wie der »Tugendwächter« der Gegenreformation, sondern in der neuen verbürgerlichten und materialistischen Welt als lästige und skurrile Aufdonnerung. Dazu treten allmählich die höchst unkleidsamen Knöpfelstiefeletten und die Glacéhandschuhe, die erst jetzt das Naturleder allgemein verdrängen, obgleich die französische Erfindung des Lederglänzens bereits um 1700 von emigrierten Hugenotten über Europa verbreitet worden war: in ihrer Bevorzugung äußert sich die primitive Freude des Parvenüs an allem Satinierten. Das Haar wurde reizlos glatt gescheitelt, am Hinterkopf sehr hoch frisiert und mit monströsen Kämmen festgehalten, was man »chinesisch« nannte, oder in dicken geflochtenen oder gebrannten Wülsten rechts und links um die Ohren gelegt, was man »griechisch« nannte; auch lange Schmachtlocken, die zu beiden Seiten des Kopfes herabhingen, waren öfters Mode. Alles in allem genommen ist das weibliche Kostüm nicht annähernd so abstoßend gewesen wie das männliche, es ist aber auch für den Zeitstil niemals so bezeichnend wie dieses, und zwar ganz einfach deshalb, weil der Satz Weiningers, das Weib sei vom Manne geschaffen, seine sinnfällige Bestätigung unter anderem darin findet, daß der Mann das jeweils herrschende erotische Ideal und damit die Tracht bestimmt, während die Frau sich bloß passiv ausführend verhält; was sich auch darin zeigt, daß die Geschichte ihrer Kleidung überraschend geringere Variationen aufweist und nicht viel mehr ist als ein Turnus einiger viel rascher wechselnder, aber auch viel häufiger wiederkehrender Nuancen: der Länge der Schleppe, der Höhe der Frisur, der Kürze der Ärmel, der Bauschung des Rockes, der Entblößung der Brust, des Sitzes der Taille. Selbst radikale Revolutionen wie das heutige knabenhaft geschnittene Haar sind nur die »ewige Wiederkunft des Gleichen«: schon die italienischen und burgundischen Damen des fünfzehnten Jahrhunderts und die ägyptischen des Alten Reichs kannten die Pagenfrisur: die Sphinx trägt einen Bubikopf. Vor der historischen Phantasie taucht denn auch, wenn man sich den Zeitstil vergegenwärtigen will, fast immer zuerst das männliche Exterieur auf, weil es physiognomischer ist; und tatsächlich macht es auch stets die stärksten und charakteristischen Veränderungen durch. Im Dreißigjährigen Krieg zum Beispiel hat alle Welt den Ehrgeiz, wie ein martialischer Landsknecht oder provokanter Raufstudent auszusehen; fünfzig Jahre später hat sich der wüste Haudegen in einen bedächtigen, würdevollen Kronbeamten oder Universitätsrektor verwandelt, der stets bereit scheint, eine Testamentseröffnung oder eine Disputation vorzunehmen; und nach weiteren fünfzig Jahren ist aus ihm ein fragiler, verzärtelter Knabe geworden, der an nichts zu denken scheint als an Amouren. Hält man aber die gleichzeitige Frauenkleidung daneben, so sind die Differenzen viel geringer und bisweilen nur von einem Kostümkenner herauszufinden: den Kardinalunterschied macht eigentlich nur die Verwendung des Puders und der Perücke, und auch diese beiden sind männliche Erfindungen.
Betrachtet man nun diese »Söhne der Jetztzeit« »mit Brillen statt der Augen, als Resultat der Gedanken einen Cigarro im tierischen Maul, einen Sack auf dem Rücken statt des Rocks«, wie Schopenhauer sie ohne Wohlwollen, aber recht zutreffend charakterisiert hat, in einer Kleidung, die an Geschmacklosigkeit nur noch von der nächstfolgenden übertreffen wurde, so muß man trotzdem sagen, daß sie einen sehr prägnanten, ausdrucksvollen Stil besaßen, nicht nur weil es, wie wir schon im vorigen Kapitel hervorhoben, ein stilloses Kostüm überhaupt nicht gibt, sondern auch weil gerade sie in der Gestaltung ihrer äußeren Lebensformen eine besondere Energie entwickelten. Es ist die Tracht, wie sie die zur Herrschaft gelangte Großbourgeoisie sich geschaffen hatte: sachlich, wirklich und unspielerisch und daher langweilig, undekorativ und phantasielos wie alles, was der Financier außerhalb seines Kontors tut; praktisch, plebejisch, von tierischem Ernst; eine Tracht für Verdiener, Buchmacher und Geschäftsreisende, die in Qualm und Ruß leben, für Händler und Journalisten, rasche plumpe Agenten des Warenverkehrs oder der Nachrichtenvermittlung. Die Verkleidung ist zur Kleidung herabgesunken.
Da die Menschen sich aber nicht bloß ihre Kleider machen, sondern auch ihre ganze übrige Lebensvisage bis zur Kontur ihrer Gesten und zum Profil ihrer Landschaft, so verändert sich überhaupt alles ins Nützlich-Häßliche. Durch die blühende Natur beginnen sich hastige schwarze Riesenschlangen zu winden, üble Dämpfe aus ihren Mäulern stoßend, zahllose Feuerschlote recken ihre grauen Hälse in den Himmel, und bald werden auch endlose Drähte, dubiose Zahlennachrichten surrend, dessen Ruhe stören. 1814 hatte Stephenson seine Lokomotive gebaut; aber erst das Walzen der Schienen, das 1820 gelang, machte die Erfindung praktikabel. Fünf Jahre später wurde zwischen Stockton und Darlington, zwei kleinen Städten in der englischen Grafschaft Durham, die erste Eisenbahnlinie eröffnet, und noch heute ist auf dem Bahnhof von Darlington »Lokomotive Nummer eins« zu sehen, die Stammutter jenes Millionengeschlechts von fauchenden Landungeheuern; nach weiteren fünf Jahren verkehrten die Dampfwagen schon zwischen Liverpool und Manchester. Auf dem Kontinent kam es zunächst nur zur Anlage von ganz kurzen Strecken, die man ebensogut mit Pferden, ja zu Fuß hätte zurücklegen können: 1835 zwischen Nürnberg und Fürth, 1837 zwischen Leipzig und Dresden und zwischen Paris und Saint-Germain, 1838 zwischen Berlin und Potsdam, Wien und Wagram: man betrachtete die Neuheit anfangs nur vom Standpunkt der Unterhaltungskuriosität. In Amerika aber verkehrte 1839 zwischen Baltimore und Philadelphia bereits der erste Schlafwagen. Jenseits des Ozeans wurde auch das erste Dampfschiff erblickt: der »Clermont«, der 1807 auf dem Hudsonfluß von New York nach Albany fuhr, und der erste Meerdampfer: der »Phönix«, der die Verbindung zwischen New York und Philadelphia herstellte. Der erste überseeische Dampfer war die ebenfalls amerikanische »Savannah«, die 1818 in sechsundzwanzig Tagen die Strecke New York-Liverpool zurücklegte. England blieb nicht zurück: in dem Zeitraum zwischen dem Wiener Kongreß und der Julirevolution hatte es die Zahl seiner Passagierdampfer von zwanzig auf mehr als dreihundert erhöht und 1833 baute es den ersten Kriegsdampfer. Auf dem Rhein aber wurden Dampfer deutscher Provenienz erst 1825 in Betrieb gesetzt; in demselben Jahre lief bereits der erste englische Dampfer nach Ostindien. Zum großen Weltvehikel wurde das neue Verkehrsmittel durch die Erfindung der Schiffsschraube. Sie gelang bereits im Jahre 1829 dem Triestiner Joseph Ressel; aber die österreichische Polizei verbot die Probefahrten. In der zweiten Hälfte der dreißiger Jahre wurden die Versuche in England wieder aufgenommen, und dort ging, zehn Jahre nach Ressels Fiasko, der erste Schraubendampfer vom Stapel. Nun kam Deutschland langsam nach. 1842 wurde ein regelmäßiger Dampferverkehr zwischen Bremen und New York eröffnet, 1847 wurde die Hamburg-Amerika-Linie gegründet. Aber erst in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts überflügelte der Steamer überall das Segelschiff: bis dahin hatte er noch vielfach mit dem Konservativismus des Publikums und der Trägheit der Regierungen zu kämpfen. Auf noch größere Widerstände stieß die Einführung der Eisenbahn. Als in Bayern die erste deutsche Linie gebaut werden sollte, gab die medizinische Fakultät zu Erlangen das Gutachten ab, daß der Fahrbetrieb mit öffentlichen Dampfwagen zu untersagen sei: die schnelle Bewegung erzeuge unfehlbar Gehirnkrankheiten, schon der bloße Anblick des rasch dahinsausenden Zuges könne dies bewirken, es sei daher zumindest an beiden Seiten des Bahnkörpers eine fünf Fuß hohe Bretterwand zu fordern. Gegen die zweite deutsche Eisenbahn, die von Leipzig nach Dresden lief, strengte ein Müller einen Prozeß an, da sie ihm den Wind abfange; und als sie einen Tunnel erforderte, erklärten sich die ärztlichen Gutachten gegen den Bau, da ältliche Leute durch den plötzlichen Luftdruckwechsel leicht vom Schlage gerührt werden könnten. Den entgegengesetzten Standpunkt vertrat Kaiser Ferdinand bei der ersten österreichischen Linie Wien-Baden, indem er hartnäckig einen Tunnel verlangte, denn eine Eisenbahn ohne Tunnel sei keine richtige Eisenbahn. Der preußische Generalpostmeister Nagler warnte vor der Errichtung einer Linie zwischen Berlin und Potsdam, denn die Diligence, die er viermal in der Woche auf dieser Strecke verkehren lasse, sei ja schon halb leer, und auch der König meinte, er könne keine große Glückseligkeit darin finden, daß man einige Stunden früher in Potsdam ankomme. Tieck, dorthin in Audienz berufen, weigerte sich, die Bahn zu benutzen und fuhr im Wagen neben ihr her. Auch Ludwig Richter war ein Gegner der Dampfwagen, Thiers prophezeite, ihre Einführung werde keine großen Veränderungen zur Folge haben, und Ruskin bemerkte: »Das Eisenbahnfahren sehe ich überhaupt nicht mehr als Reisen an; das heißt einfach, an einen andern Ort verschickt werden, nicht viel anders, als wäre man ein Paket.« Der Fürst von Anhalt-Cöthen dagegen war ein so begeisterter Anhänger der neuen Erfindung, daß er erklärte: »Ich muß in meinem Land auch so eine Eisenbahn haben, und wenn sie tausend Taler kosten sollte.« Seit etwa 1845 aber gab es schon allenthalben in Europa Eisenbahnen und Steamer, man verherrlichte die neuen Fahrzeuge in Abhandlungen und Gedichten und alle Welt wurde von einem wahren Reisefieber erfaßt, das sich auch literarisch äußerte: Reisebilder, Reisebriefe, Reisenovellen waren das bevorzugte Genre der Autoren und Leser. Der dichtere, schnellere und tragfähigere Verkehr, den die Dampfkraft ermöglichte, wurde nicht, wie die meisten vorausgesagt hatten, der Ruin der übrigen Beförderungsmittel, sondern wirkte auf sie indirekt fördernd: zumal in Deutschland hatte er den Ausbau eines Chausseesystems zur Folge, wie es Frankreich schon seit Richelieu besaß. Das dritte große Ereignis auf dem Gebiet der Technik, der Erfindung des Dampfschiffs und des Dampfwagens mindestens ebenbürtig, war die Einführung der Steinkohle, eine Neuerung, die wiederum England am meisten zugute kam, das von diesem Brennstoff die größten Lager besaß und auch seinen Wert zuerst erkannte. Da es außerdem von Anfang an in der Entwicklung des Maschinenwesens an der Spitze gestanden hatte, so besaß es auch die erfolgreichen Mittel zur Gewinnung des neuen Energielieferanten, und es ergab sich die Wechselwirkung, daß die immer zahlreicheren Maschinen immer mehr Kohle förderten und die immer reicher geförderte Kohle die Erzeugung immer stärkerer Maschinen ermöglichte. Engländer waren auch Heathcoat, der 1833 den Dampfpflug erfand, und Nasmyth, der 1842 den ersten Dampfhammer baute.
Die gewichtigste Maschine aber, die in jener Zeit geboren wurde, war die Schnellpresse, die, den bisher durch Handpressen betriebenen Druck selbsttätig und um ein Vielfaches beschleunigt ausführend, zum erstenmal im Jahre 1814, natürlich wiederum in England, obgleich von einem Deutschen namens Friedrich König erfunden, zur Anwendung kam: das erste Zeitungsblatt, das keiner menschlichen Hand seine Herstellung verdankte, war eine Nummer der »Times«. Erst durch diesen Bund mit der Maschine erhält die Zeitung ihren universalen Machtcharakter: ein Wort, Wahrheit oder Lüge, fliegt in die große, stumm lauernde Spinne von Maschine, die es verschluckt, druckt, tausendfach vervielfältigt und in alle Räume speit, wo Menschen hausen: in die Bürgerdielen, in die Bauernschenken, in die Kasernen, in die Paläste, in die Keller, in die Mansarden; und das Wort wird zum Machtwort.
Langsam gellt der Siegeszug der Presse von Westen nach Osten; von der englischen Insel zunächst nach Frankreich. Dort ist ihr gewaltigster Potentat Louis Frangois Bertin, vierzig Jahre lang Herausgeber des »Journal des Débats«, unter Ludwig dem Achtzehnten bourbonisch, unter Karl dem Zehnten konstitutionell, unter Louis Philipp orleanistisch, von Ingres in einem genialen Porträt der Nachwelt aufbewahrt, das den Titel führen müßte: »die Macht der Presse«; sein Blatt kann auch darum nicht übergangen werden, weil darin die Kritiken von Berlioz erschienen, die mit messerscharfer Analyse und Polemik das Programm der modernen Musik aufstellten. Ein anderer Großmeister des Zeitungsgewerbes war Émile de Girardin, der in der Mitte der dreißiger Jahre in seinem Organ »La Presse« drei entscheidende Neuerungen einführte: den Nummernverkauf an Stelle des bisherigen teuern Jahresabonnements, wodurch die Zeitung erst als Allerweltsartikel jenes Wesen von einzigartiger Zugänglichkeit und Zudringlichkeit wird, den Annoncen- und Reklamebetrieb, wodurch die Verbindung mit der andern Universalmacht des Zeitalters, dem Merkantilismus, hergestellt wird, und den Feuilletonroman in Fortsetzungen, wodurch die Presse mit der Literatur verschmilzt. In der Tat haben fast alle französischen und viele englische Romanschriftsteller von Namen in dieser journalistischen Form ihre Produktion begonnen und nicht selten zeitlebens daran festgehalten. Sie bedeutet dadurch, daß sie zur groben Spannung und Zufallsarchitektur, hastigen Terminarbeit und stilistischen Oberflächlichkeit verleitet, zweifellos eine Degradierung der Erzählerkunst, übt aber andrerseits auf sie einen wohltätigen Zwang zur Popularität und verleiht ihr einen eigentümlichen Elan: die unvergleichliche Frische, die zum Beispiel Thackerays weltberühmte Snobporträts besitzen, ist sicher zum Teil darauf zurückzuführen, daß sie zuerst im »Punch« erschienen.
Deutschland blieb auch auf diesem Gebiet in der Entwicklung zurück. Dort gab es nur die offiziöse Presse, die übrigens ebenfalls eine französische Erfindung ist, denn das erste Organ dieser Art repräsentierte Napoleons »Moniteur«, indem er unter der Maske der Objektivität nur jene Nachrichten und Meinungen brachte, die die kaiserliche Regierung für nützlich hielt. Diese Institution baute Metternich aus, indem er in allen Hauptstädten Blätter ins Leben rief, die, scheinbar unabhängig, nur von oben Inspiriertes brachten; dabei verstand er es, viele von den publizistischen Talenten des Zeitalters teils durch Schikanen, teils durch Bestechungen in seinen Dienst zu bringen. Außerhalb dieser Zwangspolitik befaßten sich die Journale nur mit futilem Tagesklatsch. Hoffmann von Fallersleben hat den typischen Inhalt der damaligen Gazetten in Versen persifliert, die in ihrer stumpfen Harmlosigkeit selber ein Zeitdokument sind: »Ein Portepeefähnrich ist Leutnant geworden, ein Oberhofprediger erhielt einen Orden, die Lakaien erhielten silberne Borten, die höchsten Herrschaften gehen nach Norden, und zeitig ist es Frühling geworden wie interessant! wie interessant! Gott segne das liebe Vaterland!« Mit dem Auftreten der Dichterschule des »jungen Deutschland« begann aber, trotz allen Pressionen und Kastrationen, selbst im Gebiet des Deutschen Bundes die Zeitung jenen Geist der Aktualität und Politisierung zu verbreiten, der das Zeitalter charakterisiert, und jene Ubiquität eines unentrinnbaren Gefährten zu erlangen, der sich durch jede Türe zwängt, in jede Tasche schleicht und dem modernen Menschen ebenso unausstehlich und ebenso unentbehrlich ist wie dem Faust der Mephisto.
Für die illustrierte Zeitung hat die Lithographie ungefähr dieselbe Bedeutung wie die Schnellpresse für den Textteil. Ihr Erfinder Aloys Senefelder hatte zunächst nur an die bequemere Vervielfältigung von Manuskripten gedacht und das hierauf zielende neue Verfahren in seinem 1818 erschienenen »Vollständigen Lehrbuch der Steindruckerei« veröffentlicht. Andere exploitierten erst seine Idee zur Technik der Steinzeichnung. Sie ermöglichte eine Schnelligkeit der Aufzeichnung, die fast der des Wortes gleichkam, und hatte daher von Anfang an etwas Improvisiertes, Hingeschriebenes, Dialogisches, Literarisches und zugleich vermöge ihrer Aktualität und Billigkeit etwas Demokratisches, sie war eine Journalistik der Zeichenfeder und drückte den raschen, pointierten materialistischen Geist ihrer Zeit ebenso vollkommen aus wie der Holzschnitt den Geist der Reformation und der Kupferstich den Geist des Rokokos; und es hat eine symbolische Bedeutung, daß der Holzschnitt, der die Wünsche und Gedanken eines erwachenden, emporstrebenden Zeitalters in alle Welt trug, ein Hochdruckverfahren war, der Kupferstich, der die Gefühle einer absterbenden, in sich versenkten Epoche gestaltete, ein Tiefdruckverfahren, die Lithographie aber ein Flachdruck. Übrigens erfuhr auch die Holzschnittechnik durch den Engländer Thomas Bewick eine entscheidende Verbesserung zum Holzstich (und es ist bezeichnend, daß diese Art der Reproduktion in dem harmlosen Deutschland die bevorzugte blieb: ihr verdanken die 1845 gegründeten »Fliegenden Blätter« und die schönen »Münchener Bilderbogen« ihre Entstehung); und gegen Ende des Zeitraums vervielfältigte man auch schon durch Photographie.
Der Lithographie bedienten sich in jener Zeit Künstler von Säkularformat wie Goya, Guéricault, Delacroix, Schwind, Menzel und Witzblätter von der Unsterblichkeit einer Woche wie die von Philipon gleich nach der Julirevolution begründete, sehr gefürchtete und schließlich verbotene »Caricature« und der ebenfalls in Paris herausgegebene »Charivari«. Sie ist Modejournal, Pamphlet, Chronik: ein haarscharfer, geistreicher, bald boshafter, bald gemütvoller, aber niemals schmeichelnder Spiegel des Lebens und durchmißt den ganzen Kreis zeichnerischer Ausdrucksmöglichkeiten vom naiv Erzählenden bis zum vernichtend Satirischen. Sie kennt ihr ganzes Zeitalter in Arbeit und Genuß, Camaraderie und Erotik, Elend und Aufstieg: den Hof und das Proletariat, den Advokaten und den Politiker, den Börsianer und den Kleinbürger, den Bürokraten und den Dandy, die Kokotte und den Rezensenten bis in ihre kleinsten Falten und Gesten. Gavarni, den man den Raffael der Karikatur genannt hat, ist auf eine feminine und sehr anmutige Manier in seine Modelle verliebt und mehr Sittenschilderer als Kritiker. Mit der feurigen Feder eines Dante hat aber Daumier seine Welt umrissen. Als Daubigny zum erstenmal vor Michelangelos Decke der Sistina stand, murmelte er: »Daumier«. Das sind in der Tat keine Karikaturen mehr, sondern Alpdrucke und Höllenvisionen, vor denen man das Lachen vergißt, zuckende Blitzlichtaufnahmen, mit dämonischer Faust zur Monumentalität gesteigert. In diesen gehetzten Fratzen grinst der Triumph der Technik und weint der Mensch um seine verlorene Seele. Und wie in einem apokalyptischen Schreckgesicht erscheint Paris, la ville lumière, der strahlende Fokus aller Kultur, Schönheit und Geistesmacht, und mit ihm die ganze Welt als ein dicker schnaufender Geldsack. Wir sagten im zweiten Buche, den Niederländern sei das Kunststück geglückt, eine Art Mythologie des Alltags zu schaffen; dasselbe hat Daumier vollbracht, nur zweihundert Jahre später: viel intellektueller, nervöser, atheistisch, großstädtisch.
Hegel sagt in seiner »Religionsphilosophie«: »Unsere Zeit hat das Ausgezeichnete, von allem und jedem, von einer unendlichen Menge von Gegenständen zu wissen, nur nichts von Gott. Früher hatte der Geist darin sein höchstes Interesse, von Gott zu wissen und seine Natur zu ergründen ... Unsere Zeit hat dieses Bedürfnis, die Mühen und Kämpfe desselben beschwichtigt; wir sind damit fertig geworden, und es ist abgetan ... Diesen Standpunkt muß man dem Inhalt nach für die letzte Stufe der Erniedrigung des Menschen achten, bei welcher er freilich zugleich um so hochmütiger ist, als er sich diese Erniedrigung als das Höchste und als seine wahre Bestimmung erwiesen zu haben glaubt.« Diese Zeit hatte es aber nicht mehr notwendig, vom christlichen Gott zu wissen, denn sie besaß bereits einen neuen Gott: nämlich das Geld. Wir erinnern uns aus dem ersten Buch, daß eines der großen Ereignisse, die die Neuzeit heraufführten, der Untergang der Naturalwirtschaft war, an deren Stelle die Geldwirtschaft oder richtiger gesagt: die Goldwirtschaft trat, daß aber auch diese noch lange Zeit mit schlechtem Gewissen betrieben wurde. Allmählich verloren sich die Bedenken; aber noch bis ins Rokoko hinein verhielt es sich so, daß die herrschende Kaste nur den Grundbesitz kannte und zum Geld nur im Verhältnis des Ausgebens und Schuldigbleibens stand und auch in den übrigen Schichten der Erwerbstrieb etwas Infantiles, Dilettantisches, Rudimentäres behielt. Wir haben auch darauf hingewiesen, daß die Einführung des Geldstücks die Seelen der Menschen nivellierte, denn es identifiziert ihre Besitztümer und Leistungen mit einer gewissen Anzahl uniformer Metallprodukte, die man nach Belieben untereinander auswechseln kann. Aber ein Stück gemünztes Gold ist noch immer eine Wirklichkeit, wenn auch eine sehr niedrige; jetzt aber tritt an seine Stelle etwas noch Seelenloseres: der Bankzettel, der nichts ist als die leere Fiktion einer Ziffer. Und gerade vor diesem wesenlosen Nichts fand jetzt ein allgemeiner Kniefall der Menschheit statt, seine Erringung wird nicht bloß eine Sache des guten Gewissens, sondern des rastlosen Ehrgeizes, der leidenschaftlichen Liebe, der religiösen Inbrunst.
Selbstverständlich gab es schon früher Papiergeld (wir brauchen uns bloß an den Lawschen Krach zu erinnern), aber erst jetzt wird es zum Helden des Tages und der Zeit. Nun verhält sich das Denken in Gütern zum Denken in Geld wie das Handwerk (Werk der Hand: des größten Künstlers der Erde) zur Fabrikserzeugung (Arbeit der Maschine: des unpersönlichsten aller Produzenten, der »Nummern« macht), wie lebendige Ähnlichkeit zu toter Gleichheit, wie der Analogieschluß des Künstlers und des Mittelalters, der mit physiognomischem Blick organisch Zusammengehöriges erfaßt, zum Induktionsschluß des Wissenschaftlers und der Neuzeit, der aus mechanisch aneinandergereihten Einzelfällen das gemeinschaftliche Maß errechnet, kurz wie Qualität zur Quantität. Das Geld ist der größte Feind des persönlichen Eigentums, da es vollkommen beziehungslos ist; und darum wollen die Kommunisten es ja auch gar nicht abschaffen, sondern bloß verstaatlichen, und darum hat der Bauer, der tiefste Gegner des Kommunismus, bei aller seiner Habgier ein tiefes Mißtrauen gegen »Papiere« und schätzt auch am Metallgeld nicht den Stempel, sondern nur das Material. Das Geld entkleidet alle Objekte ihrer Symbolik, da es sich ihnen als Generalnenner unterschiebt und sie damit ihrer Einmaligkeit und ihrer Seele beraubt. Das Geld ist das stärkste Vehikel des Plebejismus, da es für jedermann ohne Ansehung der Grade und Gaben erreichbar ist. Das Geld ist der tausendgestaltige charakterlose Proteus, der sich in alles zu verwandeln vermag, und mußte daher das Sinnbild und Idol einer Menschheit werden, die in alles hineinkriechen kann, aber selbst nichts ist, alles beschreibt und nichts liebt, alles weiß und nichts glaubt.
Zudem besteht ein enger Zusammenhang zwischen Geldwirtschaft und exakter Naturwissenschaft, überhaupt aller modernen Wissenschaft. In beiden wirkt die Begabung und Neigung, »rechnerisch« zu denken, womöglich alles in weltgültigen Abstraktionen, Generalbegriffen auszudrücken. Die Forderung, eine solche Formel zu sein, unter die sich schlechterdings alles bringen läßt, erfüllt das Geld in hohem Maße, und daher bildet seine Weltherrschaft einen der großartigsten Triumphe, obschon Scheintriumphe des Rationalismus: alle Werte und Realitäten, selbst die innerlichsten und intensivsten, wie Glück, Persönlichkeit, Gottesgaben, lassen sich durch das Geld arithmetisch darstellen (oder gilt seitdem etwa nicht der Reichste als der Glücklichste und Bewunderungswürdigste und haben Balzac und Daumier etwa ihre Werke für »unbezahlbar« gehalten?). Nun haben wir aber schon mehrfach betont, daß jede Kultur sich nicht nur ihre Poesie und Sitte, Strategie und Gartenkunst, Jurisprudenz und Erotik, sondern auch ihre Naturwissenschaft macht; und es besteht daher eine tiefe Verwandtschaft zwischen der damals emporgekommenen Plutokratie oder vielmehr Plutolatrie und der ebenfalls damals geschaffenen Lehre von der Erhaltung der Kraft, die besagt, daß Licht, Wärme, Bewegung, Elektrizität, ja sogar die Lebenserscheinungen nur Formen ein und derselben neutralen Energie sind und daher ineinander verwandelt werden können, oder mit anderen Worten: daß alle Qualitäten nur Quantitäten sind. Und in der Tat reduzieren sich ja in dem Augenblick, wo man zugibt, daß alle Werte durch Geld ausdrückbar sind, sogleich alle seelischen Beziehungen der Menschen und alle ihre Schicksale: ihr Glück und Elend, ihr Triumph und Fall, ihre Seligkeit und Verdammnis auf Formveränderungen der Geldkraft, deren Summe, ganz ebenso wie das Energiekapital des Weltraums, eine fixe Größe darstellt.
