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Daß allein eine Welt-Interpretation im Rechte sei, die Zählen, Rechnen, Wägen, Sehen und Greifen und nichts weiter zuläßt, das ist eine Plumpheit und Naivität, gesetzt daß es keine Geisteskrankheit, kein Idiotismus ist.
Fröhliche Wissenschaft
Alles Denken ist Wiederholung; aber in zunehmender Verdichtung. Alle höheren Bewußtseinsstufen sind Reproduktionen früherer Vorstellungsreihen in einer wesentlich gedrängteren, kristallisierteren Form. Konzentration ist das Merkmal steigender Kulturentwicklung: wenn es einen geistigen Fortschritt gibt, so ist er hier zu suchen. Aber dieser Übergang in einen immer festeren Aggregatzustand bedeutet stets auch eine qualitative Veränderung; und darum kann man ebensogut sagen: Denken ist niemals Wiederholung. Wie Eis zwar in seinen Bestandteilen dasselbe ist wie Wasser und doch eine Erscheinung von ganz anderem Charakter, so bedeutet auch dieser Prozeß der Gedankenkondensation eine Verwandlung: eine stärkere Formung und Klärung des Geisteslebens, aber zugleich dessen Erstarrung, Vereisung und Vergreisung.
Eine Steigerung im Tempo dieser Rekapitulationsprozesse ist in der Geschichte der letzten hundert Jahre deutlich zu verfolgen. In der Restaurationsperiode hat der europäische Mensch den Versuch gemacht, gewisse Gedankenketten, Kunstformen, Lebensgefühle des Mittelalters zu erneuern; in der Zeit zwischen 1848 und 1870, von der unser Kapitel handelt, hat er das gesamte Pensum der Aufklärung in kompendiösem Lehrgange noch einmal aufgearbeitet, unter dem Namen des Positivismus; nach dem Kriege mit Frankreich etablierte sich in Deutschland eine Zeitlang eine Art Neoklassizismus, während die literarische Bewegung, die in Berlin gegen Ende der achtziger Jahre emporkam, in Programm und Praxis sehr deutlich an den Sturm und Drang erinnerte, der ja ein ausgesprochener Frühnaturalismus war, und die gleichzeitige Malerei an den Frühimpressionismus des Rokokos anknüpfte. Ja, in der allerjüngsten Zeit ist die Entwicklung der ersten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts in noch rapiderem Zeitmaß abermals repetiert worden: während des Fin de siècle herrschten allenthalben neuromantische Strömungen, während des ersten Jahrzehnts unseres Jahrhunderts wurde auf das Biedermeier zurückgegriffen und während des zweiten Jahrzehnts haben die Expressionisten und Aktivisten fast alle Positionen des jungen Deutschland wiederholt. Man braucht jedoch nur einen Einakter von Maeterlinck mit einem romantischen Schicksalsdrama oder ein Tendenzstück der Nachkriegszeit mit einem Schauspiel von Gutzkow zu vergleichen, um sofort zu erkennen, daß der Fortschritt in der Konzentration sehr beträchtlich ist.
Was die politische Geschichte anlangt, so hat Hegel den Satz aufgestellt, daß sich jede bedeutsame historische Konstellation zweimal ereignet, und hierin hat sich dieser große Geschichtsdenker nicht bloß als »rückwärtsgekehrter Prophet« erwiesen; denn die beiden Jahrzehnte, die auf die Mitte des Jahrhunderts folgten, bestätigten diese Behauptung in ganz auffallendem Maße. Frankreich hat sich in diesem Zeitraum zweimal die republikanische Regierungsform gegeben: in der Februarrevolution mit vorübergehender, nach Sedan mit dauernder Wirkung. Das italienische Volk hat sich zweimal gegen die österreichische Fremdherrschaft erhoben: 1848 vergeblich, 1859 mit Erfolg. Der Versuch, die deutschen Herzogtümer Schleswig und Holstein von Dänemark loszureißen, wurde zweimal gemacht: er mißlang 1849 und gelang 1864. Der latente Konflikt zwischen den beiden deutschen Vormächten wurde zweimal akut: er führte im Jahr 1850 zur Kriegsgefahr und zur diplomatischen Niederlage Preußens, im Jahr 1866 zum Krieg und zur militärischen Niederlage Österreichs. Die deutsche Kaiserkrone befand sich zweimal in den Händen des Königs von Preußen: 1849 lehnte er sie ab, 1871 nahm er sie an. Wie bei einem Refrainlied taucht dieselbe Melodie immer zweimal auf; aber erst bei der Wiederholung schlägt sie ein.
Das Signal zu der großen Konflagration, die 1818 den größten Teil Europas ergriff, gab, wie fast immer, Frankreich. Die unmittelbare Ursache der Pariser Februarrevolution war die Kampagne gegen den leitenden Minister Guizot, der, in seiner Politik ebenso kahl doktrinär wie in seinen hochgelehrten Geschichtswerken, die stürmisch geforderte Wahlreform hartnäckig ablehnte. Die inneren Gründe hat Lorenz von Stein im dritten Bande seiner »Geschichte der sozialen Bewegung in Frankreich« mit bewunderungswürdigem Tiefblick klargelegt. Er sagt dort: »Die ausgebildete herrschende Klasse der Gesellschaft muß die Staatsgewalt sich aneignen. Sie muß dies nicht, weil sie es für nützlich und klug hält; nicht weil sie es will; nicht weil es ihr leicht wird; sondern sie muß es, weil es ihre unabänderliche Natur ist... Wo es daher eine wirklich herrschende Gesellschaftsklasse gibt und dennoch die Staatsgewalt sich ihr entzieht, da wird und muß ein Kampf zwischen beiden entstehen.« Das Königtum hatte nur die Wahl, einfach nachzugeben oder die besitzende Klasse zu vernichten; das erstere wollte es nicht, das letztere konnte es nicht. »Aber«, fährt Stein fort, »war das Königtum nicht sicher vor der besitzenden Klasse, sicher vor der politischen Revolution durch die Furcht vor der sozialen?«, und er antwortet sehr weise: »Es ist falsch, zu glauben, daß irgendein Lebendiges das unterlasse, was seine Natur unabweisbar fordert, aus Furcht vor den Folgen, die das Geschehene selbst für seine Existenz haben könnte.« Mit diesen Worten hat Stein den fast unlösbaren Knoten aller sogenannten »inneren Politik« aufgedeckt. In der Tat herrscht in jedem Staatswesen immer nur eine einzige Klasse, und das heißt: sie herrscht widerrechtlich. Sie ahnt dies dunkel, sie weiß es sogar in ihren befähigteren Köpfen mit voller Klarheit, sie sucht es durch geistreiche Dialektik oder feurige Deklamation zu rechtfertigen, durch glänzende Taten und Tugenden, private Lauterkeit, milde Praxis abzuschwächen, ja sie leidet nicht selten darunter; aber sie kann nicht anders. Sie fühlt, daß es ihren Untergang bedeutet, denn in jedem Unrecht schlummert der Keim zum Untergang, wenn auch oft jahrhundertelang; aber es ist stärker als sie. Diese tief im menschlichen Wesen verwurzelte Herzensträgheit und Geistesfeigheit, die sich ihre eigene Untat nie einzugestehen wagt, ist die geheime Krankheit jeder Gesellschaft und wird jeder zum Verderben. An ihr ist die philanthropische Aristokratie des feudalen Frankreich ebenso zugrunde gegangen wie die menschenverbrüdernde Demokratie des revolutionären Frankreich; sie ist der gemeinsame Abgrund, welcher Liberalismus und Klerikalismus, Plutokratie und Diktatur des Proletariats verschlingen wird. Die Erlösung aller vom Fluch des Unrechts ist nur möglich in einem christlichen Staat; den es aber noch niemals gegeben hat.
Stein schließt mit den Worten: »Und da, mit einem Male, in einer einzigen Nacht, ohne große Anstrengung, ohne Vorbereitung, ja wunderbar! zum Teil ohne Bewußtsein der Kämpfenden selber von dem Ausgang ihres Kampfes, bricht es los; Paris wallt auf und das Werk von achtzehn Jahren, das schönste Gebäude menschlicher Klugheit, ist wie vom Sturmwinde ergriffen und weggeblasen ... Wenn die Ereignisse ihre Bedeutung bekommen durch das Maß, in welchem sie klar und entschieden die großen Gesetze des menschlichen Lebens bestätigen, so ist die Februarrevolution das bedeutendste Ereignis der ganzen neueren Geschichte Europas.« Der Bürgerkönig hatte sehr unrecht gehandelt, als er sich dem Machtbegehren des dritten Standes widersetzte, der der erste geworden war, und zugleich sehr recht: denn ein Königtum, das auf sein naturgewolltes Wesen verzichtet, ist unwürdiger als eines, das der Elementarkraft der Tatsachen unterliegt.
Der dreitägige Straßenkampf war eigentlich schon entschieden, ehe er begann, denn es gab nirgends eine königliche Partei, auch nicht im Heere. Louis Philipp floh nach England und abdizierte, ganz wie sein Vorgänger, zugunsten seines Enkels, und seine Bestimmung wurde ebensowenig beachtet. Der Königsthron wurde auf dem Bastilleplatz verbrannt und die Nationalversammlung proklamierte die Republik. Der Held des Tages war drei Monate lang der Dichter Lamartine, der sich schon vorher als Führer der Opposition gegen Guizot und Autor der höchst tendenziösen, aber packenden und kühnen, im besten Sinne romanhaften »Histoire des Girondins« sehr populär gemacht hatte und nun als Minister des Auswärtigen, brillanter Redner und Verfasser zündender Proklamationen zu höchstem Ansehen gelangte. Die Präsidentschaft, die man ihm anbot, lehnte er aus republikanischer Ideologie ab und verzichtete damit auf eine Karriere, die in Glanz und Sturz der des dritten Napoleon vielleicht nicht unähnlich gewesen wäre. Der Versuch, einen Poeten an die Spitze Europas zu stellen, wäre vermutlich fatal ausgegangen, aber als psychologisches Experiment höchst interessant gewesen.
Die Befürchtung, daß die politische Revolution sich in eine soziale verwandeln könne, bestätigte sich binnen kurzer Zeit. Der geistige Führer des vierten Standes war Louis Blanc. Er hatte in seiner »Histoire de dix ans« das erste Jahrzehnt der Regierung Louis Philipps mit einprägsamer Plastik und dolchscharfer Polemik abgeschildert und in seiner »Organisation du travail« sein nationalökonomisches Programm zur Darstellung gebracht. Seine Hauptforderung waren staatlich unterstützte Arbeiterproduktivgenossenschaften. Er war, wie wir schon erwähnten, einer der erbittertsten Gegner des Manchestertums: die freie Konkurrenz ist nach seiner Ansicht die Ursache aller sozialen Mißstände: des Arbeiterelends, der Handelskrisen, der Kriege; man müsse daher zum Gegenteil greifen: zur Assoziation. Die von ihm vorgeschlagenen »sozialen Werkstätten« sind spezialisiert: sie vereinigen immer nur Arbeiter derselben Profession. Das notwendige Kapital hat die Regierung zu liefern. Der Lohn ist für alle gleich. Die Ernennung der Arbeitsleiter geschieht durch Wahl. Die jährlichen Überschüsse werden auf Lohnzuschläge, Altersversorgung und Erweiterung der Betriebe verwendet. Kurz: der Staat hat, wie Blanc sich sehr präzis ausdrückt, »der Bankier der Armen« zu sein. Dieses Projekt wurde in Paris nach der Revolution von der »provisorischen Regierung« aufgenommen. Man errichtete »ateliers nionaux«, in denen jedem Bürger Lohn und Arbeit geboten wurden. Sie wurden von allen Arten Erwerbsuchender überflutet; aber es stellte sich heraus, daß der Staat ihnen keinen genügenden Lohn, noch viel weniger aber genügende Arbeit bieten konnte. Schließlich beschäftigte man sie, um sie nicht ganz untätig zu lassen, mit völlig überflüssigen Erdgrabungen. Die Idee der Nationalwerkstätten hatte ein klägliches Fiasko gemacht, auf das seitdem alle bürgerlichen Wirtschaftstheoretiker mit triumphierendem Hohn verwiesen. Es muß jedoch gesagt werden, daß das Experiment keineswegs dem entsprach, was Blanc sich vorgestellt hatte. Es bediente sich nicht qualifizierter Arbeiter, sondern zusammengelaufener Arbeitsloser und war überhaupt keine Organisation nach wohldurchdachten Assoziationsprinzipien, sondern bloß ein verzweifeltes Mittel der Regierung, das Proletariat von der Revolution abzulenken, das jedoch ebenfalls versagte, denn nach wenigen Monaten erhoben sich die Arbeiter zur »Juniinsurrektion«, die General Cavaignac, von der Nationalversammlung mit diktatorischer Vollmacht betraut, blutig niederwarf: durch die Regierungstruppen wurden fast zehntausend Menschen getötet. Es ist beachtenswert, daß die liberale Bourgeoisie überall dort, wo sie zu wirklicher Macht gelangt ist (und das war eigentlich nur in England und Frankreich der Fall), gegen revolutionäre Bewegungen mit einer Brutalität vorgegangen ist, die der reaktionäre Absolutismus selten erreicht, nie übertroffen hat. Vom Standpunkt der historischen Notwendigkeit war aber der Sieg des Bürgertums über den vierten Stand ebenso legitim wie der über den König.
Warum aber hat die Revolution von 1848 in Deutschland und Österreich einen ganz anderen Verlauf genommen als in Frankreich? Bildet dieser nicht eine »negative Instanz« gegen Lorenz von Steins vortreffliche Darlegungen? Die Antwort lautet: nein; denn auf deutschem Boden hat das Königtum nicht deshalb gesiegt, weil es das Königtum war, sondern weil es kein Bürgertum gab, von dem es hätte besiegt werden können. Und hier sehen wir wieder einmal, daß es immer und überall der Geist ist, der den Ausschlag gibt, niemals die materielle Macht. Auch in Frankreich war der Monarch im Besitz der Armee, der Polizeigewalt, des Verwaltungsapparats; aber im Besitz des Geistes war die Bourgeoisie. Man mag diesen Zeitgeist noch so niedrig einschätzen, banal, merkantil, plebejisch, ungeistig finden: er war eben doch der Geist, der einzige, der zur Zeit vorhanden war. Diesen Zeitgeist besaßen die deutschen Professoren, Lyriker und Wanderredner nicht, und darum konnten sie keine Revolution machen.
Gleichwohl ist das Jahr 1848 für das gesamte europäische Verfassungsleben das wichtigste des Jahrhunderts. Wir sagten im ersten Kapitel, daß nach dem Wiener Kongreß das kontinentale Staatensystem nicht mehr, wie bisher, in zwei außenpolitische Fronten zerfiel, sondern, durch die Heilige Allianz geeint, in zwei innerpolitische: Regierung und Volk. Nun erhob sich mit einem Schlage die Generalfront des Volks: in fast allen Ländern, nur nicht in England, weil sie dort schon mit der Regierung verschmolzen war, und in Rußland, weil sie dort erst unterirdisch bestand. Und obgleich die alte Herrschaft allenthalben wiederhergestellt wurde, war sie doch vernichtet; denn seit 1848 ist der Absolutismus zwar eine äußere Möglichkeit geblieben, aber eine innere Unmöglichkeit geworden.
Der entscheidende Monat war, wie jedermann weiß, der März. Den Beginn machte Wien mit der Vertreibung Metternichs und der Errichtung einer Bürgerwehr. Wenige Tage später erhoben sich in Berlin die Barrikaden. Nach unentschiedenen Straßenkämpfen wurden die Truppen aus der Stadt gezogen; auf persönlichen Wunsch des Königs, der sich später äußerte: »wir lagen damals alle auf dem Bauch.« Ein preußisches Parlament, ein österreichischer Reichstag und eine deutsche Nationalversammlung wurden improvisiert. Die Hauptforderungen waren: Preßfreiheit, Koalitionsrecht, Schwurgerichte, Volksbewaffnung, neue Reichsverfassung, nämlich statt Staatenbund Bundesstaat, den sich die »kleindeutsche« Gruppe der Nationalversammlung unter Führung Preußens und Ausschluß Österreichs dachte, während die »großdeutsche« Fraktion keine Vormachtstellung Preußens und die Einbeziehung Österreichs wünschte. Zu dieser Versammlung, die in der Paulskirche zu Frankfurt am Main zusammentrat, zählten eine große Anzahl deutscher Kapazitäten: die Weltberühmtheiten Jakob Grimm und Ludwig Uhland, die Altteutschen Arndt und Jahn und die Jungdeutschen Laube und Ruge, die Historiker Droysen und Duncker und die Literarhistoriker Vilmar und Gervinus, die Dichter Wilhelm Jordan und Anastasius Grün, die Herausgeber der vortrefflichen »Quellenkunde der deutschen Geschichte« Dahlmann und Waitz, der Kunstphilosoph Vischer und der Altertumsforscher Welcker, der Wortführer des Neomaterialismus Karl Vogt und der Begründer des Altkatholizismus Ignaz Döllinger: lauter Männer, die von ihren Fächern sehr viel und von der Politik gar nichts verstanden. Friedrich Wilhelm der Vierte, zum Kaiser der Deutschen gewählt, erklärte, die Krone nur mit Zustimmung aller übrigen deutschen Fürsten annehmen zu können, was eine bloße Ausflucht war, denn er wollte sie gar nicht, weil sie, wie er sich ausdrückte, den »Ludergeruch der Revolution« an sich trug: die meisten größeren Potentaten des Deutschen Bundes verhielten sich denn auch ablehnend. Auch in München kam es zu Märzunruhen, die zur Folge hatten, daß Ludwig der Erste zugunsten seines Sohnes abdankte. Die eigentliche Ursache des dortigen »Verfassungskonflikts« war die Beziehung des Königs zu der Tänzerin Lola Montez, einer wunderschönen exzentrischen Halbkreolin, die infolge dieser Skandalaffäre nach Amerika auswandern mußte, wo sie sich und ihn auf die Bühne brachte. Der König, eine hochoriginelle und zweifellos künstlerisch veranlagte Persönlichkeit, hat die ganze Staatsaktion mit einer für die Münchener Abderiten sehr blamabeln Gleichgültigkeit hingenommen; am Tage seiner Abdankung schrieb er: »Bin vielleicht jetzt der Heiterste in München.«
Auf slawischem Boden erhoben sich die Polen im preußischen Posen und im österreichischen Krakau und die Tschechen in Prag, wohin Franz Palacky, der Landeshistoriograph Böhmens, der für sein Volk die Idee der Wenzelskrone vertrat, einen allslawischen Kongreß berief, an dem sich auch der russische Anarchist Michael Bakunin beteiligte: schon dort trat das Begehren nach einem selbständigen »Tschechien« im Norden und »Slowenien« im Süden auf; daneben wurde natürlich auch die volle Wiederherstellung Polens verlangt. Die Loslösung vom Habsburgerstaat, die die slawischen Völker ins Auge faßten, wurde in Ungarn zur Tatsache: der Reichstag sprach die Absetzung der Dynastie aus und Ludwig Kossuth wurde als Diktator an die Spitze der magyarischen Regierung gestellt. An demselben Tage wie in Berlin begann unter der Führung des Königreichs Sardinien der Aufstand in der Hauptstadt der Lombardei; der zweiundachtzigjährige Feldmarschall Graf Radetzky, der schon 1813 österreichischer Generalstabschef gewesen war, mußte sich hinter den Mincio zurückziehen, auch in Venedig konnte sich die österreichische Besatzung nicht halten und im Trentino erschienen italienische Freischaren.
Mit dem Herbst des Jahres begann aber eine rückläufige Bewegung. Fürst Windischgrätz eroberte an der Spitze der kaiserlichen Truppen Prag und Wien, das von den ungarischen Insurgenten nicht rechtzeitig unterstützt wurde. Der Sieg der Legitimität wurde durch die Erschießung zahlreicher Bürger entehrt, darunter Robert Blums, der als Mitglied des Frankfurter Parlaments unverletzlich war. Patriarchalischer vollzog sich die Besetzung Berlins, wo General Wrangel, später als »Papa Wrangel« sehr populär, ohne Widerstand einrückte und die Bürgerwehr entwaffnete. In Italien brach Radetzky aus seinem »Festungsviereck« hervor, besiegte Karl Albert von Sardinien, den seine Untertanen il re tentenna, König Zauderer, nannten, bei Custoza, Mortara und Novara und zwang ihn, zugunsten seines Sohnes Viktor Emanuel abzudanken. Gegen die ungarische Revolution gewährte der Zar mit einer in der internationalen Politik seltenen Uneigennützigkeit, deren wahrer Hintergrund sein pathologischer Haß gegen alle freiheitlichen Bewegungen war, seine Unterstützung: zwei russische Armeen rückten in Ungarn ein und zwangen das magyarische Hauptheer bei Vilagós zur Kapitulation. Der österreichische Befehlshaber Baron Haynau, genannt die Hyäne, zeichnete sich gegen die Besiegten, wie auch schon vorher in der Lombardei, durch besondere Roheit und Infamie aus, weswegen er bei einem späteren Aufenthalt in Brüssel und London von der Bevölkerung tätlich insultiert wurde. Inzwischen hatte Kaiser Ferdinand der Erste, von dem der Volkswitz sagte, daß er nicht zufällig am Tage des Heiligen Simplizius die Regierung angetreten habe, auf den Thron verzichtet, den sein Neffe Franz Josef der Erste bestieg, um ihn fast so lange innezuhaben, als er überhaupt noch bestand. Österreich wurde nach wie vor absolutistisch regiert, und die Bürokratie übte wieder ihre alte, gut österreichische Praxis, jene eigenartige Kreuzung aus Malice und Stupidität. Alle Briefe wurden von der Postbehörde gelesen, weshalb man sich allgemein einer Schlüsselsprache bediente, viele gänzlich unterschlagen; die Zensur war so heikel, daß sie im Burgtheater Stücke verbot, worin Heiraten zwischen Adeligen und Bürgerlichen vorkamen; der umstürzlerische Vollbart konnte noch immer auf die Wache führen, den Beamten war ausdrücklich bloß der Schnurr- und Backenbart erlaubt, auch dieser nur »mit Ausschluß der Übertreibung«.
In Preußen verlieh der König dem Lande aus eigener Machtvollkommenheit ohne Mitwirkung der Volksvertretung eine Verfassung, die deshalb die »oktroyierte« genannt wurde. Sie besagte, daß die gesetzgebende Gewalt gemeinschaftlich durch den König, der die verantwortlichen Minister ernennt, selbst aber unverantwortlich ist, und durch die beiden Kammern des Landtags auszuüben sei: das Herrenhaus, dessen Mitgliedschaft wiederum vom König bestimmt wird und erblich ist, und das Abgeordnetenhaus, das durch das Dreiklassenwahlsystem beschickt wird. Dieses bestand darin, daß die Urwähler Wahlmänner zu designieren hatten und diese erst die Abgeordneten; die Zahl der Wahlmänner war nach der Höhe der Besteuerung in drei Klassen abgestuft, was zur Folge hatte, daß die erste Klasse der Höchstbegüterten ebenso viele stellte wie die zweite des Mittelstands und die dritte der Minimaleinkommen. Dieses Wahlrecht, das in Preußen bis zur Errichtung der Republik bestanden hat, war also weder gleich noch direkt noch geheim.
In Deutschland wurde der Bundestag erneuert, den selbst ein so reaktionärer Politiker wie der Fürst Schwarzenberg, der Nachfolger Metternichs, einen »fadenscheinigen, zerrissenen Rock«, ein »schwerfälliges, abgenütztes, den gegenwärtigen Umständen in keiner Weise genügendes Zeug«, eine »gründlich erschütterte, sehr wacklige Boutique« nannte, die demnächst »schwächlich zusammenrumpeln« werde. Ein Verfassungskonflikt, der 1850 in Kurhessen ausbrach, schien diese Prophezeiung wahr zu machen. Der Landtag verweigerte die Steuern, deren Bezahlung alsbald im ganzen Lande eingestellt wurde. Als die Regierung hierauf den Kriegszustand über das Land verhängte, versagten die Beamten den Gehorsam und fast alle Offiziere nahmen ihre Entlassung. Der Bundestag erklärte, die Steuerverweigerung sei ungesetzlich, und beschloß Exekution. Dies aber war ein Eingriff in die Machtsphäre Preußens, denn Kurhessen lag zwischen dessen beiden getrennten Landeshälften. Da der Bruch unvermeidlich schien, schloß Kaiser Franz Josef zu Bregenz mit den Königen von Württemberg und Bayern eine Militärkonvention gegen Preußen; auch der Zar gab ihm bei einer Zusammenkunft in Warschau sehr beruhigende Zusicherungen. Der demonstrative Einmarsch der Preußen in Kurhessen wurde von den Bayern mit derselben Maßnahme beantwortet. Bei Bronnzell in der Nähe von Fulda kam es zu einem Vorpostengefecht, dem aber nur ein Schimmel zum Opfer fiel. Österreichische Truppen marschierten in Böhmen und Mähren auf, Preußen mobilisierte die gesamte Landwehr. Der Plan Radetzkys, den ihm, wie schon im italienischen Kriege, sein Generalquartiermeister Freiherr von Heß entworfen hatte, ging dahin, sich mit den Sachsen zu vereinigen und vor den Toren Berlins eine offensive Hauptschlacht zu wagen, die nicht aussichtslos gewesen wäre, da die preußische Streitmacht zwischen Mitteldeutschland und dem Norden geteilt war. Allerdings sagte der Kaiser Wilhelm, damals noch Prinz von Preußen, nach der Krise zu Beust, die Österreicher wären wohl nach Berlin gekommen, es sei aber zweifelhaft, ob sie glücklich wieder herausgefunden hätten. Schließlich führte die verzweifelte diplomatische Lage Preußens, das mit einem Krieg nach zwei, ja möglicherweise nach drei Fronten rechnen mußte, denn auch die Haltung Rußlands war sehr unsicher, zu einer friedlichen Lösung. Im Gasthof zur Krone in Olmütz kam jene denkwürdige Vereinbarung zustande, wonach Preußen sich bereit erklärte, seine Truppen aus Hessen zurückzuziehen, vollkommen abzurüsten und auf alle Pläne einer Neugestaltung Deutschlands zu verzichten. Von dem Programm Schwarzenbergs, »Preußen zuerst zu erniedrigen und dann zu vernichten«, war der erste Teil erfüllt. Nicht nur die habsburgische Vorherrschaft in Deutschland schien besiegelt, sondern, was noch schlimmer war, das Schiedsrichtertum des Zaren Nikolaus über ganz Mitteleuropa; denn er war es, der, wie er im Vorjahre den Sieg über die Revolution entschieden hatte, nun das Zurückweichen Preußens erzwang, und zwar wiederum aus Motiven der starrsten Reaktion: die Regelung der deutschen Frage interessierte ihn gar nicht, sondern nur der Umstand, daß Preußen, wenn auch nur aus persönlichen Prestigegründen, auf der Seite der Steuerverweigerer stand. »Unter seiner Regierung«, sagt Bismarck in seinen »Gedanken und Erinnerungen«, »haben wir als russische Vasallen gelebt.«
Kurz darauf aber ging die Hegemonie auf den Westen über, und zwar durch einen sehr geschickten Mann, der ganz unvermutet, obschon wohlvorbereitet, aus der Kulisse trat. Seine Wahl zum Präsidenten verdankte er der Angst der besitzenden Klassen vor sozialem Umsturz, die auf eine demokratische Militärdiktatur hindrängte, dem Klerus, zu dem er kluge Beziehungen unterhielt, und dem Napoleonkultus, der ihn über Cavaignac, seinen einzigen ernstlichen Rivalen, siegen ließ. Dies war die erste Etappe seiner Machtergreifung; die zweite und dritte erreichte er genau nach dem Modell seines Oheims. Bei seinem Staatsstreich vom 2.Dezember 1851 nahm er sich den 18.Brumaire zum Vorbild: er löste die Nationalversammlung auf, wie damals Napoleon der Erste den Rat der Fünfhundert, und machte sich auf zehn Jahre zum Präsidenten, wie jener sich auf zehn Jahre zum Ersten Konsul ernannt hatte. Ein Jahr später (abermals am 2.Dezember, dem Jahrestage der Krönung des ersten Napoleon und der Schlacht von Austerlitz, der übrigens auch der Tag der Thronbesteigung Franz Josefs war) erlangte er die Würde eines Kaisers der Franzosen, wobei er sich, wiederum ganz wie sein Vorgänger, auf die geschickt inszenierte Komödie eines »Plebiszits« stützte: das gesamte Volk, sagte seine Proklamation, solle als einziger Souverän durch Abstimmung über die Verfassumg entscheiden. Diese Souveränität des Volkes bestand im wesentlichen nur in dem Recht, sich eine absolute Regierung wählen zu dürfen. In Wahrheit war es die Allianz des Säbels mit dem Geldsack. Frankreich war »durch Gaunerei und Kartätschen gerettet«, wie Victor Hugo in einem schnaubenden Verdammungsgedicht höhnte. Die bürgerlichen Parteien erblickten, woraus sie durchaus kein Hehl machten, im Kaisertum bloß das kleinere Übel. Von den anderen Staaten wurde die neue Regierung anstandslos akzeptiert, nur der Zar machte den kleinen Vorbehalt, daß er den Parvenu nicht als »monsieur mon frère«, sondern bloß als »bon ami« anzureden wünsche, und der König von Preußen stieß sich eine Zeitlang an der Ziffer, die den Bestimmungen des Wiener Kongresses zuwiderlaufe, denn der Herzog von Reichstadt sei von den Mächten nie als Napoleon der Zweite anerkannt worden.
Napoleon der Dritte ist sehr oft mit seinem Oheim verglichen worden, obgleich er mit ihm fast gar keine Ähnlichkeit hatte, höchstens in seiner Verachtung aller »Ideologie« und seiner Fehlbewertung der sittlichen Kräfte, die die wahren Motoren der Weltgeschichte sind. Doch floß auch diese bei ihm aus einer ganz anderen Quelle: der Nihilismus des ersten Franzosenkaisers entsprang aus dessen Überlebensgröße und dämonischer Menschenverachtung, der seinige aus Mediokrität und dekadenter Menschenunterschätzung. Napoleon der Erste ist amoralisch wie ein Erdbeben, Napoleon der Dritte unmoralisch wie ein Börsenmanöver; in jenem entbanden sich zermalmende Urtriebe, die noch nichts von Ethos wissen, in diesem auflösende Spätinstinkte, die von Ethos nichts mehr wissen wollen; der eine ist eine Elementarkatastrophe, der andere ein Zivilisationszwischenfall.
Bismarck hat ihn mit einem seiner geistvollen Bonmots, die stets vernichtend das Zentrum durchbohren, »une incapacité méconnue«, ein verkanntes Untalent, genannt. Von diesem seinem Gegenspieler unterschied sich Napoleon, wenn wir ihn bloß als Politiker ins Auge fassen, da die beiden als menschliche Persönlichkeiten völlig unvergleichbar sind, dadurch, daß er in seinen Plänen viel expansiver, schweifender, chamäleonischer, hintergründiger und dabei in Entschluß, Ausführung, Umschaltung viel zögernder, labiler, zähflüssiger, ungeistesgegenwärtiger war. Auch der zweite große Staatsmann, mit dem er zu tun hatte, Cavour, war ihm sowohl an Willensstärke wie an Elastizität überlegen. Moltke sagte über Napoleons äußere Erscheinung: »Eine gewisse Unbeweglichkeit seiner Züge und der, ich möchte fast sagen, erloschene Blick seiner Augen fiel mir auf. Ein freundliches, ja gutmütiges Lächeln herrscht in seiner Physiognomie vor, die wenig Napoleonisches hat. Er sitzt meist, das Haupt leise nach der Seite geneigt, ruhig da, und gerade diese Ruhe, die ihn bekanntlich auch in gefährlichen Krisen nicht verläßt, mag es wohl sein, welche den beweglichen Franzosen imponiert.« Über seinem Wesen lag eine Art Wasserschleier von Undurchdringlichkeit und Impassibilität, wie man ihn bisweilen an Industriekapitänen und Finanzmagnaten beobachten kann. Drouyn de Lhuys, der sein Minister des Auswärtigen und ein ausgesprochener Bonapartist war, ihn aber aus der Nähe kannte, sagte: »Seine Unerforschlichkeit liegt im Mangel an Beweggründen für seine Handlungen.« Durch seine Technik des fortwährenden Improvisierens blendender Projekte von zweifelhafter Sekurität, virtuosen Löcherzustopfens auf ephemere Dauer und verblüffenden Umbuchens des latenten Bankerotts in scheinbare Hochkonjunktur, worin er ebenfalls an die Figur des Glücksritters und Börsenspielers erinnert, erweckte er den Eindruck geheimnisvoller tiefangelegter Berechnung. In seinen letzten Regierungsjahren war er zudem durch ein sehr ernstes Prostataleiden, das häufig bis zu Ohnmächten führte, in seiner Aktionsfähigkeit gehemmt.
Er hatte die Parole ausgegeben: »l'empire c'est la paix«; aber die Satire machte sehr bald daraus: »l'empire c'est l'épée«. Wahrscheinlich war er im Herzen kein Militarist; aber wenn selbst der gottähnliche Sonnenkönig sein Ansehen nur durch große Kriege aufrechterhalten konnte, so war dieser dubiose »Thronescroqueur« von vornherein auf abwechselnde Reizung und Sättigung des französischen Gloirehungers angewiesen. Seine äußere Politik war ein System weitausgreifender Halbheiten, großangelegter Nieten: sowohl Deutschland wie Italien geeint, aber nicht als starke Nationalstaaten, sondern als hilflose Staatenbünde, und womöglich unter offenem oder verstecktem französischen Protektorat. Man konnte das eine oder das andere versuchen: sich die beiden Völker, ihre Einigungstendenzen fördernd, zu bleibenden Freunden machen oder, ihre Zersplitterung nützend, sie in dauernder Ohnmacht erhalten; aber beides auf einmal zu wollen, war die superkluge Idee eines abenteuernden Spekulanten. Tieferblickende Politiker durchschauten dies: Disraeli nannte das zweite Kaiserreich eine Tragikomödie. Was Napoleon, im Gegensatz zu Bismarck und Cavour, fehlte, war die gerade Linie; er ließ sie auch in der inneren Politik vermissen. Einerseits suchte er seiner Herrschaft den Schein eines demokratischen Regimes zu geben und stützte sie in der Tat auf das Heer, die Masse und die niedere Geistlichkeit, andrerseits unterdrückte er durch scharfe Gesetze die soziale Bewegung, durch strenge Überwachung der Presse, der Theater, des Vereinswesens die freie Meinung und durch brutale Wahlbeeinflussung die konstitutionellen Volksrechte; nach dem Attentat Orsinis erließ er sogar ein »Sicherheitsgesetz«, das der Polizei das Recht gab, jeden Verdächtigen ohne weiteres zu verhaften, ganz wie zur Zeit der lettres de cachet, durch die Louis le Grand seinen Namen mit Furcht umgab, und das so rigoros gehandhabt wurde, daß schon »un silence séditieux«, ein aufrührerisches Schweigen, Grund zum Einschreiten gab, was wiederum sehr fatal an die Schreckensherrschaft der Jakobiner erinnert. Regierungsfeindlichen Publizisten drohten stets empfindliche Gefängnisstrafen und Geldbußen, was aber nicht hinderte, daß die journalistische Polemik, am üppigsten in Rocheforts »Lanterne« und »Marseillaise«, eine prachtvolle Giftfauna entfaltete. »Das System«, sagt Treitschke in einer seiner unbedenklichen, aber gedankenreichen Formeln, »war ein monarchischer Sozialismus.« In die unhaltbarsten Widersprüche verwickelte sich aber der Kaiser durch seinen Klerikalismus, zu dem er sich teils durch die Rücksicht auf die legitimistische Partei gedrängt fühlte, die er damit von ihrem Kandidaten, dem Enkel Karls des Zehnten, abzuziehen und für sich zu gewinnen hoffte, teils durch die Bigotterie der Kaiserin Eugenie, geborenen Gräfin von Montijo, die zwanzig Jahre lang die Rolle einer europäischen Modekönigin innehatte, ähnlich wie seinerzeit Marie Antoinette, noch schöner als diese, ebenso intrigant und oberflächlich. Der Schutz, den er dem Kirchenstaat angedeihen ließ, kreuzte sich mit seiner italienischen Unionspolitik, und durch die Macht, die er der Kirche über Schule und Universität, Literatur und Privatleben einräumte, brachte er sich in Gegensatz zum Liberalismus der allmächtigen Bourgeoisie, die doch das wahre Fundament seiner Herrschaft bildete.
In der Tat hat die moderne Plutokratie niemals einen glänzenderen und großartigeren Ausdruck gefunden als unter dem second empire. Napoleon verdient noch weit mehr den Titel eines Börsenfürsten als Louis Philipp. Finanzielle Skandalprozesse waren eine alltägliche Sensation unter seiner Regierung. Schon 1852 wurde von den Brüdern Péreire, zwei portugiesischen Juden, die erste moderne Großbank gegründet, der Crédit mobilier, von dem man sagte, er sei die größte Spielhölle Europas. Er machte wilde Spekulationen in allem: Eisenbahnen, Hotels, Kolonien, Kanälen, Bergwerken, Theatern und nach fünfzehn Jahren gänzlichen Bankerott. Eine neue stehende Figur im öffentlichen Leben ist der Rastacouère, ursprünglich der reiche Exote, der, geschmacklos, protzig, unkultiviert, sein Geld in Paris ausgibt, sehr bald aber, infolge eines charakteristischen Wechsels der Wortbedeutung, der groß auftretende Verdiener, der stets ein Hochstapler ist. Alles in allem genommen, war das Gesellschaftsleben unter Napoleon noch korrupter, zynischer und materialistischer als unter dem Bürgerkönig, aber viel temperamentvoller, farbiger und geistreicher: es zeigt dort noch eine gewisse grobknochige Kraft und Vitalität, hier schon eine interessante Überzüchtung und Verwesungsphosphoreszenz; es ist eine Art Rokoko des dritten Standes.