Georg Simmel sagt in seinem gedankenreichen, nur leider schwer lesbaren Werk »Philosophie des Geldes«: »Das Geld schließt bei vielen die teleologischen Reihen endgültig ab und leistet ihnen ein Maß von einheitlichem Zusammenschluß der Interessen, von abstrakter Höhe, von Souveränität über die Einzelheiten des Lebens, das ihnen das Bedürfnis abschwächt, die Steigerung ebendieser Genugtuungen in der religiösen Instanz zu suchen.« Da man nicht gleichzeitig an Gott und das Geld glauben kann, so wird das Geld zum Gottersatz. Und ebendarum: weil es ein überreales Prinzip, weil es Gegenstand einer Religion ist, hat es auch die Tendenz, Selbstzweck zu werden. Man betet zu ihm nicht mehr, wie dies der Religiöse auf primitiver Stufe tut, um etwas von ihm zu erlangen, man betet es an, weil es anbetungswürdig, weil es die Gottheit ist. Der wahrhaft Geldgläubige verehrt das Geld nicht, weil man sich damit alles kaufen kann, sondern weil es seine höchste Instanz, sein Polarstern, der Sinngeber seines Daseins ist. Man wird zugeben müssen, daß dies kein kompakter roher Aberglaube nach Art der Fetischisten und Wallfahrer ist, sondern ein Götzendienst von hoher Sublimationskraft, kein einfacher Materialismus, sondern die Prostration vor einem geistigen Prinzip, wie ja auch der Teufel eines ist. Und alsbald erheben sich in den Städten mächtige Hauptheiligtümer namens Börsen und Scharen kleinerer Tempel, Banken genannt; in ihnen wird etwas Magisches, Allmächtiges, Allgegenwärtiges, aber Unsichtbares angebetet; vorgeblich eingeweihte Priester (meist freilich Ignoranten oder Betrüger) verkünden seinen Willen; zahllose Gläubige bringen opferfroh ihre Habe dar, in heiliger Scheu unverständliche Beschwörungsformeln einer fremden Sprache murmelnd. Das Credo ist zum Credit geworden.
Nichts interessiert die Menschen jener Zeit als das Geld, selbst die Malerei schildert mit Vorliebe finanzielle Situationen: Pfändungen, Bankerotte, Spielerszenen, den Hausierer mit seinen Warenballen, und Comte stellt an die Spitze der weltlichen Regierung seines Zukunftsstaats die Bankiers. Das Hohelied und homerische Epos auf die Macht des Geldes aber hat Balzac gesungen. Alles dreht sich bei ihm ums Geld, es ist der Held aller seiner Dichtungen, alle seine Gestalten und er selbst sind von einer wahren Geldsatyriasis erfaßt. Mit magischer Hand hat er den atembeklemmenden Schlagschatten, den dieser böse Riese über die Seelen warf, an die Wand gemalt. Und da der Dichter nichts anderes ist als das Megaphon seiner Zeit, so hat er diese Teufelslehre von seiner einsamen nächtlichen Warte herab verkünden müssen, ja er hat sich sogar gedrängt gefühlt, sie zu leben. Ein Dichter, an Kraft der Menschenschöpfung einem Rembrandt oder Shakespeare nicht unebenbürtig, als Troubador und Prophet des Geldes: einen größeren Triumph konnte der Mammonismus nicht erringen.
In fast jedem Kapitel surrt es bei ihm von Zahlen, Chancen, Preisen, Prozenten, von Mitgiften, Erbschaften, Transaktionen, Prozessen, alles ausführlich und sachkundig berechnet. Er selbst beschäftigte sich sein ganzes Leben lang mit allen möglichen phantastischen Unternehmungen, die sämtlich fehlschlugen: einer Ananaszüchterei, einer Buchdruckerei, einer Letterngießerei, Volksausgaben französischer Klassiker, Experimenten für eine neue Papiermasse, der Exploitierung sardinischer Silberminen, der Hebung vergrabener Schätze an der Seine. Er hatte auch die physiologische Konstitution eines Finanzmanns. Es wurde im vorigen Buch darauf hingewiesen, daß Schiller das Moment der Arbeit in die Dichtkunst eingeführt hat. Aber während dieser den stillen und fast unbewußten Fleiß eines Bibliothekars oder Brückenbauers besaß, arbeitete Balzac mit der keuchenden verzweifelten Wut eines Großspekulanten, der, Tag für Tag den Konkurs vor Augen, Nacht für Nacht fiebernd über seinen Kassenbüchern brütet; und seine Bücher waren seine Kassenbücher. An seinen Texten feilte er so lange, daß bisweilen keine Silbe von der ersten Niederschrift stehen blieb; seine Korrekturen waren der Schrecken der Setzer, er verlangte fünf, sechs, zehn Abzüge. Er selbst sagte: »Wenn der Künstler sich nicht in den Abgrund stürzt wie Curtius und nicht in diesem Krater arbeitet wie ein verschütteter Bergmann, so begeht er Selbstmord an seinem Talent. Darum winkt der gleiche Preis, der gleiche Lorbeer dem Dichter wie dem Feldherrn.« Er ist kein Priester, wie es der Poet in alten Zeiten war, kein Sekretär des Weltgeists, wie es noch sein Zeitgenosse Goethe ist, kein nachtwandelnder Träumer, der das Geheimnis der Wirklichkeit in hellseherischer Ahnung erfaßt, wie es der Dichter immer sein wird, sondern ein Alchymist, der es durch Zauberformeln zu erlisten, durch Retorten zu erpressen sucht, ein Stratege, der es durch geniale Schachzüge einkreist. Seine Wahrheiten sind nicht Orakelsprüche, die der Gott ihm eingibt (denn er hat keinen mehr), sondern Triumphe der Energie, des Kalküls, der Wissenschaft, der zähen unterirdischen Förderarbeit. Er schrieb sechzehn, ja dreiundzwanzig Stunden im Tage, bei geschlossenen Läden und Kerzenlicht (denn für diesen Poeten ist sein Arbeitszimmer sein Laboratorium) und trank dazu viele Tassen Kaffee wie Voltaire. Aber während für den Rokokohelden der Mokka ein feinschmeckerisches Anregungsmittel ist, das seinen Esprit noch pikanter, beschwingter und durchsichtiger macht, ist es für den Helden des Börsenzeitalters nur ein grausames Aufpeitschungselixier, das aus seinem überlasteten Organismus die letzten Spannkräfte preßt; bei jenem dient er dem spielerischen Selbstgenuß, bei diesem dem dumpfen Industrialismus. Voltaire ist Aristokrat, Balzac Plebejer; aber ebendies macht einen Teil seiner Größe aus. Denn gerade seine plebejischen Eigenschaften: seine massive Vitalität, sein Mangel an Hemmungen, seine durch angeborenes Mißtrauen und Schicksalshärte geschärften Sinne haben ihn dazu befähigt, ein Schilderer des Lebens zu werden, wie man ihn bisher noch nicht erblickt hatte.
In Balzac kocht und raucht das Maschinenzeitalter. Er selbst ist nichts als eine wunderbar gebaute Riesenmaschine, die unermüdlich dampft, stampft, mahlt und aus Materie Materie macht. Der Genius ist zum Perpetuum mobile geworden! Balzacs gigantische Fabrik walzt Menschen, in allen Größen und Qualitäten, pausenlos und massenhaft, und speit sie auf den Markt; er ist Leiter eines »Menschenwerks«. Seine Produkte sind imposant, aber deprimierend und nicht gänzlich überzeugend, wie alle »Wunderwerke der Technik«; sie sind nicht Ebenbilder Gottes, sondern Konkurrenten der Natur. Romantiker (allerdings nur im französischen Sinne) ist Balzac gleichwohl durch seine halb zum Albdruck, halb zur Karikatur steigernde Visionskunst: hierin erweist er sich als das genaue Pendant zu Daumier.
Balzac wollte nicht Romancier sein, sondern Historiker, ja eigentlich Naturhistoriker. Im Vorwort seiner »Comédie humaine«, die in fast dreitausend Personen und über hundert Romanen das ganze Leben der Zeit umfaßt: la vie privée, la vie parisienne, la vie de province, la vie de campagne, la vie militaire, la vie politique (wozu noch die études philosophiques und études analytiques kommen), sagt Balzac, er wolle für die menschliche Gesellschaft vollbringen, was Buffon für das Tierreich tat: »Soldaten, Arbeiter, Advokaten, Gelehrte, Staatsmänner, Kaufleute, Seefahrer, Dichter, Bettler, Priester unterscheiden sich genau so wie Wölfe, Löwen, Raben, Haifische, Lämmer.« Er hätte auch seinen Zeitgenossen Comte nennen können, dem in seiner Soziologie ebenfalls so etwas wie eine vergleichende Naturgeschichte der menschlichen Gesellschaft, die Feststellung ihrer Typen und Gesetze vorschwebte. Der Plan war unzweifelhaft grandios und ist auch im Rahmen der menschlichen Unvollkommenheit bewundernswert zur Durchführung gelangt. Daß er aber überhaupt gefaßt werden konnte, hat seine Wurzel in dem doppelten Rationalismus, der Balzac sowohl als Franzosen wie als Menschen des neunzehnten Jahrhunderts kennzeichnet: in der Überzeugung, daß es ein System gebe, worin die Wirklichkeit restlos aufgehe, daß das Leben ein Problem der Mechanik und der Permutationsrechnung sei. Ein andermal verglich Balzac sich mit Napoleon, indem er auf dessen Statuette, die in seinem Zimmer stand, die Worte schrieb: »Was er mit dem Degen nicht durchführen konnte, werde ich mit der Feder vollbringen. Honoré de Balzac.« Und das war richtig prophezeit. Er hat Europa unterjocht: von der Seine bis zur Wolga gehorchte es seiner Zauberfeder. Mit dem Degen konnte das niemals gelingen. Seine Welt war zuerst in der Phantasie da; erst später wurde sie wirklich. Das vermochte sie nur zu werden, weil sie schon von allem Anfang an wirklicher war als die wirkliche. Eines Tages, Balzac arbeitete gerade an »Eugénie Grandet«, erzählte ihm Jules Sandeau, der eben von einer Reise zurückgekehrt war, allerhand Neuigkeiten; Balzac hörte ihm eine Zeitlang zu und dann sagte er: »Das ist ja alles interessant, mein Lieber, aber kehren wir zur Wirklichkeit zurück, sprechen wir von Eugénie.« Ich sagte in der Einleitung dieses Werks, alle die großen Tatmenschen der Weltgeschichte seien nichts anderes gewesen als verunglückte, ins Leben verschlagene Künstler. Nero mußte Rom anzünden, was eine gefährliche, kostspielige und ausgesprochen kitschige Idee war; Dante hat mit seinem Flammenpinsel eine ganze Hölle angezündet, deren Feuer unlöschbar durch die Jahrhunderte brennt. Napoleons Phantasie blieb in der Realität stecken, und darum mußte er den aussichtslosen Versuch machen, sie mit Soldaten zu erobern.
Sainte-Beuve weist darauf hin, daß alle Welt den Ehrgeiz hatte, sich à la Balzac einzurichten (übrigens höchst geschmacklos: überladen, endimanchiert, bourgeois-gentilhommehaft, wie es in der Wesensart Balzacs und der ganzen Zeit lag); aber das war bloß eine der vielen lebendigen Wirkungen des Balzacschen Oeuvres. Nur aus dieser Epoche konnte eine so paradoxe, ja grauenerregende Spielart von Dichter geboren werden, wie sie in Balzac verkörpert war, und nur aus Balzac konnte diese Epoche ihren letzten Auftrieb, ihre geistige Legitimation und innere Lebensform schöpfen. Und wir stehen wieder einmal vor der Frage: macht der Dichter die Realität oder macht sie ihn?
Diese Ära wird mit dem Wort »Bürgerkönigtum« sehr zutreffend bezeichnet. Der König ist nichts als der erste Bürger, und eigentlich ist der Bürger König. Das Julikönigtum war die Schöpfung einer nur dreitägigen Revolution, die in der Hauptsache von Arbeitern, Studenten und napoleonischen Veteranen vollbracht wurde. Ihre unmittelbare Ursache waren eine Reihe von Ordonnanzen Karls des Zehnten, in denen das Ergebnis der letzten, oppositionellen Wahlen für ungültig erklärt, ein neues, reaktionäres Wahlgesetz erlassen und die Preßfreiheit aufgehoben wurde; und somit bewahrheitete sich das Bonmot, das Ludwig der Achtzehnte über seinen Bruder gesagt hatte: »er hat gegen Ludwig den Sechzehnten konspiriert, er konspiriert gegen mich, eines Tages wird er gegen sich selber konspirieren.« Die ganze Stadt starrte von Barrikaden, alles bewaffnete sich mit Flinten und Pflastersteinen und, wie der königliche Oberbefehlshaber Marmont melden mußte, jedes Haus wurde zur Festung, jedes Fenster zur Schießscharte. Die Truppen, deren Stimmung von vornherein flau war, zogen sich nach kurzem Straßenkampf zurück; der König abdizierte zugunsten seines Enkels, dessen Vater zehn Jahre vorher einem Attentat zum Opfer gefallen war, und ging nach England. Der Beschluß der Pairs und Deputierten erhob aber ein Glied der jüngeren Linie des Hauses Bourbon, den Herzog Ludwig Philipp von Orléans, auf den Thron, wobei ihnen als Modell die englische Revolution vom Jahre 1688 vorschwebte, die ebenfalls die alte Dynastie zwar depossediert, aber an ihre Stelle eine halblegitime, nämlich die nächstberechtigte Linie gesetzt hatte. Man hatte den alten Lafayette, der wie vor vierzig Jahren an die Spitze der Nationalgarde getreten war, davon überzeugt, daß nur durch diesen Ausweg Frankreich vor dem Republikanismus gerettet werden könne; dadurch wurde aber der vierte Stand, der die ganze Revolution gemacht hatte, um deren Früchte betrogen. Der neue König war ein außergewöhnlich kluger und vollkommen vorurteilsloser Mann, politisch nicht kompromittiert, da er nie gegen sein Vaterland gekämpft, sogar bei Valmy und Jemappes mitgefochten hatte, auch durch sein sonstiges Vorleben für die Rolle empfohlen, die ihm zugedacht war: er hatte sich als Emigrant stets im Hintergrund gehalten und auf bürgerliche Weise fortzubringen gesucht, war auch während der Restauration nicht zu den feudalen Sitten zurückgekehrt, sondern in seinen Lebensformen ein Bourgeois geblieben; und so wurde der dicke Regenschirm, mit dem er spazierenzugehen pflegte, das Symbol des neuen Königtums. Um den Bruch mit dem alten Regime auch äußerlich scharf zu markieren, nannte er sich nicht Ludwig der Neunzehnte oder Philipp der Siebente, sondern Louis Philippe, auch nicht mehr roi de France wie die Bourbonen, die damit gewissermaßen ganz Frankreich als ihr Eigentum reklamierten, sondern roi des Français, als von den Franzosen gewählter König, denen er den Eid auf die Verfassung ablegte; das bourbonische Lilienbanner vertauschte er mit der nationalen Trikolore. Da er aber seine Krone einer Liga reicher Bankiers, energischer Journalisten und einflußreicher Parteimänner verdankte, so blieb ihm nichts übrig als mit diesen drei Mächten verbündet zu bleiben, das heißt: mit der Korruption, und diese hat denn auch in seinen Tagen eine Höhe erreicht, wie sie seit den heroischen Zeiten der griechischen und römischen Republiken nicht mehr erblickt worden war. Am Portal seiner Ära stehen als berüchtigte Wahlsprüche das »juste milieu« und das »enrichissez-vous«. Trotz seiner ausgezeichneten diplomatischen Gaben hat er seine Stellung niemals vollkommen befestigen können, worüber er sich auch keinen Augenblick einer Täuschung hingab. Für die Republikaner und die Bonapartisten war er ein volksfeindlicher Usurpator, für die Royalisten und die konservativen Höfe des Auslands ein illegitimer Parvenü: der Zar wurde nur durch die polnische Revolution, die in demselben Jahre wie die Julirevolution ausbrach, an einer bewaffneten Intervention verhindert; zweimal versuchte Louis Napoleon, der Neffe Napoleons des Ersten und nachmalige Napoleon der Dritte, einen Aufstand; während seiner ganzen Regierung ereigneten sich Attentate: mit Pistole, Dolch, Höllenmaschine, einmal sogar, durch den Korsen Fieschi, mit einem aus vierundzwanzig Gewehrläufen konstruierten Maschinengewehr, so daß er schließlich kaum mehr auszugehen wagte.
Eine unmittelbare Folge der Julirevolution war der belgische Aufstand. Die künstliche Zusammenschweißung Hollands und Belgiens hatte sich als vollkommen unhaltbar erwiesen. Die Wallonen, die die südliche Hälfte Belgiens bevölkern, sind Romanen und sprechen französisch, aber auch die germanischen Flamen, die im nördlichen Teil des Landes wohnen, sind durch ihr katholisches Glaubensbekenntnis von den Holländern getrennt und in ihren großen Städten überwiegend französischer Zunge; zudem dominiert in ganz Holland der Handel und die Schiffahrt, in Belgien die Industrie und der Ackerbau. Infolgedessen haben die Flamen (obgleich sie, wie früher schon hervorgehoben wurde, mit den Holländern in Abstammung und Charakter fast identisch sind) stets nach Belgien gravitiert. Der Haß gegen die Union war so stark, daß Klerikale und Liberale in der Revolution gemeinsame Sache machten. Diese kam in Brüssel während der Oper »Die Stumme von Portici« zum Ausbruch, die bekanntlich den Aufstand der Neapolitaner unter der Führung des Fischers Masaniello schildert, und ergriff bald das ganze Land. Die Londoner Konferenz der Großmächte gab der Unabhängigkeitserklärung des belgischen Nationalkongresses und der Wahl des Prinzen Leopold von Sachsen-Coburg ihre Anerkennung, der als König der Belgier den Thron bestieg und große Klugheit und Umsicht bewies, indem er ein streng konstitutionelles Regiment führte, die Parteien versöhnte und das Land wirtschaftlich förderte, besonders durch den Ausbau eines reichen Eisenbahnnetzes, das noch heute den Stolz Belgiens bildet. Ferner wurde das Land auf ewige Zeiten durch einen Garantievertrag der Großmächte für neutral erklärt, dessen Spitze aber damals noch gegen Frankreich gerichtet war.
An den belgischen Aufstand schloß sich der polnische, der ebenfalls von der Hauptstadt ausging. Die einheimischen Teile der Armee schlossen sich der Insurrektion an. Die neugebildete provisorische Regierung erklärte den Zaren für abgesetzt und verlangte die Grenzen von 1772. General Diebitsch, der Eroberer von Adrianopel, drang mit einem russischen Heer in Polen ein und siegte nach einigen unentschiedenen Gefechten bei Ostrolenka, erlag aber bald darauf der Cholera. Das Ausland begleitete die polnische Erhebung mit lebhaften Sympathien, Polenlieder folgten den Griechenliedern, und Lafayette forderte die französische Kriegserklärung. Aber die Überlegenheit der russischen Artillerie und die Spaltung des Volkes in eine aristokratische und eine demokratische Partei führte zur Einnahme von Warschau und bald darauf zur allgemeinen Unterdrückung des Aufstands. Das »organische Statut« nahm Polen seine Verfassung und machte es zur russischen Provinz: Armee, Sprache, Religion, Verwaltung wurden mit moskowitischer Roheit gewaltsam russifiziert. Im Jahr 1846 kam es abermals zu polnischen Unruhen, diesmal in Posen und in Krakau, die zur Folge hatten, daß dieses seiner Freiheit verlustig ging und zu Österreich geschlagen wurde.
Im Revolutionsjahr 1830 erhoben sich auch die Schweizer, stürzten alle ihre aristokratischen Regierungen und verwandelten sie in demokratische. Seitdem ist die Schweiz der europäische Zufluchtsort aller politisch Verfolgten oder Unzufriedenen, und voll Zorn mußte Metternich sehen, daß die »befestigte Kloake«, um die man »einen moralischen Gesundheitskordon« ziehen müsse, zum Herd aller revolutionären Gifte wurde. Nachdem Aufstände in Parma, Modena und der Romagna mit österreichischer Hilfe unterdrückt worden waren, stiftete der junge Mazzini, der die Seele dieser Bewegungen gewesen war, in Bern den Geheimbund des »jungen Europa« mit den Filialen des jungen Italien, jungen Polen und jungen Deutschland. Auch in Sachsen, Kurhessen, Hannover und fast allen anderen deutschen Gebieten flackerten Unruhen empor; nur in Preußen und Österreich blieb es still. Im Mai 1832 fand auf der Hambacher Schloßruine in der Pfalz unter Beteiligung von zwanzigtausend Personen eine phrasenreiche Volkskundgebung für Demokratie und Einheit, Polenbefreiung und Frauenemanzipation statt, die Metternich zur Erneuerung der Karlsbader Beschlüsse veranlaßte. Da auch die literarische Schule des »jungen Deutschland« ausgesprochen politisch orientiert war und in temperamentvoller, obschon gänzlich unklarer Weise für die »modernen Ideen« eintrat, so wurden 1835 auf Metternichs Betreiben ihre Mitglieder (mit Ausnahme Börnes, des einzigen wirklich gefährlichen) vom Deutschen Bund geächtet, mehrere von ihnen zu Gefängnisstrafen verurteilt und nicht nur ihre bisherigen, sondern auch ihre künftigen Schriften verboten, ja es war nicht einmal erlaubt, ihre Namen, wenn auch in tadelndem oder warnendem Zusammenhange, zu drucken. Für sie war es verhängnisvoll geworden, daß man sie mit dem politischen Geheimbund identifizierte, der mit ihnen gar nichts zu schaffen hatte und ihnen nicht einmal bekannt war. Es war ein rein äußerliches Zusammentreffen, daß Laubes erster Roman den Titel »Das junge Europa« führte und Wienbarg seine »Ästhetischen Feldzüge« mit den Worten eingeleitet hatte: »Dir, junges Deutschland, widme ich diese Reden, nicht dem alten«; überhaupt hatten erst die Verfolger diese Schule konstruiert, deren Mitglieder nicht nur kein gemeinsames Programm besaßen, sondern einander nicht ausstehen konnten und stets boshaft befehdeten. Fünf Jahre später erließ Friedrich Wilhelm der Vierte, als er, zweihundert Jahre nach dem Großen Kurfürsten, hundert Jahre nach Friedrich dem Großen, den preußischen Thron bestieg, eine allgemeine Amnestie.
Dieser Herrscher war geistreich, unternehmend, großmütig, warmherzig und zweifellos eine Persönlichkeit. Daß er ein nobler Charakter und ein interessanter Kopf war, haben auch seine Gegner nicht in Abrede stellen können; daß es seinem Denken an Klarheit, seinem Willen an Energie fehlte, haben selbst Hofhistoriographen wie Heinrich von Treitschke einräumen müssen. Seine zur Fettleibigkeit neigende, aber nicht unelegante Figur, seine schlaffen, aber lebhaften Züge, seine fahrige, aber feinfühlige Impressionabilität verliehen ihm ein unsoldatisches, aber liebenswürdiges Gepräge. Er erinnert in seiner naiven Prunkliebe an den ersten Preußenkönig Friedrich den Ersten, in seiner satirischen Veranlagung und intensiven Anteilnahme an allen geistigen Bewegungen der Zeit an Friedrich den Großen, in seiner überströmenden Redelust, die sich nicht nur in der Privatkonversation, sondern auch bei allen möglichen öffentlichen Anlässen, und zum Teil sehr eindrucksvoll, äußerte, und seinem temperamentvollen, einmischungssüchtigen Dilettantismus an Wilhelm den Zweiten. Er war mit Alexander von Humboldt und Ranke nahe befreundet, zog Rückert und Schelling, Schlegel und Tieck, Mendelssohn und Cornelius und andere Koryphäen nach Berlin und empfing sogar Herwegh, den Dichter der deutschen Revolution, in Audienz. Eine Menge Bonmots aus seinem Munde kursierten in Berlin: so sagte er zum Beispiel, als er einmal, aus seiner Theaterloge tretend, den wartenden Lakaien auf dem Fußboden schlafend antraf: »der hat gehorcht!« Ein andermal bemerkte er: »anfangs wollten mich die Berliner vor Liebe auffressen, jetzt bedauern sie, es nicht getan zu haben«, und so verhielt es sich in der Tat: auf die begeisternden Reden und begeisterten Versprechungen folgte eine tiefe Enttäuschung; es stellte sich heraus, daß alles nur impulsive Phrase gewesen war und der neue König, keineswegs geneigt, seinen Staat zeitgemäß zu reformieren, vielmehr von nebelhaften, halb poetischen Reminiszenzen an mittelalterliche Lebensformen erfüllt war, indem er mit patriarchalischem Regiment, ständischer Hierarchie, Vasallentreue, christlichem Staat und ähnlichen romantischen Requisiten operierte, die die Zeit längst als staubige Antiquitäten ausgemustert hatte. Alsbald gewöhnte man sich daran, dem König, der unermüdlich weiterprojektierte und weiterredete, überhaupt nichts mehr zu glauben, und der Berliner Witz übersetzte seine stehende Redensart: »das gelobe und schwöre ich« in »dat jlobe ik schwerlich«. Nachdem schon früher Gutzkow in seinem Drama »Nero« Ludwig den Ersten von Bayern als romantischen Tyrannen geschildert hatte, der das Volksglück seinem Kunstwahn opfert, schrieb David Friedrich Strauß seine Schlüsselbiographie des Kaisers Julian, des »Romantikers auf dem Thron der Cäsaren«, die auf Friedrich Wilhelm gemünzt war. Die Parallele ist salzlos, philiströs und gequält wie alles, was dieser Autor hervorgebracht hat, da sich kaum zwei unähnlichere Personen und Situationen denken lassen, aber der Spitzname ist dem König geblieben. Und wenn man unter einem Romantiker ganz allgemein einen Menschen versteht, der dauernd in der Phantasie lebt, so ist Friedrich Wilhelm tatsächlich der Typus eines Romantikers gewesen: »Meine Lage«, schrieb er kurz nach seinem Regierungsantritt an Metternich, »erscheint mir wie ein Traum, aus welchem ich sehnlich das Erwachen wünsche.« Aus diesem Traum ist er niemals erwacht.