Gemäß dem von Napoleon ausgegebenen Stichwort, Frankreich müsse »à la tête de la civilisation« marschieren, schuf zunächst der Seinepräfekt Haußmann durch großartig angelegte Straßenzüge, Plätze, Gärten, Umbau ganzer Bezirke, prachtvolle Repräsentationshäuser ein neues Paris, als getreues Abbild des zweiten Kaiserreichs: fassadenhaft, niederschreiend, künstlich und parvenühaft. 1855 wurde die erste Pariser Weltausstellung veranstaltet, als »revanche pour Londres«, wo vier Jahre vorher auf Anregung des Prinzgemahls Albert, des »ersten Gentleman Europas«, die überhaupt erste stattgefunden hatte, noch heute in Erinnerung durch Paxtons »Kristallpalast«, den ersten Versuch einer Glas-Eisen- Konstruktion. Unter dem Empire gab es in Paris noch eine zweite im Jahr 1867, die als große Sensation die neuentdeckte ägyptische Kunst brachte und von fast allen europäischen Potentaten besucht wurde; ein Pole benützte sie zu einem Attentat auf den Zaren. Auch die zweite Londoner Weltausstellung vom Jahr 1862 setzte sich für eine orientalische Kunst ein, die chinesische und hatte eine ebenso unwillkommene Begleiterscheinung: sie führte zur Gründung der ersten »Internationalen Arbeiterassoziation«, deren geheimes Haupt Karl Marx war. 1869 wurde der Suezkanal eröffnet, ein großer Triumph für die französische Zivilisation. Bereits vor drei Jahrtausenden schiffbar, dann verfallen, um 500 vor Christus durch die Perser erneuert, nach abermaliger Versandung von Trajan zum drittenmal hergestellt und seit dem Mittelalter vollkommen unbrauchbar, wurde er, nachdem schon Leibniz in einer Denkschrift an Ludwig den Vierzehnten auf seine Bedeutung hingewiesen und Bonaparte bei seiner ägyptischen Expedition Vorarbeiten veranlaßt hatte, durch die Pariser »Compagnie universelle du canal maritime de Suez«, die sein Gebiet von der ägyptischen Regierung erwarb, nach zehnjährigem Bau wieder instand gesetzt. Er bedeutet für Reisen von Europa nach Indien eine Wegverkürzung von etwa vierzig Prozent; durch ihn wird das Mittelmeer, bisher ein südeuropäischer Binnensee, zur Meerenge, die zwei Weltozeane verbindet.
Schon das zweite Regierungsjahr gab Napoleon Gelegenheit, auch in der äußeren Politik hervorzutreten. Den Anlaß boten die Expansionsbestrebungen des Zaren am Balkan, die dieser seit langem ins Auge gefaßt hatte. Nikolaus der Erste war der reaktionärste Herrscher, den das Land der Reaktion erlebt hat; der Dekabristenaufstand, der bei seiner Thronbesteigung ausgebrochen war, hatte ihm die Überzeugung beigebracht, daß in Rußland nur mit eisernem Terror regiert werden könne. Unter ihm wurden die Universitäten wie Mönchsklöster beaufsichtigt und die Bücher mit der Strenge der heiligen Inquisition zensuriert, was aber nur dazu führte, daß sich eine Technik des versteckten Anspielens entwickelte, die die enzyklopädistische an Raffinement noch übertraf. Um die Ansteckung durch die Giftstoffe des westlichen Liberalismus möglichst einzuschränken, verweigerte er seinen Untertanen die Reise ins Ausland oder erschwerte sie ihnen durch sehr hohe Paßsteuern. Er ging zwar nicht mehr so weit wie seine Vorgänger im siebzehnten Jahrhundert, unter denen »Bücherleser« zu Gefängnis verurteilt wurden, aber Schriftsteller und Peter-Pauls-Festung waren auch zu seinen Zeiten sehr benachbarte Begriffe, ja fast untrennbare Assoziationen: man wird vielleicht in einigen hundert Jahren nur noch von ihm wissen, daß er es war, unter dessen Regierung Dostojewski zum Galgen verurteilt wurde. Sein Haß gegen alles, was auch nur entfernt an Volksrechte erinnerte, war so groß, daß man, als er Berlin besuchte, den Landtag schloß, um ihn nicht durch dieses revolutionäre Schauspiel zu beleidigen.
Von ihm stammte das geflügelte Wort, der Sultan sei »der kranke Mann von Europa«. Wenn er die Emanzipationsbestrebungen der christlichen Balkanvölker unterstützte, so geschah dies selbstverständlich nicht aus wirklichem Interesse für deren Befreiung, was seinem ganzen System widersprochen hätte, sondern bezweckte bloß ein russisches Protektorat. Für die Tatsache, daß er gerade im Jahre 1853 mit neuen Forderungen hervortrat, die in diese Richtung zielten, war der Umstand mitbestimmend, daß damals gerade vierhundert Jahre seit der Eroberung Konstantinopels verstrichen waren. Die Weltgeschichte pflegt sich aber im allgemeinen von derlei Jubiläumsdaten nicht beeinflussen zu lassen.
Als die Pforte sich ablehnend verhielt, überschritt eine russische Armee den Pruth und besetzte die Moldau und die Walachei. Durch einen Sieg Rußlands sah Frankreich seine syrischen, England seine indischen Interessen bedroht; infolgedessen schlossen beide Mächte ein Bündnis mit der Türkei, dem später auch das kleine Sardinien beitrat: ein kluger politischer Schachzug Cavours. Eine englisch-französische Flotte erschien in der Ostsee, wagte aber nicht Kronstadt anzugreifen. Auch Österreich nahm eine drohende Haltung ein, wodurch der Zar sich genötigt sah, »aus strategischen Gründen« die Räumung der Donaufürstentümer anzuordnen, die nunmehr von österreichischen Truppen besetzt wurden. Der Kampf konzentrierte sich auf der südrussischen Halbinsel Krim. Die Russen erlitten Niederlagen an der Alma, bei Inkerman, bei Tschernaja; das Hauptbollwerk, die Festung Sewastopol, hielt sich aber, zu Wasser und zu Lande angegriffen, durch die vorzügliche Organisation der Verteidigung, ein Verdienst des Kurländers Totleben, fast ein volles Jahr: erst die Erstürmung des Malakowturms, der die Stadt beherrschte, entschied. Durch die Kriegsdrohungen Österreichs und Schwedens und die Mißstände in der Armee und Verwaltung entstand bei Rußland, durch furchtbare Verluste infolge der Cholera und Schwierigkeiten in der Munitionsversorgung, die den langen und unsicheren Seeweg wählen mußte, bei den Westmächten Neigung zum Frieden, der im Frühling 1856 in Paris zustande kam. Er veränderte sehr wenig, und ein französischer Diplomat sagte mit Recht, man könne aus ihm nicht erkennen, wer der Sieger und wer der Besiegte sei. Von Kriegsentschädigungen wurde Abstand genommen; die Gebietsveränderungen bestanden lediglich darin, daß Rußland die Donaumündungen und einen kleinen Küstenstrich Bessarabiens an die Donaufürstentümer abtrat. Diese wurden zwar formell unter der türkischen Souveränität belassen, gleichzeitig aber für neutral erklärt und zum Fürstentum Rumänien vereinigt, das 1859 in Alexander Cusa einen selbstgewählten Herrscher erhielt; er wurde aber schon 1866 wegen Mißwirtschaft zur Abdankung gezwungen und durch den Prinzen Karl von Hohenzollern-Sigmaringen ersetzt. Der Meerengenvertrag wurde ausdrücklich erneuert: das Schwarze Meer neutralisiert und allen Kriegsschiffen verschlossen. Die Türkei, die die Gleichberechtigung der Christen und Mohammedaner zusicherte, wurde ins europäische Konzert aufgenommen, was dessen Harmonie keineswegs erhöhte.
Sehr bedeutend waren jedoch die diplomatischen Veränderungen, die der Krimkrieg zur Folge hatte. Sardinien war durch seinen Beitritt zur Koalition ein politischer Faktor geworden: es wurde zum Friedenskongreß zugelassen, was Preußen infolge der lahmen und schwankenden Haltung, die es während des Krieges beobachtet hatte, erst, wie Bismarck sich ausdrückt, »nach längerem Antichambrieren« gelang. Frankreich löste Rußland in der Hegemonie ab: 1812 war »gerächt«; Napoleon war der erste Mann in Europa, sein Thron schien unerschütterlich befestigt, um so mehr als ihm im Jahre des Friedensschlusses ein Thronerbe geboren wurde. In die schimpflichste und unvorteilhafteste Position hatte sich Österreich gebracht. Radetzky hatte dem Kaiser in einer Denkschrift die Allianz mit Rußland auf der Basis der Teilung der Türkei empfohlen. Aber man zog es vor, die Politik Schwarzenbergs zu befolgen, der gesagt hatte, Österreich werde die Welt noch einmal durch seine Undankbarkeit in Erstaunen versetzen. Er kam zwar nicht mehr dazu, diese Prophezeiung wahr zu machen, aber sein Nachfolger vollstreckte sein Testament: Österreich, durch ein Schutz-und-Trutz-Bündnis, in das Preußen unter Mißbilligung Bismarcks eingewilligt hatte, im Rücken gedeckt, besetzte nicht nur, wie bereits erwähnt, die Donaufürstentümer, sondern ließ auch in Galizien, der Bukowina und Siebenbürgen Beobachtungstruppen aufstellen, so daß Rußland, das genötigt war, gegen den Nachbarn doppelt so viel Bataillone zu mobilisieren wie in der Krim, sich in seinen Bewegungen vollkommen gelähmt sah. Zar Nikolaus, mit Recht empört, sagte zum österreichischen Gesandten: »Wissen Sie, wer die beiden dümmsten Könige von Polen waren? Sobieski und ich!« Beide hatten Österreich gerettet und Undank dafür geerntet. Seitdem hieß die russische Parole: der Weg nach Konstantinopel geht über Wien; von hier datiert die russisch-österreichische Feindschaft, ohne die der Weltkrieg nicht möglich geworden, andrerseits aber auch die deutsche Einheit nicht zustande gekommen wäre.
Beobachtete man aber einmal eine Politik der Perfidie (welche Bezeichnung zwar eigentlich ein Pleonasmus ist), so hätte man sie wenigstens energisch betreiben müssen. Durch seine Lauheit kam Österreich aber auch bei den Westmächten in Mißkredit: es brachte nicht den Mut zum »Dolchstoß« auf, sondern bramarbasierte nur damit, ruinierte durch die kostspieligen Truppendemonstrationen seine Finanzen und verlor durch die Cholera mehr Soldaten als durch einen Krieg. »Die guten Österreicher«, sagte Bismarck 1853 in einem Brief, »sind wie der Weber Zettel im Sommernachtstraum.« Es war die Praktik, die seit Josef dem Zweiten traditionell geworden war: alles einstecken wollen, überall Prätensionen machen, den Nebenbuhlern aber keine einräumen. Man wollte weder Rußland am Balkan noch Preußen in Deutschland noch Frankreich in Italien die erste Rolle zugestehen, selber aber alle drei Rollen spielen.
Einer der Gründe, warum der Friede verhältnismäßig rasch zustande kam, war der russische Thronwechsel, der 1855 stattfand, als Nikolaus der Erste plötzlich starb und Alexander der Zweite, der »Zarbefreier«, ihm folgte, einer der edelsten und klügsten Herrscher seiner Zeit. Er erließ eine allgemeine Amnestie, reduzierte den Heeresstand, förderte den Ausbau des Eisenbahnnetzes, reformierte das Gerichtswesen, entzog die Hochschulen der kirchlichen Bevormundung und bewilligte seinem Volk eine Art Selbstverwaltung durch die duma oder Stadtverordnetenversammlung und den semstwo oder Landtag, die gewählte Vertretung der Provinzialkreise. Seine größte Tat aber war die Aufhebung der Leibeigenschaft, durch die im Jahre 1861 mehr als einundzwanzig Millionen Bauern ihre Freiheit erlangten; bisher waren auf einen »Seelenbesitzer« durchschnittlich fünfzig Hörige gekommen. Er tat dies ebensowohl aus Erwägungen des Verstandes wie des Herzens: »es ist doch besser«, sagte er, »wenn wir es von oben tun, statt daß es von unten geschieht«. Der sehr unkluge polnische Aufstand vom Jahre 1863 näherte ihn allerdings wieder der altrussischen Partei: Preußen erwarb sich damals den Dank Rußlands, indem es die Grenzen gegen Polen absperrte. Gleichwohl plante er für das Reich eine Gesamtverfassung, die nur durch das Bombenattentat verhindert wurde, dem er 1881 zum Opfer fiel. Daß der Nihilismus sich gerade gegen diesen Zaren mit unausgesetzten Anschlägen wendete, gibt zu denken: es zeigt, daß der Terror zum apriorischen Bestand des russischen Seelenlebens gehört.
Dies ist einer der vielen Gründe, die die russische Seele für den Europäer zum Rätsel machen. Es verhält sich offenbar so, daß der Russe nicht imstande ist, mit zwei Augen in die Welt zu schauen: zu erkennen, daß die Wahrheit immer das Produkt einer Doppelansicht ist; es fehlt ihm der stereoskopische Blick. Er ist durchaus außerstande, die Dinge rund zu sehen: nämlich von vorn und hinten. Er weiß nicht, daß jedes Dogma sein Gegendogma fordert, als seine gottgewollte Lebenshälfte, mit der vermählt es erst fruchtbar wird. Er ist daher, obgleich Hegel auch in Rußland längere Zeit einen sehr großen Einfluß besessen hat, niemals Hegelianer. Spengler macht im zweiten Bande seines Werks in einer Fußglosse die sehr tiefe Bemerkung: »Der Gedanke, daß ein Russe Astronom ist? Er sieht die Sterne gar nicht; er sieht nur den Horizont. Statt Himmelsdom sagt er Himmelsabhang ... Die mystische russische Liebe ist die der Ebene, immer längs der Erde längs der Erde.« Er kann die Welt nicht als Gewölbe konzipieren, sein Blick geht immer in die Fläche, was aber keineswegs bedeutet, daß er flach ist. Und daher kommt es, daß er nicht nur kein Hegelianer, sondern überhaupt niemals ein Philosoph ist. Wladimir Solowjew sagt über die philosophische Literatur seines Vaterlandes: »In diesen Arbeiten ist alles Philosophische durchaus nicht russisch, und was wirklich russisches Gepräge trägt, hat überhaupt keine Ähnlichkeit mit irgendeiner Philosophie, und zuweilen ist es überhaupt ganz sinnlos. ... Man bleibt entweder bei kurz hingeworfenen Skizzen stehen oder gibt in karikierter und roher Form diesen oder jenen auf die Spitze getriebenen und einseitigen Gedanken des europäischen Geistes wieder.« Und daher kommt es andrerseits, daß in Rußland fast jeder Mensch Künstler ist und sich dort eine Romanliteratur, eine Theaterkultur und eine Kabarettkleinkunst entwickelt hat, die in ganz Europa unerreicht ist. Eben weil der Russe so subjektiv ist, verwandelt sich ihm Denken sogleich in Dichten, und wenn man ein starkes und treues Bild seiner Weltanschauung gewinnen will, muß man es nicht in seiner spekulativen Prosa suchen, sondern in seiner erzählenden. Ja im russischen Künstlertum liegt vielleicht auch der geheimste Sinn des russischen Nihilismus. Denn was sind beide anderes als Verneinungen der Realität: das einemal als hassender Zerstörungstrieb, das andremal als liebender Gestaltungsdrang? Auch der Poet findet die Realität falsch, korrekturbedürftig, ungereimt: eben darum dichtet er ja.
Die beiden Hauptrichtungen, die sich in Rußland das ganze Jahrhundert hindurch unversöhnlich gegenüberstanden, waren die konservativen Slawophilen, die die Rechtgläubigkeit, die altrussische Kultur, das primitive Bauerntum zu erhalten wünschten, und die liberalen zapadniki oder Westler, auch raznotschintzy, Intelligenzler, genannt, die Materialismus, Aufklärung, Großstadtkultur propagierten; es war der Gegensatz: Kirche, Moskau, Autokratie und Wissenschaft, Petersburg, Demokratie; nur die Liebe zum »Volk« war ihnen beiden gemeinsam, denn diese ist ein allgemeinrussischer Grundzug. Das Programm der slawophilen Richtung hat Iwan Kirejewski in einem »offenen Brief«: »Über den Charakter der Zivilisation Europas und ihr Verhältnis zur Zivilisation Rußlands« dargelegt, der 1852 in der ersten Nummer der von ihm begründeten Zeitschrift »Moskowski Sbornik« erschien. Er unterscheidet darin vom russischen Geist den »römischen«, der den Westen beherrscht: dessen Charakter bestehe darin, daß ihm die äußere logische Ordnung der Begriffe und Vorstellungen von den Dingen wesentlicher sei als das Wesen der Dinge selbst und seelische Harmonie gleichbedeutend mit einem künstlich ausbalancierten Gleichgewicht logischer Inhalte; daher geriet im Westen die Theologie in ein abstrakt-rationalistisches Fahrwasser, während sie in der orthodoxen Welt auf der »ursprünglichen inneren Geschlossenheit des menschlichen Geistes als eines unteilbaren Ganzen« fußte. »Der Westeuropäer fühlt sich in der Regel mit seiner sittlichen Haltung sehr zufrieden. Den Slawen dagegen begleitet unausgesetzt ein deutliches Bewußtsein seiner Unvollkommenheit, und je höher sein sittliches Niveau ist, um so höhere Ansprüche stellt er an sich selbst und um so weniger ist er mit sich zufrieden.« »Dort das Bestreben, der Wahrheit durch logische Begriffsverknüpfung teilhaftig zu werden, hier der Drang, ihr durch vertiefte Selbsterkenntnis, durch Versenkung in die Urgründe des Geistes näherzukommen. Die höchsten Wahrheiten dort der Gegenstand rationalistischer Schulweisheit, hier der beglückende Inhalt ureigensten Lebensgefühls. Der private Besitz dort die Grundlage aller sozialen Verhältnisse, hier nur ein äußerer Ausdruck für die Beziehungen zwischen Personen. Dort äußere Korrektheit, hier innere Gerechtigkeit. Dort die Herrschaft der Mode, hier das Walten der Tradition.« Als der erste bedeutende Westler, der eine Theorie gegeben hat, gilt Wissarjon Belinskij, den seine Landsleute als ihren hervorragendsten Kritiker, eine Art russischen Lessing ansehen. »Die Welt ist mannbar geworden«, lehrt er, »sie gebraucht nicht mehr das bunte Kaleidoskop der Phantasie, sondern das Mikroskop und Teleskop der Vernunft, durch das sie sich das Entfernte nahebringt und das Unsichtbare sichtbar macht. Die Wirklichkeit: das ist die Parole und das letzte Wort unserer zeitgenössischen Welt!« Er verachtet den Dichter, der wie der Vogel singt: »Nur ein Vogel singt, weil er Lust zum Singen hat, ohne mit dem Leid und der Freude seines Vogelvolkes mitzufühlen.« Noch radikaler gab Dmitri Pissarew dem Gedanken der Wirklichkeitsdichtung Ausdruck: »Man kann ein Realist, ein nützlicher Arbeiter sein, ohne Dichter zu sein. Aber ein Dichter und nicht zugleich ein tiefer und bewußter Realist zu sein, das ist ganz unmöglich. Wer kein Realist ist, ist kein Dichter, sondern einfach ein begabter Ignorant oder ein geschickter Scharlatan oder ein kleines eitles Insekt. Vor allen diesen zudringlichen Geschöpfen muß die realistische Kritik die Geister und die Taschen des Lesepublikums sorgfältig schützen.« Der erste, der die Forderungen der »realistischen Kritik« verwirklichte, war Gogol, der Begründer der »natürlichen Schule«; von seiner Meisternovelle »Der Mantel« sagte Dostojewski: »Vom Mantel kommen wir alle her.« Sein »Revisor« darf als die beste Komödie der Weltliteratur bezeichnet werden: sie enthüllt unter zermalmendem Gelächter die kläglichen Oberflächen und schauerlichen Abgründe einer ganzen Sozialsphäre, einer ganzen Epoche, einer ganzen Nation, dabei mit Hilfe eines teuflischen Mechanismus ihren Figuren eine schlotternde, gespenstische Marionettenunwirklichkeit verleihend, wie sie sich nur noch in den Lustspielen Molières findet, zu deren Psychologie sich aber die ihrige verhält wie eine Logarithmentafel zu einer Rechenmaschine. Eine Geburt des »Realismus« war auch die »Muschikliteratur«, deren kühner Schöpfer Grigorowitsch und unübertrefflicher Meister Turgenjew war: hier steigert der russische Extremismus ein Wesen, in dem er bisher kaum einen Menschen erblickte, zum Heiligen. Die Gegenfigur ist der »reumütige Adlige«, der das jahrhundertelange Unrecht, das er am Leibeigenen begangen hat, in Selbstanklagen bedauert. Dieser Gefühlsgang ist im Russen tief angelegt, denn in der Tat hat er von jeher im Bauern ein ihm gehöriges, aber nicht von ihm distanziertes Wesen erblickt: ein Haustier, das man ausbeutet, mißbraucht, sogar mißhandelt, aber dabei doch als ein vertrautes, ja liebes Familienstück empfindet. Niemals hat es in Rußland Menschen erster und zweiter Klasse gegeben, höhere Wesen, deren soziale Stellung sie fast zu Angehörigen einer anderen Rasse machte, wie der französische Kavalier, der spanische Hidalgo, der japanische Daimyo, der englische Gentleman, der preußische Junker. Dies ist die ungeheure Überlegenheit des Russen über den Europäer: er hat zwar ebenfalls dem Christentum zumeist zuwidergelebt, aber er hat seine Lehren nie vergessen.