Das Jahr seiner Thronbesteigung ist auch dadurch bemerkenswert, daß es von einem diplomatischen Konflikt erfüllt war, der beinahe zu einem großen europäischen Krieg geführt hätte. Es war Mehemed Ali, einem sehr befähigten albanesischen Offizier, gelungen, Ägypten von der Pforte vollständig unabhängig zu machen, die ihm außerdem noch für seine Hilfe im griechischen Freiheitskampf Kreta und einige Jahre später, von seinem Schwiegersohn Ibrahim entscheidend geschlagen, Syrien überlassen mußte. 1839 kam es abermals zum Kampf, die Ägypter siegten bei Nisib, die feindliche Flotte ging zu ihnen über, der Bestand der Türkei schien bedroht. Infolgedessen schlossen England, Rußland, Österreich und Preußen im darauffolgenden Jahr einen Vierbund zum Schutze der Integrität des türkischen Reichs, während Frankreich auf Mehemed Alis Seite trat, der aber vor der Übermacht zurückweichen und Kreta und Syrien herausgeben mußte. Dies aber empfanden die Franzosen als persönliche Erniedrigung und in ihrem Zorn darüber erneuerten sie die Forderung nach der Rheingrenze. Der Kriegslärm dauerte einen vollen Winter. Die Franzosen, die sich immer für irgend etwas rächen müssen, erhoben den Ruf: » revanche pour Belle-Alliance!«, Thiers ließ Paris und Lyon befestigen (was den doppelten Zweck des Schutzes nach innen und nach außen hatte und daher von den Radikalen, » embastillement de Paris« genannt wurde), Hoffmann von Fallersleben dichtete »Deutschland, Deutschland über alles«, Lamartine eine »Marseillaise des Friedens«, Arndt »All Deutschland in Frankreich hinein«, Schneckenburger die »Wacht am Rhein«, Becker das Rheinlied »Sie sollen ihn nicht haben«, wofür er von Musset in einem künstlerisch weit wertvolleren Gedicht die Antwort erhielt: » Nous l'avons eu, votre Rhin allemand« und von Ludwig von Bayern einen Ehrenbecher mit der Inschrift: »Aus diesem vergoldeten, silbernen, von mir angegeben wordenen Pokal trinken Sie oft, das singend: sie sollen ihn nicht haben!«, und selbst der Republikaner Georg Herwegh sang: »Stoßt an, stoßt an, der Rhein, der Rhein soll deutsch verbleiben!«, obschon mit dem kosmopolitischen Zusatz »und wärs' nur um den Wein«. Für die traurige Tatsache, daß Frankreich die politische Irrenzelle Europas und Provokation seine zweite Natur ist, läßt sich kaum ein stärkerer Beweis erbringen als die Ereignisse von 1840. Denn niemand wird behaupten können, daß jene Fellachenrauferei ein Anlaß war, die Pfalz zu bedrohen. Indes kam es nicht zum Krieg: Louis Philipp war viel zu klug, um die Gefährlichkeit seiner Situation nicht einzusehen, die ihn zwischen zwei Feuer stellte, denn einerseits legte es der Zar auf einen legitimistischen Kreuzzug der Ostmächte an, andererseits hätten die Republikaner den Krieg sofort zu einer Revolution benützt.
In dieser Krise erwies sich England wieder als die absolut führende Macht. In London wurde der Vierbund, der türkisch-ägyptische Friede und 1841 auch der wichtige Meerengenvertrag geschlossen, worin alle fünf Großmächte übereinkamen, daß in Friedenszeiten kein fremdes Kriegsschiff den Bosporus und die Dardanellen passieren dürfe: er war gegen Rußland gerichtet, das acht Jahre vorher bei der Türkei die Öffnung des Bosporus für alle russischen und die gleichzeitige Schließung der Dardanellen für alle übrigen Schiffe durchgesetzt hatte. 1837 war die junge Königin Viktoria ihrem Oheim auf dem Thron gefolgt, wodurch sich die Personalunion mit Hannover, wo die weibliche Erbfolge nicht galt, auflöste. 1839 besetzte England Aden, den Schlüssel zum Roten Meer, und schuf sich dadurch einen seestrategischen Gegenpol zu Gibraltar; 1840 führte es den skandalösen Opiumkrieg gegen China, in dem es die Opiumeinfuhr aus Indien und die Abtretung der Insel Hongkong erzwang; nachdem es schon vorher sich im Westen und Süden Australiens ausgebreitet und einen Teil von Hinterindien unterworfen hatte, eroberte es in den vierziger Jahren auch das vorderindische Pandschabgebiet und gewann damit ein unschätzbares Ausfalltor gegen Afghanistan und Rußland. Es wurde bereits geschildert, in welchem erstaunlichen Maße in England das Maschinenwesen, der Eisenbahnbau und die Dampfschiffahrt den Kontinent überflügelt hatten. Dort gab es auch schon längst Märchendinge wie Streichhölzer, Stearinkerzen und Stahlfedern. 1840 wurde durch Rowland Hill die aufklebbare Marke und die Pennypost eingeführt, die die Briefe in ganz England gegen ein Einheitsporto von einem Penny beförderte, während innerhalb der preußischen Grenzen die Briefzustellung damals noch zehn bis zwanzig Silbergroschen kostete; das Gros der deutschen Staaten entschloß sich erst gegen Ende der vierziger Jahre zu dieser neuen Einrichtung, Mecklenburg-Strelitz erst 1863. Die Eroberung ungeheurer Gebiete von höchster Fruchtbarkeit, im Verein mit den technischen Vervollkommnungen, hatte natürlich sehr wohltätige wirtschaftliche Folgen, freilich nur für die besitzenden Klassen. Der englische Naturforscher William Draper, ein ausgezeichneter Physiolog, auch verdient um die Entwicklung der Photographie, später Professor der »Philosophie« in New York und Geschichtschreiber des amerikanischen Bürgerkriegs, hat eine seinerzeit viel gelesene »History of the intellectual development in Europe« geschrieben, die auf Bucklesche Manier mit geschwätziger Naivität den Fortschritt des europäischen Geistes im wissenschaftlichen Aberglauben feiert; er erzählt darin, daß bereits 1833 die Länge des Garns, das während eines Jahres in England gesponnen wurde, ausgereicht hätte, den Umfang der Erde mehr als zweihunderttausendmal zu umspannen, und fügt hinzu: »die Menschen hatten Werke vollbracht, die fast gottgleich waren.«
Die Reformbill vom Jahr 1832 gewährte der industriellen Mittelklasse Anteil an den Parlamentswahlen. Im darauffolgenden Jahre wurde in den britischen Kolonien die Sklaverei aufgehoben, weniger aus philanthropischen als aus handelspolitischen Gründen. Die Erbitterung des vierten Standes kam in tumultuarischen Arbeitsverweigerungen (einen organisierten Streik gab es damals noch nicht) und in schweren Ausschreitungen zum Ausdruck, am furchtbarsten 1839 in Birmingham, wo die Arbeiter die ganze Stadt verwüsteten, die Häuser plünderten und die Fabriken einäscherten: der Herzog von Wellington, der die Revolte niederschlug, erklärte im Oberhause, er sei schon oft Zeuge der Eroberung einer Stadt gewesen, aber niemals habe er ähnliche Schrecken mitgemacht. Es ist unbegreiflich, wieso ein Volk von so hoher politischer Weisheit wie das englische, das zudem in allen Fragen des praktischen Lebens einen so viel reicheren Schatz an Erfahrung besaß als alle übrigen, nicht einsehen wollte, daß es für den Stand, dem es seinen ganzen Wohlstand verdankte, ausreichend zu sorgen habe. Es darf jedoch nicht unerwähnt bleiben, daß es im britischen Kulturgebiet zu allen Zeiten, und besonders in der damaligen, einige hochherzige Idealisten gegeben hat, die es sich zur Aufgabe machten, das Gewissen ihrer Landsleute aufzurütteln. Einer von ihnen war Richard Cobden. Er erkannte, daß die Hauptursache des großstädtischen Elends in den hohen Brotpreisen zu suchen sei und daß diese wieder auf die Getreidezölle zurückzuführen seien, an denen das Oberhaus, das fast ausschließlich aus Grundbesitzern bestand, in kurzsichtigem Egoismus festhielt. Er gründete daher die » Anti-cornlaw -league«, der sich auch die Fabrikanten anschlossen (weil sie nämlich hofften, bei billigeren Brotpreisen noch niedrigere Löhne zu erzielen), und es gelang ihm in zehnjährigem Kampfe, die Aufhebung der Korngesetze zu erwirken. Aus seinen Lehren und Forderungen entwickelte sich in Manchester, dem Mittelpunkt des Baumwollhandels, eine neue nationalökonomische Richtung, die sogenannte Manchesterschule, die sich für den Freihandel, das heißt: die Abschaffung sämtlicher Schutzzölle erklärte. Mit ihr vereinigten sich die Vorkämpfer des Chartismus, die unter dem Losungswort » the people's charter« als Recht des Volkes dessen entscheidende Beteiligung an der Regierung forderten, und diesen schlossen sich die irischen Separatisten an, die die Lostrennung von England, » the repeal of the union«, teils mit friedlichen, teils mit kriegerischen Mitteln ungestüm und unablässig betrieben. Diese drei Bewegungen, durch energische und gewandte Agitatoren wie O'Connell und O'Connor verstärkt und beschleunigt, versetzten England in den dreißiger und vierziger Jahren in dauernde Gärung. Im Parlament lösten Torys und Whigs einander ab, ohne daß eine der beiden Parteien etwas allgemein Befriedigendes zustande brachte. Die Chartisten verlangten allgemeines und gleiches Wahlrecht, geheime Abstimmung, jährliche Neuwahlen, die Liguisten Ausschaltung aller staatlichen Eingriffe in Handel und Gewerbe, die Iren waren nicht weit entfernt von anarchistischen Grundsätzen. In diesen Wirren war der weitaus einsichtigste, vorurteilsloseste und weitblickendste Kopf Sir Robert Peel, der, anfangs strenger Tory, allmählich eine liberalere Richtung eingeschlagen hatte und, mit erstaunlicher Anpassungsfälligkeit an die Tatsachen, zwischen den extremen Wünschen und Antrieben der Parteien die Mitte zu halten verstand: daß er häufig sein Programm wechselte, floß, obgleich er deshalb von seinen Gegnern schwach und inkonsequent gescholten wurde, aus seinem gesunden Wirklichkeitssinn, der nicht nach einer starren Parteidoktrin vorging, sondern sich nach den jeweiligen Umständen und Gegebenheiten richtete. So gelang es ihm, die irische Frage wenigstens insoweit zu regeln, daß es zu keiner Katastrophe kam, die Chartistenbewegung in parlamentarische Formen zu lenken und dem Freihandelssystem auf den wichtigsten Gebieten zum Siege zu verhelfen.
Die ersten praktischen Versuche auf dem Felde der sozialen Fürsorge machte, ohne jede staatliche Unterstützung, der edle Robert Owen, durch dessen Schriften auch das Wort Sozialismus zu einer Weltvokabel wurde (sein Erfinder ist der Saint-Simonist Pierre Leroux); nur dachte er an einen Sozialismus von oben, wie dem Kaiser Josef ein Liberalismus von oben vorgeschwebt hatte. Er verkürzte in seinen Fabriken, die über zweitausend Menschen beschäftigten, die Arbeitszeit, führte die Arbeitslosenunterstützung ein, sorgte für hygienische Arbeitsräume und unentgeltliche Behandlung der Kranken, errichtete Wohnungen, Schulen und Konsumvereine und entwickelte eine lebhafte Agitation für verbesserte Fabrikgesetzgebung und genossenschaftliche Organisation. Er hat auch versucht, eine wissenschaftliche Theorie des Kommunismus zu geben. Für einen Kommunisten gilt auch Proudhon wegen seines berühmten Ausspruchs: »Was ist Eigentum? Es ist Diebstahl«; aber dieser Satz kehrt sich eben nur gegen das vom Staat geschützte, arbeitslose Eigentum, das aus Renten und Zinsen, Hausmiete und Bodenpacht, Sinekuren und Privilegien und dergleichen fließt, und nicht gegen den privaten Besitz: das Eigentum, sagt er, sei die Quelle alles Mißbrauchs, der Besitz aber (der im bloßen Gebrauch dessen besteht, was man sich erarbeitet hat) schließe jede Möglichkeit des Mißbrauchs aus; dieser sei die Bedingung, jenes der Selbstmord der menschlichen Gesellschaft, dieser sei rechtlich, jenes widerrechtlich; und weit entfernt, den Privatbesitz abschaffen zu wollen, in dem er den notwendigen Ansporn zur Arbeit, die Grundlage der Familie und die Quelle alles Fortschritts erblickt, will er vielmehr, daß jeder Mensch Privatbesitzer sei. Der Kommunismus ist für ihn nur das umgekehrte Eigentum: dieses die Ausbeutung der Schwachen durch die Starken, jener die Ausbeutung der Starken durch die Schwachen, und auch das ist Diebstahl; die wahre Gerechtigkeit beruht nicht auf der Gleichheit des Besitzes, sondern auf der Gleichheit der Dienste, dem »Mutualismus«. Infolge dieser Ansichten nannte ihn Marx einen Bourgeois. In Wirklichkeit ist Proudhon der erste konsequente Vertreter des Anarchismus, da er in der Staatsgewalt den Hauptschuldigen sieht und sie in jeder Form aufgehoben wissen will. Gegen die Freihändlerschule wandte sich Louis Blanc, indem er erklärte, daß gerade der freie Wettbewerb die Ausbeutung begünstige und daher der Staat sich zum Herrn der gesamten Produktion machen müsse. Von der Schweiz aus sandte Wilhelm Weitling, ein Schneidergeselle aus Magdeburg, kommunistische Flugschriften von christlicher Färbung nach Deutschland, die im Proletariat viel gelesen wurden. 1844 ereignete sich der schlesische Weberaufstand, den Hauptmann in seinem »Schauspiel aus den Vierzigerjahren« behandelt hat. Von den Zuständen, die zu diesem Verzweiflungsausbruch führten, berichtet der Nationalökonom Alfred Zimmermann in seinem Buch über »Blüte und Verfall des Leinengewerbes in Schlesien«: »Auf den Straßen spielten keine Kinder, sie mußten mit ihren schwachen Kräften den Eltern bei der Arbeit helfen. Selbst das Gebell der Hunde, das sonst in keinem Dorf fehlt, ertönte hier nicht. Man besaß kein Futter für sie und hatte die treuen Wächter als willkommene Nahrung verzehrt... Fleisch sahen die meisten Familien nie ... es war ein frohes Ereignis, wenn ein Bauer der Familie etwas Buttermilch oder Kartoffelschalen schenkte.« An einem Junitag drangen die Weber in das Haus und die Fabrik der Firma Zwanziger in Peterswaldau und demolierten sie. »In tiefem Schweigen übten sie das Rachewerk. Man hörte nur das Krachen der zerbrechenden Möbel und Maschinen.« Zwei Kompanien Infanterie, die inzwischen eingetroffen waren, feuerten zuerst über die Köpfe der Anstürmenden hinweg. Diese antworteten mit einem Steinhagel. Daraufgaben die Soldaten eine zweite Salve ab und töteten einige der Angreifer. Die Menge ließ sich aber nicht im geringsten einschüchtern und zwang die Truppen durch neuerliche Steinwürfe zum Abzug. Nachdem noch einige Gebäude zerstört worden waren, erlosch aber plötzlich der Aufruhr und alles war wie zuvor. Geblieben ist aus jenen Tagen nur das unheimliche Lied »Das Blutgericht«, das damals in den Massen umging: »Ihr Schurken all, ihr Satansbrut, ihr höllischen Dämone, ihr freßt den Armen Hab und Gut und Fluch wird euch zum Lohne!« und Heines Weberlied: »Ein Fluch dem König, dem König der Reichen, den unser Elend nicht konnte erweichen, der den letzten Groschen von uns erpreßt und uns wie Hunde erschießen läßt. Wir weben, wir weben!« Damals hat auch in ganz Deutschland die Auswanderung eingesetzt, die namentlich Nordamerika zugute kam, und das neugeprägte Wort »europamüde« wurde zur Parole weiter Volkskreise. Die einzige öffentliche Einrichtung Deutschlands, die einen gewissen Fortschritt zu verzeichnen hatte, war die Schule. 1841 gründete Fröbel den ersten Kindergarten, und Johann Friedrich Herbart, Professor der Philosophie in Königsberg, stiftete eine »pädagogische Übungschule«, an der seine neue Erziehungsmethode gelehrt wurde, basiert auf die Ethik, die ihre Ziele, und die Psychologie, die ihre Mittel bestimmt, und nicht bloß auf Kenntnisse, sondern vornehmlich auf Charakterbildung gerichtet; sie stand im Zusammenhang mit seiner Philosophie, die alle seelischen Vorgänge aus der Wechselwirkung der Vorstellungen ableitet: ihrer Verschmelzung, Verknüpfung oder gegenseitigen Hemmung, ihrem Latentwerden und Wiederauftauchen, »Steigen« und »Sinken«; und wie sich die physikalischen Bewegungen mathematisch darstellen lassen, so hat Herbart auch für seine psychologische Mechanik eine Reihe von Formeln zu schaffen gesucht.
Während die »rote Internationale« vorläufig nur geringe Erfolge aufzuweisen hatte, gelangen der »goldenen Internationale« um so größere. Sie äußerten sich unter anderm in der Bildung ausgedehnter Zollvereine. Die Manchesterschule beabsichtigte nichts Geringeres als eine paneuropäische Zollunion, in Frankreich waren längst alle Binnenzölle gefallen, und im Anfang der vierziger Jahre fanden Verhandlungen über einen belgisch-französischen Zollverein statt, die nur an der Furcht der französischen Industriellen vor der belgischen Konkurrenz scheiterten. Der deutsche Zollverein ist im wesentlichen das Werk Friedrich Lists. Als er dem Bundestag ein Gesetz zur Aufhebung aller Binnenzölle überreichte, wurde er zu Festungshaft verurteilt und erst amnestiert, als er versprach, nach Amerika auszuwandern. In Pennsylvanien entdeckte er ein Steinkohlenlager, durch dessen Ausbeutung er ein wohlhabender Mann wurde. Aber es ging ihm, wie er sagte, mit Deutschland wie einer Mutter mit einem krüppelhaften Kinde, das sie um so stärker liebt, je krüppelhafter es ist. Er ließ sich als amerikanischer Konsul in Leipzig nieder und arbeitete dort rastlos für seine beiden Lieblingsideen: die wirtschaftliche Einigung Deutschlands und den Ausbau eines Eisenbahnnetzes, denen er seine Arbeitskraft, seine Gesundheit und sein Vermögen opferte. Er ging dabei von der Theorie aus, daß jede Volkswirtschaft drei Stufen durchlaufe: zuerst sei die Landwirtschaft vorherrschend, dann Landwirtschaft und Gewerbe, schließlich Landwirtschaft, Gewerbe und Handel; auf der ersten Stufe sei Freihandel das Natürliche, denn die Landwirtschaft muß ungehindert Rohstoffe ausführen und gewerbliche Produkte einführen können; auf der zweiten müsse der Staat das junge Gewerbe schützen, wie man Kinder, kleine Obstbäume und Weinstöcke schützt, daher empfehle sich hier das Zollsystem, das aber nur ein Erziehungssystem sein dürfe und auf der dritten Stufe wieder entbehrlich werde. Nach Lists Ansicht befanden sich damals Spanien und Portugal auf der ersten, Deutschland und die Vereinigten Staaten auf der zweiten und England auf der dritten Stufe. Daher, schloß er, müßten sich die europäischen Nationen gegen die englische Handelssuprematie zusammenschließen, die Kontinentalsperre müsse auf friedlichem Wege erneuert werden, bis England eingesehen habe, daß es nur der erste unter gleichen sein könne. Trotz dieser feindlichen Haltung wurde List in England mehr geschätzt und verstanden als in Deutschland und, als er London besuchte, von den ersten Staatsmännern und vom Parlament mit Auszeichnung behandelt. Endlich kam aber der Zollverein doch zustande. Seine Anfänge gehen ins Jahr 1818 zurück, das die wirtschaftliche Union innerhalb des preußischen Staatsgebietes brachte, die preußischen Enklaven schlossen sich an, dann folgten Hessen- Darmstadt, Anhalt, Kurhessen, Bayern, Württemberg, Sachsen, Thüringen, die sich teils untereinander, teils mit Preußen, schließlich aber alle zusammen zum preußisch-deutschen Zollverein vereinigten: in der denkwürdigen Silvesternacht des Jahres 1833 öffneten sich mit dem Mitternachtsschlage in vier Fünfteln des nachmaligen deutschen Reichsgebietes unter allgemeinem Jubel die Zollschranken. Lists Gedanken gingen aber noch viel weiter: er wünschte nicht nur den Beitritt der Hansastädte, sondern auch Belgiens und Hollands, denn, sagte er, ein deutscher Zollverein ohne Rheinmündung gleiche einem Hause, dessen Tür einem Fremden gehört; ferner verwies er auf die Ausdehnung nach dem Osten über Österreich, Ungarn und die Türkei und verlangte den Bau einer deutschen Flotte, denn eine Nation ohne Schiffahrt sei wie ein Vogel ohne Flügel, ein Fisch ohne Flossen, ein Löwe ohne Zähne. Aber die allgemeine Verständnislosigkeit, die fortgesetzten boshaften Angriffe, finanzielle Sorgen und quälende nervöse Kopfschmerzen verbitterten ihn derart, daß er sich 1846 bei Kufstein erschoß.
In der Dichtung wurde die soziale Note zuerst und am stärksten in England angeschlagen. Ihr Meister ist Charles Dickens, der die Schäden des Fabrikbetriebs, des Schulwesens, der Armenpflege, der Klassenjustiz mit lebenskundiger Naivität und humorvollem Mitgefühl abschilderte. Seine Anklagen haben gerade dadurch, daß sie völlig gallenlos und rein dichterisch sind, auf tiefste gewirkt und sich eine unvergängliche Frische bewahrt. Andere große Dichter schwanken in der Verehrung der Nachwelt; dieses edle Kind wird immer der Liebling der Menschheit bleiben. Und doch hat selbst dieser engelreine Geist dem Dämon seiner Zeit gehuldigt, indem er sich zur Goldgräberarbeit lukrativer Vortragstourneen verlocken Heß, die seine reiche Lebenskraft vorzeitig aufzehrten. In diesen Jahren der Verwirrung erstand aber der angelsächsischen Rasse die stärkste moralische Potenz, die sie jemals hervorgebracht hat, in Thomas Carlyle.
Es ist ungemein leicht, Carlyle zu tadeln, und es ist ungemein schwer, ihn zu loben. Wer auch nur einen Bruchteil seiner Schriften gelesen hat, wird mühelos eine Menge von Fehlern und Unzulänglichkeiten in ihnen entdecken können. Er wiederholt sich; er widerspricht sich; er übertreibt; er schreibt dunkel und weitschweifig; sein Pathos ist überheizt; sein Tempo ist unsicher; seine Gedanken sind ungeordnet und barock.
Alle diese Defekte und noch manche andere lassen sich ohne weiteres herausfinden und genau bezeichnen; will man aber ebenso kurz feststellen, welche guten Eigenschaften ihnen gegenüberstehen, so gerät man in Verlegenheit. Wollte man zum Beispiel sagen, daß Carlyle Temperament, Denkschärfe, psychologische Feinfühligkeit, plastische Charakterisierungsgabe besitzt, daß er originell, packend und geistvoll ist, so wäre damit so gut wie gar nichts über ihn gesagt. Es ist sehr wahrscheinlich, daß dies alles zutrifft, aber es trifft ihn nicht. Jeder, der ihn kennt, hat das unabweisbare Gefühl, daß mit solchen Attributen an das Phänomen Carlyle nicht heranzukommen ist, daß sie vollständig von ihm abgleiten.
Die Verlegenheit beginnt sogar schon in dem Augenblick, wo man angeben soll, in welche literarische Kategorie er überhaupt gehört. Ist er Philosoph, Historiker, Soziolog, Biograph, Ästhetiker, Romanzier; ist er dies alles zusammen oder vielleicht auch nichts von alledem? Ja ist er überhaupt auch nur ein Schriftsteller? Er selber hat diese Frage verneint. »Wenn es etwas gibt«, sagte er, »wofür ich kein besonderes Talent habe, so ist es die Literatur. Hätte man mich gelehrt, die einfachste praktische Tätigkeit auszuüben, so wäre ich ein besserer und glücklicherer Mensch geworden.« Diese Selbstbeurteilung eines Mannes, dessen Bücher in Hunderttausenden von Exemplaren verbreitet sind, mag zunächst überraschen; sobald man aber näher zusieht, wird man etwas Wahres an ihr finden. Wenn man nämlich unter einem Schriftsteller einen Menschen versteht, der die Gabe besitzt, seine Beobachtungen und Empfindungen flüssig und glänzend zur Darstellung zu bringen, der gelernt hat, alles, was in ihm ist, gewandt und mühelos herauszusagen, kurz einen Menschen, der besonders gut imstande ist, seine Eindrücke auszudrücken, so war Carlyle ganz gewiß kein Schriftsteller. Die literarische Arbeit war ihm nie etwas anderes als eine Qual, niemand hat mehr unter den Hemmungen und Widerständen des Produzierens gelitten als er. Wenn er von einem Stoff erfüllt war, so fühlte er sich wie unter einer schweren Last wandeln, er empfand nichts als einen unerträglichen Druck, die Freudigkeit des Gestaltens fehlte ihm vollständig. Und auch das fertige Werk trägt bei ihm noch die Spuren des Kampfes mit der Materie. Der Grundcharakter seiner Schreibweise ist eine merkwürdige Verbindung von Lebhaftigkeit und Schwerfälligkeit; es ist ein Stil, der fortwährend im Zweifel läßt, ob man ihn feurig oder holprig nennen soll, der unwiderstehlich mitreißt und dennoch immer mühselig mit sich selbst ringt, sich überstürzend, dann wieder hinkend und zurückbleibend, formlos und formell: mit seinen hunderterlei Einschiebungen, Einschränkungen, Rückbeziehungen, plötzlichen Parenthesen, angehängten Nachsätzen und zerreißenden Interjektionen [sorgt er für] die Verzweiflung vieler Leser; eben hierdurch erhält ja Carlyles Prosa ihren einmaligen Rhythmus.
Wollte man Carlyles Wesensart mit einem einzigen Worte bezeichnen, so könnte man ihn vielleicht, indem man dabei aus Carlyles eigenem Vokabular schöpft, einen Denkerhelden nennen. Carlyle hat die verschiedenen Äußerungen des Heldentums in allen menschlichen Betätigungen aufgesucht und aufgefunden: seine Auffassung war, daß im Grunde jeder wahrhaftige und tüchtige Mensch ein Held sein kann. Nur eine Form des Heldentums hat er übersehen: den » hero as thinker«; aus einem sehr einfachen Grunde: weil er sie nämlich selbst verkörperte. Indes ist gerade sie die wirksamste und umfassendste von allen. Der Denker ist gewissermaßen der Universalheld, er begreift alle Carlyleschen Heldenformen in sich: er ist Prophet, Dichter, Priester, Schriftsteller, Organisator in einer Person. Sein Einfluß währt am längsten und reicht am tiefsten. Und er ist nicht nur die mächtigste Form des Heldentums, sondern auch die reinste, die menschlich größte; gerade weil er nicht im konkreten Handeln sein Ziel sieht. Jede Handlung hat einen gewissen Grad von Beschränktheit, Blindheit, Ungerechtigkeit zur Voraussetzung: ihr Inhalt ist nur eine bestimmte, gegebene, momentane Wahrheit; aber der Denker will die ganze. Er versteht, durchschaut, durchdringt alles, erkennt alles in seiner individuellen Berechtigung.
Damit ist aber keineswegs gegeben, daß der Denker in temperamentlosem Indifferentismus alles gelten lassen muß. Im Gegenteil: jeder echte Denker ist ein leidenschaftlicher Reformator. Der Ton, in dem er spricht, ist daher sehr oft unkonziliant und gewalttätig. Es genügt ihm nicht, seine Wahrheiten für sich gefunden zu haben, er will sie zum Besitz der ganzen Welt machen, sie ihr beibringen, auch gegen ihren Willen. Er trägt Dinge in seinem Herzen, die gebieterisch nach außen drängen, die er jedermann ins Ohr schreien, über jeden Türpfosten schreiben, an jeder Straßenecke plakatieren möchte.
Durch diese Züge ist Carlyles Schaffen bestimmt. Er fühlt sich nicht als Verfasser von Büchern, die der Belehrung oder Unterhaltung dienen, sondern als Träger einer Mission. Die Form ist ihm gleichgültig. Er wiederholt seine Leitsätze immer wieder, refrainartig, denn er weiß: man muß eine Wahrheit hundertmal sagen, bis ein einziger an sie glaubt. Er ist unmäßig im Lob und im Tadel wie ein grober wohlwollender Schullehrer. Er geht immer zu weit; absichtlich. Aber schließlich: alle echten und tiefen Gefühle sind »übertrieben«, hyperbolisch, hypertrophisch und gerade dadurch produktiv; man könnte fast sagen: alle wirklich lebendigen Empfindungen haben Überlebensgröße. Carlyles Technik besteht einfach darin, daß er sich von jeder starken Impression, die ihn erfüllt, willig fortreißen läßt, bis zu den letzten, äußersten Konsequenzen oder Inkonsequenzen: die Technik aller großen Künstler. Und zudem fehlt es ihm auch nicht an der ausgleichenden Selbstironie. Wenn man genauer achtgibt, kann man ihn bisweilen hinterher über sich selber herzlich lachen hören.
Seine Äußerungen, so subjektiv in der Form, haben das denkbar empfindlichste Gerechtigkeitsgefühl zur Grundlage. Daß er sich so oft widerspricht, ist nur die natürliche Folge seiner Wahrheitsliebe. Er widerspricht lieber sich als den Tatsachen. Diese sind seine alleinige Richtschnur. Denn dieser extreme Idealist und Ideologe ist zugleich der praktischste, nüchternste, sachlichste Wirklichkeitsmensch. Seine Gabe zu sehen ist außerordentlich. Obgleich er immer von gewissen Abstraktionen ausgeht, schreibt er doch niemals im geringsten abstrakt; ja er hat sogar die Fähigkeit, Ideen so zu beleben, als seien sie wirkliche Wesen, persönliche Freunde oder Gegner. Er besaß selber im höchsten Maße jene Eigenschaft, die er » vision« zu nennen pflegt. Er trifft stets mit unfehlbarer Sicherheit den Kern jeder Sache, einerlei, welchem Gebiete sie angehören mag.
In einem solchen Kopfe muß sich notgedrungen alles ganz von selber zum Weltbilde runden. Tatsachen haben eine unwiderstehliche Affinität zu Tatsachen und fügen sich völlig selbsttätig ineinander. Das Entscheidende ist jene geheimnisvolle Gabe der vision: man könnte sagen, diese allein sei schon eine vollständige Weltanschauung, ja vielleicht die einzige, die diesen Namen wirklich verdient.
Um Carlyles singulare Stellung innerhalb der englischen Literatur zu verstehen, muß man im Auge behalten, daß er Schotte war, und zwar ein Schotte des Tieflands, wo der keltische Einschlag viel geringer ist als bei den Hochschotten und das niederdeutsche Element sogar stärker als bei den Engländern. Obschon er nicht in einem heimatlichen Sonderdialekt schrieb, wie es sein Landsmann Burns getan hat, sondern sich des gewöhnlichen Schriftenglisch bediente, fällt es doch schwer, ihn einen englischen Autor zu nennen. Und noch unenglischer ist seine ganze Art zu sehen; es ist der widerspruchsvolle, schwer zu entziffernde schottische Nationalcharakter, der aus seinem Denken spricht, jene merkwürdige Verbindung von Verträumtheit und Lebensklugheit, launischer Reizbarkeit und robuster Widerstandskraft, Melancholie und Humor, Eigensinn und Anpassungsfähigkeit, Unzugänglichkeit und Geselligkeit: all dies findet sich in Carlyle, und oft in jener unheimlichen Vergrößerung, in der geniale Menschen die Eigenschaften ihres Volkes zu verkörpern pflegen.
Und zum Schluß vergessen wir nicht: Carlyle entstammt einem Volke, dem die Gabe des » second sight«, des zweiten Gesichts, zugeschrieben wird. Mag diese Fähigkeit erwiesen sein oder nicht: in einem anderen und höheren Sinne besaß er sie gewiß; denn wenn man Carlyles Wesen und Bedeutung am kürzesten zusammenfassen wollte, so dürfte man vielleicht sagen: er war ein Geisterseher.
Carlyles erste Lebenshälfte war der deutschen Literatur gewidmet. Er las Goethe, Schiller, Novalis, Jean Paul, erkannte hier sogleich eine ganz neue Gedanken- und Gestaltenwelt, die von der englischen himmelweit entfernt und ihr himmelweit überlegen war, und beschloß, diese neuen Werte seinen Landsleuten zu erschließen. Hierin aber fand er den größten Widerstand. Man hielt in England die neue deutsche Literatur für einen Versuch, überwundenen Standpunkten wieder Geltung zu verschaffen. Goethe erschien den meisten als ein Mensch, der sich in abstruse Mystik verloren hatte; von seinen Werken waren die wenigsten bekannt, und man fühlte kein Bedürfnis, diese Bekanntschaft zu erweitern. In der deutschen Literaturgeschichte William Taylors, der einzigen, die es gab, gipfelte die Entwicklung in Kotzebue. Das Interesse an historischen und ästhetischen Untersuchungen war durchaus nicht gering; schon die große Zahl ernster und gediegener Revuen beweist dies. Aber diese pflegten eine ganz andere Kunstform als Carlyle, nämlich die durch wissenschaftliche Gründlichkeit und geschmackvolle Darstellung veredelte Plauderei. Ihr bedeutendster und populärster Vertreter ist Lord Macaulay. Seine fortwirkende Beliebtheit erklärt sich zunächst daraus, daß in ihm zwei Eigenschaften zusammenkamen, deren Vereinigung bei einem antiken Autor selbstverständlich, bei einem modernen aber äußerst selten ist: er besaß bedeutende Kenntnisse und zugleich die Kunst, sie mitzuteilen. Seine Belehrung ist ebenso nahrhaft wie schmackhaft; seine Werke sind Unterhaltungsliteratur im edelsten Sinne des Wortes. Alles, auch das Zäheste und Trockenste, wird unter seinen Händen genießbar und bekömmlich; und er vergibt sich dabei nie das geringste. Die Feinheit seiner Bildung und die Treffsicherheit seiner Menschenkenntnis, so erstaunlich sie ist, tritt niemals aufdringlich hervor. Seine Untersuchungsweise ist allseitig, eindringend, ruhig und vornehm. Und dabei besitzt sein Geist einen außergewöhnlich großen Aktionsradius: seine Forschungen umfassen Philosophie, Religionswissenschaft, Sittenkunde, Kriegswesen, Politik, Wirtschaftsgeschichte, Philologie, Ästhetik, Biographie, Literaturkritik, ein halbes Jahrtausend der gesamteuropäischen Kultur. Es ist schwer zu entscheiden, welche von den Schriften Macaulays die beste ist; jede einzelne von ihnen zeigt seine seltenen Eigenschaften vereinigt: sein ungeheures, stets parates Gedächtnis, seine glänzende Kombinationsgabe, seine Kunst, endlose Tatsachenreihen großzügig zu gruppieren und verwickelte Zusammenhänge durchsichtig zu machen, seine Fälligkeit, aus tausend kleinen Einzelzügen Mosaikbilder voll Buntheit und Leuchtkraft zu formen.
Es gibt wenig so kluge Denker wie Macaulay. Und fast gar keine, die so ausgezeichnete Manieren hätten. Er bleibt stets der Lord, er ist gleichsam immer in Dreß: soigniert, verbindlich, voll Takt und Form, vermutlich der eleganteste Schriftsteller, der je in englischer Sprache geschrieben hat, vor allem durch seine noble Einfachheit. Alles »sitzt« bei ihm, hat Haltung und Tournüre, jedes Wort ist an seinem richtigen Platz, nie sagt er zu viel, nie zu wenig, und das Ganze schwimmt in einem wohltuenden Dunstkreis schöner Sachlichkeit, die allerdings weniger aus einem weiten und vollen Herzen entspringt als aus einem feinen und wohlgeordneten Verstand und daher auch nur eine scheinbare und angenommene ist; denn wie gerade in den besten Salons oft die giftigsten Sottisen zu hören sind, so verbirgt sich hinter der schriftstellerischen Wohlerzogenheit Macaulays oft genug die Malice und Einseitigkeit eines fanatischen Whigs.
In der Tat hat, wie schon früher einmal angedeutet wurde, Macaulays Art, die Zusammenhänge zu sehen, bei aller Weite und Einsicht etwas Juristisches: er verschmäht es zwar meistens (nicht immer), den Menschen und Ereignissen als Advokat oder Staatsanwalt gegenüberzutreten, vielmehr ist er bemüht, die objektive Rolle des Gerichtspräsidenten zu spielen; aber bekanntlich kann ja auch der Vorsitzende, da er immer eine bestimmte Gesellschaftsanschauung vertritt, niemals gänzlich objektiv sein, er ist und bleibt Sprachrohr und Verfechter bestimmter höchst einseitiger Gesetze. Und überhaupt kann Macaulays Auffassung, daß die Weltgeschichte ein Prozeß sei, der vor dem erleuchteten Urteil der »Jetztzeit« ausgetragen werde, weder die Bedürfnisse einer künstlerischen Weltanschauung noch die Forderungen einer höheren Moral befriedigen; vielmehr spricht aus ihr jene selbstzufriedene, engstirnige, rechthaberische Moralität zweiten Ranges, die das Merkmal und Stigma aller bürgerlichen Zeitalter bildet. Hier steht er, der aufgeklärte, rechtliche, zivilisationsstolze Liberale, im erhebenden Besitz von Kunstdünger, Dampfmaschine, Preßfreiheit und Wahlrecht und fällt Verdikte, Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft vor sein Protokoll ladend.
Macaulay liebt es bisweilen, Dichter und Dichtungen wie in der Schule zu lozieren, indem er zum Beispiel von der englischen Literatur des achtzehnten Jahrhunderts sagt, sie enthalte »no poetry of the very highest class, and little which could he placed very high in the second class« oder von den lateinischen Gedichten, die die Neuzeit hervorgebracht hat: »none of those poeins can he ranked in the first class of art, or even very high in the second.« Wollte man versuchen, zu einem resümierenden Urteil über Macaulay zu gelangen, so würde man vielleicht sagen müssen, indem man sich derselben Ausdrucksweise bedient, aber mit einer für ihn günstigen Variation: er gehört nicht in die erste Klasse der Menschen, die die Feder zu ihrem Ausdrucksmittel gewählt haben; aber in der zweiten Klasse sitzt er sehr hoch oben. Man wird sich dieser Tatsache sofort bewußt, wenn man ihn mit Carlyle vergleicht, dem rauhen Bauernsohn aus Annandale, dem die Form nichts, das Gefühl alles ist, dessen Sätze dahinschießen wie die Wasser eines Gebirgsbachs über Steine und Gestrüpp, dessen Gedanken sich gewaltsam nach außen entladen wie die glühenden Eruptionen eines Vulkans, der niemals bereit war, einer anderen Partei zu dienen als der Sache, die er darzustellen hatte, und unter Kritik niemals Tadel verstand, sondern begeistertes Nacherleben. »Bevor wir einem Manne vorwerfen, was er nicht ist, sollten wir uns lieber klarmachen, was er ist«: in diesen Worten lag Carlyles kritisches Programm. Selbst eine Abhandlung über Voltaire, den er als seinen Antipoden empfand, wurde ihm unwillkürlich zu einem künstlerischen Gemälde des großen literarischen Revolutionärs.
Mit der Übersiedlung Carlyles nach London begann nicht bloß äußerlich, sondern auch innerlich ein neuer Abschnitt in seinem Leben. Bisher war sein geistiges Schaffen vorwiegend literarisch orientiert gewesen; es war die Welt der Bücher, von der er sich Aufschluß und Trost erhofft hatte. Und gerade jene Führer, die er sich erwählt hatte, die deutschen Dichter und Denker des achtzehnten Jahrhunderts, mußten die Richtung auf die reine Theorie in ihm noch verstärken. Wie Faust begann auch er zunächst als Monologist und Stubengelehrter. Aber nun sollte seine geistige Entwicklung die entscheidende Richtung aufs Leben nehmen. Dies bedeutete, obschon es in seiner ganzen Natur tief angelegt und lange vorbereitet war, eine vollständige Umwandlung der Prinzipien, Methoden und Ziele, die von nun an seine Geistestätigkeit organisierten.
Er lebte jetzt in der größten, belebtesten und modernsten Stadt Europas und war gezwungen, sich mit den Wirklichkeiten, die ihn umgaben, auseinanderzusetzen. Es war ihm unmöglich, eine Zweiteilung in Theorie und Praxis vorzunehmen, sich nur mit seiner inneren Vervollkommnung zu beschäftigen und die Vervollkommnung der Außenwelt anderen zu überlassen, das stille Dasein eines Denkers oder Künstlers zu führen und bloß neben dem Leben zu schaffen. Er sah die Mißstände; und er fühlte sich gezwungen und verpflichtet, über sie zu sprechen. In allen Schichten der Gesellschaft erblickte er die Anzeichen der Entartung. Das moderne Leben erschien ihm als ein einziges großes System des Betrugs, dem sich auch der Redliche und Tüchtige unwillkürlich einfügen muß. Diese gegenwartsfeindliche Richtung, die auf dem Kontinent erst viel später ihre Vertreter gefunden hat, weil er sich wirtschaftlich nicht so schnell entwickelte, bildet den Grundbaß in allen Schriften, die Carlyle in den nächsten Jahrzehnten schrieb. Die Eigentümlichkeit seiner Stellungnahme, die damals von den wenigsten richtig begriffen wurde, bestand in seiner völligen Parteilosigkeit und Unparteilichkeit. Man hat ihn als einen Tory bezeichnet, weil er gegen das demokratische Gleichheitsdogma kämpfte; als einen Whig, weil er gelegentlich die Adeligen für schmarotzende Müßiggänger und die Hochkirche für eine heuchlerische Institution erklärte; als einen Peeliten, weil er mit Robert Peel harmonierte; als einen Chartisten, weil er für die Hebung des Arbeiterstandes eintrat; als einen Radikalen, weil er gegen die Korngesetze schrieb; als einen schwarzen Reaktionär, weil er die Aufhebung der Sklaverei in den britischen Kolonien als eine nutzlose Sentimentalität bezeichnete; und wenn man will, so war er tatsächlich etwas von alledem. Sein Maßstab war immer und überall die Wahrheit; und wer ihm diese zu haben schien, dessen Partei ergriff er. Das Publikum aber will für jede öffentliche Erscheinung eine bestimmte Chiffre und wird durch eine solche Fähigkeit, sich den Dingen anzupassen, nur verwirrt und enttäuscht.
Das Leitmotiv seiner politischen Schriften ist der Protest gegen den weichlichen Liberalismus mit seiner Nivellierungssucht, seinem »Laissez faire«, seiner agitatorischen Geschwätzigkeit und Phrasenhaftigkeit. Das Grundgebrechen der Zeit erblickt er im Jesuitismus, der allgemeinen Unaufrichtigkeit und Spiegelfechterei: die Lehre Loyolas ist äußerlich abgeschworen, in Wahrheit aber das Glaubensbekenntnis fast aller Menschen in England; ein feines Gift der Lüge durchdringt die ganze Gesellschaft. Er sieht das soziale Heilmittel keineswegs in parlamentarischen Reformen, allgemeinem Wahlrecht und dergleichen, sondern in einer weisen und menschenfreundlichen Regierung, für die der Arbeiter nicht ein bloßes Werkzeug ist, sondern ein Gegenstand sittlicher und körperlicher Fürsorge; gerade durch seine soziale Selbständigkeit sei das Proletariat in die ärgste Abhängigkeit von den Unternehmern geraten, die ihm nicht viel mehr gewähren als die Freiheit zu verhungern. In seinem Buch »Past and Present« schilderte er an der Hand einer alten englischen Klosterchronik aus dem zwölften Jahrhundert das damalige Mönchsleben nicht in romantischer Verklärung, sondern als Auswirkung eines gesunden Realismus. Diese mittelalterlichen Menschen wußten noch, was echte Arbeit, was echter Gehorsam und echte Herrschaft sei. Sie ließen sich gern von Besseren und Stärkeren regieren. Das Verhältnis zwischen Landesherr und Untertan, Lehnsherr und Vasall, Gutsherr und Hörigem war in erster Linie ein moralisches, gegründet auf gegenseitige Treue, nicht bloß ein materielles, gegründet auf Ausbeutung. Die Beziehungen der Menschen waren nicht durch das Gesetz von Angebot und Nachfrage reguliert, sondern durch das Gesetz Gottes. Die Nutzanwendung auf die Gegenwart ergibt nun freilich nicht, daß wir einfach zu jenen Zuständen zurückkehren sollen. Aber das Gute können wir recht wohl aus ihnen übernehmen. Wir müssen vor allem von jenen Menschen zweierlei lernen: den Glauben an Höhere und die Heiligung der Arbeit. Ungleichheit ist der natürliche Zustand; es ist nur recht und billig, daß der Klügere und Tüchtigere über die anderen herrsche. Arbeit ist nicht etwas, das mit Geldstücken erkauft werden kann; alle echte Arbeit hat mit Gott zu tun: laborare est orare.
In seiner Geschichte der Französischen Revolution wollte er seinen Landsleuten ein warnendes Exempel vorhalten. Er erblickte in dieser »ungeheuern Feuersbrunst« eine Art göttliches Strafgericht, gesandt wider die falschen Herrscher und Priester, die sich ohne wirkliche Überlegenheit ein Recht wider die andern angemaßt hatten; er zeigt, wohin der mißleitete und durch unerträgliches Unrecht erbitterte Mensch gelangen kann. Die Darstellungsform ist einzigartig: der reiche Hintergrund ist in der Technik eines genialen Dekorationsmalers breit hingekleckst und davor agiert, zuckend beleuchtet, ein unwirkliches Puppentheater. Zwanzig Jahre später ließ Carlyle die ersten zwei Bände seiner Geschichte Friedrichs des Großen erscheinen, den er freilich nicht als einen von den großen Gläubigen anzuerkennen vermochte, aber doch inmitten des falschmünzerischen, windigen achtzehnten Jahrhunderts als einen Mann, der die anderen immer nur belog, wenn er mußte, und vor allem niemals sich selbst, und der durch seine aufopfernde Pflichttreue, seine unermüdliche Arbeitskraft und seine geniale Fähigkeit, die Dinge so zu sehen, wie sie sind, die Großmacht Preußen geschaffen hat. »Sie haben«, schrieb Bismarck an Carlyle, »den Deutschen unseren großen Preußenkönig in seiner vollen Gestalt, wie eine lebende Bildsäule hingestellt«.
In der Tat ist nicht bloß für England, sondern auch für Deutschland das wahre Bild Friedrichs des Großen erst durch Carlyle geschaffen worden. Und es ist ein Denkmal nicht bloß Friedrichs, sondern seiner ganzen Zeit: alle die zahlreichen Figuren, die sich um ihn gruppierten, sind auf dem Standbilde mit zur Darstellung gebracht, je nach Rang und Bedeutung sorgfältiger oder flüchtiger, in größerem oder kleinerem Format, in Freistand, Hochrelief oder Flachrelief; aber keiner ist vergessen. Vieles in dem Werk wirkte wie eine Prophezeiung; denn schon die nächsten Jahre brachten die Abrechnung des Hohenzollernstaats mit der »habsburgischen Schimäre«.
Carlyles repräsentativstes Werk sind die Vorträge »Über Helden, Heldenverehrung und das Heroische in der Geschichte«. Wie alle bedeutenden und fruchtbaren Bücher ist es von einem einzigen großen Gedanken getragen, um den sich alles andere zwanglos und zwingend ordnet, und wie alle bedeutenden und fruchtbaren Gedanken ist dieser sehr einfach und naheliegend. Man hatte bisher unter einem Helden etwas besonders Glänzendes, Pomphaftes verstanden, eine Art dankbare Bühnenfigur. Carlyle zeigt nun, daß der Held sich gerade durch seine Schlichtheit von den anderen abhebt, durch sein stummes, anspruchsloses Wirken im Dienste einer Idee, die ihn erfüllt und geheimnisvoll vorwärtsleitet. Seine Haupteigenschaft besteht darin, daß er immer die Wahrheit redet, immer auf Tatsachen fußt; alle anderen Merkmale sind sekundär. Er ist der tapferste Mensch, aber seine Tapferkeit hat nichts Blendendes, Theatralisches; er besteht keine bunten wunderbaren Abenteuer mit Drachen und Zauberern, sondern kämpft den weit schwierigeren Kampf mit der Wirklichkeit.
Dies ungefähr ist die eigentümliche Entdeckung Carlyles. Scheinbar ungemein selbstverständlich, ja fast trivial, bedeutet sie dennoch eine völlige Umkehrung des Begriffs vom Wesen und Wirken der großen Männer. Sie besteht, um es mit einem Satze zu sagen, in der klaren und energischen Scheidung zwischen dem germanischen und dem romanischen Heldenideal. Der Held, wie er in der romanischen Einbildungskraft lebt, ist der Ritter, der Kavalier. Er trägt sein Gefühl auf seiner Zunge und seinen Mut auf seiner Degenspitze. Er hat sehr empfindliche Begriffe von der Ehre, weniger entwickelte von der Pflicht. Er weiß sich vortrefflich zu benehmen, geistreich zu plaudern und mit Frauen umzugehen. Er nimmt es mit den Dingen der guten Sitte und des pittoresken Edelmutes sehr genau, weniger genau mit den Dingen der Sittlichkeit und der Aufrichtigkeit. Sein ganzes Leben ist ein Romanbuch: spannend, brillant, gefühlvoll und nicht immer wahr. Er ist eine Luxuserscheinung. Der germanische Held ist das Gegenteil von alledem: er ist eine reale, ungeschminkte und oft unfreundliche Notwendigkeit.
Die sittliche Forderung Carlyles läßt sich in einer sehr kurzen Formel zusammenfassen: Glaube an die gottgegebene Wahrheit der Tatsachen. Dieses Gebot schließt alles andere in sich. Wer ihm folgt, wird ganz von selber ein religiöser und moralischer Mensch sein, ein begabter und tätiger Mensch, ein aufrechter, mutiger und weiser Mensch. Er wird ein schönes und nützliches Leben führen, ein Leben im Einklang mit dem Schicksal, der Natur und den Menschen.
Hier scheiden sich die Geister; hier entscheidet sich das Los der Einzelnen und der Völker. Die Einzelnen und die Völker haben die Wahl. Sie können sich zu dem einfachen und einleuchtenden Glauben Carlyles bekennen. Sie können es aber auch mit Napoleon dem Dritten halten, der ebenso einfach und einleuchtend gesagt hat: »Carlyle ist verrückt«.