Der Nihilismus äußerte sich literarisch auch in der politisch ungefährlichen Form der Verzweiflung am Dasein. Mit dem Typ des reumütigen Adeligen ist die Gestalt des »überflüssigen Menschen« verwandt: Herzen zeichnete sie zuerst in »Wer ist schuld?«; berühmt machte sie Turgenjew im »Rudin«. 1858 erschien eines der ergreifendsten und eigenartigsten Werke der russischen Literatur: der »Oblomow« von Iwan Gontscharow. In ihm ist gelungen, was ebenso nur noch im »Don Quixote« erfüllt worden ist (und höchstens könnte man dabei noch an Faust und Robinson denken): daß einem ganzen Volke in einem poetischen Symbol ein Nationalheld geschenkt wurde. Oblomow ist mehr als ein unsterblicher Mensch; er ist das Diagramm einer Rasse. Er ist; und die Last dieser ungeheuern Tatsache drückt derart auf ihn, daß sie ihn nicht zum Handeln gelangen läßt. Wie tief sich hierin die Grundmelodie der russischen Seele zum Ausdruck bringt, zeigt unter zahllosen ähnlichen Äußerungen ein Aufsatz Tolstois, der »Das Nichtstun« betitelt ist. Darin heißt es: »Man sagt, daß die Arbeit den Menschen gut macht; ich habe immer das Entgegengesetzte beobachtet. Die Arbeit und der Stolz auf sie macht nicht nur die Ameise, sondern auch den Menschen grausam. Es konnte in der Fabel ja auch nur die Ameise, ein Wesen, das des Verstandes und des Strebens nach dem Guten entbehrt, die Arbeit für eine Tugend halten und sich damit brüsten. Die Arbeit ist nicht nur keine Tugend, sondern in unserer falsch organisierten Gesellschaft zumeist ein Mittel, das sittliche Empfindungsvermögen zu ertöten ... Das Mahl ist schon bereit, und schon längst sind alle dazu eingeladen; aber einer kauft Land oder will Ochsen verkaufen, ein zweiter heiratet, ein dritter baut eine Eisenbahn oder eine Fabrik, ein vierter hält Predigten, missioniert in Indien oder Japan, bringt eine Bill durch oder veranlaßt ihre Ablehnung, macht Examina, schreibt eine gelehrte Arbeit, ein Gedicht, einen Roman. Alle haben keine Zeit, keine Zeit, zur Besinnung zu kommen, in sich zu gehen, über sich und die Welt nachzudenken und sich zu fragen: was tue ich? wozu?«
Hiermit ist, in negativer Form, Oblomow charakterisiert. Er ist die Formel einer Kultur; aber diese Formel blüht und atmet. Er ist ein grauer Durchschnittsmensch und ein leuchtender Idealtypus. Er ist, was nur der Kunst und auch dieser höchst selten glückt, ein lebendiger Begriff. Er tut das Gleichgültigste; aber unter unserer höchsten Teilnahme. Er tut gar nichts; aber auf eine unvergeßliche Weise. Er ist der prosaischste, adeligste, trübste, lauterste Mensch unter allen unseren persönlichen Bekannten. Der Zweck des Werkes ist die Bloßstellung der oblomowschtschina, der Oblomowerei: der Dichter will warnen, anprangern, anfeuern, aber es gelingt ihm nicht. Wir lieben Oblomow, beneiden ihn fast. Die erschütternde Ballade von der Oblomowerei schließt folgendermaßen: »Eines Tages um die Mittagsstunde schritten zwei Herren über das Holztrottoir der Wiborgskajastraße; hinter ihnen fuhr langsam ein Wagen. Der eine von ihnen war Stolz, der Freund Oblomows, der andere ein Schriftsteller von ziemlicher Leibesfülle, mit apathischem Gesicht und sinnenden, gleichsam schläfrigen Augen. Und wer ist dieser Ilja Iljitsch? fragte der Schriftsteller. Das ist Oblomow, von dem ich dir oft erzählt habe. Er ist zugrunde gegangen, und das ohne jede Ursache. Stolz seufzte und sann nach: Und war nicht dümmer als mancher andere, seine Seele war rein und klar wie Glas, er war edel, zart und ist zugrunde gegangen! Warum denn? Was war die Ursache? Die Oblomowerei! sagte Stolz. Die Oblomowerei? wiederholte der Schriftsteller erstaunt, was ist das? Das werde ich dir gleich erzählen; laß mir nur Zeit, meine Gefühle und Erinnerungen zu sammeln. Und schreibe es dann auf, vielleicht nützt es jemand. Und er erzählte ihm das, was hier steht.«
Es ist Oblomow ergangen wie Falstaff: aus einer bête noire wurde er unter der Hand des Dichters zum Liebling der Welt. Aber Oblomow ist nicht Falstaff, obgleich er ebensowenig arbeitet und ebensoviel ißt und trinkt; er ist die russische Version des Hamlet. Und wie die Seele Shakespeares, der die Flachheit aller Lebenssicherheit erkannt hat, nicht bei Horatio oder Fortinbras ist, sondern bei Hamlet, so klopft Gontscharows Herz nicht in Stolz, dem tüchtigen, redlichen, tätigen Freund, sondern in Oblomow. Und was Horatio der Leiche Hamlets nachruft, kann auch ihm als Grabspruch gelten: »Und Engelsscharen singen dich zur Ruh!«
Die russische Dichtung war die modernste des neunzehnten Jahrhunderts: sie war die erste, die die neuen Inhalte Gestalt werden ließ, was bei der fast hermetischen Abgeschlossenheit, in der das Land gehalten wurde, sehr merkwürdig ist und wieder einmal beweist, daß der Geist eines Zeitalters sich nicht unterdrücken läßt; er wird mit ihm geboren. Seine große europäische Bedeutung hat der russische Realismus aber erst viel später erlangt; zunächst war Europa in Politik, Kunst, Weltanschauung ganz französisch orientiert. Seinen Erfolg im Krimkrieg krönte Napoleon wenige Jahre später durch einen zweiten. Im Erscheinungsjahr des »Oblomow« unternahm der Mazzinist Felice Orsini auf den Kaiser, als er gerade in der Hofkarosse zur Großen Oper fuhr, ein furchtbares Bombenattentat, das viele Menschen tötete, sein Ziel aber verfehlte. Vor seiner Hinrichtung schrieb er einen Brief an Napoleon, worin er ihn an seine Pflichten gegen Italien erinnerte. Unter dem tiefen Eindruck dieses Ereignisses verabredete Napoleon mit Cavour eine Zusammenkunft in Plombières, in der eine vorläufige Abschlagszahlung auf die italienischen Unionsforderungen beschlossen wurde: die Vereinigung aller Norditaliener unter dem König von Sardinien und die Wiedereinsetzung der Dynastie Murat in Neapel. Am 1. Januar 1859 sagte Napoleon beim Empfang der fremden Diplomaten zum österreichischen Botschafter: »Ich bedaure, daß die Beziehungen meiner Regierung zu der österreichischen nicht mehr so gut sind wie früher, aber ich bitte Sie, Ihrem Kaiser zu sagen, daß meine persönlichen Gesinnungen für ihn sich nicht geändert haben.« Das war in der Sprache der damaligen Diplomatie eine Kriegserklärung, die auch sofort mit einem allgemeinen Börsensturz beantwortet wurde. Noch deutlicher wurde Viktor Emanuel, der am 10. Januar sein Parlament mit den Worten eröffnete: »Der Horizont, an dem das neue Jahr heraufsteigt, ist nicht ganz heiter. Wir sind nicht unempfindlich für den Schmerzensschrei, der von so vielen Teilen Italiens uns entgegenschallt.« Aus allen Gegenden der Halbinsel strömten Freiwillige herbei, auch aus Mailand und Venedig, trotz dem österreichischen Grenzkordon. Den schwachköpfigen Eigensinn und absurden Hochmut, den Österreich auch in dieser Situation bekundete, hat Paul de Lagarde, einer der klarsten und umsichtigsten politischen Denker des damaligen Deutschland, schon im Jahre 1853 in einem Vortrag charakterisiert: »Daß Venedig und die Lombardei nicht längst an Piemont abgetreten sind, reicht vollständig hin, um die politische Unfähigkeit der maßgebenden Kreise Österreichs zu erhärten. Denn Italien wird sich in nicht zu ferner Zeit in einer oder der anderen Weise zu einem nationalen Staate zusammenschließen: das ist mir so gewiß, wie mir gewiß ist, daß wir uns jetzt in der Rannischen Straße zu Halle befinden: und dies Italien wird natürlich die Lombardei und Venedig für sich beanspruchen. Wenn man behaupten hört, Österreich werde allerdings einmal diese Provinzen hergeben müssen, könne dies aber der Ehre halber nur nach einem Kriege: ich pfeife auf eine Ehre, die Krieg ohne Zweck zu führen für erlaubt erachtet, die Ströme von Blut zu vergießen, Hunderte von Menschen zu töten vermag, um sich zu dem nötigen zu lassen, was sie mit Vorteil schon vorher ungenötigt hätte tun können.« England und Rußland schlugen einen Kongreß vor, Napoleon stimmte zu, die italienischen Patrioten waren verzweifelt; denn damit wäre alles im Sande verlaufen. Aus dieser kritischen Lage rettete sie aber die Torheit Österreichs, das in Turin ein Ultimatum stellen ließ: sofortige Abrüstung, Antwort binnen drei Tagen. Cavour erwiderte, daß er darauf nichts zu sagen habe: es war in verkleinertem Maßstabe dasselbe, was sich vor Ausbruch des Weltkrieges ereignet hat. Die echt österreichische Pointe dieser tragischen Clownerie aber war, daß die Armee nun nicht losschlug: auf die tollkühne Verve der Diplomatie folgte ein laues Herummanövrieren des Oberfeldherrn Grafen Gyulai, eines vollkommen unfähigen Kommißknopfs. Er hätte die Piemontesen mit überlegenen Kräften angreifen können, zögerte aber, bis sie sich mit den Franzosen vereinigt hatten. Bei Magenta versagte das österreichische Zentrum: es war so kopflos geführt, daß ein Drittel der Streitkräfte gar nicht ins Gefecht kam; gleichwohl brachte erst gegen Abend MacMahon durch seinen Sieg über den rechten Flügel die Entscheidung: er wurde dafür zum Herzog von Magenta ernannt. Die Österreicher räumten alle Stellungen bis zum Mincio; Napoleon und Viktor Emanuel hielten unter ungeheuerm Jubel ihren Einzug in Mailand. Gyulai wurde abberufen und Franz Josef übernahm selbst den Oberbefehl, beraten von dem besten Generalstäbler seiner Armee, dem Baron Heß. Die Schlacht bei Magenta galt den Österreichern als unentschieden und war auch in der Tat keine katastrophale Niederlage, sondern bloß ein Sieg des französischen Elans über die österreichische Schwerfälligkeit gewesen. Man entschloß sich daher zu einem neuerlichen Vorstoß, der zu dem sehr blutigen Tag von Solferino führte. Benedek warf an der Spitze des rechten Armeeflügels die Piemontesen bei San Martino zurück, der linke Flügel aber versagte vollständig, und die Einnahme Solferinos, des Schlüssels der österreichischen Stellung, durch die französische Garde zwang die gesamte habsburgische Streitmacht unter furchtbarem Doppeldonner eines hereingebrochenen Gewitters und der Geschütze zum Rückzug. Indes konnte auch diesmal nicht von einer unwiderruflichen Entscheidung gesprochen werden. Inzwischen hatte sich, von unklaren patriotischen Phraseuren geführt, auch in Deutschland die Kriegsbegeisterung entfacht: es hieß, man müsse den Rhein am Po verteidigen; Bismarck aber beurteilte die Lage kühler und schärfer: »mit dem ersten Schuß am Rhein wird der deutsche Krieg die Hauptsache, weil er Paris bedroht, Österreich bekommt Luft, und es wird seine Freiheit benützen, um uns zu einer glänzenden Rolle zu verhelfen.« Er warnte in einem seiner genialen Bilder Preußen, sich mit dem nachgemachten 1813er von Österreich besoffen machen zu lassen, und hielt den Zeitpunkt für geeignet, durch drohende Rüstungen das Haus Habsburg zum Nachgeben in der deutschen Frage zu zwingen. Prinz Wilhelm, seit 1858 Regent für seinen geisteskranken Bruder, ließ denn auch mobilisieren, aber gegen Frankreich. Dies war für Napoleon sehr riskant, dazu kam, daß sowohl er wie Franz Josef, die beide die Schlacht persönlich geleitet hatten, durch den nahen Anblick der Kriegsschrecken tief erschüttert waren; und so gelangten sie in einer Zusammenkunft in Villafranca zu einer Einigung auf der Basis: Abtretung der Lombardei und italienischer Staatenbund, zu dem auch die inzwischen vertriebenen Souveräne von Toscana und Modena und Österreich mit Venetien gehören sollten, unter dem Ehrenvorsitz des Papstes. Diese Abmachungen wurden ein halbes Jahr später im Frieden von Zürich ratifiziert, und der abgesetzte Kaiser Ferdinand sagte in Prag: »So hätt' i's a troffen.«
Als diese Bestimmungen bekannt wurden, erregten sie in ganz Italien die höchste Erbitterung. Die Plakate, die sie verkündeten, wurden herabgerissen, Cavour nahm seine Entlassung, Toscana, Parma, Modena wurden durch Volksabstimmung mit Sardinien vereinigt. Garibaldi landete mit seinen »Tausend« in Sizilien, eine Zeitlang der berühmteste Mann Europas: das Rothemd, la camicia rossa, war damals, auch außerhalb Italiens, Damenmode. Freischaren und königliche Truppen besetzten gemeinsam Neapel und den Kirchenstaat. Noch ehe das Jahr 1860 zu Ende ging, waren alle Provinzen bis auf Venetien und das Patrimonium Petri (die Stadt Rom mit Umgebung) befreit; 1861 nahm Viktor Emanuel den Titel »König von Italien« an und bestimmte Florenz zu seiner Hauptstadt. Napoleon konnte sich diesen Vorgängen nicht gut widersetzen und beschränkte sich darauf, in Verfolgung einer von ihm auch sonst regelmäßig beobachteten Taktik, die Bismarck Trinkgeldpolitik genannt hat, als »Kompensation« Savoyen und Nizza zu annektieren, das Stammland der sardinischen Dynastie und das Geburtsland Garibaldis, was dieser ihm nie verziehen hat, wiewohl die Nizzarden stets frankophil waren und ein italienisches Idiom sprechen, das dem Provenzalischen sehr ähnlich ist.
Obgleich Napoleon hierdurch zwei wunderschöne und strategisch hochwichtige Landstriche für Frankreich gewann, war der Krieg für sein politisches Gesamtsystem doch nur ein halber Erfolg: die Verheißung seines Manifestes »Italien frei bis zur Adria« hatte er nicht erfüllt. Zudem war die Hauptstadt des Landes noch immer in den Händen des Papstes, von französischen Truppen beschützt, was seine Befreierrolle in den Augen der Italiener ebenfalls sehr erheblich schmälern mußte. Immerhin stand das Empire damals an der Spitze Europas, und nicht bloß auf politischem Gebiete. Die unbestrittene Königin der europäischen Mode war die Kaiserin Eugenie: gleich eine ihrer ersten Regierungshandlungen war die allgemeine Einführung der Spitzenmantille, die sie aus ihrer spanischen Heimat mitgebracht hatte. Im Kostüm herrschte ein betont und bewußt plebejischer Charakter. Zur Zeit der Germaneneinfälle wurde es bei den römischen Damen Sitte, große blonde Perücken zu tragen; sie wünschten, den Barbaren, die damals im Mittelpunkt des Interesses standen, im Äußern irgendwie zu gleichen, und frisierten sich sozusagen alla tedesca. Etwas Ähnliches hat sich damals in Frankreich vollzogen: nur kam die Invasion nicht von außen, sondern von unten. Die nouveaux riches waren in die Salons gedrungen, und diese begannen bereitwillig die Allüren der Eroberer zu akzeptieren. Die Mode beugt sich immer vor den Herrschenden. Die beiden Göttinnen, zu denen das Zeitalter betete, waren die Frau und die Börse. Und der Geist des Geschäfts vermischt sich mit dem Geist der Geschlechtlichkeit: das Geldverdienen wird Gegenstand einer fast sinnlichen Inbrunst und die Liebe eine Geldangelegenheit. Zur Zeit der französischen Romantik war das erotische Ideal die Grisette, die sich verschenkt; jetzt ist es die Lorette, die sich verkauft. Wir sagten vorhin, der Lebensstil sei eine Art bürgerliches Rokoko gewesen: an die Stelle des genre rocaille trat das genre canaille, ein frecher Einschlag in Kleidung und Sprache, der es fast unmöglich machte, die sogenannten anständigen Frauen von den Dirnen zu unterscheiden. In die Mode kam eine gaminhafte Nuance: die Damen tragen Kragen und Krawatten, Paletots, frackartig geschnittene Röcke (die rehabilitierten Caracos der Wertherzeit), Zuavenjäckchen, Offizierstaillen, Spazierstöcke, Monokel. Man bevorzugt grell kontrastierte, schreiende Farben, auch für die Frisur: feuerrote Haare sind sehr beliebt. Im Rokoko war es bon ton, sich als Schäferin zu gerieren, im Zeitalter des Cancans und der »Schönen Helena« wurde es schick, Halbwelt zu kopieren. Der Modetypus ist die grande dame, die die Kokotte spielt. Die bevorzugten Stoffe waren, außer Seide und ihren zum Teil neuen Appretierungen wie Taft, Moiré, Gaze, allerhand luftige, zarte, duftige Gewebe wie Krepp, Tüll, Mull, Tarlatan, Organdy: die Bourgeoise spielt Fee. Seit etwa 1860 ist das Haar bürstenartig, à la vergette zurückgekämmt; über ihm erhebt sich der falsche Chignon, mit Früchten, Bändern, Kunstblumen, Goldstaub dekoriert; lange, ebenfalls falsche Locken fallen wie Riesenohrgehänge auf den Hals herab; die Krönung des Ganzen bildet das winzige Hütchen mit dem Schleier, der bis zu den Füßen baumelt, eine Zeitlang auch ein Amazonenhut mit wallender Feder, der immer schief sitzen muß. Zu Anfang der fünfziger Jahre erschienen die »Pagodenärmel«, die, bis zum Ellbogen eng, am Unterarm sehr weit und nicht geschlossen waren, und 1856 tauchte der Reifrock in einer neuen, von der Kaiserin erfundenen Form auf, die die Roßhaarwülste durch eingelegte Stahlfedern ersetzte und ihn dadurch sehr leicht machte; er ist mit zahlreichen Volants garniert, die selbst wieder mit Rüschen, Bändern, Spitzen besetzt sind. Zu Anfang der sechziger Jahre war er so enorm weit, daß die Witzblätter behaupteten, die Pariser Straßenerweiterung sei seinetwegen durchgeführt worden, wie er denn überhaupt ein stehendes Objekt der Satire bildete. Friedrich Theodor Vischer wies nach, daß er ein ästhetisches Monstrum sei, natürlich völlig erfolglos. Ganz wie der Hühnerkorb des Rokokos war er überall zu sehen: an Bäuerinnen und Köchinnen, bei Festlichkeiten auch an Kindern und auf der Bühne zu historischen Kostümen; wie seinerzeit die Clairon als Nausikaa im panier, so erschien jetzt Christine Hebbel als Kriemhild in der Krinoline. Dieses groteske Kleidungsstück, das während der letzten drei Jahrhunderte dreimal in Europa geherrscht hat, scheint unausrottbar, und es ist gar nicht ausgeschlossen, daß es auch in unserer Zeit wieder emporkommen wird, wenn auch nur als Abendkleid. Es diente im zweiten Empire ebensowenig wie im Rokoko der Verhüllung, vielmehr war es Sache einer ausgebildeten Technik, durch geschickte Wendungen die Dessous zu zeigen; der Cancan erfüllte diesen Zweck in ausschweifender Weise. Nur geschieht hier, was man dort mit graziöser Schlüpfrigkeit tut, mit massiver Fleischlichkeit: das Rokoko degagiert, das Empire engagiert; wie man denn auch durchaus kein Moralist zu sein braucht, um die damalige Sitte der aufdringlichen Busenentblößung bordellhaft zu finden. Als Schmuck waren die Halbedelsteine sehr beliebt, die ja in der Tat oft viel schöner und aparter sind als die echten Juwelen, in jener protzigen Zeit aber hauptsächlich wegen ihrer Größe gewählt wurden. Auch für die Bühnensterne wurde es obligat, möglichst viel Geschmeide zur Schau zu tragen, und Meyerbeers Bauernmädchen Dinorah erschien mit ihrer Ziege in Atlas, Brillanten und Goldkäferstiefeletten. Wenn wirkliche Aristokratinnen wie die Kaiserin Elisabeth einen feineren Geschmack zeigten, indem sie das sogenannte »englische Kostüm« bevorzugten: enganliegenden fußfreien Rock, Bluse und flache Schuhe, so galt dies als extravagant. Das Herrengewand unterschied sich sehr wenig von dem der vorhergegangenen Generation, wie es denn überhaupt von nun an fast stationär bleibt: auch dies eine Folge des Übergewichts der Bourgeoisie, die an andere Dinge zu denken hat. Es dominiert der philiströse Bratenrock, der plumpe Zugstiefel, der häßliche steife Kragen, der, ebenso wie die Krawatte, eine schmalere Form annimmt. Neben dem Zylinder trägt man den weichen Filzhut und die abscheuliche »Melone«, im Sommer eine läppische runde Strohmütze mit flatternden Samtbändern, die, weil sie an die Kopfbedeckung der Csikós erinnerte, »ungarischer Hut« genannt wurde. Nach dem Sieg der Demokratie wird der Vollbart salonfähig, in Frankreich bringt Napoleon den nach ihm benannten Knebelbart in Mode, auch der »Kaiserbart« wurde, von Franz Joseph, Alexander dem Zweiten und Wilhelm dem Ersten getragen, eifrig kopiert. Die Rasur verschwand fast vollständig, und auf allen männlichen Antlitzen prangte »das äußerliche Symptom der überhandnehmenden Roheit«, wie Schopenhauer es nennt, »dieses Geschlechtsabzeichen, mitten im Gesicht, welches besagt, daß man die Maskulinität, die man mit den Tieren gemein hat, der Humanität vorzieht, indem man vor allem ein Mann, mas, und erst nächstdem ein Mensch sein will«.
Galopp und Cancan, die beiden wildesten Tänze, die es gibt, gelangten, schon früher erfunden, erst jetzt zur vollen Herrschaft und letzten Extremität, während von Wien aus der Walzer durch Lanner und Johann Strauß Vater und Sohn seinen Siegeszug antrat. Über den Cancan schrieb die Pariser Tänzerin Rigolboche, die zu ihrer Zeit eine Weltberühmtheit war: »Man muß in einem bestimmten Augenblick und ohne zu wissen, warum, düster, melancholisch und trübsinnig sein, um mit einem Male wahnsinnig zu werden, zu rasen und zu toben, ja man muß im Notfalle all dies zu gleicher Zeit tun. Man muß, mit einem Wort, rigolbochieren. Der Cancan ist der Wahnsinn der Beine.« Die Menschheit ist von einer wahren Tanzwut ergriffen; auch auf der Bühne dominiert das Ballett, durch schreiende Ausstattungskünste und verwirrenden Massenaufwand zur »Féerie« gesteigert, und drängt sich als breites Zwischenspiel in die Oper. Die ureigentümliche Schöpfung des Zeitalters aber ist die Operette. Dies war ursprünglich die Bezeichnung für das Singspiel des achtzehnten Jahrhunderts: man sprach, im Gegensatz zur grand opéra, von »kleinen Opern«, die, in Form und Inhalt anspruchsloser, sich von dieser vor allem durch den Wechsel von Gesang und Dialog unterschieden: es waren im wesentlichen Lustspiele mit Musikeinlagen. Das neue Genre, dessen Begründer Hervé ist, nannte sich, an eine noch ältere Gattung anknüpfend, opéra bouffe, während es vom Publikum den charakteristischen Namen »musiquette« erhielt. Sein großer Zaubermeister ist Jacques Offenbach, der zuerst mit Einaktern hervortrat (auch das Singspiel war ursprünglich einaktig). 1858 erschien »Orphée aux enfers«, 1864 »La belle Hélène«, 1866 »Barbe-Bleue«, »La vie parisienne«, 1867 »La grandeduchesse de Gerolstein«. In diesen Werken, erlesenen Bijous einer komplizierten Luxuskunst, ist, ähnlich wie dies Watteau für das Paris des Rokoko vollbracht hat, der Duft der ville lumière zu einer starken haltbaren Essenz destilliert, die aber um vieles beißender, salziger, stechender geriet. Sie sind Persiflagen der Antike, des Mittelalters, der Gegenwart, aber eigentlich immer nur der Gegenwart und im Gegensatz zur Wiener Operette, die erst eine Generation später ihre Herrschaft antrat, gänzlich unkitschig, amoralisch, unsentimental, ohne alle kleinbürgerliche Melodramatik, vielmehr von einer rasanten Skepsis und exhibitionistischen Sensualität, ja geradezu nihilistisch. Daß Offenbach, unbekümmert um psychologische Logik und künstlerische Dynamik, eigentlich nur »Einlagen« bringt, wie ihm oft vorgeworfen worden ist, war ebenfalls nur der Ausfluß eines höchsten, nämlich ästhetischen Zynismus, einer Freigeisterei und Selbstparodie, die sogar die Gesetze der eigenen Kunst verlacht. Daß er aber auch ein tiefes und zartes Herz besaß, würde allein schon die Barkarole seines letzten Werkes beweisen, der »Contes d'Hoffmann«, in denen die deutsche Romantik der Vorlage, durch die Raffinade der Pariser Décadence verkünstelt und veredelt, ein wundersam ergreifendes Lied anstimmt. Hier klagt der Radikalismus des modernen Weltstädters um die verschwundene Liebe: die Frau ist Puppe oder Dirne; die wahrhaft liebt, eine Todgeweihte. Es ist, als ob Offenbach in seinem Abschiedsgesang den Satz aus dem Tagebuch der Goncourts instrumentiert hätte: »Ah, il faut avoir fait le tour de tout et ne croire à rien. Il n'y a de vrai que la femme.« Und selbst diese letzte Wahrheit entpuppt sich als trügerisch.
Mehr die Fassade des Zeitalters, aber diese sehr ausdrucksvoll, spiegelt der »Faust« von Gounod (in Deutschland richtiger »Margarethe« genannt), der zuerst 1859 im Théâtre lyrique erschien und ein Jahrzehnt später (ein bis dahin unerhörter Fall) in die Große Oper übernommen wurde, von wo er seinen Triumphzug durch Europa antrat. Indem Gounod die erotische Episode aus der Fausttragödie in einer Weise isolierte, die für das deutsche Gefühl grotesk, ja fast obszön erscheinen muß, und sie dabei in einem Maße versüßlichte und sentimentalisierte, wie es nur ein Franzose fertigbringt, hat er eines jener seltenen, in ihrer Art bewundernswerten Werke geschaffen, die man als erstklassigen Schund bezeichnen kann. Er spielt auf einem goldenen Leierkasten, der aber darum doch eine Drehorgel bleibt. Ein Gegenstück zu Offenbach war der Bildhauer Jean Baptiste Carpeaux, der, sinnlich, witzig, pikant, voll glitzernder Vitalität, das Kunststück zuwege brachte, sogar den Marmor moussieren und rigolbochieren zu lassen: sein Antiklassizismus wirkte so aufreizend, daß gegen sein Hauptwerk, die Gruppe des Tanzes an der Fassade der Großen Oper, ein Attentat begangen wurde.
Auf dem Theater brillierte das »Sittenstück«, eine reicher und greller kolorierte Variante des bürgerlichen Rührstücks, das, wie wir uns erinnern, im achtzehnten Jahrhundert in Frankreich seine Blüte erlebt hatte. Schon Dumas père hatte in den dreißiger Jahren in vielgespielten Dramen die Heuchelei der Gesellschaft gebrandmarkt und das Recht der Leidenschaft gepredigt: der Held war dämonisch und revolutionär im Stil der französischen Romantik und meist unehelich. Und ein unehelicher Sohn des Dichters, Alexander Dumas der Jüngere, war es, der es in diesem Genre zur Meisterschaft brachte: als bei seinem ersten Premierenerfolg jemand im Zwischenakt zu Dumas pére die taktlose Bemerkung machte: »da werden Sie wohl auch einiges beigetragen haben«, antwortete dieser: »die Hauptsache: der Verfasser ist ja von mir«. Auch die Schauspiele des Sohnes behandeln fast immer ein soziales Problem: die femme entretenue, die uneheliche Mutter, das »tue-la« oder eine »These«: darf die Frau sich rächen?, muß das Mädchen den Fehltritt gestehen?, kann die Gefallene tugendhaft sein? Seine reizenden Nippes sind alle aus Gips, innen vollständig hohl, außen geschmackvoll vergoldet, und zeigen, zumal in den späteren Produkten, zu deutlich die Herkunft aus derselben Fabrik. Ein Konkurrent erwuchs ihm in Émile Augier, der neben vielem andern im Monsieur Poirier, dem ehrgeizigen Parvenu, und in Giboyer, dem käuflichen, aber gegen seine Familie aufopfernden Journalisten, zwei starke Bühnentypen schuf. Er ist auch der Erfinder des Raisonneurs, den Viktor Klemperer in seiner »Geschichte der französischen Literatur« sehr gut als »ein Mittelding zwischen dem antiken Chor, dem klassischen Vertrauten und dem modernen Conférencier« definiert; aber diese neue Figur hat von ihren drei Verwandten nur das Undramatische: vom Chorus das aus dem Rahmen fallende Zum-Publikum-Reden, vom Confident die schicksalslose Schemenhaftigkeit, vom Conférencier, daß sie überhaupt kein Charakter, sondern ein Aphorismenständer ist. Sie hat aber gleichwohl auf der Bühne ein sehr langes Leben geführt, weil das Publikum, das sich mit ihr identifiziert, es immer sehr gern hat, wenn es sich gescheit vorkommen darf. Augier kommt noch deutlicher als Dumas vom Aufklärungsdrama her, er ist ein zugleich plumperer und raffinierterer Diderot, jedoch von diesem darin unterschieden, daß seine Moralistik (obgleich sicher meist unbewußt) verlogen ist: damals war das Bürgertum als Klasse der Zukunft im sittlichen und geistigen Aufstieg, jetzt ist es eine fette schillernde räuberische Sumpforchidee, an der Veredlungs- und Rettungsversuche höchst deplaziert wirken.
Das wichtigste geistige Phänomen aber, das in jener Zeit von Paris aus seine Strahlen über ganz Europa ergoß, war der Comtismus oder Positivismus. Er fußt auf der sonderbaren Überzeugung, die Nietzsche in dem Ausspruch, der an der Spitze dieses Kapitels steht, als pathologisch charakterisiert hat: der Annahme, daß es nur eine Welt der Sinne gebe, eine greifbare, atembare, riechbare, schmeckbare Welt, die man besehen, abhören, abtasten, photographieren und neuerdings auch verfilmen kann, kurz: daß die Realität wirklich, ja das einzig Wirkliche sei. Es ist die notwendige und unentrinnbare Weltansicht der Bourgeoisie, welche den Gedanken offenbar nicht ertrug, daß diese Welt, mit der wir täglich operieren, nichts Solides, Kompaktes, Reelles sein solle. Die Supposition des Phänomenalismus, daß der Betrieb, den wir Realität nennen, nichts anderes sei als eine von sämtlichen Aktionären der Unternehmung stillschweigend für bar genommene Fiktion, ein Luftgeschäft sozusagen, war für eine kaufmännisch orientierte Gesellschaft unannehmbar. Sie wurde scheinbar vermieden durch den Positivismus, der mit lauter vollwertigem Material: massiven Tatsachen, evidenten Schlüssen, kompletten Deskriptionen, exakten Experimenten arbeitet. Leider aber hat sich dieser ganze Fonds von Realwerten als bloßes bedrucktes Papier und der Positivismus als das größte Windgeschäft herausgestellt, dem die Menschheit jemals zum Opfer gefallen ist.
Auguste Comte, dessen Wirkung erst nach seinem Tode europäische Dimensionen annahm, war ein vornehmer Geist, in dem die cartesianische Leidenschaft für clarté und Architektonik das vorwaltende Pathos bildete. Als Grundprinzip alles Denkens und Lebens gilt ihm die Einschränkung auf das Positive, das durch die Erfahrung Gegebene; seine Orientierung ist daher völlig antimetaphysisch und antireligiös. Erste Ursachen und letzte Zwecke sind unerforschbar; sie gehen daher die Wissenschaft nichts an, deren Aufgabe nicht Erklärung, sondern Beschreibung der Einzeltatsachen ist; beobachtet sie an diesen eine genügend große Anzahl von Gleichförmigkeiten, so ist sie berechtigt, sie zu »Gesetzen« zusammenzufassen. Die Menschheit vollzieht ihre Kulturentwicklung in drei Stadien: auf der ersten Stufe, der religiösen, glaubt sie an Personifikationen der Naturkräfte, und zwar in den aufeinanderfolgenden Formen des Fetischismus, Polytheismus und Monotheismus; auf der zweiten Stufe, der metaphysischen, bekennt sie sich zu abstrakten Prinzipien, die nur ein feinerer Anthropomorphismus sind; auf der dritten Stufe, der positiven, herrscht Wissenschaft. Doch gibt es auch eine Art positivistische Religion, die ihr Glaubensobjekt in der Humanität findet und unter Unsterblichkeit das Fortleben im dankbaren Gedächtnis der Nachwelt versteht. Diese Religion besitzt sogar einen Kultus: nämlich den des Grand Être, das die Menschheit ist, sowie ein moralisches Priestertum und eine Hierarchie von Heiligen: verdienten Männern, denen im positivistischen Kalender je nach dem Rang die großen Feiertage, die kleinen, die Wochentage geweiht sind. Von größerem Interesse als diese etwas schrullenhafte Spielerei ist Comtes Hierarchie der Wissenschaften. Sie ordnet die einzelnen Disziplinen nach dem Grad ihrer Kompliziertheit. Die einfachste Wissenschaft ist die Mathematik, die eine reine Größenlehre ist; dann folgen die Astronomie, die Physik, die Chemie, die Biologie und schließlich die von Comte begründete Gesellschaftslehre, die er mit einem gräkolateinischen Zwitterwort, das sich aber seither allgemein eingebürgert hat, Soziologie nennt. Die zunehmende Komplikation bedingt auch eine steigende Unsicherheit: es ist weitaus schwieriger, biologische oder soziologische Gesetze aufzustellen als mathematische oder astronomische; und zugleich deckt sich dieser Stufengang mit dem der historischen Entwicklung: daher folgten aufeinander Galilei, Newton, Lavoisier, Cuvier, Comte. Die Soziologie zerfällt in die Statik, die die allgemeinen Bedingungen, und die Dynamik, die die allgemeinen Gesetze, die Entwicklung des Gesellschaftslebens festzustellen hat. Diese zeigt eine fortschreitende Überwindung der animalischen Triebe durch die humanen, der kriegerischen Interessen durch die industriellen, der oligarchischen Regierungsformen durch die demokratischen, der theologischen Weltanschauung durch die wissenschaftliche.