Carlyle gehört zu jenen Denkern, die, weil sie kein anderes System haben als das ihrer Menschlichkeit, niemals veralten können, während die große Wirkung auf die Zeitgenossen gewöhnlich den Systematikern zuzufallen pflegt. Ein solcher höchsten Ranges war Hegel. Als er im Jahr 1831 gestorben war, verglich man seine Weltherrschaft mit der Alexanders. Die Parallele stimmte auch insofern, als sein Reich sofort nach seinem Tode zerfiel und die Diadochen einander erbittert bekämpften. Sein Satz, daß alles Wirkliche vernünftig, alles Vernünftige wirklich sei, gestattete eine doppelte Auslegung. Hielt man sich an die erste Hälfte, so ergab sich eine Art mystischer Konservativismus, legte man den Akzent auf die zweite Hälfte, so gelangte man zu einem revolutionären Rationalismus. Ferner hatte Hegel Philosophie und Religion im wesentlichen identifiziert, was im orthodoxen und supranaturalistischen Sinne gedeutet werden konnte; aber er hatte zugleich erklärt, daß von ihnen derselbe Inhalt in verschiedenen Sprachen ausgedrückt werde, indem das, was der Gläubige als einmalige historische Tatsache und konkretes Dogma auffasse, für den Philosophen nur ein zeitloses Symbol und eine allgemeine Idee darstelle, und diese Anschauung konnte den Ausgangspunkt zur Auflösung aller positiven Religion bilden. Infolgedessen teilte sich die Schule Hegels in zwei feindliche Parteien, die, zuerst von David Friedrich Strauß, die »Rechte« und die »Linke« genannt wurden. Die erstere, die Gruppe der »Althegelianer«, verharrte im Gedankenkreis der verblassenden Romantik und der kirchlichen und politischen Restauration, die letztere, von den »Junghegelianern« gebildet, kämpfte für den »Fortschritt im Bewußtsein der Freiheit«. Sie fand ihr Zentralorgan in den »Hallischen Jahrbüchern für Wissenschaft und Kunst«, die 1838 von Ruge und Echtermeyer begründet wurden und das berühmte »Manifest gegen die Romantik« erließen. Der Mittelpunkt der linksgerichteten Theologie war die »Tübinger Schule«, ihr Haupt Ferdinand Christian Baur, der Schöpfer der wissenschaftlichen Dogmengeschichte, der in seinem Werk über das Christentum der ersten drei Jahrhunderte das Werden der katholischen Kirche als die Synthesis aus den beiden Antithesen: judaistisches Urchristentum und paulinisches Heidenchristentum, Messianismus und Universalismus darstellte und in seiner »Kritik des Johannesevangeliums« dessen späteren Ursprung und abgeleiteten Charakter nachwies. Das Jahr 1835, in dem der Halleysche Komet wiedererschien, berühmt durch seinen Kometenwein, ist für Deutschland durch einige sehr bedeutsame Ereignisse gekennzeichnet: es brachte die erste deutsche Eisenbahn, die Katastrophe des »jungen Deutschland«, Wilhelm Vatkes »Religion des Alten Testaments« und das »Leben Jesu, kritisch bearbeitet« von David Friedrich Strauß. Das erstere Werk, das die neuere historische Kritik der Bücher des Alten Bundes begründete, ist fast gänzlich unbeachtet geblieben, obgleich es viel ernster und tiefer war als das Straußische; dieses aber erregte ein beispielloses Aufsehen. Es veranlaßte etwa ein halbes Hundert Gegenschriften; eine von ihnen: » La vie de Strauß, écrite en 2839«, 1839 in Paris erschienen, behandelte parodistisch Straußens eigenes Leben als Mythus. Der Grundgedanke, den das »Leben Jesu« auf fast anderthalbtausend Seiten, weniger historisch darstellend als dialektisch untersuchend, verfolgt, ist wiederum ein hegelischer: der Mythusbegriff, der eingeführt wird, will eine Synthese aus den beiden bisherigen Erklärungsversuchen sein: der supranaturalistischen, die an Wundern und direkten göttlichen Eingriffen festhielt, und der rationalistischen, die mit Hypothesen, deren Gequältheit und Sophistik ans Alberne grenzt, alle Ereignisse der evangelischen Geschichte durch natürliche Ursachen zu erklären suchte: die Heilungen durch Suggestion, die Erweckungen durch Scheintod, das Meerwandeln durch Nebeltäuschung, die wunderbare Speisung durch Heranziehung reicher Jünger, die Weinverwandlung durch geheime Vorräte. Nach Strauß sind die Evangelien weder Offenbarung noch Geschichte, sondern Produkte der Volksseele, Erzeugnisse des Gemeinbewußtseins, Mythen, wie sie jede Religion besitzt. Ein Mythus aber ist »jede unhistorische Erzählung, wie auch immer entstanden, in welcher eine religiöse Gemeinschaft einen Bestandteil ihrer heiligen Grundlage, weil einen absoluten Ausdruck ihrer konstitutiven Empfindungen und Vorstellungen erkennt«. »Das ist der Schlüssel der ganzen Christologie, daß als Subjekt der Prädikate, welche die Kirche Christo beilegt, statt eines Individuums eine Idee, aber eine reale, nicht kantisch unwirkliche, gesetzt wird. In einem Individuum, einem Gottmenschen, gedacht, widersprechen sich die Eigenschaften und Funktionen, welche die Kirchenlehre Christo zuschreibt: in der Idee der Gattung stimmen sie zusammen. Die Menschheit ist die Vereinigung der beiden Naturen, der menschgewordene Gott, der zur Endlichkeit entäußerte unendliche, und der seiner Unendlichkeit sich erinnernde endliche Geist; sie ist das Kind der sichtbaren Mutter und des unsichtbaren Vaters: des Geistes und der Natur; sie ist der Wundertäter: sofern im Verlauf der Menschengeschichte der Geist sich immer vollständiger der Natur, im Menschen wie außer demselben, bemächtigt, diese ihm gegenüber zum machtlosen Material seiner Tätigkeit heruntergesetzt wird; sie ist der Unsündliche: sofern der Gang ihrer Entwicklung ein tadelloser ist, die Verunreinigung immer nur am Individuum klebt, in der Gattung aber und ihrer Geschichte aufgehoben ist.« Das Resultat all dieser einschläfernden Haarspaltereien, die zur Voraussetzung haben, daß die Urchristen sämtlich bei Professor Hegel belegt hatten, ist also der erhebende Gedanke, daß die Menschheit vermöge ihres »tadellosen« Entwicklungsgangs selber der unsündliche Gottmensch sei, was dem Straußischen Lesergeschlecht von Börsenjobbern, Zeitungslügnern und Arbeiterschindern zweifellos eine große Beruhigung bieten mußte. Mit welchem Verständnis Strauß die Erscheinung des Heilands ergriff, zeigt folgende Charakteristik, die er ihm in einem seiner späteren Werke gewidmet hat: »Voll entwickelt findet sich alles, was sich auf Gottes- und Nächstenliebe, auf Reinheit des Herzens und Lebens der Einzelnen bezieht: aber schon das Leben des Menschen in der Familie tritt bei dem selbst familienlosen Lehrer in den Hintergrund; dem Staate gegenüber erscheint sein Verhältnis als ein lediglich passives; dem Erwerb ist er nicht bloß für sich, seines Berufs wegen, abgewendet, sondern auch sichtbar abgeneigt, und alles vollends, was Kunst und schönen Lebensgenuß betrifft, bleibt völlig außerhalb seines Gesichtskreises ... und es ist ein vergebliches Unternehmen, die Tätigkeit des Menschen als Staatsbürger, das Bemühen um Bereicherung und Verschönerung des Lebens durch Gewerbe und Kunst nach den Vorschriften oder dem Vorbilde Jesu bestimmen zu wollen.« Dieses Unternehmen ist in der Tat vergeblich.
Die ungeheure Wirkung des Straußischen Werks gehört zu den Kuriositäten der Literaturgeschichte. Sie wäre verständlich, wenn es einen amüsant belletristischen oder pikant polemischen Charakter gehabt hätte; es war aber nichts als die geschwollene Riesenabhandlung eines pedantischen Fachgelehrten. Man hat den Erfolg auf Straußens »klassischen« Stil zurückführen wollen; aber die wenigen Proben werden bereits gezeigt haben, daß auch dieser nicht übermäßig anziehend, ja nicht einmal makellos klar ist. Straußens stilistische Vorzüge treten in seinen späteren Arbeiten viel mehr hervor: in seiner »Christlichen Glaubenslehre«, seinem »Leben Jesu, für das deutsche Volk bearbeitet« und seinem später zu erwähnenden Buch »Der alte und der neue Glaube«, die andrerseits sein Erstlingswerk an selbstgefälliger Banalität und steifleinerner Besserwisserei noch weit hinter sich lassen; in ihnen befleißigt er sich einer umständlichen und unmusikalischen, aber durchsichtigen und kräftigen Sprache und präziser und sauberer, obschon trockener und oft allzu absichtlich aufgesetzter Bilder: ihre Darstellung steht etwa auf dem Niveau einer besonders gelungenen Festrede eines Gymnasiallehrers.
Auch in der katholischen Theologie traten neue Richtungen hervor. Johann Adam Möhler, der schon mit einundvierzig Jahren als Domdekan zu Würzburg starb, lieferte in seiner »Symbolik oder Darstellung der dogmatischen Gegensätze der Katholiken und Protestanten« vom Jahr 1832 eine ebenso scharfsinnige wie gemütswarme Apologie des Katholizismus, weitaus die stärkste, feinste und würdigste des neunzehnten Jahrhunderts, mit der er es übrigens, wie dies genialen Naturen häufig zu widerfahren pflegt, keiner Partei recht machte: weder den Protestanten noch den strengen Katholiken, die ihn der Heterodoxie beschuldigten; denn die Wahrheit pflegt sich ja zumeist auf einem Mittelplatz zu befinden, wo keiner oder höchstens einer steht. Es entwickelte sich eine lebhafte Polemik von beiden Seiten; doch hat, wie Karl von Hase in seinem »Handbuch der protestantischen Polemik gegen die römisch-katholische Kirche« feststellt, keine der Gegenschriften das Werk Möhlers an Bedeutung erreicht. Um die Mitte der dreißiger Jahre setzte in England die sogenannte Oxforder Bewegung ein, die auf eine Katholisierung der anglikanischen Kirche abzielte. Dieser Anglokatholizismus, nach seinem Begründer auch Puseyismus, nach seinen Versuchen zur Wiedereinführung des Rituals Ritualismus, nach den Traktaten, durch die er seine Lehre verbreitete, Traktarianismus genannt, hatte seinen hervorragendsten Vertreter in John Henry Newman, der, ursprünglich Methodist und Feind des Papismus, später zur römischen Kirche übertrat und Kardinal wurde, aber stets die Union aufs eifrigste betrieb, indem er in weitverbreiteten Schriften die Katholizität des Anglikanismus nachzuweisen suchte und die Erhabenheit der römischen Tradition zur Schau stellte.
Ein Theologe in seiner Art war auch der Däne Sören Aaby Kierkegaard, einer der originellsten und merkwürdigsten Schriftsteller seiner Zeit, ein »Janus bifrons«, wie er sich selber nannte, Skeptiker und homo religiosus, Sentimentalist und Zyniker, Melancholiker und Humorist. Seine Geistesart ist in seinem Aphorismus charakterisiert: »Man frage mich nach allem, nur nicht nach Gründen! Einem jungen Mädchen verzeiht man es, wenn sie keine Gründe anzugeben weiß: sie habe keine, sagt man, sie lebe in Gefühlen. Anders ich. Ich habe meist so viele sich oft widersprechende Gründe, daß ich aus diesem Grund keine Gründe angeben kann.« In seinen bizarren fassettierten Schriften, worin er sich und die Welt mystifizierte (schon im Titel, indem er bisweilen so weit ging, sich als Herausgeber des Herausgebers zu gerieren, und dann noch unter Pseudonym), verbarg und enthüllte er ein tiefes und zartes Herz. »Seit meiner Jugend«, sagt er, »bewegte mich der Gedanke, daß in jeder Generation zwei oder drei seien, die für die andern geopfert werden, indem sie in schrecklichen Schmerzen entdecken, was den andern zugute kommt; und traurig fand ich den Schlüssel zu meinem eigenen Wesen darin, daß ich hierzu ausersehen sei.« Er zählte nicht zu jenen, die, wie er ein andermal sagte, »zu einem Lebensresultat kommen wie die Schulbuben, indem sie den Lehrer hintergehen und das Fazit aus dem Rechenbuch abschreiben, ohne selbst gerechnet zu haben«: seine psychologischen Erkenntnisse hat er sich durch schwere Leiden erkauft, die weniger äußerlicher als innerlicher Natur waren. Sein Trieb, jede Seelenregung zu zerfasern, um das letzte Geheimnis ihrer Struktur zu ergründen, machte ihn dauernd unglücklich, was ihn aber nicht hinderte, dazwischen wahre Meisterwerke spielerischer Ironie und Laune zu schaffen. Sein Kampf um den christlichen Gedanken inmitten einer Zeit leerer Fassadengläubigkeit und alberner Religionsdestruktion ist erschütternd: »Luther hatte fünfundneunzig Thesen; ich hätte nur eine: das Christentum ist nicht da«; »so viel ist gewiß: ist der derzeitige Zustand der Kirche christlich, so kann das Neue Testament für Christen nicht länger Wegweiser sein; denn die Voraussetzung, worauf es ruht, das bewußte gegensätzliche Verhältnis zur Welt, ist weggefallen«; aber »die Menschen haben ja doch von jeher einen Ausweg zu finden gewußt, um sich beschwerliche Probleme vom Halse zu schaffen, den einfachen Weg: sei ein Schwätzer und sieh, alle Schwierigkeiten verschwinden!«
Ganz abseits steht auch Johann Kaspar Schmidt, der unter dem Pseudonym Max Stirner, einem Spitznamen, den er als Student wegen seiner auffallend hohen Stirn erhalten hatte, 1845 das Werk »Der Einzige und sein Eigentum« erscheinen ließ. Es wurde so wenig ernst genommen, daß sogar die Behörde von der Beschlagnahme absah, da es »zu absurd« sei, um gefährlich werden zu können, und ist bis zum heutigen Tage vielfach mißverstanden geblieben. Die einen halten Stirner für einen Narren oder Scharlatan, andere, wie sein sehr verdienstvoller Biograph und Herausgeber John Henry Mackay, sehen in ihm eines der größten philosophischen Genies. Der erste, der wieder auf den »Einzigen« hinwies, war Eduard von Hartmann, der sich zu der Bemerkung verstieg, daß das Werk »in stilistischer Hinsicht hinter Nietzsches Schriften nicht zurücksteht, an philosophischem Gehalt aber sie turmhoch überragt«. So viel ist richtig, daß die Stirnerrenaissance der letzten Jahrzehnte mit der Heraufkunft der Nietzschischen Philosophie in Zusammenhang steht, obgleich dieser nur ein sehr äußerlicher ist; Nietzsche selbst hat Stirner offenbar nicht gekannt, sonst hätte er ihn, bei seiner Vorliebe für alle literarischen Outsider, sicher mehr als einmal genannt. Auch kann es wohl kaum einem Zweifel unterliegen, daß der »Einzige« in seiner reichen und lebendigen Dialektik und rasanten Kraft des Zuendedenkens zu jenen Konzeptionen gehört, die für sich allein eine ganze Gattung verkörpern. Für Stirner existiert nur das isolierte Individuum, der »Einzige«, und alles andere ist sein Eigentum. Dies führt zur prinzipiellen Negation aller religiösen, ethischen, politischen, sozialen Bindungen: »Meine Sache ist weder das Göttliche noch das Menschliche, sondern allein das Meinige.« Diese genialische Marotte, denn mehr ist es nicht, wird nun in geistvoller, kühner und konsequenter Weise auf alle Lebens- und Wissensgebiete angewendet, um schließlich, und darin besteht ihre erhabene Inkonsequenz, in einen neuen Altruismus zu münden, indem auf die Frage, ob man denn an der Person des anderen keine lebendige Teilnahme haben solle, geantwortet wird: »Im Gegenteil, unzählige Genüsse kann Ich ihm mit Freuden opfern, Unzähliges kann Ich mir zur Erhöhung seiner Lust versagen, und was Mir ohne ihn das Teuerste wäre, das kann Ich für ihn in die Schanze schlagen, mein Leben, meine Wohlfahrt, meine Freiheit. Es macht ja meine Lust und mein Glück aus, Mich an seinem Glücke und seiner Lust zu laben. Aber Mich, Mich selbst opfere ich ihm nicht, sondern bleibe Egoist und genieße ihn«; während sich in zahlreichen anderen Aussprüchen ein sublimer Spiritualismus äußert: »Der Christ hat geistige Interessen, weil er sich erlaubt, ein geistiger Mensch zu sein; der Jude versteht diese Interessen in ihrer Reinheit nicht einmal, weil er sich nicht erlaubt, den Dingen keinen Wert beizulegen ... Ihre Geistlosigkeit entfernt die Juden auf immer von den Christen ... Der antike Scharfsinn und Tiefsinn liegt so weit vom Geiste und der Geistigkeit der christlichen Welt entfernt wie die Erde vom Himmel. Von den Dingen dieser Welt wird, wer sich als freien Geist fühlt, nicht gedrückt und geängstigt, weil er sie nicht achtet; soll man ihre Last noch empfinden, so muß man borniert genug sein, auf sie Gewicht zu legen ... Das endende Altertum hatte an der Welt erst dann sein Eigentum gewonnen, als es ihre Übermacht und Göttlichkeit gebrochen, ihre Ohnmacht und Eitelkeit erkannt hatte. Entsprechend verhält es sich mit dem Geiste. Wenn Ich ihn zu einem Spuk und seine Gewalt über Mich zu einem Sparren herabgesetzt habe, dann ist er für entweiht, entheiligt, entgöttert anzusehen, und dann gebrauche Ich ihn, wie man die Natur unbedenklich nach Gefallen gebraucht«: womit Stirner, wenn auch in karikaturistischer Übersteigerung, fast in die Nähe des »magischen Idealismus« gelangt, den Novalis verkündet hat.
Der Begründer der sogenannten Wunschtheologie ist Ludwig Feuerbach, der Sohn des berühmten Kriminalisten Anselm Ritter von Feuerbach. Er begann als Schüler Hegels, wandte sich aber von ihm bald ab, indem er den »absoluten Geist« als den »abgeschiedenen Geist der Theologie« bezeichnete, der in Hegels Philosophie noch als Gespenst umgehe; diese sei nur eine scheinbare Negation der Theologie, in Wahrheit aber selbst wieder Theologie. Seine Hauptwerke sind das »Wesen des Christentums« vom Jahr 1841 und die »Vorlesungen über das Wesen der Religion«, die, im Winter 1848 auf 1849 in Heidelberg gehalten, bald darauf in Buchform erschienen. Der Grundgedanke, den er in allen seinen Schriften mit lästiger Unermüdlichkeit wiederholt, liegt in dem Satz: »Wie die Natur, aber als ein Gegenstand und Wesen der menschlichen Wünsche und der menschlichen Einbildungskraft, der Kern der Naturreligion ist, so ist der Mensch, aber als Gegenstand und Wesen der menschlichen Wünsche, der menschlichen Einbildungs- und Abstraktionskraft, der Kern der Geistesreligion, der christlichen Religion.« Homo homini deus est: Gott schuf sich nicht die Menschen nach seinem Bilde, sondern die Menschen schufen sich Gott und Götter nach ihrem Bild; der Mensch ist Anfang, Mittelpunkt und Ende der Religion; das Geheimnis der Theologie ist die Anthropologie. Ein Gedanke von idiotischer Einfachheit, der alle Rätsel mit einem Schlage löst und Feuerbach zu der Konstatierung veranlaßt: »Im Gebiete der Natur gibt es noch genug Unbegreifliches, aber die Geheimnisse der Religion, die aus dem Menschen entspringen, kann er bis auf den letzten Grund erkennen.«
Die Ethik, die aus dieser neuen Theologie fließt, ist etwa folgende: wie der Dichter nicht mehr die Musen anruft, der Kranke nicht mehr vom Gebet Heilung erhofft, sondern vom Arzt, so wird man mit der Zeit auch aufhören, die Sittengesetze als Gebote Gottes zu betrachten. An die Stelle des Glaubens an Gott wird der Glaube an uns selbst treten (hier taucht die Straußische Gleichung auf: der Sohn Gottes ist die Menschheit). Anfangs tut Gott Wunder, im Glauben des Menschen; endlich tut der Mensch selbst Wunder, kraft seiner Herrschaft über die Natur; die einzige Vorsehung der Menschheit ist ihre Bildung, ihre Kultur. Das Christentum ist »eine fixe Idee, welche mit unseren Feuer- und Lebensversicherungsanstalten, unseren Eisenbahnen und Dampfwägen, unseren Pinakotheken und Glyptotheken, unseren Kriegs- und Gewerbeschulen, unseren Theatern und Naturalienkabinetten im schreiendsten Widerspruch steht«. Wie man sieht, ersetzt die Anthropologie in der Tat die Theologie: an die Stelle der religiösen Erbauung tritt der Unterricht in Ballistik und Maschinenbau, an die Stelle der Kirche die Bildergalerie und die Käfersammlung, an die Stelle der Vorsehung der Weichenwärter und der Versicherungsagent.
Diese Platitüden, Produkte lederner Halbbildung (was angesichts der vielseitigen Kenntnisse Feuerbachs paradox klingen mag, aber nur für den, der den Unterschied zwischen Wissen und Bildung ignoriert), gipfeln in dem grobkörnigsten Sensualismus: »Wahrheit, Wirklichkeit, Sinnlichkeit sind identisch«; »sonnenklar ist nur das Sinnliche, das Geheimnis des unmittelbaren Wissens ist die Sinnlichkeit«; »wir sollen nichts lesen und studieren als die fünf Evangelien unserer Sinne.« Sie finden ihre krönende Pointe in dem berühmten Weltanschauungskalauer: »Der Mensch ist, was er ißt« und bezwecken, wie dies Feuerbach in dem Schlußappell seiner Heidelberger Vorlesungen aussprach, die Menschen »aus Gottesfreunden zu Menschenfreunden, aus Betern zu Arbeitern, aus Kandidaten des Jenseits zu Studenten des Diesseits, aus Christen, welche ihrem eigenen Bekenntnis und Geständnis zufolge halb Tier, halb Engel sind, zu Menschen, zu ganzen Menschen zu machen«. Es gibt, wie eine Tiefe der Leere, eine Abgründlichkeit der Flachheit: diese hier ist unausmeßbar.
Inzwischen machte das »Studium des Diesseits« beständige Fortschritte. Nachdem Herschel 1781 den Uranus entdeckt hatte, stellten sich in dessen Bahn unerklärliche Abweichungen heraus. Leverrier gelangte zu der Überzeugung, daß nur ein Planet die Ursache dieser Störungen sein könne und dieser jenseits des Uranus liegen müsse. Durch langwierige scharfsinnige Untersuchungen gelang es ihm, genau den Ort des supponierten Sterns für ein bestimmtes Datum festzustellen, und als er im September 1846 den Beobachter der Berliner Sternwarte ersuchte, nach dem Planeten zu suchen, fand dieser ihn noch an demselben Tage an dem bezeichneten Platz. Es war dies ein Triumph der reinen Spekulation: »mit der Spitze seiner Feder«, wie der berühmte Naturforscher Arago sagte, hatte Leverrier einen neuen Weltkörper entdeckt. Der Neptun, wie man ihn nannte, hat eine Umlaufzeit von fast hundertfünfundsechzig Erdenjahren und galt bis vor kurzem als der fernste Trabant der Sonne; es gibt aber sicher viele noch entlegenere, woran die Astronomen bloß deshalb nicht glauben, weil sie die sonderbare Eigentümlichkeit haben, die Verhältnisse des Weltalls mit der Leistungsfähigkeit ihrer optischen Apparate zu identifizieren. 1838 entdeckte Schleiden die Pflanzenzelle und ein Jahr darauf Schwann die Tierzelle: die einheitliche Zusammensetzung aller Lebewesen aus sehr ähnlich gestalteten Elementarorganen war enthüllt. Beide Forscher unterschieden bereits als Hauptbestandteile der Zelle die Membran, den flüssigen Inhalt, den Kern und eine besondere körnerführende Substanz, die höchst eigentümliche Bewegungen ausführte und von dem hervorragenden Botaniker Hugo von Mohl, der über sie genauere Untersuchungen anstellte, mit dem bedeutsamen Namen Protoplasma getauft wurde.
Im Jahr der Julirevolution widerlegte Charles Lyell Cuviers Lehre von den Erdrevolutionen, indem er die bisherigen geologischen Veränderungen auf noch heute wirksame Ursachen, » actual causes«, zurückführte: angenommen, wir könnten mit einem Blicke die Erdgeschichte der letzten fünftausend Jahre umfassen, alle vulkanischen Kegel, alle Verwerfungen, Senkungen und Hebungen, alle neuen Meerbuchten und Landzungen, die in dieser Zeit entstanden sind, und wir stellten uns dann vor, diese Metamorphosen seien innerhalb eines einzigen Jahres vor sich gegangen, so würden wir auf die Wirksamkeit fortwährender Katastrophen schließen; diesen Fehler haben die Geologen begangen: sie »operierten mit Jahrhunderten, wo es sich um Jahrtausende handelte, und mit Jahrtausenden, wo die Sprache der Natur auf Jahrmillionen hinweist«. 1838 konstruierte Wheatstone sein Spiegelstereoskop, durch das er ermöglichte, die Gesetze des binokularen Sehens genauer zu studieren. Es werden darin von demselben Objekt zwei verschiedene Bilder gezeigt, dem rechten Auge ein Bild, das das Objekt perspektivisch darstellt, wie es vom Standpunkt des rechten Auges gesehen werden würde, dem linken Auge ein Bild, wie es dem linken Auge erscheinen würde: hierdurch entsteht die Täuschung, als hätten wir einen körperlichen, dreidimensionalen Gegenstand vor uns. Die Anschauung der Tiefendimension entsteht also erst durch das Sehen mit beiden Augen, und infolgedessen kann ein Gemälde, da es immer nur den Standpunkt eines Auges wiederzugeben vermag, niemals die Illusion voller Wirklichkeit erzeugen. Faraday entdeckte und erforschte 1831 das Phänomen der Induktion, der Erzeugung elektrischer Ströme durch andere (Voltainduktion) und durch Magnetismus (Magnetoinduktion): eine Umkehrung der bereits früher beobachteten Erscheinung, daß der elektrische Strom imstande ist, einen Eisenstab vorübergehend, einen Stahlstab dauernd magnetisch zu machen. Hieran schloß Faraday die weitere, noch viel fundamentalere Feststellung, daß der Magnetismus eine allgemeine Eigenschaft der Materie ist, da alle Stoffe magnetisiert werden können, sogar Flüssigkeiten und Gase. Ferner gab er eine Theorie der elektrolytischen Vorgänge: da diese hauptsächlich an Salzen, beobachtet werden, die in Wasser gelöst sind, und jedes Salz aus Metall und dem sogenannten Säurerest besteht (dem, was übrigbleibt, wenn in einer Säure der Wasserstoff durch Metall ersetzt wird), so nannte er diese beiden Bestandteile, in die der Strom die Flüssigkeit zu zerlegen vermag, Ionen, Wanderer, und zwar den einen, der an der Anode auftritt (der Platte des Elements, die mit dem positiven Pol der Stromquelle verbunden ist), Anion, den Hinwandernden, den andern, der sich an der Kathode ansetzt (der Platte, die mit dem negativen Pol verbunden ist), Kation, den Wegwandernden, und stellte den Satz auf: bei jeder Elektrolyse scheidet sich das Metall an der Kathode ab, es ist immer Kation, der Säurerest (Salz minus Metall) an der Anode, er ist immer Anion. Dies führte 1837 Jacobi auf die Erfindung der Galvanoplastik: da die Kathode durch die elektrolytische Tätigkeit des galvanischen Stroms mit Metall belegt wird, so kann man jeden dort befindlichen Gegenstand verkupfern, versilbern, vergolden, verzinnen, vernickeln, je nachdem man als Metallsalz Kupfervitriol, salpetersaures Silber, Goldchlorid oder andere geeignete Zusammensetzungen wählt.
Faraday sprach auch als erster aus, daß Licht, Wärme, Elektrizität und Magnetismus nur verschiedene Manifestationen derselben Naturkraft seien, und dies führte zur Entdeckung des bereits erwähnten Energiegesetzes. Es wurde zuerst 1842 von Robert Mayer aufgestellt, ein Jahr darauf von dem Dänen Colding und um dieselbe Zeit von dem Engländert Joule, ohne daß die drei voneinander wußten. Indes haben wir schon in der Einleitung dieses Werks die Ansicht vertreten, daß die Prioritätsfrage nur in Patentangelegenheiten von Bedeutung sei, während es sich bei Gedanken darum handle, wer sie am schärfsten formuliert, am klarsten erleuchtet und am umfassendsten zur Anwendung gebracht habe. Dieses Verdienst gebührt hier unzweifelhaft Hermann von Helmholtz, einem der fruchtbarsten Forscher, gedankenreichsten Gelehrten und besten deutschen Schriftsteller seines Jahrhunderts, der im Gegensatz zu Strauß tatsächlich auf das Prädikat der stilistischen Klassizität Anspruch machen darf. Eugen Dühring hat in zwei leeren Bänden in seiner rohen und echolalischen Manier Robert Mayer als Märtyrer und »Galilei des neunzehnten Jahrhunderts« hinzustellen versucht. Ist aber schon das Märtyrertum Galileis, wie wir bereits im ersten Buch darlegten, eine melodramatische Lesebuchlegende, so ist die Geschichte von der angeblichen Verfolgung Mayers durch die zünftige Wissenschaft ein pures Produkt boshafter Sophistik: nachdem die gesetzliche Frist abgelaufen war, deren jede neue Erkenntnis zu ihrer Einbürgerung bedarf, wurde er nicht nur mit akademischen Ehrungen überschüttet, sondern sogar mit dem persönlichen Adel bedacht (was bei der prinzipiellen Rückständigkeit aller Regierungen ein besonderer Beweis dafür ist, daß er nichts weniger als verkannt war), und gerade Helmholtz, den Dühring als Plagiator zu entlarven sucht, war der erste, der Mayers Priorität feststellte, obgleich er ganz selbständig zu denselben Resultaten gelangt war.