In enger Verwandtschaft mit dieser Lehre steht die gleichzeitige englische Philosophie. James Mill bezeichnete die Erkenntnistheorie als »mental chemistry«, die aus den Elementen, den Empfindungen, deren Verbindungen, die Assoziationen im Geiste nachzukonstruieren habe. Sein Sohn, der berühmte John Stuart Mill, erklärte für die einzige Erkenntnisquelle die Erfahrung, für die einzige fruchtbare Methode die Induktion; jedes allgemeine Urteil sei ein Resümee aus Einzelbeobachtungen, alles Erkennen Generalisieren, das höchste Generalurteil das Kausalgesetz, da es aus allen bisherigen Erfahrungen gezogen sei. Einen höheren Standpunkt nahm Thomas Huxley ein, der sich mit einem von ihm geprägten Wort zur Weltanschauung des »Agnostizismus« bekannte: Wahrheit und Wirklichkeit seien unerkennbar, die Wissenschaft habe es nur mit Phänomenen zu tun. Auch Spencer räumte ein »unknowable« oder »Unerkennbares« ein, wozu Ludwig Büchner erbost bemerkte: »Wenn die Furcht oder Scham vor dem Unbekannten den rohen Urmenschen beherrschte und selbst bis auf den heutigen Tag den wilden oder den ungebildeten Menschen beherrscht, so sollte doch das gleiche nicht bei den Gebildeten oder Kulturmenschen der Fall sein. Fiat lux!« Das Kriterium der Wahrheit ist nach Spencer die Undenkbarkeit des Gegenteils; unsere apriorischen Erkenntnisformen sind von der Gattung allmählich durch Anpassung erworben worden; später trat dazu das Gewissen, als Ergebnis der Gattungserfahrung vom Nützlichen. Das Gesamtgebäude seiner Philosophie, die im wesentlichen ein mit Darwinismus verschnittener Comtismus ist, hat Spencer in einer stattlichen Serie von bewunderungswürdig kenntnisreichen und unerträglich langweiligen Bänden dargestellt, die die Anordnung haben: First Principles, Principles of Biology, Principles of Psychology, Principles of Sociology, Principles of Morality. Der Grundgedanke des »System of synthetic philosophy« besteht in folgendem. Es gibt nichts als Stoff und Bewegung. Diese unterliegen beständig zwei antagonistischen Prozessen: der evolution oder Entwicklung und der dissolution oder Auflösung. Evolution ist immer zugleich Integration (Zusammenschluß) des Stoffes und Dissipation (Ausbreitung) der Bewegung; Dissolution ist identisch mit Disintegration (Auseinandertreten) des Stoffes und Absorption (Aufsaugung) der Bewegung. Außerdem befindet sich der zerstreute Stoff in einem homogenen (gleichartigen), der konzentrierte Stoff in einem heterogenen (ungleichartigen) Zustand, Entwicklung ist daher stets Differenzierung. Repulsion und Attraktion, die die Körperwelt bewegen, sind ein Ausdruck dieses Gesetzes, das den gesamten Rhythmus des Weltalls beherrscht. Geistiges Leben ist beständige Integration und Differenzierung von Bewußtseinszuständen. Aus diesem ledernen Schematismus, der bei aller gallimathiashaften Kompliziertheit seiner Terminologie doch höchst primitiv ist, spricht die typische Neigung des Engländers, sich die Dinge bedeutend einfacher vorzustellen, als sie sind, in der sich seine eminente praktische Begabung auswirkt; denn nichts ist lebensnützlicher und für die Beherrschung der Welt förderlicher als eine handliche A-b-c-Formel, die alle Widersprüche, Subtilitäten und Abgründe ignoriert.
Eine solche produzierte auch Henry Thomas Buckle in seiner »Geschichte der englischen Zivilisation«, von der in der Einleitung des ersten Buches die Rede war. Das Werk enthält, wie bereits dort erwähnt wurde, noch nicht das eigentliche Thema, sondern bloß ein allgemeines Programm: »Ich hoffe«, sagt Buckle, »für die Geschichte des Menschen dasselbe oder doch etwas Ähnliches zu leisten, wie es anderen Forschem in den Naturwissenschaften gelungen ist. In der Natur sind die scheinbar unregelmäßigsten und widersinnigsten Vorgänge erklärt und mit bestimmten unwandelbaren und allgemeinen Gesetzen in Einklang gebracht worden. Dies ist gelungen, weil Männer von Talent und vor allem von geduldigem und unermüdlichem Geist die Phänomene der Natur mit der Absicht studiert haben, ihr Gesetz zu entdecken; wenn wir nun die Vorgänge der Menschenwelt einer ähnlichen Betrachtung unterwerfen, haben wir alle Aussicht auf einen ähnlichen Erfolg.« Und er gelangte mit Hilfe dieser Methode zu folgenden Resultaten: »1. Der Fortschritt des Menschengeschlechts beruht auf dem Grade, in dem die Gesetzmäßigkeit der Erscheinungen erforscht, und auf dem Umfang, in dem eine Kenntnis dieser Gesetze verbreitet wird. 2. Bevor eine solche Forschung beginnen kann, muß sich ein Geist des Skeptizismus erzeugen, der zuerst die Forschung fördert und dann von ihr gefördert wird. 3. Die Entdeckungen, die auf diese Weise gemacht werden, stärken den Einfluß intellektueller Wahrheiten. 4. Der Hauptfeind dieser Bewegung und folglich der Hauptfeind der Zivilisation ist der bevormundende Geist.« Man sollte es nicht glauben, aber dies ist wirklich der ganze philosophische Inhalt der beiden Bände, der dem Autor aber entweder so schwierig oder so paradox erschien, daß er etwa 1400 Seiten Text und über 900 Fußnoten brauchte, um ihn zu erläutern und zu belegen. An diesem schwerfälligen und groben, aber geselligen und gutmütigen Ungetüm von Philosophem ist das Wertvolle der Apparat: er bietet eine sehr geschickt gruppierte, sehr faßlich ausgearbeitete Fülle von Notizen. Es ist ein riesiges Warenhaus von historischen Materialien. Englische und französische Revolution, Zeitalter Ludwigs des Vierzehnten und Philipps des Zweiten, Island und Irland, Indien und Mexiko, Rechtsgeschichte und Botanik, Wetterkunde und Moralstatistik, Theologie und Prosodie, Nahrungsmittelchemie und Seismographie: alles wird sauber und reichlich zur Schau gestellt, um zu beweisen, daß der Mensch gescheiter wird, wenn er gescheiter wird.
Diese englischen Denker kommen alle von Locke und Hume her, die ihrerseits wiederum in Bacon wurzeln. Ihre bis zur Ermüdung wiederkehrenden Leitmotive sind: Anbetung der »Erfahrung« als einer Art Bibel, in der alle Wahrheiten aufgezeichnet sind, und der »lückenlosen Induktion«, die nichts ist als eine Art feinere Statistik; Ablehnung aller Metaphysik als Truggespinst oder quantité négligeable; Erklärung aller anthropologischen Phänomene aus Anpassung und Gewohnheit und aller Moral aus dem wohlverstandenen Egoismus. Hume hat es einmal mit aller wünschenswerten Klarheit ausgedrückt: »Nehmen wir ein beliebiges theologisches oder metaphysisches Werk zur Hand und fragen wir: enthält es irgendeine theoretische Untersuchung über Quantität oder Zahl? Nein. Enthält es irgendeine experimentelle Untersuchung über empirische Tatsachen? Nein. Nun, dann werfe man es ins Feuer, denn dann kann es nur Sophistik und Spiegelfechterei enthalten.« Dies ist die englische Apperzeptionsform; in der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts aber wurde sie zur Apperzeptionsform Europas, und zwar durch den Darwinismus, der für diesen Zeitraum eine ähnliche Bedeutung hat, wie sie der Nominalismus für sämtliche Jahrhunderte der Neuzeit besitzt: er hat im vollsten Sinne des Wortes die Epoche gemacht: umgestaltet, gelenkt, bis in die geheimsten und entlegensten Kanäle ihres Geisteslebens durchdrungen.
Charles Darwin, dem seine Anhänger das stolze Prädikat eines »Kopernikus der organischen Welt« verliehen, ein vortrefflicher Gelehrter und reiner kindlicher Geist, der unermüdlichen Wissensdrang mit der Schlichtheit eines echten Gentleman und der Demut eines wahren Christen zu vereinigen wußte, hat seine Beobachtungen in einem 1859 erschienenen Monumentalwerk niedergelegt, dessen voller Titel lautet: »On the origin of species by means of natural selection; or the preservation of favoured races in the struggle for life«; seine übrigen Werke enthalten nur Erläuterungen, Ausbauten und Supplemente, und eigentlich steht der ganze Grundgedanke schon im Titel des Buches, das ihn bloß durch eine Fülle von Anschauungsstoff belegt. Darwin hat sich in edler Bescheidenheit, die aus weiser Selbstkritik entsprang, niemals für einen Philosophen gehalten, sondern nur für einen Naturforscher, der Tatsachen sammelt und an sie einige vorsichtige Hypothesen knüpft. Seine Vorgänger waren Linné, Cuvier und Lamarck. Linné hatte, wie wir uns erinnern, eine genaue Klassifizierung der Tiere und Pflanzen in Stämme, Arten und Varietäten vorgenommen und den Menschen unter die Säugetiere eingereiht, aber andrerseits erklärt: »es gibt so viele Spezies, als das unendliche Wesen von Anfang an geschaffen hat.« Cuvier ging schon weiter, indem er zwar noch am Schöpfungsdogma festhielt, aber mehrere Schöpfungen annahm, die, durch regelmäßige Erdkatastrophen bedingt, für jedes geologische Zeitalter eine neue Flora und Fauna hervorbringen. Ihm trat Lamarck entgegen, der in seiner »Philosophie der Zoologie« die Entwicklung der Tierwelt durch die Verschiedenheit der Lebensbedingungen, in erster Linie aber durch Gebrauch oder Nichtgebrauch der Organe erklärte; eine ähnliche Theorie vertrat Geoffroy de Saint-Hilaire, nur daß er umgekehrt den Faktor des »monde ambiant«, der beständig wechselnden Umwelt in den Vordergrund stellte: in dem Streit, den er hierüber 1830 mit Cuvier ausfocht, stand Goethe auf seiner Seite. Aber schon gegen Ende des achtzehnten Jahrhunderts hatte der Großvater Darwins, Erasmus Darwin, in seiner »Zoonomia, or the laws of organic life« Anpassung, Heredität, Erhaltungskampf und Selbstschutz als Prinzipien der Evolution aufgestellt; es scheint also beim Darwinismus selber Vererbung im Spiele gewesen zu sein. Die entscheidende Anregung aber hatte Darwin von einem Autor erhalten, der mit Naturwissenschaft sehr wenig zu schaffen hatte: nämlich von Malthus, der gelehrt hatte, daß das Mißverhältnis zwischen der Zunahme des Nahrungsspielraums und dem Wachstum der Bevölkerung, die sich in geometrischer Progression vervielfältigte, während jener sich nur in arithmetischer Progression vergrößere, einen andauernden Kampf ums Dasein bedinge. Übrigens lag der Darwinismus, selber ein Produkt der menschlichen Anpassung an den Zeitgeist, in der Luft: 1858 hatte der Forschungsreisende Alfred Wallace eine Abhandlung verfaßt, deren Gedanken sich bis ins Detail mit denen der »Abstammung der Arten« deckten, Spencer hatte schon in der ersten Hälfte der fünfziger Jahre eine Deszendenztheorie entworfen, und Henry Bates begründete wenige Jahre später die Lehre von der Mimikry. Erst diese Umstände veranlaßten Darwin nach mehr als zwanzigjähriger Vorarbeit zur Veröffentlichung seines Werks, die sonst vielleicht bei seiner außerordentlichen Gewissenhaftigkeit zu seinen Lebzeiten überhaupt nicht stattgefunden hätte.
Die These des Darwinismus besagt, daß die Arten konstant gewordene Varietäten, die Varietäten in Bildung begriffene Arten sind und die Entstehung neuer Rassen ein Produkt des Kampfes ums Dasein ist, der als eine Art natürlicher Zuchtwahl gewisse Exemplare begünstigt, welchen Vorgang Spencer als Überleben des Passendsten bezeichnet hat. Diese Vorstellungsweise macht die Natur zu einer Einrichtung, in der es englisch zugeht, nämlich: erstens freihändlerisch, indem die Konkurrenz entscheidet, zweitens korrekt, denn nur, was am wenigsten shocking ist, das Passendste, überlebt, drittens liberal, denn es herrscht »Fortschritt« und die Nouveautés sind immer zugleich Verbesserungen, viertens aber zugleich konservativ, denn der Kampf um den Fortschritt vollzieht sich »organisch«: in langsamen Übergängen und durch Majoritätssiege. Englisch ist auch die naive Gleichsetzung der künstlichen Züchtung mit der natürlichen Auslese, eine Kolonialvorstellung, die die Erde als große Tierfarm und Gemüseanlage konzipiert, und die Unfähigkeit, sich die Vergangenheit als generell verschieden von der Gegenwart zu denken: es muß alles »so ähnlich« wie heute zugegangen sein, zumindest unter Benützung derselben umbildenden Kräfte; in diesem Punkt ist der Darwinismus das biologische Gegenstück zu Lyells Geologie, die alles auf actual causes, unmerklich wirksame, noch heute »aktuelle« Ursachen zurückführt: sehr charakteristisch für ein unheroisches Zeitalter der gelehrten Myopie und Mikrophilie, der politischen Tagesanbetung und des weltbeherrschenden Journalismus.
Aus alledem erklärt sich sehr leicht die ungeheure Wirkung der Darwinschen Theorie, wozu noch kommt, daß sie gewissen ästhetischen und logischen Bedürfnissen des menschlichen Geistes schmeichelte, indem sie die kunstreiche Kathedrale einer Hierarchie der Lebewelt aufbaute, von den einzelligen Urtieren, den zusammengesetzten, aber festsitzenden Pflanzentieren, den beweglichen, aber weichen Würmern ansteigend zu den Stachelhäutern, die aber noch keine Gliedmaßen besitzen, den Gliederfüßlern, die noch der Wirbelsäule entbehren, den kiemenatmenden Fischen, den kiemen- und lungenatmenden Lurchen, den bloß lungenatmenden Kriechtieren, den warmblütigen Vögeln, den milchdrüsenführenden Säugetieren, den hand- und vernunftbegabten Primaten und deren Krone, dem Menschen, der bereits die Fähigkeit zum Darwinismus besitzt. Diese dem Auge wie dem Gedanken höchst gefälligen Fiktionen sind zwar pure Begriffsdichtungen, »regulative Ideen«, besitzen aber vermöge ihrer schönen klaren Architektur einen hohen Faszinationsreiz: sie machen die Welt lichtvoller, gegliederter, rhythmischer, komponierter.
Die Aufnahme, die Darwins Werk sogleich nach seinem Erscheinen fand, hat Huxley mit charmantem Humor geschildert: »Jedermann hat es gelesen oder hat wenigstens über seine Verdienste und Mängel ein Urteil abgegeben. Alte Damen beiderlei Geschlechts halten es für ein entschieden gefährliches Buch. Und der echte Publizist ist zu sehr daran gewöhnt, seine Kenntnisse erst aus dem zu kritisierenden Buche zu schöpfen so wie der Abessinier seine Beefsteaks von dem Ochsen beziehen soll, auf dem er reitet , als daß er sich durch den bloßen Mangel an Vorbildung von der Beurteilung eines tiefgehenden wissenschaftlichen Werks sollte abhalten lassen.« Indes hat es von allem Anfang an auch nicht an sehr seriösen Naturforschern gefehlt, die dem Darwinismus ihre Anerkennung verweigerten. Dubois-Reymond nannte Häckels erstes Hauptwerk, die »Generelle Morphologie«, einen schlechten Roman, der nach der Art der Homeriden mit sagenhaften Stammbäumen arbeite, und der hervorragende Schweizer Zoologe Louis Agassiz sagte: »Der Darwinismus ist eine Travestie der Tatsachen.« Der Botaniker Johannes Reinke erklärte in seiner ausgezeichneten »Einleitung in die theoretische Biologie«: »Die Phylogenie der Organismen ist nicht der Geschichte, sondern nur der Prähistorie des Menschengeschlechts an wissenschaftlichem Werte vergleichbar«, und Hans Driesch, ein Hauptvertreter des »Neovitalismus«, dessen philosophische Werke in den letzten Jahrzehnten eine sehr große Verbreitung gefunden haben, behauptete sogar, alle Darwinisten litten an Gehirnerweichung.
In der Tat sind sämtliche Positionen des Darwinismus von mehreren Seiten angreifbar. Was zunächst die Zuchtwahl anlangt, so sind die Produkte der künstlichen Auslese dem struggle for life keineswegs besser angepaßt, sogar schlechter. Was die Züchtung erzielt, sind entweder degenerierte Kuriositäten wie zum Beispiel der japanische Goldfisch, der eine vierlappige Schwanzflosse, oder der japanische Phönixhahn, der zwei Meter Schwanzfedern besitzt, oder kampfunfähige Hypertrophien wie die zahlreichen Fettrassen, oder Haustiere, die, wie schon der Name sagt, für das Leben in der freien Natur verdorben sind. Ganz zweifellos würden, einem Konkurrenzkampf überlassen, Haushühner, Hausgänse, Hausenten gegen die wilden Varietäten im Nachteil sein, und dies gilt auch von den Edelprodukten der Domestikation wie Rennpferden, Windhunden, Angorakatzen, Singkanarien, ja von diesen in noch höherem Maße. Die künstliche Selektion ist also als Analogie der natürlichen nicht brauchbar; und auch die sexuelle Zuchtwahl ist ein viel größeres Rätsel, als der Darwinismus annimmt: das Weibchen wählt durchaus nicht immer das schönste und stärkste Exemplar, wie ja auch unter den Menschen die erotische Attraktion eher von dem Gesetz der Polarität bestimmt zu sein scheint, indem schöne Frauen sich sehr oft zu häßlichen Männern hingezogen fühlen und starke Männer häufig schwächliche Frauen bevorzugen. Ferner müßten, wenn die Evolutionstheorie recht hätte, auch heute noch die Arten sich in ständigem Fluß befinden; es müßte sich doch in der von uns kontrollierbaren Zeit ein einziger Fall von produktiver Anpassung ereignet haben. Man hat aber nichts dergleichen beobachtet; es lassen sich nur Rückbildungen konstatieren. Der Darwinismus greift allerdings, ebenso wie der Aktualismus Lyells, zu dem Hilfsmittel großer Zeiträume; aber es ist merkwürdig, daß die Paläontologie, die die Vergangenheit der Erde erforscht, zwar viele heutige Klassen nicht feststellen konnte, aber auch keine einzige neue Klasse, was doch der Fall sein müßte, wenn die Spezies aus einander entstanden und die Mittelglieder inzwischen ausgestorben wären. Huxley, einer der frühesten und energischsten Vorkämpfer des Darwinismus, sagte in einem Vortrag vom Jahr 1862: »Man kennt zweihundert Pflanzenordnungen, unter diesen ist nicht eine, die ausschließlich im fossilen Zustande vorkäme. Kein fossiles Tier ist von den jetzt lebenden so verschieden, daß wir eine ganz neue Klasse bilden müßten, um es unterzubringen.« Und, was das Wichtigste ist: alle diese Fossile sind aufs höchste kompliziert und spezialisiert. Sie sind keineswegs einfacher als die heutigen Lebewesen: zum Teil anders, aber ebenso rätselhaft; und sie sind niemals unentschiedene Zwitterformen. Man hat allerdings einigen Funden diesen Titel freigebig verliehen. Aber sieht man von dem armen amphioxus ab, einem bedauernswert rückgebildeten Fischchen, das nach der Lehre des darwinistischen Ahnenkults der »Stammvater der Wirbeltiere« ist, aber zweifellos ein recht sonderbarer, nämlich ein Wirbeltier ohne Schädel und Wirbelsäule, so bleibt nur der Stolz der paläontologischen Menagerie, die archaeopteryx lithographica, die als »Urvogel« verehrt wird, eine Klettertaube mit bezahntem Kiefer und nicht sehr leistungsfähigen Flügeln, aber sehr langem befiedertem »Saurier«-Schwanz, den sie offenbar zum Steuern, vielleicht auch als Fallschirm benützte, zweifellos ein originelles Federvieh, aber von einer Eidechse doch noch recht weit entfernt, nichts weniger als eine Zwischenstufe, vielmehr eine ganz scharf abgegrenzte Architekturform und vermutlich der Repräsentant einer ganzen Faunagruppe, die vormals eines der Szenenbilder der Erdgeschichte belebte: sie ist nämlich ganz einfach die »Vogelbesetzung« aus der Flugechsenzeit.
»Die Natur macht keine Sprünge« ist einer der falschesten Sätze, an die jemals geglaubt wurde. Sie macht nur Sprünge. Wilhelm Fließ hat an zahllosen Beispielen nachgewiesen, daß im menschlichen Individualleben alle Entwicklungsschübe sich »anfallsweise« vollziehen. Ebenso verhält es sich im Leben unserer Gattung. Entscheidende historische Ereignisse treten immer abrupt, unvermittelt, explosiv auf: die »Vorbereitungen von langer Hand«, die man später hineininterpretiert hat, sind ein müßiges Gesellschaftsspiel tüftelnder Gelehrten. Die Völkerwanderung, der Islam, die deutsche Reformation, die englische, die französische Revolution waren plötzlich da. Wir brauchen nur auf unsere eigene heutige Gegenwart zu blicken, um dieses Gesetz bestätigt zu finden. Mit einem Schlage ist eine neue Zeit angebrochen. Ob sie besser oder schlechter ist als die »gute alte«, wollen wir unerörtert lassen, jedenfalls ist sie völlig anders. Wir haben eine neue Kunstanschauung, eine neue Gesellschaftsform, ein neues Staatsleben, ein neues Weltbild, von denen 1914 nichts auch nur angedeutet war. Die nebulose Lehre von den »differentialen Übergängen« ist ein Dunstbild liberaler Professoren, die von der Undramatik ihres Geistes und Trägheit ihres Stoffwechsels auf das Leben der Natur und Geschichte schließen. Der holländische Botaniker Hugo de Vries hat denn auch bereits zu Anfang unseres Jahrhunderts seine »Mutationstheorie« entwickelt, die an der Hand von Pflanzenexperimenten nachweist, daß alle Variationen »sprungweise« auftreten: ganz spontan, in »Stößen« entstehen auffallende Habitusänderungen, und ebenso, vermutet de Vries, sind die neuen Spezies entstanden.
Der Darwinismus leitet die Arten voneinander ab, unter der stillschweigenden Annahme, daß sie miteinander verwandt seien; das heißt: die Abstammungslehre setzt als unbewiesene Prämisse die Abstammung bereits voraus. Die darwinistische Auslese trifft auf Individuen von bestimmten schon vorhandenen Fähigkeiten, die sie der Auslese würdig machen; das heißt: die Selektion setzt die Selektion voraus. Die Anpassung formt Wesen, die die Disposition zur Anpassung bereits entwickelt haben: die Anpassung setzt die Anpassung voraus.
Die Tatsächlichkeit der heute vorhandenen Arten steht mit dem Darwinismus in doppeltem Widerspruch, denn sie würde, wenn er wahr wäre, zu wenig und zu viel enthalten. Zu wenig: denn warum gibt es nur scharf getrennte Gruppen, sozusagen, »Spezialfächer«? Wenn alle miteinander verwandt sind, dürften sie durch keine so schroffen, gewissermaßen unduldsamen Klassenunterschiede gegeneinander abgesondert sein. Zu viel: denn warum gibt es noch allenthalben zahllose überlebende Frühformen, sozusagen »Unmoderne«? Wenn die natürliche Auslese wirklich das bestimmende Prinzip wäre, müßten die höherentwickelten Typen längst im Kampf ums Dasein gesiegt und die tieferstehenden verdrängt haben. Beide Fragen beantworten sich damit, daß der abgetane Cuvier vielleicht doch zum Teil recht hat: daß in der Tier- und Pflanzengeschichte, ganz ähnlich wie in der menschlichen, verschiedene Zeitalter einander ablösen, jedes ein besonderer Schöpfungsgedanke, eine Epoche mit eigenem Charakter, Baustil, Kostüm, Lebensrhythmus, alle gleich göttlich, alle unsterblich. Und wie bei der Historie unseres Geschlechts vermögen wir auch hier die einzelnen Tableaux nur bewundernd zu betrachten, ihr geheimnisvolles Kommen und Gehen aber nicht zu erklären.
Es wurde schon im ersten Buche ausgeführt, daß man viel eher von einem Überlebenden des Unpassendsten reden könnte. Denn der Träger der Entwicklung ist niemals der »normale« Organismus, sondern der pathologisch reizempfindliche, an irgendeinem Punkte krankhaft hypertrophierte. In der menschlichen Geschichte entstehen neue historische Varietäten niemals durch Anpassung, sondern durch Reaktion gegen die bisherigen Lebensbedingungen: wir brauchen uns nur an die Vorgänge zu erinnern, die zur Geburt der Neuzeit führten. Die »Erwerbung neuer Eigenschaften« ist kein physiologischer Prozeß, geschweige denn ein mechanischer, sondern ein geistiger. Schopenhauer sagte schon 1835 in seiner Abhandlung. »Über den Willen in der Natur«, jedes Organ sei anzusehen als der Ausdruck »einer fixierten Sehnsucht, eines Willensaktes, nicht des Individuums, sondern der Spezies«; zum Beispiel den Willen zum Leben »ergriff die Sehnsucht, auf Bäumen zu leben, an ihren Zweigen zu hängen, von ihren Blättern zu zehren, ohne Kampf mit andern Tieren und ohne je den Boden zu betreten; dieses Sehnen stellt sich, endlose Zeit hindurch, dar in der Gestalt (platonischen Idee) des Faultiers«; »die Lebensweise, die das Tier, um seinen Unterhalt zu finden, führen wollte, war es, die seinen Bau bestimmte ... nicht anders, als wie ein Jäger, ehe er ausgeht, sein gesamtes Rüstzeug, Flinte, Schrot, Pulver, Jagdtasche, Hirschfänger und Kleidung, gemäß dem Wilde wählt, welches er erlegen will; er schießt nicht auf die wilde Sau, weil er eine Büchse trägt; sondern er nahm die Büchse und nicht die Vogelflinte, weil er auf wilde Säue ausging: und der Stier stößt nicht, weil er eben Hörner hat; sondern weil er stoßen will, hat er Hörner«. Es ist der Geist, der sich den Körper baut: wir können dies nicht oft genug wiederholen. Sollte der Mensch wirklich vom Affen abstammen, so hat er sich jedenfalls seine menschlichen Eigenschaften nicht dadurch erworben, daß er sich »besser anpaßte«: woran denn?, sondern durch die magische Kraft des Wunsches: die Affen können weder sprechen noch lachen, weil sie offenbar für Dialektik und Humor nichts übrig haben; Mimik und Witz, die ihnen sehr zusagen, beherrschen sie ausgezeichnet.
In seinen zahllosen Schülern ist der Darwinismus zumeist nur kompromittiert worden, indem die liebenswürdige Miszellensammlung des Meisters von bornierteren und daher aufgeblaseneren Geistern zu schiefen und hölzernen Systemen ausgebaut wurde. Für viele nur drei Beispiele. Die sogenannte »Entwicklungsmechanik«, deren Hauptvertreter Wilhelm Roux ist, läßt nur »Zweckmäßiges« sich behaupten und weiterbilden, Unzweckmäßiges verkümmern und zugrunde gehen, jedoch (da Teleologie in der orthodoxen Naturwissenschaft verpönt ist) aus rein mechanischen, nicht aus zielstrebigen Ursachen. Das heißt also: Zweckmäßigkeit besteht ohne Zweck. Nach Nägelis »mechanisch- physiologischer Abstammungslehre« soll umgekehrt nicht das Darwinsche Nützlichkeitsprinzip, sondern das »Vervollkommnungsprinzip« die Umgestaltung hervorrufen: die Organismen vervollkommnen sich, weil ein dahin zielendes Prinzip in ihnen wirkt. Dies ist bereits reinste Scholastik und steht kaum höher als die erheiternde Definition des Martinus Scriblerus, der die Tätigkeit des Bratenwenders durch dessen »Fleischröstqualität« erklärt. Weismanns Keimplasmatheorie hinwiederum stellt die Vererbung erworbener Eigenschaften in Abrede. Man fragt sich: woran soll sich denn die Auslese halten, wenn nicht an die erworbene Eigenschaft, die sich vererbt? Anpassungen im Darwinschen Sinne können doch nur durch äußere Reize bewirkt werden, die das Individuum im Laufe seines Lebens verändernd affizieren; wenn diese Variationen nicht auf das Keimplasma übertragbar sind, so müssen sie mit dem Tode des Individuums wieder verschwinden. Hier verfällt nun Weismann auf die absurde Erklärung, daß die Selektion auf den »in der Keimzelle verborgenen Anlagen nützlicher Eigenschaften« beruht: es seien die »schon im Keimplasma potentia enthaltenen nützlichen Abänderungen«, die die Züchtung verwendet. Wie die Anlagen in die Keimzelle und gerade in diese Keimzelle hineingekommen sind, bleibt rätselhaft; und die Funktion der Auslese beschränkt sich nach dieser Theorie darauf, daß die Eigenschaften nützlich abgeändert werden, weil sie schon nützlich abgeändert sind. Mit solchen leeren Strohhülsen von Tautologien hantiert die »exakte Wissenschaft«, die alle Theologie und Metaphysik für fruchtlose Spitzfindigkeit und Wortmacherei erklärt.
Tatsächlich ist aber auch der Darwinismus, wie wir gesehen haben, eine dialektische Konstruktion, ja eine Art Religion mit sehr ausgebildeter Mythologie und Dogmatik. Ihr Paulus ist Ernst Häckel gewesen. Aus einer typisch englischen Schrulle und idée fixe hatte die typische Zähigkeit und Breiträumigkeit des englischen Denkens ein methodisches Lehrgebäude gemacht. Häckel war es, der in dieses verwinkelt und eigensinnig angelegte Gebäude eine bezwingend klare, heitere und gefällige Architektur brachte und es zugänglich, licht und fast bewohnbar machte. Wenn Vauvenargues gesagt hat: »les grandes pensées viennent du coeur«, so könnte man im Hinblick auf den Darwinismus sagen: »les grandes pensées viennent du cul«. Die Gedanken der englischen Naturphilosophie sind erschwitzt und ersessen. Für Häckel hingegen war die neue Lehre eine heilige Mission, die er mit allen Säften seines starken Herzens speiste, ein Evangelium, das er predigend in alle Welt trug, in jeder Stunde zum Martyrium bereit. Er war auch durchaus kein bloßer Popularisator Darwins, sondern hat dessen Theorie nach neuen Seiten entwickelt, auf neue Gebiete angewendet und in neue Gesetze gefaßt. Und in dem Neuen, das er hinzutrug (und womit Darwin sich zumeist nicht einverstanden erklärte), hat er sich als Dichter gezeigt. So konnte zum Beispiel nur ein Mensch von lebendigem poetischen Sinn das »biogenetische Grundgesetz« aufstellen, welches lehrt, daß jeder Mensch im Mutterleib sämtliche Stadien noch einmal durchmacht, die die Lebewesen während der Jahrmillionen ihrer Stammesgeschichte durchlaufen haben. Gibt es etwas Schöneres und Tröstlicheres als den Gedanken, daß wir alles, was die Erde trägt, für kurze Zeit schon einmal gewesen sind, ehe wir das Licht der Welt erblickten: Urtier, Wurm, Fisch, Lurch, Säugetier, so daß wir alle atmende Kreatur gewissermaßen in einem kleinen Kompendium in uns tragen, allem vertraut, allem verwandt, ja mit allem identisch, Erben aller Seelenregungen, die je ein irdisches Wesen gefühlt hat, seit auf unserem Stern zum erstenmal der Lebensfunke aufsprühte? Aber nach Häckel ist ja dieses Leben gar nicht derartig durch irgendein plötzliches Ereignis entstanden, sondern es war im Grunde immer da. Es hat sich nur allmählich immer mehr befreit, immer selbstherrlicher losgerungen bis zu seinem derzeit höchsten Gipfel, dem menschlichen Selbstbewußtsein, schlummert aber in allen Dingen, auch in den scheinbar toten. Auch dies ist der Gedanke eines Dichters. In seinem letzten Werk hat Häckel nichts Geringeres versucht als den Nachweis, daß selbst die Kristalle, jene erstaunlichen Gebilde, die schon immer durch ihre Schönheit und Regelmäßigkeit die Bewunderung der Menschen erregt haben, so etwas wie eine Seele besitzen, daß sie Nahrung aufnehmen und Sekrete abgeben, daß sich an ihnen ausgesprochene Vergiftungserscheinungen beobachten lassen, daß sie bei einer bestimmten Temperatur lebhafte Bewegungen ausführen, ja daß sogar eine Art Paarung unter ihnen stattfindet. Mit Staunen sahen wir den uralten Kinderglauben der Menschheit, der Wind und Wolke, Fluß und Flamme mit geheimnisvollen Geistern belebt, von der modernsten Forschung bestätigt, und es hatte etwas Ergreifendes, wie der greise Meister in seinem vierundachtzigsten Lebensjahre vor uns hintrat, gleich einem weisen alten Magier mit seinem Zauberstab auch das bisher völlig Totgeglaubte beseelend. Und jedes einzelne der Werke, mit denen er die Welt erfreute, war selber wie ein Kristall anzuschauen: ebenso überschaubar und durchsichtig, scharf gekantet und schön gewinkelt. Nur mit Philosophie hätte er sich nicht befassen sollen. Aber selbst seine monistischen Katechismen, die »Welträtsel«, die »Lebenswunder«, die »Natürliche Schöpfungsgeschichte«, Werke, die sich in allen Händen befanden, haben etwas Rührendes durch die kindliche Naivität, mit der sie glauben, den geheimnisvollen Mechanismus des Daseins wie ein Spielzeug auseinandernehmen und zusammensetzen zu können, und enthalten eine solche Fülle von prachtvoll gegliedertem und wasserhell durchleuchtendem Belehrungsstoff, daß sie wie Kunstwerke wirken, denen man ihre geringe philosophische Qualität verzeiht.
Sonst aber waren gerade die hervorragendsten deutschen Naturforscher selbst in jener Zeit durchaus keine Positivisten. Helmholtz vertrat einen an Johannes Müller orientierten Kantianismus. Er scheute sich nicht, in einer Rektoratsrede zu erklären: »Ich sehe nicht, wie man ein System selbst des extremsten subjektiven Idealismus widerlegen könnte, welches das Leben als Traum betrachten wollte. Man könnte es für so unwahrscheinlich, so unbefriedigend wie möglich erklären. ich würde in dieser Beziehung den härtesten Ausdrücken der Verwerfung zustimmen, aber konsequent durchführbar wäre es; und es scheint mir sehr wichtig, dies im Auge zu behalten ... Für mehr als eine ausgezeichnet brauchbare und präzise Hypothese können wir die realistische Meinung nicht anerkennen; notwendige Wahrheit dürfen wir ihr nicht zuschreiben ... für die Anwendbarkeit des Kausalgesetzes haben wir keine weitere Bürgschaft als seinen Erfolg.« Worauf er von den Büchner-Apachen unter großem Geheul für einen »Finsterling« erklärt wurde. Noch größeren Verdruß erregte Dubois-Reymonds berühmte Rede »Über die Grenzen des Naturerkennens«, die einen dicken Schwanz von polemischer Literatur hinter sich herzog. Er sagte darin unter anderem: »Bewegung kann nur Bewegung erzeugen ... die mechanische Ursache geht rein auf in der mechanischen Wirkung. Die neben den materiellen Vorgängen im Gehirn einhergehenden geistigen Vorgänge entbehren also für unseren Verstand des zureichenden Grundes. Sie stehen außerhalb des Kausalgesetzes, und schon darum sind sie nicht zu verstehen ... Es ist eben durchaus und für immer unbegreiflich, daß es einer Anzahl von Kohlenstoff-, Wasserstoff-, Stickstoff-, Sauerstoffatomen nicht sollte gleichgültig sein, wie sie liegen und sich bewegen, wie sie lagen und sich bewegten, wie sie liegen und sich bewegen werden. Es ist in keiner Weise einzusehen, wie aus ihrem Zusammenwirken Bewußtsein entstehen könne ... Gegenüber den Rätseln der Körperwelt ist der Naturforscher längst gewöhnt, mit männlicher Entsagung sein Ignoramus auszusprechen ... Gegenüber dem Rätsel aber, was Materie und Kraft seien, und wie sie zu denken vermögen, muß er ein für allemal zu dem viel schwerer abzugebenden Wahrspruch sich entschließen: Ignorabimus.«
Gustav von Bunge erzählt in seinem »Lehrbuch der Physiologie«, sein Physikprofessor habe die Vorlesungen über Elektrizität mit den Worten eingeleitet: »Die Elektrizität und der Magnetismus sind diejenigen Naturkräfte, mit denen Leute, die nichts von der Elektrizität und dem Magnetismus verstehen, alles erklären können.« Diesem Zustand hat Dubois-Reymond auf seinem Spezialgebiet, der Physiologie, ein Ende bereitet. Er sagte sich: wenn der menschliche und tierische Körper Elektrizität enthält, so muß diese ebenso genau nachweisbar und meßbar sein wie die Elektrizität in anderen Naturkörpern, und nur soweit sie dies ist, kann sie Gegenstand der Wissenschaft sein. Indem er nun diesen Gedanken in der minutiösesten Weise zur praktischen Ausführung brachte (bei seinen Untersuchungen über die Elektrizität der Muskeln und Nerven bediente er sich eines Multiplikators mit fünftausend Windungen), ist er der erste Physiologe geworden, der die exakten Methoden der Physik auf seine Disziplin übertragen hat: eine Tatsache von großer Tragweite; denn es war hierdurch dem strengwissenschaftlichen Experiment am menschlichen Körper ein unübersehbares Betätigungsfeld eröffnet. Er hat aber durch seine Versuche gleichzeitig zum ersten Male einwandfrei nachgewiesen, daß die Ahnungen früherer Zeiten von einer allgemeinen Verbreitung elektrischer Kräfte im Tierorganismus eine reale Basis hatten. Es läßt sich in der Geschichte der Naturwissenschaften häufig beobachten, daß eine gewisse Erkenntnis verhältnismäßig sehr früh gefunden, dann aber wieder verlassen wird, bloß aus dem Grunde, weil die Erklärung des neuentdeckten Phänomens eine falsche war, während die Tatsache selbst, wie man erst viel später erkennt, vollkommen richtig ist. So ging es auch mit der tierischen Elektrizität. Im dritten Buch wurde erzählt, daß Galvani beobachtete, wie ein frisch präparierter Froschschenkel jedesmal in Zuckungen geriet, wenn in seiner Nähe elektrische Entladungen stattfanden. Er behauptete infolgedessen, der Froschschenkel sei elektrisch. Demgegenüber wies Volta nach, daß der Froschschenkel nur die Rolle eines empfindlichen Elektroskops gespielt habe. Dies war richtig, und doch war auch Galvanis Behauptung richtig, nur hatte er sie falsch begründet. Übrigens hatte schon acht Jahre früher John Walsh die merkwürdige Entdeckung gemacht, daß der Zitterroche in einem ganz bestimmten Organ Elektrizität erzeugt, daß er damit kräftige Schläge auszuteilen vermag und daß diese sich durch einen Draht weiterleiten lassen. Hier knüpfte Dubois-Reymond an. Er zeigte, daß diese Fischart gegen elektrische Induktionsschläge, die durch das Wasser geleitet werden, immun ist, und wies auch im Muskel des Menschen einen sogenannten »Aktionsstrom« nach; dasselbe gelang ihm bei den Nerven.