Das Energiegesetz besagt, daß die Summe der Kräfte, die im Weltall vorhanden sind, eine konstante Größe darstellt, die weder vermehrt noch vermindert werden kann, und Energie, wo sie zu verschwinden oder plötzlich aufzutauchen scheint, bloß aus einer Erscheinungsweise in die andere übergeht, indem sich fortwährend lebendige Energie (oder Energie in Aktion) in potentielle Energie (oder Energie als Spannkraft) umsetzt und umgekehrt. Außerdem lassen sich alle Energieformen ineinander verwandeln. Die Dampfmaschine macht aus Wärme mechanische Arbeit, mechanische Vorgänge wie Stoß oder Reibung erzeugen Wärme. Jeder Wärmeeinheit entspricht ein bestimmtes Arbeitsäquivalent: der Wärmemenge, die die Temperatur eines Pfunds Wasser um einen Grad erhöht, die Kraft, deren es bedarf, um ein Pfund 425 Meter hoch zu heben. Wenn ich eine Armbrust spanne, so investiere ich in sie Arbeitskapital, das latent bleibt; schieße ich sie ab, so überträgt sie dieses auf den Bolzen. Bei einem fallenden Körper wird die Arbeit, die nötig war, um ihn emporzuheben, in Bewegung umgesetzt. Bei den Wassermühlen bildet die Gravitationsenergie des Wassers die Triebkraft, bei den Wanduhren die Schwere der Gewichte. Beim Übergang gasförmiger Körper in den flüssigen, flüssiger Körper in den festen Aggregatzustand wird Wärme frei, im umgekehrten Falle wird sie gebunden. Auch bei den chemischen Vorgängen wird Wärme entweder verbraucht oder kommt zum Vorschein. Energie kann weder vernichtet noch neugebildet werden, sondern wo ein Posten gelöscht wird, taucht er anderswo in genau derselben Höhe wieder auf. Diese Anschauung, die aus dem Naturganzen ein großes Kontokorrent macht, worin abwechselnd »belastet« und »erkannt« wird, konnte durchaus nur in einem Zeitalter der Bürgerherrschaft geboren werden.
In dem Zeitraum, von dem wir reden, vollbrachte die Wissenschaft auch einige sehr zeitgemäße praktische Leistungen. Justus von Liebig, der das erste chemische Laboratorium begründete und 1844 seine »Chemischen Briefe« herausgab, ein sprachliches Meisterwerk, das sogar die Bewunderung Jakob Grimms erregte, schuf die Agrikulturchemie. Er ging dabei von der Erwägung aus, daß die Pflanzen zu ihrem Gedeihen nicht bloß gewisser allgemeiner Bedingungen wie Licht, Feuchtigkeit, Wärme bedürfen, sondern auch eines entsprechenden Bodens, der ihre notwendigen Nährstoffe enthalte. Seien diese nicht vorhanden, so müßten sie ihnen in Form von Dünger zugeführt werden. Während Ammoniak für alle unerläßlich ist, bevorzugt die eine außerdem Kalk, die andere Kali, eine dritte Phosphorsäure; diese Stoffe lassen sich aber in Fabriken bereiten. Alsbald traten landwirtschaftliche Versuchsanstalten ins Leben und es entwickelte sich die Düngerindustrie. Für die Gewinnung von Phosphorsäure fand man in Chile ein Phosphatreservoir im Guano, dem Vogelmist der dort in riesigen Mengen angehäuft war. Und wie Liebig aus Unrat die schönsten Blumen hervorzauberte, so verwandelte Friedrich Ferdinand Runge, der 1834 im Steinkohlenteer das Anilin entdeckte, Schmutz in die herrlichsten Farben.
Der Landmann Vinzenz Prießnitz beobachtete, wie ein angeschossenes Reh seine Wunde in einem Quellentümpel zur Heilung brachte, und gelangte dadurch auf den Gedanken, Krankheiten bloß mit kaltem Wasser, feuchtwarmen Packungen, Luft und Diät zu behandeln. Er begründete in seiner Vaterstadt Gräfenberg die erste therapeutische Anstalt dieser Art. Sein Nachbar und Todfeind Johann Schroth in Lindewiese ärgerte sich hierüber sehr, und der Neid inspirierte ihn zu einem Heilverfahren, das noch primitiver und noch rationeller war: er ließ seine Patienten einfach hungern und dursten und hatte damit den größten Erfolg, da ja tatsächlich ein großer Teil der Krankheiten vom Essen und Trinken kommt. Die zünftige Medizin hat es nicht gern, wenn man sie an diese beiden Bauern erinnert.
Die beiden charakteristischsten Erfindungen des Zeitalters aber sind die Telegraphie und die Photographie. Die beiden ersten Menschen, die miteinander telegraphisch verkehrten, waren zwei berühmte deutsche Gelehrte, die Göttinger Professoren Gauß und Weber, die ihre Laboratorien durch Drähte verbanden. Dann kam Steinheil durch Zufall auf die Entdeckung, daß es gar nicht nötig sei, doppelte Drähte zu legen, da die Erde die Rückleitung besorge. Ihre Vollendung erhielt die Erfindung aber erst 1837 durch Morse, den Ersinner des Schreibtelegraphen. Dieser beruht darauf, daß der Strom in der Empfangsstation einen Elektromagneten erregt, der dadurch einen Anker anzieht und einen am Ankerhebel angebrachten Stift herabdrückt; dessen Bewegung dient dazu, auf einen abrollenden Papierstreifen Zeichen einzudrücken; ist der Strom nur ganz kurz, so entsteht ein Punkt, dauert er etwas länger, so erscheint ein Strich, und aus verschiedenen Kombinationen der Punkte und Striche besteht das Morsealphabet. Die telegraphischen Stationen, die daraufhin errichtet wurden, hatten zunächst nur Versuchscharakter, aber seit der Mitte der vierziger Jahre begannen sie sich, zumal da inzwischen wesentliche Verbesserungen hinzugekommen waren, mit großer Schnelligkeit zu vermehren.
Das Verfahren der Photographie oder, wie man sie anfangs nannte, Daguerrotypie wurde zuerst von dem Pariser Theatermaler Louis Jacques Mande Daguerre publiziert, der es zusammen mit Nicéphore Niepce erfunden hatte. Sie erzeugten zunächst Bilder auf Silberplatten. Zum Erfinder der Papierphotographie wurde Henry Fox Talbot, indem er Papierbogen mit Silbernitrat überzog. Er sagt darüber in dem Bericht an die Royal Society: »Das vergänglichste Ding, das sprichwörtlich gewordene Symbol alles dessen, was dahinschwindet und nur von momentaner Dauer ist, der Schatten, läßt sich für alle Zeit in einer Lage festhalten, die ihm nur für einen Augenblick zuzukommen schien.« Er machte 1835 mittels einer Camera obscura Aufnahmen von seiner Villa, die, wie er sagte, die erste sei, die ihr eigenes Bild gezeichnet habe, und fand auch bereits ein Fixierungsverfahren.
Durchaus dem Zeitalter des Realismus, der Photographie und des Weltverkehrs gehört auch der größte deutsche Geschichtschreiber des neunzehnten Jahrhunderts, Leopold von Ranke, an, obgleich er sehr oft für die Romantik reklamiert worden ist. Doch berührt er sich mit ihr nur in einigen seiner geschichtsphilosophischen Prinzipien. Nach seiner tiefsinnigen und wohldurchdachten Lehre beruht das Eigentümliche einer jeden historischen Epoche in ihrer »Idee«, einer »geistigen Potenz«, die das Leben auf eine ganz bestimmte Weise bildet und lenkt; durch sie wird erst die innere Einheit der Epoche erzeugt. Aber »die Ideen, durch welche menschliche Zustände begründet werden, enthalten das Göttliche und Ewige, aus dem sie quellen, doch niemals vollständig in sich ... Wenn die Zeit erfüllt ist, erheben sich aus dem Verfallenden Bestrebungen von weiter reichendem geistigen Inhalt, die es vollends zersprengen. Das sind die Geschicke Gottes in der Welt.« Die Ideen können nicht in Begriffen ausgedrückt, aber wahrgenommen, »angeschaut« werden. »Es sind Kräfte, und zwar geistige, Leben hervorbringende, schöpferische Kräfte«, »moralische Energien«. Zu definieren, unter Abstraktionen zu bringen sind sie nicht; aber ein Mitgefühl ihres Daseins kann man in sich erzeugen. In ihnen ruht das Geheimnis der Weltgeschichte; die Taten Gottes zu erkennen, ist die Aufgabe des Geschichtschreibers. Indes: Rankes »Ideenlehre« ist nicht das Wesentliche an ihm. Die seltenen Eigenschaften, durch die es ihm gelang, einen ganz neuen Typ der Geschichtschreibung zu schaffen: seine souveräne Objektivität, sein messerscharfes politisches Urteil, seine realistische psychologische Begabung, seine Fähigkeit, das historische Material aufs feinste abzuwägen und vor dem Leser auseinanderzubreiten, verweisen ihn ins antiromantische Lager. Sein Ziel war, wie er einmal sagte, »sein Selbst gleichsam auszulöschen«. Es ist fraglich oder vielmehr nicht fraglich, ob dies überhaupt ein Ideal für den Historiker sein solle, und er hat es auch keineswegs erreicht, vielmehr ist seine Darstellung sehr spürbar von seiner Persönlichkeit imprägniert; aber daß er es überhaupt aufstellen konnte, ist für seine Geistesart charakteristisch. Es ist ein modern-naturwissenschaftliches Ideal: die Eroberung der Außenwelt mit den Mitteln der exakten Methode und der empirischen Beobachtung. Es bedeutet die Übertragung des Glaubens an die siegreiche Kraft der Tatsachenanhäufung aus der Physik auf die Historik, den Versuch, den ausschließlichen Respekt vor Akten und Fakten zum Leitpathos der Geschichtschreibung zu machen. Und dazu kommt die fast völlige Politisierung der Geschichte, in die Ranke diese wieder zurückversetzt hat, was höchst unromantisch und zugleich höchst nachromantisch war. Es war gewiß eine entscheidende wissenschaftliche Tat und ein Fortschritt zur reineren und reicheren Erkenntnis, daß er die »diplomatische« Historik geschaffen hat; aber er ist zum Teil selber das Opfer seines Faches geworden, indem der beständige Verkehr mit toten Gesandten, Ministern und Staatskorrespondenten ein wenig auf ihn abgefärbt und ihn selber zum Diplomaten gemacht hat, der, stets vornehm, verbindlich, formvollendet, einen unsichtbaren Ordensstern auf der Brust, ein wenig zu sehr »alles versteht«. Und ins große gerechnet, hat er sich nicht bloß auf die politische Geschichte beschränkt, sondern sogar vorwiegend auf die Geschichte der Regierungen, deren Taten bei ihm fast immer zu Recht bestehen. Kein Vorurteilsloser wird verkennen dürfen, daß hier nicht bloß »Objektivität« im Spiele war, sondern seine dauernde Gewöhnung an die Hofluft. Wir sehen hier wieder einmal, daß auch der überlegene Geist dem Zeitgeist tributär ist. Ein Geschichtschreiber, der sich als psychologischer Porträtist an Schiller, als Sprachkünstler an Jakob Grimm und als Geschichtsdenker an Hegel messen durfte und in der historischen Intuition überhaupt keinen Rivalen hatte, mußte im Zeitalter der Politik ein Biograph des Staates werden.
»Ich sehe mich in einem Übergangszeitalter«, sagte Stendhal, »und das heißt: in einem Zeitalter der Mittelmäßigkeit.« Gegen diesen Geist der Mittelmäßigkeit opponierten die jungen Maler und Dichter der romantischen Schule in Frankreich; schon rein äußerlich: mit ihren polnischen Schnürenröcken, grünen Beinkleidern, schreienden Westen, spitzen Zuckerhüten und feuerfarbenen Kalabresern. Sie war ebensosehr Ausdruck wie Widerpart ihrer Zeit, und dies machte sie zu einem komplexen Phänomen. Man darf sich vor allem nicht durch den Namen irreführen lassen. Die französische Romantik war antiromantisch. Als romantisch könnte man an ihr nur ihre Leidenschaft für das Pittoreske ansprechen; aber dieser Zug ist allgemeinfranzösisch, er verleugnet sich auch nicht in Epochen stärkster Entblutung des Lebens, Dichtens und Denkens: man denke an das Zeitalter Ludwigs des Vierzehnten mit seiner Vorhebe für prunkvolle Musik, Dekoration, Rhetorik, an die Farbigkeit der Aufklärungsliteratur; und er verträgt sich durchaus mit Rationalismus, indem er sich als logisch und architektonisch gegliederter Kolorismus äußert.
Äußerlich geht die Tendenz auf das Mittelalter zurück. Aber auf die Stoffwahl kommt es niemals an, sondern immer nur auf die Apperzeptionsform. Die Gleichungen sind nicht so einfach, daß man ohne weiteres alle antikisch orientierten Kunstströmungen als klassizistisch, alle fürs Mittelalter interessierten als romantisch, alle der Gegenwart zugewendeten als realistisch bezeichnen dürfte. Das Wort »romantisch« klingt deutlich an »romanisch« an. Und doch gibt es keine romanische Romantik. Nur ein einziges Mal sind innerhalb der französische Literatur einige echte Romantiker aufgetreten: es waren die Dichter um Maeterlinck, die durchwegs germanische Flamen waren.
Das Urphänomen, von dem alle menschlichen Lebensäußerungen abstammen, ist das Verhältnis zu Gott. Der Romantiker ist religiös. Der Romane ist klerikal oder atheistisch. Es hat natürlich auch auf slawischem und germanischem Boden zu allen Zeiten Klerikale und Atheisten gegeben; aber sie haben sich niemals zu repräsentativer Nationalbedeutung erhoben. Sie waren bestenfalls Zwischenereignisse. Umgekehrt sind religiöse Gestalten wie Luther und Bach, Fichte und Carlyle, Dostojewski und Nietzsche als romanische Gewächse unvorstellbar.
Wir haben schon mehrfach daraufhingewiesen, daß jeder Franzose ein Cartesianer und jeder Franzose ein Lateiner ist; und dies verleugnete sich auch bei der französischen Romantik nicht im geringsten. Sie wendete sich mit Leidenschaft gegen den Klassizismus, aber nur gegen den ganz strengen der Boileauschen Hofetikette: gegen die drei Einheiten und die scharfe Trennung des Tragischen und Komischen, gegen die Sprachtyrannei der Akademie und den Absolutismus der Lullytradition, gegen die geometrische Bildkomposition und die Salonlandschaft, gegen das Versailles der Kunst, das noch immer nicht tot war. Sie war revolutionär in der Form, indem sie von der klassisch geschlossenen zur »offenen« überging (soweit dies einem Franzosen überhaupt möglich ist), und im Stoff, indem sie das Pathologische, Grauenhafte, Grelle, Disharmonische bevorzugte; und vor allem war sie, im Gegensatz zur deutschen Romantik, revolutionär in der Politik. Oder richtiger gesagt: nur sie war politisch orientiert, jene gänzlich unpolitisch. Denn wenn etwas extrem unromantisch ist, so ist es die Politik. Hierin allein schon manifestiert sich die französische Romantik als Falschmeldung. Sie war ganz einfach, als heißer, sprühend elementarer Ausdruck des Zeitgeists, Realismus, obschon natürlich, wie jeder künstlerische Realismus, ein transponierter und gesteigerter. Victor Hugo hat es im Vorwort zu »Hernani« mit aller wünschenswerten Klarheit ausgesprochen: »die Romantik ist in der Dichtung, was der Liberalismus im Staate«; und Delacroix sagte noch einfacher und noch deutlicher: »qui du romantisme, dit art moderne.«
Als Geburtstag der romantischen Schule Frankreichs gilt der 25. Februar 1830: an diesem Tage fand, fünf Monate vor der Julirevolution, jene denkwürdige Hermanipremiere statt, die, wie fast alle entscheidenden Uraufführungen, ein ungeheurer Theaterskandal war; Théophile Gautier trug seine berühmte rote Samtweste, als Symbol des künstlerischen Konventionshasses und des politischen Radikalismus. Aber schon drei Jahre vorher hatte Hugo in seiner Cromwellvorrede, von der Gautier sagt: »sie erstrahlte vor unseren Augen wie die Gesetzestafeln vom Sinai«, den Begriff des Romantischen aufgestellt: es sei das Wirkliche, dieses aber entstehe durch die Kreuzung des Sublimen und des Grotesken, und das romantische »drame« sei daher die Vereinigung von Tragödie und Komödie. Er verschmolz sie aber nicht eigentlich, wie dies erst am Schlusse des Jahrhunderts Ibsen und seiner Schule gelang, sondern setzte sie nebeneinander. Schon in dieser seiner Vorliebe für literarische Manifeste zeigt sich die gallische Lust an Programmatik und Regelhaftigkeit, und noch mehr äußert sich dieser Rationalismus, dessen Leidenschaft für das Schrille, Bizarre, Widernatürliche, Wahnwitzige nur Maske ist, in Hugos kühler und klarer Komposition und in seinem bewußten und selbstbewußten Willen zur Tendenz. Hugo hat sein ganzes Leben lang Thesen angenagelt, und in seiner zweiten Lebenshälfte wuchs er zum Nationalpropheten. Zugleich kulminiert in ihm das französische Dekorationsgenie: seine Dichtungen sind glühende Tapeten, bezaubernde Koloraturen, großartige Atelierfeste, Meisterpartituren. Seine Dramen sind die packendsten Libretti, die je geschrieben wurden, und bieten sich schon auf den ersten Blick der Instrumentation an, obgleich sie andrerseits ihrer eigentlich gar nicht mehr bedürfen. Ihre Sterne sind jene ewigen Figuren, ohne die die Oper nicht leben kann: der edle Outlaw, der gegen die Gesellschaft lebt und ihre legitimen Verbrechen rächt, die edle Dirne, die neben ihr lebt und sich durch die große Liebe adelt; die Handlung gehorcht der Opernlogik; der Humor ist aus der opéra comique. In seinen Romanen erscheint die Welt als Tollhaus, ähnlich wie bei Shakespeare und doch ganz anders; viel subjektiver, monomanischer gesehen: als sadistische Fiebervision.
Neben ihm errangen der ältere Dumas, Scribe und Sue die breiteste Popularität. Der Abstand zwischen ihm und diesen wird in Frankreich nicht so stark empfunden wie bei uns. Dort wird die Literaturästhetik nicht von Professoren gemacht, die niemals Dichter und meistens nicht einmal Schriftsteller sind, sondern von den Künstlern und der Gesellschaft; infolgedessen herrschen dort andere Maßstäbe: man bewertet ein Drama nach der Art, wie es im Rampenlicht wirkt, und ein Buch nach dem Grad, wie es seine Leser hypnotisiert. Dumas schrieb mehr als ein Vierteltausend Bände, hohle Attrappen, aber mit delikatem Konfekt gefüllt. Scribe verfaßte die effektvollsten Operntexte der Welt, die Stumme von Portici, Fra Diavolo, die Jüdin, Robert den Teufel, den Propheten, die Hugenotten, die Afrikanerin, und wurde der Virtuose des modernen Intrigenlustspiels, der »pièce bien faite«; er besaß im höchsten Maße die paradoxe Gabe, die Welt nicht im natürlichen Licht der Sonne und des Mondes zu sehen, sondern im künstlichen des schreienden Scheinwerfers und der bunten Glaslaterne und die Menschen nicht als Naturwesen, sondern als Träger von Fettpuder, Perücke und Umhängebart. Außerdem war er einer der ersten, die ihre Dramen ganz unverhüllt als Industrieartikel vertrieben: er war nichts als der außergewöhnlich umsichtige und einfallsreiche Chef einer Galanteriewarenfabrik, in der die einzelnen Ressorts tadellos arbeiteten und ineinandergriffen; zahlreiche seiner Stücke sind Kompanieprodukte: der eine erfand die Figuren, der andere die Verwicklungen, ein dritter den Dialog, ein vierter die Bonmots. Es ist bei dieser Veranlagung selbstverständlich, daß das Geld für ihn immer im Mittelpunkt des Geschehens steht, nur faßt er seinen Helden viel harmloser und oberflächlicher als Balzac, indem er ihn einfach als den unwiderstehlichen Verführer schildert, dem alles erliegt. Was den berüchtigten Eugène Sue anlangt, so besaß er, wie wir schon im dritten Buche andeuteten, eine gewisse Ähnlichkeit mit Schiller: nicht bloß in seiner Vorliebe für das Kriminalistische, Kolportagehafte und die Schwarzweißtechnik, sondern auch in seiner Hinneigung zur ethischen und sozialen Tendenz. Auch über ihn kann nur unter der Optik des Gymnasialaufsatzes ein Verdammungsurteil gesprochen werden; Balzac und Hugo empfanden ihn als Konkurrenten. Die süßen Buntdrucke hingegen, in denen Murger das Pariser Bohemeleben abschilderte, sind für einen außerfranzösischen Geschmack heute kaum mehr erträglich.
Die französische Malerei des Zeitalters ist das komplette Gegenstück zur Literatur. Delacroix machte sich den Wahlspruch zu eigen: »le laid, c'est le beau!« Seine Kunst setzt ebenfalls den Farbenrausch an die Stelle der mehr zeichnerischen Korrektheit des Klassizismus und gibt dem Schrecklichen, Entarteten, Krassen den Vorzug vor dem Salonfähigen. Auch in den Stoffen liebt sie die Exotik. Die Eroberung Algiers, politisch und wirtschaftlich zunächst ohne größere Bedeutung, hatte sogleich eine künstlerische Wirkung: nicht lange, nachdem Hugo seine »Orientales« gedichtet hatte, entdeckte Delacroix den Orient für die Malerei. Damit ergab sich auch ein Wandel in der Darstellung der biblischen Gestalten: man begann einzusehen, daß sie ihre Modelle nicht unter holländischen Bauern oder florentinischen Prinzessinnen zu suchen habe, sondern unter den Arabern. Zudem fand Delacroix in Afrika, wo die Sonne den Objekten eine viel stärkere Leuchtkraft verleiht und die Farbenkontraste viel greller hervortreten läßt, sein koloristisches Weltbild bestätigt. Er pflegte, ehe er an die Zeichnung ging, zuerst die Farben zu gruppieren, und nicht umsonst war sein Lieblingsmaler Rubens, der ihn an technischer Meisterschaft, koloristischer Wucht und elementarer Vitalität noch übertrifft, an problematischer Geistigkeit, vibrierender Leidenschaft und dämonischer Originalität aber nicht erreicht.
Unter den übrigen Malern der neuen Schule ist keiner Delacroix in die Nähe gelangt; aber sie ist voll sprühender Lebendigkeit, blühenden Einfallsreichtums und kühnen, siegreichen Frondierungswillens und dabei, was ein Erbe sowohl der Rasse als des klassischen Geistes ist, immer geschmackvoll und im souveränen Besitz ihrer Mittel; von einer ausgeprägten Vorliebe fürs Schreckensfigurenkabinett erfüllt (teils aus Perversität, teils um den Bürger zu epatieren); propagandistisch und agitatorisch (im Geiste des Fanfaron, der in jedem Franzosen steckt); komödiantisch und theatralisch (aber auf eine höchst künstlerische Manier); morbid und neurasthenisch (Ingres fand sogar: epileptisch); und bei alledem in ihrer Lust und Kraft, zu bauen, zu gliedern und zu stufen, doch cartesianisch. In dem schwachen Genre der Historienmalerei war Delaroche der Stärkste: seine Gemälde lassen sich mit den geistreichen Geschichtsromanen in Parallele stellen, die Dumas père verfaßte; die sentimentale Anekdote ist ihm stets die Hauptsache. Horace Vernet malte sehr erfolgreich den afrikanischen Feldzug, die Napoleonlegende, die Gloiregeschichte der grande armée mit minutiöser Fachkenntnis der Uniformierung und Bewaffnung, Strategie und Taktik. Ganz aus der Zeit fällt Ingres, ein Klassizist, aber nicht im Sinne des lateinischen, sondern des griechischen Kunstgefühls, das dem Franzosen im allgemeinen ganz fremd ist: ein Meister der edeln Linie und reinen Proportion, selbstverständlichen Nacktheit und wahren, nämlich idealen Natürlichkeit.
Die Musik der französischen Romantik wird 1828 mit der »Muette de Portici« von Auber eingeleitet, der sich bereits als Komponist höchst gelungener Lustspielopern von bunter und witziger Pikanterie bekannt gemacht hatte. Nicht allein der ebenso originellen wie glücklich ausgeführten Idee, eine Stumme zur musikalischen Heldin zu machen, verdankte die »Muette« ihren Erfolg, sondern auch der revolutionären Leidenschaft, die aus ihr wie eine Stichflamme hervorschlug. In diesem Zeitalter ereignete sich nämlich die Paradoxie, daß sogar die Musik politisch wurde. Die »Stumme« hat nicht nur die ganze Julirevolution antizipiert, sondern sogar, wie bereits erwähnt wurde, den unmittelbaren Anlaß zur belgischen Revolution gegeben; und in den zahlreichen »Freiheitsopern«, die folgten, eroberte sich der Liberalismus das Orchester. Die beiden berühmtesten Exemplare dieses Genres sind Bellinis »Norma« vom Jahr 1832, die den Kampf der Gallier gegen die Römerherrschaft schildert, und Rossinis »Tell« vom Jahr 1829, der heroisches Freiheitspathos und idyllische Landschaftsmalerei auf prachtvolle Weise zu verbinden wußte. Meyerbeer, der sich seinen ersten großen Erfolg 1831 mit »Robert le Diable« errang, ist, so ketzerisch es klingen mag, in seiner Leidenschaft für das Pittoreske, Gesteigerte, rauschend Effektvolle ein musikalischer Victor Hugo. In Berlin geboren, ist er doch durch und durch französisch wie sein Vorgänger im Berliner Amt und in der Pariser Position, der Italiener Spontini, dem er die ausschweifende Exploitierung des Orchesters und des gesamten Theaterapparats zu erdrückenden Gewaltwirkungen abgelernt hatte, während er ihn an Reichtum der Erfindung und Feinheit der Instrumentierung weit übertraf. Der deutsche Dichter und Ästhetiker Robert Griepenkerl sagte von Meyerbeers Opern, in ihnen vernehme man »den Ton dieses eisernen Jahrhunderts«, was sehr zutreffend, aber nicht so schmeichelhaft ist, wie es gemeint war: in ihnen ist der stahlharte, bis zur Schamlosigkeit unbedenkliche Wille zum Erfolg Musik geworden. Hugos andere Seelenhälfte, die Lust am Abnormen, Absurden, Grausig-Grotesken, ist in Berlioz verkörpert, einem Genie der Chromatik von einer ans Pathologische grenzenden Hypertrophie des Klangsinns, die die Töne fast körperlich sieht. Mit seiner »Symphonie fantastique« »Episode de la vie d'un artiste«, die 1830 zum erstenmal aufgeführt wurde, und deren Fortsetzung »Le retour de la vie« begründete er die moderne Programmusik: sie schildert die narkotischen Träume eines jungen Künstlers, der aus unglücklicher Liebe einen Selbstmordversuch mit Opium unternommen hat; die Herrschaft des Leitmotivs ist auf höchst suggestive Weise bis zur Krankhaftigkeit gesteigert: es ist zur idée fixe geworden. Chopin, als Sohn eines eingewanderten Franzosen und einer Polin in der Nähe von Warschau geboren, ist, in entsprechendem Abstand, für die Tanzmusik gewesen, was Schubert für das Lied, indem er dieses Genre, das bisher nur der Unterhaltung gedient hatte, in die hohe Kunst einführte. Seine Polonaisen und Mazurken sangen in das Ohr Europas die Klage um das vergewaltigte Polen. Er lebte in Paris als eine der größten Zelebritäten, als Klaviervirtuose ebenso gefeiert wie als Komponist, mit Liszt, Berlioz, Heine, Balzac befreundet, mit George Sand jahrelang liiert, jener gräßlichen Literatursuffragette, die Musset, der ebenfalls ihr Liebhaber war, den »Typus der gebildeten Amsel«, Nietzsche noch deutlicher eine »Schreibekuh« genannt hat. Auf der Geige war das größte Phänomen des Zeitalters und möglicherweise aller Zeiten Paganini, der durch sein hinreißend leidenschaftliches Spiel und seine beispiellose technische Meisterschaft Männer und Weiber bis zur Raserei bezauberte. Er war von dämonischer Häßlichkeit und schon bei Lebzeiten eine Legende: man erzählte sich von ihm die melodramatischsten Geschichten: daß er seine Mutter ermordet, seine Braut erwürgt und im Gefängnis auf einer einzigen Saite alle seine Kunststücke erlernt habe, und verdächtigte ihn allen Ernstes der Zauberei.
Die deutsche Musik jenes Zeitraums bewegt sich im Gefühlskreis der deutschen Romantik und hat daher bei allen ihren hohen Qualitäten etwas Nachzüglerisches, Unzeitgemäßes, Gestriges gleich Friedrich Wilhelm dem Vierten, der sie sehr schätzte und förderte; sie ist weder ein Pendant zur romantischen Musik Frankreichs noch zur gleichzeitigen Literatur Deutschlands. Ihre beiden Hauptvertreter sind, wie jedermann weiß, Mendelssohn und Schumann. Mendelssohn, der Enkel des Philosophen, entriß durch eine vollendete Berliner Aufführung die Matthäuspassion der Vergessenheit, hob in Düsseldorf als Mitarbeiter Immermanns und in Berlin als Liebling des Königs die Oper auf ein neues Niveau, gastierte mehrfach mit außerordentlichem Erfolg in London und machte als Leiter der Gewandhauskonzerte Leipzig zur musikalischen Hauptstadt Deutschlands. Er war ein weicher geistreicher Aquarellist wie Heine, den er auch am liebsten vertonte; kein kräftiges Original: in den Oratorien von Händel und Haydn, im »Sommernachtstraum« und in den Waldliedern von Weber, in den Klavierstücken von Schubert beeinflußt und doch eine tief originelle Persönlichkeit: kapriziös und grazil, sentimental und heiter, ja fast witzig, sehr, für einen Musiker beinahe zu sehr gebildet und von einer reinen und echten, weder verknöcherten noch angekünstelten Frömmigkeit, wie sie in jenen Tagen zu den Seltenheiten gehörte. Der fast gleichalterige noch viel eigenartigere Robert Schumann gründete, ebenfalls in Leipzig, den Verein der »Davidsbündler« gegen das Philistertum in der Tonkunst und die »Neue Zeitschrift für Musik«, die für Berlioz, Chopin und den jungen Brahms und gegen Meyerbeer kämpfte, und wurde erst durch seine Vermählung mit der berühmten Klavierspielerin Klara Wieck zum Liederschöpfer, wodurch er sich als »Gelegenheitsdichter« im Sinne Goethes und reinster Typus des Lyrikers erwies, den er in allen seinen Zügen sehr deutlich ausgeprägt hat: er ist weiblich, kindlich, von einer somnambulen Melancholie, am größten als reiner Klavierkomponist, ein Meister der freien Begleitung und des Nachspiels, auch des Vor- und Zwischenspiels, die bei ihm niemals bloßes Ornament, vielmehr innerlichstes Stimmungselement sind, am schwächsten in der Oper. In ihm hat das deutsche Biedermeier ein spätes wundersam tönendes Echo gefunden, das wie ein verwehter Geigenklang bis in unsere Tage zittert.
Wir haben bereits erwähnt, daß die Schriftsteller des »jungen Deutschland« sich keineswegs als Mitglieder einer literarischen Schule empfanden. Gleichwohl tragen sie, wie dies ja gar nicht anders zu erwarten ist, eine Reihe gemeinsamer Züge. Es hat wohl selten eine geistige Bewegung gegeben, die in ihren Ausgangspunkten und Zielen, ihren Leitgedanken und Ausdrucksmitteln unkünstlerischer gewesen wäre als diese. Zunächst: sie hatte sich ein sehr unzutreffendes Firmenschild gewählt, denn sie war so wenig jung, wie die erste romantische Schule jemals romantisch gewesen ist. Sie umfaßte zwar lauter Poeten, die die Dreißig noch nicht überschritten hatten, aber fast alle diese waren schon steinalt auf die Welt gekommen. Sie waren so überlegen, so wissend, so abgebrüht, wie es nur je irgendein Greis auf dieser Welt gewesen ist. Sie waren von einer unwiderlegbaren, penetranten, zerfressenden, kurz: einer ganz unerträglichen Gescheitheit. Sie ließen sich auf keinem Gebiet und in gar keiner Richtung etwas vormachen: weder in der Religion noch in der Politik noch in der Kunst noch in der Philosophie. Alles entlarvten sie als Schwindel oder Kinderei, und zurück blieb nichts als ein sehr kompakter Materialismus. Dabei waren sie alle schon von ihren ersten Anfängen an von einer Geschicklichkeit und Weltgewandtheit, Versiertheit und Fingerfertigkeit, schriftstellerischen Sicherheit und propagandistischen Energie, wie sie auch nicht gerade das Merkmal der Jugend zu bilden pflegt. Aber mit lauter unsympathischen oder minderwertigen Eigenschaften hätten sie doch nicht die großen geistigen Erfolge erringen können, die sie ganz unleugbar gehabt haben! Welchem Umstand verdankten sie denn also die breite und starke Wirkung, die sie ausübten?
Die Frage beantwortet sich von selbst: sie waren die Stimme der Zeit. Sie drückten aus, was alle laut oder leise, hell oder dumpf fühlten; sie taten dies allerdings nur in einer rein negativen Form: sie opponierten gegen die unbeschreibliche Langeweile, Gefühlsträgheit und Geistesstarre, in die ihre Epoche verzaubert war. Sie zerrissen die trübe Luft, die über der Welt lagerte, und brachten Licht und Klarheit in die menschlichen Beziehungen. Es war freilich nichts weiter als die Klarheit, die Selbstverständlichkeit, das billige und ordinäre Licht der Alltagsweisheit, aber es wirkte doch erleichternd und befreiend: denn was hatte der deutsche Bürger von all der bisherigen Mystik und Romantik, die ihn nur verwirrte, und von seinem ungemein reichen und tiefsinnigen Hegel, von dem er nicht ein Wort verstand? Nun aber kamen auf einmal Menschen, die, obgleich sie gedruckt schrieben, doch ganz in seiner Sprache schrieben, flüssig, einfach und eingängig. Und doch auch wiederum nicht in seiner Sprache, sondern pikant, geistreich und bunt; und das war der zweite Grund des Erfolges. Esprit hatte der Deutsche bisher nur als schwer zu erlangenden französischen Importartikel gekannt, nun hatte er ihn im eigenen Lande: den guten Witz, den man am Biertisch weiterkolportieren konnte, den kleinen literarischen Skandal zum sonntäglichen Morgenkaffee, kurz, das Feuilleton, das wir seither nicht wieder losgeworden sind.
Wir haben schon mehrfach darauf hingewiesen, daß fast jedes Zeitalter eine Leitvokabel besitzt, der es blindlings folgt, eine Chiffre, die es für den Schlüssel zu allen Geheimnissen hält. Für das junge Deutschland lautete dieses zauberkräftige Schlagwort: »Zeitgeist«. »Die Zeit ist die Madonna des Poeten« sang Herwegh. Die Zeit aber war der Tag. Dies meinten sie mit dem »Realismus«, dem sie sich verschrieben hatten: es war die spezifische Spielart der Wirklichkeitsanbetung, wie sie die Zeitung vertritt, ein Wortrealismus, der die Phrase für wirklich nimmt, ein Lügenrealismus, der seine Unwahrheiten oder Halbwahrheiten so lange und so intensiv wiederholt, bis sie wirksam und daher wahr werden. Dabei haben sie das Genre des Feuilletons nicht einmal mit wirklicher Meisterschaft gehandhabt; es hat erst später stilistisch in Speidel, inhaltlich in Kürnberger, stilistisch und inhaltlich in Bahr die letzte Stufe der Vollendung erreicht. Wir waren an anderer Stelle genötigt, die Ansicht zurückzuweisen, daß der moderne Journalismus von Schiller abstamme; aber vom jungen Deutschland stammt er wirklich ab. Bei jedem normalen Schriftsteller und überhaupt bei jedem normalen Menschen entwickelt sich das Wort aus der Sache; bei diesen Autoren verhielt es sich umgekehrt. Immer ist zuerst die Metapher da, dann erst der Gedanke; und auch sie ist aus bloßen Worten entstanden, weshalb sie zumeist verzeichnet oder gesucht und immer trostlos nüchtern ist. Dies gilt auch von dem besten Stilisten der Schule, Ludwig Börne: wenn er zum Beispiel ausruft: »Der freie Strom der öffentlichen Meinung, dessen Wellen die Tagesschriften sind, ist der deutsche Rubikon«, so gelingt es ihm, ein Lesebuchparadigma für hohle und schiefe Rhetorik aufzustellen; und wenn Ludolf Wienbarg über Schiller sagt: »Sentimental, verständig, gutmütig, rednerisch entsprach er der sehr achtbaren Zuhörerschaft, die sich ungern den tragischen Dolch auf die Brust setzen läßt, wenn sie ihn nicht durch den Knauf schöner Phrasen und Redensarten unschädlich gemacht sieht«, so ist das bereits reiner Wippchen. Vor allem aber war ihre Schreibweise durch eine peinliche Abgeschmacktheit verdorben. Derselbe Wienbarg sagt in der bereits erwähnten Widmung seiner »Ästhetischen Feldzüge«: »Universitätsluft, Hofluft und sonstige schlechte und verdorbene Luftarten, die sich vom freien und sonnigen Völkertage absondern, muß man entweder gänzlich vermeiden oder nur auf kurze Zeit einatmen. Riechflaschen mit scharfsatirischem Essig, wie ihn zum Beispiel Börne in Paris destilliert, sind in diesem Fall nicht zu verachten«, und auf die Julirevolution dichtete er: »Mag der Franke den Marseiller singen, schlürfen den Champagner der Gesänge, der, weil ihm die Flasche ward zu enge, ließ den Kork bis an die Newa springen«; Theodor Mundt beschrieb die Tätigkeit des angebeteten »Zeitgeists« mit den Worten: »Er zuckt, dröhnt, zieht, wirbelt und hambachert in mir; er pfeift in mir hell wie eine Wachtel, spielt die Kriegstrompete auf mir, singt die Marseillaise in allen meinen Eingeweiden und donnert mir in Lunge und Leber mit der Pauke des Aufruhrs herum«, und Gutzkow begrüßte das heranwachsende Geschlecht mit den Versen: »Glücklich seid ihr, jüng're Streiter ... glücklich, denn so könnt ihr wissen, wo im dichterischen Schwärmen andern ihre Saiten rissen, Saiten aus Philisterdärmen ... Von dem Speer die Eisenspitze dürft ihr stoßen in die Erde, daß er nach des Kampfes Hitze euch ein schattig Laubdach werde.« Essigflaschen gegen schlechte Luft, Champagnerkorke, die von Paris bis Petersburg springen, in den Eingeweiden singende Marseillaisen, Saiten aus Philisterdärmen: dergleichen findet sich heute kaum mehr in Provinzblättern; und das schattenspendende Speerlaub bedeutet einen ganz offenkundigen Rückfall in den Wunderglauben, den die Jungdeutschen doch soeben erst abgeschafft hatten.
Ein anderes ihrer Schlagworte lautete: »Emanzipation der Sinne«, wobei ihnen die griechische Kultur als Ideal vorschwebte. Diese Vorstellung vom »heiter-sinnlichen« Hellenentum ist weder klassisch noch romantisch, sondern aus der Operette, indem sie Dionysos zum Wirtshausbacchus und die apollinischen Musen zu Trikottänzerinnen macht. Mundt prägte die Devise »Bewegungsliteratur«, was einigermaßen an den heutigen Aktivismus erinnert. Nun gibt es aber nichts Aktiveres und Aktuelleres als die Tagespolitik, und daher kommt es, daß das junge Deutschland die Kunst in einem Maße mit Politik infiltriert hat, das fast unbegreiflich erscheint. Man ging so weit, zu behaupten, eine Dichtung, die nicht den Tagesfragen diene, habe keine Existenzberechtigung, womit doch wohl das Wesen der Kunst auf den Kopf gestellt wird. Einer der gefeiertsten Schauspieler jener Zeit war Eßlair. Im Hinblick auf ihn sagte Börne: »Die wahre Geschichte jedes Tages ist witziger als Molière und erhabener als Shakespeare. Ein paar Lampen angezündet und die Zeitung vorgelesen was könnte Eßlair Besseres geben?« Beim Anblick des Alpenglühens fällt Herwegh sogleich der Brand Ilions ein und erzeugt in ihm die poetische Gedankenverbindung: »Ein versinkend Königshaus raucht vor meinem Blicke, und ich ruf' ins Land hinaus: vive la république!«, wobei er, abgesehen von dem mehr in der Gesinnung als in der Aussprache pariserischen Republikanismus, vollkommen vergißt, daß die Zerstörung Trojas durchaus keine antimonarchistische Demonstration war. Die ganze Lyrik des jungen Deutschland ist Leitartikelei: entweder liberale oder patriotische (im letzteren Falle handelte es sich meistens um »Rhein« und »Wein«, von welcher Reimtatsache ein höchst unbescheidener Gebrauch gemacht wurde); und die Zeitungen gingen wirklich oft so weit, den Leitartikel in Gedichtform vorzusetzen. Gutzkow hatte übrigens eine Ahnung davon, daß diese Literatur eine einzige große Mißgeburt sei. Er sagte: »Börne klagt Heine der Frivolität an; aber ist es nicht der größte Leichtsinn, das Jahrhundert auf nichts zu reduzieren als die konstitutionelle Frage?« Dies meinte er jedoch nur theoretisch; in der Praxis hat er sich nie mit etwas anderm befaßt als mit Tendenz und Politik.
Die künstlerischen Erzeugnisse dieser Generation sind denn auch von einer erstaunlichen Trivialität, Unnatürlichkeit und Impotenz. Es ist, um es rund herauszusagen, lauter Schmierenkomödie, Simili, herausgeputzter Ramsch für den Fünfzig-Pfennig-Bazar. Von den Stücken haben sich einige sehr lange auf der Bühne behauptet. Gutzkow schrieb eine Anzahl frostiger Zelebritätendramen: »Zopf und Schwert«, worin Friedrich Wilhelm der Erste und Ekhof vorkommen, das »Urbild des Tartüffe«, dessen Held Molière ist, »Richard Savage«, der die Schicksale dieses Dichters und Steeles, des Begründers des »Spectator«, behandelt, »Uriel Acosta«, worin der kleine Spinoza, und den »Königsleutnant«, worin der junge Goethe als Hosenrolle auftritt. Nun sind aber Berühmtheiten für den Dramatiker ein ebenso dankbares wie gefährliches Sujet. Sie sind dankbar, weil sie eine Menge fruchtbarer Nebenvorstellungen mitschwingen lassen, mit denen der Dichter operieren kann. Sie sind gefährlich, weil sie verpflichten. Um ein Genie schildern zu können, muß man selber ein halbes Genie sein. Gutzkows große Männer sind aber lauter Journalisten, und nicht einmal erstklassige. Geradezu parodistisch wirkt es, wenn der Raisonneur Steele an der Leiche Savages zum Schluß in die Worte ausbricht: »Zeiten und Sitten, seht eure Opfer! O spränge doch die Fessel jedes Vorurteils, daß mit dem vollen Atemzuge der Brust die Herzen mutiger zu schlagen wagten und nicht im Getümmel der Welt mit ihrer kalten Bildung und ihren sklavischen Gesetzen auch die Stimme der Natur dem rechnenden Gefühl die Antwort versagte!« Er redet noch weiter, aber wir wollen ihm nicht weiter zuhören, sondern lieber vernehmen, wie das Zugstück »Werner« schließt, das den kitschigen Untertitel »Herz und Welt« führt: »Julie, durch das, was dir begegnete, hast du einen Blick in die Geschichte der Herzen getan, die sich Liebe schwören, einen Blick in die Region, die wir euch Frauen so gern verborgen halten! In tausend Seelen unserer Zeit schlummert der Widerspruch des Herzens mit der Welt still und schmerzlich verborgen. Wohl dem, der ihn so lösen kann wie ich durch dich.« Die als Goethe verkleidete Soubrette äußert: »Schüttle dich, Welt, in deinen Angeln, rase über die Länder hin, antlitzverzerrte Bellona, es muß ein Friede kommen, wo die Saat des Geistes blüht und keine zersplitterte Lanze, keine blutgezeichnete Fahne hoch genug ist, über die bescheidenen Blumen der Dichter emporzuragen.« Man bemerkt: dies ist ganz und gar die Art, nicht wie ein Mensch zum andern spricht, sondern wie ein schlechter Zeitungsschreiber glossiert. Es ist übrigens charakteristisch, daß Gutzkow bei mehreren seiner Dramen, wie »Werner«, »Savage« und »Ella Rosa«, den Theaterdirektionen verschiedene Katastrophen zur Auswahl vorlegte. Dieselbe Physiognomie tragen auch seine Romane, zum Beispiel »Wally, die Zweiflerin«, wo ein Abschnitt mit den Worten schließt: »Sehet da eine Szene, wie sie in alten Zeiten nicht vorkam! Hier ist Raffiniertes, Gemachtes, aus der Zerrissenheit unserer Zeit Geborenes aber was ist die egoistische Geschlechtsliebe gegen diesen Enthusiasmus der Ideen, der zwei Seelen in die unglücklichsten Verwechslungen werfen kann.«
Gutzkow ist der erste deutsche Dramatiker, der »Bombenrollen« geschrieben hat. Ganze Generationen von Komödianten haben sich mit den liberalen Tiraden Uriels Kränze geholt, und Friedrich Haase hat ein Menschenalter lang fast nur den Chevalier Thorane im »Königsleutnant« gespielt. Es ist daher begreiflich, daß Gutzkow ein lebhafter Verteidiger des Virtuosentums war: »Die traurige Redensart von Ensemble«, schrieb er, »sollte man im Munde der Stümper lassen ... Nicht der Verfall der Schauspielkunst, sondern die Regeneration derselben beginnt mit Seydelmann.« Dieser war einer der frühesten Vertreter jenes Schauspielertyps, der in Dichtung und Mitspielern nur Instrumente zu einem persönlichen Erfolg erblickt. Er war der Erfinder der »Charaktermaske«, des Wandergastierens und der »guten Presse«. Als Shylock streichelte und küßte er unaufhörlich seinen Schein und wetzte das Messer auf dem Fußboden; als Antonio im »Tasso« deutete er durch Zärtlichkeiten und lüsterne Blicke an, daß zwischen ihm und der Gräfin Sanvitale eine erotische Beziehung bestehe; in einer anderen Rolle sollte er seinen Partner mit dem Messer bedrohen und von ihm durch eine Pistole in Schach gehalten werden, in der Erwägung aber, daß das primitive Publikum gern Rolle und Schauspieler identifiziert, sicherte er sich den Sieg dadurch, daß er bei der Vorstellung plötzlich selber eine Pistole hervorzog. Den Mephisto spielte er mit langen Krallen, Struwwelpeterperücke, schielenden Augen und bis zum Kinn gekrümmter Nase und, wie Immermann berichtet, unter stetem »infernalischen Krächzen, Pusten und Murksen«. In alledem: seinem berechnenden Rationalismus, seiner feuilletonistischen Pointenjagd und zeitungshaften Selbstplakatierung und seiner sehr ausgeprägten Richtung aufs Merkantile war er nur der Sohn seiner Zeit.
Heinrich Laube zeigte ebenfalls eine Vorliebe für das literarhistorische Panoptikum, indem er Gottsched, Gellert und den jungen Schiller auf die Bühne brachte, und für Günstlingsdramen wie Struensee, Essex, Monaldeschi, so ziemlich das ödeste Genre, das es gibt. Seine Stücke sind ebenso papiern, aber nicht so geschwätzig wie die Gutzkowschen, theaterbanal bis zur gelegentlichen unfreiwilligen Komik, roh, aber fest gezimmert und verraten den späteren ausgezeichneten Dramaturgen und Regisseur. Er leitete nicht nur mit genialer Befähigung für Entdeckung und Erziehung schauspielerischer Talente eine Reihe großer Bühnen, sondern erstattete auch hierüber in seiner Geschichte des Burgtheaters, des Wiener Stadttheaters und des norddeutschen Theaters in einer Weise Bericht, die diese Bücher zu den besten, ja fast einzigen macht, worin über Schauspielkunst mit nutzbringender Kennerschaft gesprochen wird; auch sind sie, im Gegensatz zu seinen übrigen Werken, vorzüglich geschrieben, während sie andrerseits auf dramaturgischem Gebiet seinen praktischen, aber banausischen Standpunkt der ausschließlichen Berücksichtigung der Publikumswünsche manifestieren, den er in den Worten zusammengefaßt hat: »Die Armut kommt an die Reihe, weil sie gehen und stehen kann, der Reichtum wird zurückgelegt, weil er das nicht kann und fliegen will. Auf dem Theater fliegt man eben nicht«; worauf zu erwidern ist, daß ein Theater, das nicht den fliegenden Menschen zur Schau stellt, keine wirkliche Existenzberechtigung hat, denn den gehenden und stehenden zeigt jede Militärparade.
Heine hat die Unarten des jungen Deutschland nur in seinen allerersten Zeiten mitgemacht. Ihn immer wieder in dieser Gruppe, womöglich gar als einen ihrer Führer, aufzuzählen, ist eine Gedankenlosigkeit der zünftigen Geschichtschreibung. Gutzkow hat Heines Poesie boshaft, aber treffend charakterisiert, indem er ihre Blüten ausnahmsweise in einem nicht mißglückten Bilde mit parfümierten Taftblumen verglich; ein andermal nennt er sie, weniger übelwollend und wiederum recht treffend, eine Mischung aus Lächeln, Nachtigallengesang, harziger Waldluft, versteckter Satire auf ganz versteckte Menschen, Skandal, Sentimentalität und Weltgeschichte. Heine hat die romantische Vorstellungswelt immer nur als äußerlichen Glanzstuck benutzt, während er im Innern Rationalist, Naturalist, ja fast schon Impressionist war. Seine Gedichte sind reizende Spieldosen. Seine Prosa ist rein, reich, anmutig, beschwingt, nur bisweilen ein wenig zu witzig. Was ihn am meisten von allen Jungdeutschen unterschied, war seine hohe Musikalität. Von einer wirklichen Weltanschauung kann man bei ihm nicht gut sprechen. Sie beschränkt sich, abgesehen von ihren rein politischen und literaturpolemischen Komponenten, auf eine halb novellistisch-spielerische, halb journalistisch- demagogische Bekämpfung der Oberflächen des religiösen und philosophischen Transzendentalismus und die Predigt eines Diesseitsevangeliums, das in seinem erotischen Materialismus in die Richtung des Pariser Librettos weist. Seine Lyrik hat mehr die Tonkunst befruchtet als die Dichtkunst. Der stilistische Einfluß seiner Prosa hingegen ist außerordentlich hoch zu bewerten; er erstreckt sich bis auf Nietzsche, der ihn aus diesem Grunde als Gesamtpersönlichkeit überschätzt hat. Außerdem ist er in der deutschen Literatur der erste Gestalter der Ambivalenz. Tragik und Komik, Sentimentalität und Ironie verhalten sich bei ihm nicht wie die beiden Hälften, sondern wie die Vorder- und Rückseite derselben Sache; und er hat auch zu allen Zeiten ambivalente Gefühle ausgelöst, indem man stets schwankte, ob man ihn unausstehlich oder bezaubernd finden solle. Daß er gerade in diese völlig sterile Zeit hineingeboren wurde, war die Tragödie seines Lebens: ein Mensch voll Durst nach Wirklichkeit inmitten einer Welt voll blecherner Phrasen und ausgestopfter Jahrmarktspuppen, eine Natur, deren tiefste Sehnsucht es war, verehren, anbeten, glauben zu dürfen, unter eine Menschheit geworfen, deren höchster Witz es war, ungläubig zu sein und alles in entgötternder Skepsis zu begraben. So wurde er die typische zwiespältige Natur. Nun ist ja Zwiespältigkeit die Grundeigenschaft aller irgendwie künstlerisch veranlagten Menschen, ob sie nun künstlerisch schaffende oder bloß künstlerisch empfängliche, künstlerisch empfindende sind; sie findet sich daher bei sehr vielen Frauen und fehlt eigentlich nur beim Philister. Aber sie kann zweierlei Formen haben. Es gibt Menschen, deren zwei Seelen einander nervös fliehen und, wenn sie sich treffen, nur beschränken und verwirren: halbierte Menschen. Und es gibt Menschen, deren beide Seelen einander anziehen wie zwei ungleichnamige Elektrizitäten und in einer Art von magischem Gleichgewicht halten, das sie fördert und steigert: verdoppelte Menschen. Von der ersteren Art waren Heine und Byron, von der letzteren Goethe, Shakespeare, Tolstoi, Nietzsche.
Aber wir wollen doch nicht gar zu ungerecht sein gegen diese Gruppe von Enterbten des Schicksals; denn das waren sie alle, sowohl in ihrem äußeren wie in ihrem inneren Leben. Es hat schließlich immer etwas Großes, wenn aus einer ganzen Generation der leidenschaftliche Drang nach Wahrheit lodernd hervorbricht; denn die Aufrichtigkeit an die Stelle der politischen und religiösen Heuchelei, die schlichte Vernunft an die Stelle des mystischen und allegorischen Hokuspokus zu setzen: das war ja der Sinn jener ganzen Bewegung. Aber bisweilen ist die Wahrheit furchtbar banal und verdankt ihr Leben bloß der Tatsache, daß die gegenteilige Wahrheit gar zu absurd ist; und so verhielt es sich im Falle des jungen Deutschland.
Die deutsche Malerei in jenem Zeitraum ist völlig literarisch. Man huldigte der Ansicht, die Kunst habe belehrend und aufklärend zu wirken, und malte nicht bloß Geschichte, was an sich schon bedenklich ist, wenn das novellistische Moment in den Vordergrund tritt, sondern Geschichtsphilosophie, ja Politik. Bei Karl Friedrich Lessings Bildern aus dem Leben Luthers und Hussens, die gegen den Ultramontanismus predigten, erwärmte oder entrüstete sich das Publikum am Inhalt, indem es zur Reformation Stellung nahm. Man malte auch gern die Fabel berühmter Gedichte. Der »Realismus« äußerte sich bei den Historien hauptsächlich im sorgfältigen Studium der Trachten, Waffen, Möbel, Geräte, Architekturformen: der Maler wird zum Archäologen und Kostümier, und man betrachtete es allen Ernstes als ästhetischen Defekt, wenn ein Gemälde historisch nicht »echt« war; auch die Auffassung der Situation mußte dem neuesten Stande der Geschichtswissenschaft entsprechen. Das größte Ansehen genoß Kaulbach, in seinem philosophischen Ehrgeiz Cornelius, in seiner Geschichtsauffassung Ranke verwandt, doch im Gegensatz zu ihnen leer, kulissenhaft, gequält und voll lähmender Wiederholungen. Alfred Rethel, dessen Aachener Fresken wir bereits erwähnt haben, schilderte in sechs farbigen Zeichnungen von herber Wucht und Geschlossenheit Hannibals Zug über die Alpen und symbolisierte 1849 in den Blättern »Auch ein Totentanz« die Ereignisse des verflossenen Jahres mit großartiger Dramatik. Die Genremaler porträtierten in opernhafter Manier am liebsten allerlei Volksszenen, den Schmuggler, den Wilderer, das italienische Straßenleben. Den Stoffen nach gehört auch Karl Spitzweg zu ihnen. Es ist bezeichnend für ihn, daß er ursprünglich Apotheker war: seine Kunst hat etwas Versponnenes, Tüfteliges, Schrulliges. Am liebsten malte er rührende und schnurrige Sonderlinge: den Sonntagsjäger und den Bürgergeneral, den Dichterling und den Schmierenschauspieler, den Flötenamateur und den Serenadensänger, den Aktenwurm und den Schulpedanten, den Hagestolz und den schüchternen Liebhaber, den Blumenzüchter und den Antiquar. Und den Rahmen dazu bildet die verwitterte und verwinkelte, verträumte und verschnörkelte deutsche Kleinstadt. Die längst versunkene Poesie des Bratenrocks und der Zipfelmütze ist in seinen zarten und launigen Momentaufnahmen unverlierbar aufbewahrt.
Zu jener Vormärzzeit haben im deutschen Bundesgebiet noch drei andere Genies gelebt, ein unbekanntes, ein verkanntes und ein verlarvtes: Büchner, Grabbe und Nestroy. Grabbe, der trotz seines eklatanten Mangels an Konzentration und Bühnengefühl sehr oft in die Nähe Shakespeares gelangt, wurde zeitlebens für einen verbummelten Halbnarren gehalten, ja noch Wilhelm Scherer nennt ihn »töricht« und bezichtigt ihn »lächerlichster Renommage«. Georg Büchner ist erst in unseren Tagen entdeckt worden. Er wurde am Schlachttag von Leipzig in der Nähe von Darmstadt geboren und starb schon im Februar 1837, im vierundzwanzigsten Lebensjahr. Er studierte Medizin, gab den »Hessischen Landboten« heraus, die erste sozialistische Flugschrift in deutscher Sprache, die aber, unter den Bauern seines Heimatlandes heimlich verbreitet, fast gar keine Wirkung tat, und gründete 1834 die »Gesellschaft der Menschenrechte«, einen Geheimbund zur Herbeiführung der radikalen Republik, der aber in Wirklichkeit nicht viel mehr als ein harmloser politischer Debattierklub war. Der drohenden Verhaftung entzog er sich durch die Flucht nach Straßburg, wo er seine anatomischen Studien fortsetzte. Für deren Frucht, die Schrift »Sur le système nerveux du barbeau«, die einige ganz neue Aufschlüsse über das Kopfnervensystem der Fische enthielt und von den Kennern als eine außergewöhnliche Leistung erklärt wurde, erhielt er von der Züricher Universität das Doktordiplom der philosophischen Fakultät und, nachdem er eine höchst beifällig aufgenommene Probevorlesung gehalten hatte, die Anstellung als Privatdozent. Sein Bruder, der Verfasser des weltbekannten Buches »Kraft und Stoff«, sagte von ihm, er würde vielleicht, wenn er am Leben geblieben wäre und seine wissenschaftliche Laufbahn weiterverfolgt hätte, »derselbe große Reformator der organischen Naturwissenschaften geworden sein, welchen wir jetzt in Darwin verehren«; und wenn man erwägt, welche seltene Vereinigung von philosophischer und naturwissenschaftlicher Begabung sich in seinen hinterlassenen Abhandlungen und Skizzen offenbart, so wird man diese Behauptung nicht übertrieben finden, ja sogar die Möglichkeit zugeben müssen, daß er, weil er außerdem noch Künstler war, sogar Größeres geleistet hätte als Darwin. Andrerseits verleugnet sich der geniale Anatom auch in seiner Kunst nicht. In seinem Romanfragment »Lenz« sagt der Titelheld: »Der liebe Gott hat die Welt wohl gemacht, wie sie sein soll, und wir können wohl nicht was Besseres klexen, unser einziges Bestreben soll sein, ihm ein wenig nachzuschaffen ... Da wollte man idealistische Gestalten, aber alles, was ich davon gesehen, sind Holzpuppen. Dieser Idealismus ist die schmählichste Verachtung der menschlichen Natur. Man versuche es einmal und senke sich in das Leben des Geringsten und gebe es wieder in den Zuckungen, den Andeutungen, dem ganzen feinen, kaum bemerkten Mienenspiel ... es darf einem keiner zu gering, keiner zu häßlich sein, erst dann kann man die Menschen verstehen.« In diesen Sätzen steckt Büchners eigene Kunsttheorie. Er war in einer Welt des plattierten Lesebuchidealismus und des papiernen Zeitungsrealismus ein Naturalist von jener unsterblichen und unwiderleglichen Spezies, der Goethe ebensogut angehört wie Gorkij und Homer so gut wie Hamsun. Man hat ihn als einen Nachzügler der Sturm-und-Drang-Dichtung angesprochen; aber ebensowohl kann man sagen, daß er bereits den ganzen Wedekind und den ganzen Expressionismus vorweggenommen und überholt hat. Es gibt in deutscher Sprache kein grandioseres Volksstück als den »Woyzek« und im Umkreis der nachklassizistischen Dramatik keine blutvollere Historie als »Dantons Tod«.
Ein Menschenalter lang genoß Nestroy in seiner Vaterstadt durch die hinreißende Komik seiner endlosen schlenkernden Gliedmaßen und blechern schnarrenden Zungenvoltigen, durch seine schlagenden geistesgegenwärtigen Extempores und zähen drolligen Kämpfe mit der Zensur und schließlich auch durch eine lange Reihe glücklich zusammengestellter Gelegenheitspossen eine große und ununterbrochene Popularität. Dies war die eine Hälfte Johann Nestroys, seine äußere Hülle, die von der Welt, und zumal der wienerischen, so oft und gern für den ganzen Menschen genommen zu werden pflegt. Daneben aber gab es noch einen zweiten Nestroy, einen sokratischen Dialektiker und kantischen Analytiker, eine shakespearisch ringende Seele, die mit einer wahrhaft kosmischen Phantasie das Maßsystem aller menschlichen Dinge verzerrte, um diese eben dadurch erst in ihren wahren Dimensionen aufleuchten zu lassen. Dieser schöpferische Ironiker in Nestroy war, seinen Zeitgenossen völlig unbekannt, zu einem posthumen Leben verurteilt, ja, er führt sogar noch bis zum heutigen Tage für die meisten ein anonymes Dasein. Daß dem so ist, kommt zunächst daher, daß der souveräne und radikale Skeptiker auf dieser Welt immer einen schweren Stand hat: die Menschen, die sich ihre handlichen kompakten Zusammenhänge von gestern nicht auflösen lassen wollen, empfinden ihn instinktiv als ihren Feind und vergessen nur zu gern, daß die geistige Gesundheit, die Entwicklungsfähigkeit und fortschreitende Kraft jeder Epoche von der Menge geistigen Dynamits abhängt, die ihr zur Verfügung steht. Dazu kommt aber noch als besonderer Grund, daß Nestroy in einer Stadt wirkte, die von jeher eine unglaubliche Virtuosität darin besessen hat, sich ihrer Erzieher zu entledigen und jedermann, der ihr durch Wahrheitsliebe unbequem wurde, zum Jongleur und Bajazzo zu degradieren.
Und doch muß man andrerseits sagen, daß wohl nur in Wien ein solcher Genius entstehen konnte, dessen Grundwesen sich nicht anders als barock nennen läßt. Wien, das in den Tagen der Barockzeit seinen kulturellen und künstlerischen Höhepunkt erklommen hat, ist im Grunde bis zum heutigen Tage in seinen eigenartigsten und sichtbarsten, reichsten und feinsten Lebensäußerungen eine Barockstadt geblieben. Und Nestroy ist der größte, ja einzige Philosoph, den sie hervorgebracht hat. Daß dies noch immer von vielen nicht eingesehen wird, liegt an der verbreiteten irrtümlichen Meinung, daß ein Philosoph ein sogenannter ernster Mensch sein müsse. Man könnte aber gerade im Gegenteil sagen, daß der Philosoph erst dort anfängt, wo der Mensch damit aufhört, sich und das Leben seriös zu nehmen.
Nestroy war ein Philosoph auch darin, daß er kein System besaß. Deshalb hat er auch niemals ein politisches Programm gehabt und galt gleichermaßen den Konservativen als bedenklicher Umstürzler wie den Liberalen als finsterer Reaktionär. Von rechts und links angefeindet zu werden, ist aber immer das Los aller echten Komödientemperamente, die die Dinge gar nicht anders als von oben betrachten können, von einem erhöhten Standpunkt olympischer Heiterkeit, vor dem rechts und links nur zwei Hälften und meistens zwei recht lächerliche Hälften desselben menschlichen Grundwesens sind. Nestroys Witterung für alles Komplizierte, Widerspruchsvolle, Vieldeutige, sich Kreuzende und Aufhebende in der menschlichen Natur, seine Gabe, gerade die halben, gemischten, gebrochenen Seelenfarben auf seine Palette zu bringen, macht ihn zum Erben und Fortsetzer Lawrence Sternes und stellt seine Bühnenpsychologie neben die moderne Chromatik eines Wilde und Shaw. Und auch darin erinnert er an die beiden Iren, daß er ganz skrupellos gerade die ordinären Sorten der Bühnenliteratur: das Familienmelodram, den Schwank und die Posse bevorzugte, aber zugleich im höchsten Maße veredelte, indem er ihnen seinen reifen, funkelnden, facettenreichen Geist einpflanzte. Er nahm eben nichts ernst, auch sein eigenes Handwerk nicht: obgleich er natürlich das Hohle und Leere aller Theatermache vollkommen durchschaute, arbeitete er doch ganz unbefangen mit den längst hergebrachten Requisiten und uralten Versatzstücken, denen die Lustspielschreiber seit Menander und Plautus Publikumsgelächter zu entlocken pflegen; auch hat er ebenso unerschrocken gestohlen wie Shakespeare, Molière oder Sheridan. An Shaw gemahnt er übrigens auch darin, daß er ein Auflöser der Romantik war, ein unerbittlicher Unterminierer alles Pathos und Zerreißer lebenverfälschender Illusionen. Sein »Lumpazivagabundus« ist die dramatische Vernichtung der romantischen Form, seine späteren Werke zerstören die romantischen Inhalte: eine lebensgefährlichere Parodie auf den Byronismus als der »Zerrissene« ist nie geschrieben worden. Aber es war eine seltsame Tragikomödie im Leben Nestroys, daß seine Generation den großen Zeitkritiker und Gesellschaftssatiriker, den sie so dringend nötig hatte, in ihm nicht erkannte. »Soziale Lustspiele sind ein wahrer Schatz für die Bühne«, sagte Laube und beklagte, daß die deutsche Produktion auf diesem Gebiete so viel ärmer sei als die französische, ohne zu bemerken, daß dicht neben ihm ein Dichter lebte, der alljährlich mit der größten Mühelosigkeit soziale Lustspiele produzierte, die die zeitgenössischen französischen ebenso weit hinter sich ließen wie ein lavaspeiender Krater ein Brillantfeuerwerk.
Und über das alles hinaus hat Nestroy in seinen Lustspielen die ganze Luft seiner Stadt und Zeit eingefangen, einer Zeit, die in ihrer eigenartigen Poesie so nie wiederkehren wird: und damit hat er die höchste Aufgabe des Komödienschreibers erfüllt. In dieser Welt gibt es keine Berufe. Die meisten Menschen sind Rentner oder, wie man damals in Wien sagte, Partiküliers. Die Professionisten arbeiten nicht, dies ist sogar ihre »faculté maîtresse«. Die Tätigkeit der Ingenieure besteht darin, daß sie in ihr Mündel verliebt sind, die Baumeister haben noch nie einen Grundriß gesehen, Knieriem ist ein theosophischer Schuster wie Jakob Boehme, dem er an »dummer Tiefe« kaum nachsteht, und der Schneider Zwirn ist die Spielart des analphabetischen Snobs, die Thackeray vergessen hatte. Geld ist Trinkgeld, und die soziale Frage wird durch Haupttreffer, Mitgiften und Erbschaften gelöst. Der König dieses Reiches aber ist der stets vorhandene Hausknecht, ein Herkules der Faulheit, mit einem ehernen Willen zum weintrinkenden Nichtstun gepanzert, aus dem er eine allumfassende Weltanschauung gemacht hat.
Ein Vierteljahr nach dem Tode des Dichters aber schrieb der Literarhistoriker Emil Kuh, daß eine Zeile Halms Nestroy »ästhetisch unsichtbar mache«. Durch solche »Fachurteile« irregeleitet, hat sich der Blick des Publikums jahrzehntelang nur an die rohen Formen gehalten, die Nestroy als täuschende Emballage benützte, um eine ganz verbotene Ware, nämlich Philosophie, aufs Theater zu bringen, wie ja auch einem ungeübten Auge die Mimikry des amerikanischen Blattschmetterlings nicht sichtbar ist. Aber darin, in dieser Ununterscheidbarkeit, beruht ja gerade der praktische Wert der Mimikry. Nestroys Mimikry an die Lokalposse war sein Mittel im Kampf ums Dasein, durch das er erreichte, daß seine Stücke aufgeführt, beklatscht und belobt wurden. Es wäre aber an der Zeit, heute, wo es dem Theatergeschäft Nestroys nicht mehr schaden kann, endlich zu erkennen, daß man es mit einem springlebendigen Blattschmetterling zu tun hat und nicht mit einem toten Blatt.
Nestroy hatte einen Zeitgenossen, der den Typus des Dichters in seiner höchsten Reinheit verkörperte (und es ist sonderbar zu denken, daß er sein Zeitgenosse war): Hans Christian Andersen. Das große Publikum nimmt zu Andersen etwa dieselbe Stellung ein wie jener Leutnant aus den »Fliegenden Blättern«, der behauptete, Julius Cäsar könne unmöglich ein großer Mann gewesen sein, denn er habe ja bloß für untere Lateinklassen geschrieben. Weil nämlich Andersen ein so großer Dichter war, daß er sogar von Kindern« verstanden wird, glauben die Erwachsenen, er sei für sie nicht gescheit genug. Aber der echte Dichter ist ein König Midas: was er berührt, wird zu Gold; ein wenig gehören zu ihm aber auch die Eselsohren, die kindliche Einfalt.
Und außerdem haben Andersens Dichtungen einen doppelten Boden. Äußerlich betrachtet, scheinen sie nichts zu sein als einfache Märchen, und man kann sie so lesen, wie dies ja auch von den Kindern tatsächlich geschieht. Aber man muß sie nicht so lesen: denn ihrem innersten Wesen nach sind sie Satiren, die die Form des Märchens gewählt haben. Andersen gibt sich zwar als ein Erzähler, der zu Kindern spricht; aber dieser Standpunkt ist nur ein angenommener: er ist nicht die Naivität als Zustand, sondern als Rolle, und man könnte diese Kunstform daher als eine ironische bezeichnen in dem Sinne, den schon Sokrates diesem Wort gegeben hat. Nur dem Naturmenschen und dem Genie ist es gegeben, den Eindruck der Einfachheit zu erwecken, aber darum darf man die beiden nicht miteinander verwechseln, sie bilden vielmehr die äußersten Gegenpole menschlicher Ausdrucksfähigkeit. Und gerade durch seine Schlichtheit und künstlerische Sachlichkeit, die ihn völlig in den dargestellten Gegenständen verschwinden läßt, wird Andersen zum tiefsten und wirksamsten Satiriker. Im Grunde ist ja eigentlich jeder Dichter ein Satiriker. Der Dichter blickt mit vorurteilslosen und scharfsichtigen Augen in die Welt, und dabei entdeckt er natürlich eine Menge von Dingen, die ihm wesentlich, aber nicht genügend beobachtet erscheinen oder die ihm falsch beobachtet erscheinen oder die ihm überhaupt falsch erscheinen. Und es erwacht in ihm das Bedürfnis, diese Übelstände dadurch zu bessern, daß er sie möglichst deutlich ins Licht rückt. Das beste Mittel hierzu ist und bleibt immer die Satire. Tiefer sittlicher Ernst, reformatorisches Wohlwollen und die Gabe, richtig zu sehen, sind die Wurzeln der echten, der lebenfördernden, der dichterischen Satire.
Das Grundthema Andersens ist der ewige Kampf des Genies gegen das Philistertum, gegen den geistlosen Materialismus, die satte Selbstzufriedenheit, die unduldsame Borniertheit, den trägen Gewohnheitssinn des Durchschnittsmenschen. Alle Färbungen menschlicher Beschränktheit, Verlogenheit und Ichsucht spiegeln sich in diesen Geschichten. Nur, daß sie zumeist nicht an Menschen gezeigt werden, sondern an Tieren, Pflanzen, Haushaltungsgegenständen, etwa nach der Art der Fabel. Aber gleichwohl wird kein Mensch auf den Gedanken kommen, diese Dichtungen Fabeln zu nennen, denn die Fabel ist etwas rein Verstandesmäßiges: wenn der Fabelerzähler von der Dummheit der Gans, der Einbildung des Pfaus, der Feigheit des Hasen spricht, scheint er uns immer mit einem Auge verschmitzt zuzublinzeln: an wen erinnert euch das wohl? Es wird stets allzu durchsichtig, daß alles nur allegorisch gemeint ist. Bei Andersen hingegen vergißt man vollständig, daß es sich um Erscheinungen handelt, auf die die menschlichen Gedanken und Gefühle nur übertragen wurden. Der Fuchs der Fabel ist schließlich nichts als die Idee der Verschlagenheit, er ist kein bestimmter, individueller Fuchs, ja eigentlich überhaupt gar kein Fuchs. Die Wesen Andersens aber sind keine personifizierten Tugenden oder Untugenden, sondern lebendige Originale. Wir sind fest überzeugt von der Blasiertheit der Gurke, dem Größenwahn des Wetterhahns, der Protzigkeit des Geldschweins, der Renommiersucht des Halskragens, der Eitelkeit der Schreibfeder, der Prüderie des Strumpfbands: alle diese Phantasiegeschöpfe verdichten sich zu Wirklichkeiten, werden zu persönlichen guten Bekannten.
Eine der Haupteigenschaften des Philisters besteht darin, daß er sich für den Mittelpunkt der Welt hält und seine Aufgaben für die allerwichtigsten, ja im Grunde für die alleinwichtigen; er beurteilt den Wert seiner Mitgeschöpfe nur nach dem Grade, wie sie ihm ähnlich sind, und nimmt an, daß alles, was anders ist als er, schon dadurch minderwertig sei: die Fachsimpelei ist daher ein häufig wiederkehrendes Motiv bei Andersen. Dazu tritt ein zweiter, verwandter Zug, der Berufsdünkel: die meisten Wesen Andersens sind echte Bürokraten, die von der Ansicht ausgehen, daß sie nicht ihrer Berufe wegen da seien, sondern diese ihretwegen. Die Schneckenfamilie ist fest davon überzeugt, daß der Klettenwald nur dazu auf der Welt sei, um sie zu ernähren, und der Regen, um für sie etwas Trommelmusik zu machen, und seit keine von ihnen mehr gekocht und gegessen wird, erscheint es ihnen als ganz ausgemacht, daß die Menschheit ausgestorben sein müsse. Der Kater erklärt, daß ein Wesen, das nicht einen Buckel machen und Funken sprühen könne, völlig unberechtigt sei, eine Meinung zu äußern, und der Mistkäfer hat beim Anblick der Tropen nur den einzigen Gedanken: das ist eine unvergleichliche Pflanzenpracht, die wird schmecken, wenn sie fault! Im philiströsen Charakter liegt es aber ferner auch, daß keiner mit dem Platz zufrieden ist, den ihm die Vorsehung angewiesen hat, daß jeder über seine natürliche Bestimmung hinaus will und sich einbildet, mehr zu sein, als er ist. Die Stopfnadel hält sich von vornherein für eine Nähnadel und später sogar für eine Busennadel; das Plätteisen glaubt ein Dampfkessel zu sein, der auf die Eisenbahn soll, um Wagen zu ziehen; der Schiebkarren erklärt, er sei eine »Viertelkutsche«, weil er auf einem Rad läuft; das Schaukelpferd spricht von nichts als von Training und Vollblut. Jeder hat seine besondere Lebenslüge, alle wollen sie über ihre Verhältnisse leben, sich patzig machen, einander Sand in die Augen streuen.
Von diesen Typenschilderungen, die in ihrer Gesamtheit den breiten Querschnitt des ganzen Alltagslebens darstellen, schreitet nun aber Andersen zu noch höheren Satiren empor, die oft eine ganze Philosophie der menschlichen Natur in nuce enthalten. Ist zum Beispiel die Lage des Kobolds in dem Märchen »Der Kobold und der Krämer« nicht die Lage aller Menschen, schwanken wir nicht alle zwischen der Liebe zum Haferbrei mit guter Butter darin und der Liebe zur Poesie, die man nicht essen kann? Oder enthält die Geschichte von »des Kaisers neuen Kleidern« nicht eine ganze Soziologie? Alle behaupten, die Gewänder des Kaisers zu sehen, obgleich er gar nichts an hat, denn es heißt, wer sie nicht sehe, müsse entweder ganz dumm oder für sein Amt untauglich sein. Und die Erzählung vom häßlichen jungen Entlein schildert im Grunde nichts andres als das Schicksal und den Entwicklungsgang des Genies. Das Genie zeichnet sich vor allen Wesen gerade durch seine Bescheidenheit aus: weil es anders ist als die übrigen, hält es sich für weniger, für besonders minderwertig, und die andern wiederum verhöhnen es, feinden es an und setzen es zurück: »Es ist zu groß und ungewöhnlich«, sagen alle Enten, »und deshalb muß es gepufft werden.« Bis sich schließlich herausstellt, daß es keine der landläufigen Ententugenden und Entenschönheiten besitzt, weil es ein Schwan ist. Fast alle Märchen Andersens ließen eine lange Ausdeutung zu, man könnte über sie ebenso dicke Bücher verfassen, wie sie in einem seiner Märchen von den chinesischen Gelehrten über die Nachtigall geschrieben werden, und man würde damit ein ungefähr ebenso nützliches Werk verrichten. Denn Andersens Dichtungen vertragen im Grunde gar keine »Erklärungen«. Was ihnen einen so hohen Reiz verleiht, ist ja eben das scheinbar völlig Unreflektierte der Schilderung, die Eindrücke neben Eindrücke reiht, und die verstehende Liebe, die nur darstellen will.
Durch sie vermag Andersen alles zu lesen. Es ist, als ob er den Zauberstein aus Maeterlincks »Blauem Vogel« besäße: er braucht ihn nur zu drehen, um den Dingen sogleich ihre Seele zu entlocken; und nun tritt sie heraus, die Seele der Katze, die Seele des Hundes, die Seele der toten Dinge sogar: der Milch, des Brotes, des Zuckers. Und alles wird schöner und prächtiger: die Stunden verlassen die Uhr und werden zu leuchtenden Jungfrauen, die einander die Hände reichen. Es gibt nichts Seelenloses und nichts Lebloses. Die ganze Welt ist voll von Gedanken und Empfindungen: man muß sie nur zu lesen wissen. Und der Dichter liest sie. Er liest die zarten und liebevollen Gedanken der Nachtigall, die falschen und feindseligen Gedanken der Katze, die sanften und bescheidenen Gedanken der Rose, die edeln Gedanken des Hundes, die hoffärtigen Gedanken des Mohns, die neidischen Gedanken des Maulwurfs; aber auch der Brummkreisel, das Tintenfaß, die Kleiderbürste, die Stutzuhr, die Teetassen: sie alle haben allerlei Empfindungen, die man entziffern kann.
Und wie der kleine Tyltyl braucht der Dichter nur an seinem Stein zu drehen, und er befindet sich im Reich der Vergangenheit bei den Toten; aber sie sind nicht mehr tot: sie sitzen vergnügt vor der Haustür und plaudern. Und er steigt in das Reich der Zukunft zu den noch ungeborenen Seelen, und sie werden lebendig und geben ihm Antwort. Was er aber überall sucht, das ist der blaue Vogel: denn wer den besitzt, dem erschließt sich das letzte Geheimnis der Dinge. Und das ist allerdings das einzige, was Andersen ebensowenig gefunden hat wie Tyltyl oder einer der Dichter vor ihm und nach ihm. Nach diesem Vogel sucht der Dichter immerfort, nur seinetwegen durchwandert er alle Reiche des Werdens, rührt er an die Seele aller Dinge. Er wird ihn freilich niemals besitzen. Aber das ist vielleicht sehr gut: denn sonst würde er ja nichts mehr suchen.