Unter dem Eindruck dieser Erfolge wurde Dubois-Reymond zum Hauptbekämpfer des sogenannten Vitalismus, jener Theorie, die alle Lebensvorgänge auf eine bestimmte Kraft, die vis vitalis, zurückführt. Seit der Chemiker Dumas den Satz aufgestellt hatte, die wahre Ursache aller Lebenserscheinungen sei in einer »force hypermécanique« zu suchen, vertraten fast alle namhaften Forscher in allerlei individuellen Variationen dieselbe Ansicht. In seinen »Chemischen Briefen«, einem von der ganzen damaligen Welt eifrig gelesenen Buch, sagte Liebig, kein Zuckerteilchen lasse sich künstlich aus seinen Elementen aufbauen, sondern zu seiner Bildung sei eine besondere Lebenskraft nötig. Wenn nun Dubois- Reymond sich auf den Standpunkt stellte, daß es keine vitale Erscheinung gebe, die sich nicht physikalisch erklären lasse (eine Auffassung, die schon Lamarck vertreten hatte, ohne jedoch Schüler zu finden), so ging er damit natürlich viel zu weit; aber er folgte dabei selbst nur einem physikalischen Gesetze, nämlich dem des Gegenstoßes. Die Naturphilosophen hatten mit ihrer mystischen »Lebenskraft« einen solchen Unfug getrieben, daß dieser Rückschlag nur zu begreiflich war. Heute jedoch neigen die meisten Physiologen zu einer vermittelnden Anschauung. Sie ist in dem Resümee enthalten, mit dem Claude Bernard seine klassischen Untersuchungen über das Phänomen des Lebens abschließt: »l'élément ultime du phénomène est physique, l'arrangement est vital.« Doch sind auch nicht wenige Forscher zum vollen Vitalismus zurückgekehrt, zum Beispiel Johannes Reinke, der mit Intelligenz begabte »Dominanten« als Urheber der Lebenserscheinungen annimmt, und Karl Ludwig Schleich, der jeder einzelnen Zelle eine Seele zuspricht, auch Bunge stand der mechanistischen Schule völlig skeptisch gegenüber. Und Dubois-Reymond selber war ja, wie wir sahen, ebenfalls Skeptiker: weit davon entfernt, über die letzten Fragen seiner Wissenschaft ein abschließendes Urteil zu fällen, erblickte er in jeder Erkenntnis nur ein neues Problem.
Auch auf anderen Gebieten machte die Naturwissenschaft sowohl praktische wie theoretische Fortschritte. 1868 gelang die synthetische Darstellung des Alizarins, des Farbstoffs der Krapp- Pflanze, in viel reinerer Form, als er aus dieser gewonnen wird. Seit Ende der fünfziger Jahre arbeitete man unermüdlich an Versuchen, den telegraphischen Funken über das Meer zu tragen, indem man (durch Guttapercha isolierte) Kupferdrähte legte: sie rissen aber immer wieder, und erst 1866 gelang eine dauernde Kabelverbindung zwischen Amerika und England, das nunmehr das überseeische Telegraphennetz nach seinen Kolonien eifrig ausbaute. Auch die Photographie nahm einen großen Aufschwung, zumal seit Erfindung der Trockenplatten, die unter anderem auch der Astronomie zugute kamen, da sie viel zahlreichere Lichteindrücke zu summieren vermögen als das Auge und so die Himmelsphotographie zu einer Art Zeitmikroskopie machen, wodurch es gelungen ist, viele »unsichtbare« Fixsterne, Kometen und Nebelflecke im Lichtbild festzuhalten. Epochemachend aber für die Erforschung der Weltkörper wurde die Spektralanalyse. Wir haben bereits erwähnt, daß Fraunhofer die dunkeln Linien im Sonnenspektrum entdeckte, von dem er genaue Zeichnungen anlegte; er wußte auch schon, daß viele Fixsterne andere Spektra ergeben. Im Anschluß hieran gelangten Kirchhoff und Bunsen im Jahre 1860 zu der Methode der sogenannten Umkehrung des Spektrums, die darauf beruht, daß jeder Körper gerade jene Strahlen absorbiert, die er selbst aussendet; die Natriumflamme zum Beispiel brennt gelb: schickt man durch sie weißes Licht, das bekanntlich aus sämtlichen Farben zusammengesetzt ist, so erhält man bei der Zerlegung ein kontinuierliches Spektrum, aber an Stelle der gelben Linie eine dunkle. Auf diese Weise läßt sich die chemische Natur sowohl der einfachen wie der zusammengesetzten Gase aus der Zahl und Stellung der Linien bestimmen, und zwar mit großer Genauigkeit: beim Natrium bis zu einem Drittelmillionstel Milligramm; ja noch in demselben Jahre entdeckte Bunsen auf diesem Wege zwei bisher unbekannte Elemente: das Zäsium und das Rubidium, die später noch durch zahlreiche andere vermehrt wurden, während Kirchhoff die Sonnenatmosphäre untersuchte, in der er unter anderem Eisendämpfe konstatierte: eine experimentelle Beglaubigung der bisherigen Vermutungen über den metallischen Charakter dieses Sterns. Ebenso bestätigte sich die Annahme, daß der Mond keine Atmosphäre und kein eigenes Licht besitzt, da er genau dasselbe Spektrum zeigte wie die Sonne, und daß Venus, Mars, Jupiter, Saturn von einer sehr erdähnlichen Lufthülle umgeben sind. Die Fixsterne ergaben unterschiedliche Spektra: zum Teil Linien, die auf erdfremde Bestandteile hinwiesen, und es ist möglich geworden, sie in drei Gruppen zu ordnen: die sogenannten roten Sterne, die gelben Sterne vom Sonnentypus und die weißen Sterne vom Siriustypus, zwischen denen sich zahlreiche Übergänge befinden. Ja es gelang sogar, mit Hilfe der Spektralanalyse die Bewegung der Gestirne zu messen, und zwar auf Grund des Dopplerschen Prinzips, das auf folgender Erwägung beruht: bewegt sich eine Lichtquelle auf den Beobachter zu, so wird in der Zeiteinheit eine höhere Zahl von Schwingungen sein Auge treffen, bewegt sie sich von ihm weg, eine geringere. Ihre Färbung erscheint im ersteren Falle nach violett, im letzteren Falle nach rot verschoben, da die violetten Lichtstrahlen die kleinste Wellenlänge, die roten die größte haben.
Im Entdeckungsjahr der Spektralanalyse bewies Pasteur, daß Gärung und Fäulnis, von denen man bisher angenommen hatte, daß sie durch den Luftsauerstoff bewirkt seien, auf Spaltungen beruhen, die von Mikroorganismen hervorgerufen werden. Er versuchte auch das Rätsel der Herkunft des Lebens zu lösen. Auf die Frage, wie es entstehe, hatte Aristoteles, der bekanntlich anderthalb Jahrtausende lang die wissenschaftliche Autorität Europas war, geantwortet: aus nichts, indem er erklärte, daß jeder trockene Körper, der feucht wird, und jeder feuchte Körper, der trocken wird, Tiere erzeuge. Nach seiner Ansicht kommen die Blumenfliegen aus dem Blütentau, die holzbohrenden Insekten aus dem Holz, die Eingeweidewürmer aus dem Darminhalt. Die antike Poesie hat diese Anschauung übernommen: Virgil schildert in den »Georgica«, wie sich Larven aus faulendem Fleisch bilden. Auch die Humanisten der Reformationszeit, die mit so vielen Vorurteilen der Vergangenheit brachen, haben in diesem Punkt sehr wenig reformiert: noch van Helmolt, einer der bedeutendsten Naturforscher des siebzehnten Jahrhunderts, behauptete, daß in einem Gefäß, das Mehl und ein schmutziges Hemd enthält, Mäuse entstünden. Andere gaben Anweisungen, wie man Frösche aus dem Schlamm der Sümpfe und Aale aus dem Wasser der Flüsse erzeugen könne. Man bezeichnete diesen Vorgang, durch den Leben angeblich ganz spontan entstehen sollte, als Urzeugung. Aber in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts lieferte der italienische Akademiker Redi den Nachweis, daß die Maden des faulenden Fleisches von Eiern herrühren, die die Fliegen darin niederlegen. Er bediente sich dazu eines sehr einfachen Mittels: er umgab das Fleisch mit einer feinen Gaze, und es blieb madenfrei. Allmählich erkannte man denn auch allgemein, daß man bei allen derartigen Fällen die Ursache mit der Wirkung verwechselt hatte: wenn sich in einem verdorbenen Apfel Würmer befanden, so hatte nicht die Fäulnis den Wurm, sondern der Wurm die Fäulnis erzeugt. Als jedoch nach der Erfindung des Mikroskops die Tatsache entdeckt wurde, daß sich in jeder Infusion (so nannte man einen Aufguß von Wasser auf organische Substanz) in sehr kurzer Zeit zahllose kleine Lebewesen entwickeln, tauchte die Lehre von der Urzeugung abermals auf; selbst ein Mann von so außerordentlichem wissenschaftlichen Genie wie Buffon stellte sich auf ihre Seite. Um sie zu widerlegen, brachte der Abbé Spallanzani Pflanzenaufgüsse in einen Glaskolben, versiegelte ihn und tat ihn in kochendes Wasser. Dann ließ er ihn monatelang liegen, und als er ihn öffnete, fand sich in ihm keine Spur von Leben. Hiermit schien der Beweis erbracht, daß die Infusorien aus der Luft stammen, denn offenbar war durch das Kochen das Leben der vorhandenen Keime vernichtet und durch den Luftabschluß der Zutritt neuer verhindert worden. Gegen diese Argumentation machte jedoch Gay-Lussac den Einwand, daß sich in dem Kolben fast gar keine Luft befunden habe; den Infusorien habe es daher an Sauerstoff gefehlt, und dies sei der Grund, der ihre spontane Entwicklung verhindert habe. Während der ganzen ersten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts glaubte noch die Mehrzahl der Naturforscher an die Urzeugung, und noch im Jahre 1859 ließ Pouchet, der Direktor des Museums für Naturkunde in Rouen, ein Werk über diesen Gegenstand erscheinen, das mit den Worten beginnt: »Es ist mir durch Nachdenken und Experiment vollkommen klar geworden, daß die Urzeugung eines der Mittel bildet, die die Natur für die Hervorbringung neuer Lebewesen anwendet.« Selbst die vorurteilslosesten Gelehrten waren zumindest der Ansicht, daß das Problem unlösbar sei, und als Pasteur seine Absicht kundgab, sich damit zu befassen, sagte ihm sein Lehrer, der berühmte Chemiker Dumas: »Je ne conseillerais à personne de rester trop longtemps à ce sujet.« Trotzdem gelang es Pasteur, durch eine Reihe höchst sinnreicher Experimente die Herkunft der Infusorienkeime aus der Luft vollkommen evident zu machen, und seitdem bezweifelt kein Mensch mehr, daß sie auf ganz ähnliche Weise zur Welt kommen wie alle übrigen Organismen.
Aber damit ist das Problem keineswegs aus der Welt geschafft. Denn es bleibt die Frage zurück: wie sind die ersten Lebewesen auf der Erde entstanden? Eine ganze Reihe namhafter Forscher antwortet hierauf: durch Urzeugung, die irgendwann einmal stattgefunden hat. Die Meinungen hierüber stehen sich nach wie vor schroff gegenüber. Während Pasteur das Ergebnis seiner Untersuchungen in den Satz zusammenfaßte: »die Urzeugung ist eine Fabel«, erklärte Professor Nägeli: »Die Urzeugung leugnen heißt das Wunder verkünden.« Dubois-Reymond sagte: »Das erste Erscheinen lebender Wesen auf der Erde ist nur ein überaus schwieriges mechanisches Problem.«
Wie die Lösung dieses Problems zu denken sei, hat der Physiologe Eduard Pflüger im genaueren dargelegt. Pflüger unterscheidet zwischen dem lebendigen Eiweiß, aus dem sich bekanntlich alle organische Materie aufbaut, und dem toten Eiweiß. Das Charakteristikum des lebenden Eiweißes besteht nach seiner Ansicht in dem Zyan (CN), einem Körper, der, aus einem Atom Kohlenstoff und einem Atom Stickstoff bestehend, nicht frei, sondern nur in Zusammensetzungen vorkommt, jedermann bekannt in seiner Verbindung mit Kalium als Zyankali. Nun ist es von besonderer Bedeutung, daß alle Zyanverbindungen, die man künstlich im Laboratorium herstellen kann, nur bei Glühhitze vor sich gehen, also unter jener Temperatur, die auch unser Erdball einmal besessen hat. »Das Leben«, sagt Pflüger, »entstammt also dem Feuer.« Während der unermeßlich langen Zeiträume, in denen sich die Abkühlung der Erdoberfläche vollzog, hatte das Zyan reichlich Gelegenheit, seine große Neigung zur Bildung von Polymerien (Atomverkettungen) zu betätigen und unter Mitwirkung des Sauerstoffs, des Wassers und der Salze in jenes Eiweiß überzugehen, das die lebendige Materie bildete. Man wird einräumen müssen, daß durch diese Theorie zumindest eine schwierige Frage gelöst wird: wie nämlich Leben zu einer Zeit möglich war, wo ganz entgegengesetzte Bedingungen herrschten als heutzutage. Es ist nämlich immer und überall möglich, und höchst kindisch ist es, wenn die Astronomen apodiktisch die Unbewohnbarkeit der meisten anderen Weltkörper behaupten, bloß weil sie vermuten, daß sie sich dort unbehaglich fühlen würden.
Über die weiteren Schicksale jener glühenden Zyanverbindungen hat Häckel das Nähere ausgeführt. Nach seiner Hypothese formten sich zunächst größere Molekülgruppen, diese strebten wieder zu umfangreicheren Aggregaten zusammen und bildeten homogene Plasmakörner. Die Plasmakörner verdichteten sich zu Plasmakugeln, und in diesen vollzog sich entweder durch Oberflächenspannung oder durch chemische Ursachen die Differenzierung in eine Rindenschicht und einen Zentralkörper, womit das erste zellenähnliche Wesen entstand. Die Annahmen über die weitere Entwicklung führen auf Darwin, der aber, wie wir nicht unerwähnt lassen wollen, es ausdrücklich abgelehnt hat, über die Frage des Lebensursprungs irgend etwas Bestimmtes zu äußern.
Indessen haben auch sehr hervorragende Naturforscher sich gegen die Urzeugung ausgesprochen, zum Beispiel Helmholtz, der erklärte, organische und anorganische Materie seien beide gleich ewig, und Fechner, der sogar die Hypothese aufstellte, das Organische sei älter als das Anorganische. Und neuerdings hat der ausgezeichnete schwedische Astronom Svante Arrhenius eine Theorie entwickelt, die unter dem Namen »Panspermie« bekannt ist und sich ebenfalls gegen die Urzeugung richtet. Nach dieser sind im ganzen Weltall Lebenssamen verstreut, die in den unendlichen Räumen umherschwirren, bis sie auf einen Weltkörper treffen, der ihnen die Bedingungen zur Weiterentwicklung bietet. Arrhenius denkt sich diese Organismen so klein, daß der Strahlungsdruck der Sonne genügt, um sie in den Raum hinauszutreiben. Allerdings ist damit die Frage nach der Entstehung des Lebens bloß von der Erde in den Kosmos verlegt. Die einzig richtige Stellungnahme zu diesem Problem dürfte wohl in dem jüngsten Werk des hervorragenden Paläontologen Edgar Dacqué angegeben sein: »Jeder ernstere, nicht äußerliche und oberflächliche Beantwortungsversuch muß in die Metaphysik führen.«
Die Zellentheorie wurde von Ernst Brücke, einem Schüler Johannes Müllers, weitergebildet, der erklärte: »Ich nenne die Zellen Elementarorganismen in dem Sinne, wie wir die Körper, die bis jetzt chemisch nicht zerlegt worden sind, Elemente nennen«, jedoch vorsichtig hinzufügte: »So wenig die Unzerlegbarkeit der Elemente bewiesen ist, so wenig können wir die Möglichkeit in Abrede stellen, daß nicht vielleicht die Zellen selbst noch wiederum aus anderen, noch kleineren Organismen zusammengesetzt sind, welche zu ihnen in einem ähnlichen Verhältnis stehen wie die Zellen selbst zum Gesamtorganismus; aber wir haben bis jetzt keinen Grund, dies anzunehmen.« Er betrachtete die Zelle als einen »kleinen Tierleib« und stellte fest, daß der Zellinhalt einen »höchst kunstvollen Bau« besitzt. Über dessen Aggregatzustand sagt er: »Wenn man uns fragt, ob wir, die wir den Zellinhalt nicht als Flüssigkeit anerkennen, etwa glauben, daß er fest sei, so antworten wir: nein. Und wenn wir gefragt werden, ob er denn flüssig sei, so antworten wir wieder: nein. Die Bezeichnungen fest und flüssig, wie sie in der Physik Geltung haben, finden auf die Gebilde, mit denen wir es hier zu tun haben, eben keine Anwendung.« Genau genommen kann man nach diesen Konstatierungen von Zellen als letzten Elementen nicht mehr sprechen; gleichwohl hat sich die Zellentheorie als eine sehr fruchtbare Arbeitshypothese erwiesen. Den glänzendsten Beleg hierfür erbrachte die 1858 von Rudolf Virchow begründete Zellularpathologie. Ihm erscheint jedes Tier als »eine Summe vitaler Einheiten, von denen jede den vollen Charakter des Lebens an sich trägt«, »eine Art von gesellschaftlicher Einrichtung, ein Organismus sozialer Art, wo eine Masse von einzelnen Existenzen aufeinander angewiesen ist«: »so ist es denn gewiß keine unbillige Forderung, daß dem größeren, wirklich existierenden Teile des Körpers, dem dritten Stande auch eine gewisse Anerkennung werde, und wenn diese Anerkennung zugestanden wird, daß man sich nicht mehr mit der bloßen Ansicht der Nerven als ganzer Teile, als eines zusammenhängenden einfachen Apparates, oder des Blutes als eines bloß flüssigen Stoffes begnüge, sondern daß man auch innerhalb des Blutes und des Nervenapparates die ungeheure Masse kleiner wirksamer Zentren zulasse«; »auf alle Fälle scheint es mir notwendig zu sein, dieser spezifischen Aktion der Elemente, gegenüber der spezifischen Aktion der Gefäße, eine überwiegende Bedeutung beizulegen und das Studium der lokalen Prozesse seinem wesentlichen Teile nach auf die Erforschung dieser Art von Vorgängen zu richten.« Diese demokratische Physiologie hat, indem sie die Aufmerksamkeit sozusagen auf die einzelnen »Lokalverbände« und »Gewerkschaften« lenkte, die das Leben des Gesamtorganismus entscheidend bestimmen, eine völlige Neuorientierung der medizinischen Wissenschaft und sehr wohltätige Ergebnisse gezeitigt, obgleich sie, wie jedes neue Dogma, zu Einseitigkeiten führte, indem sie vergaß, daß der menschliche Organismus andrerseits auch wieder streng monarchisch und hierarchisch organisiert ist.
Die beiden bedeutendsten Errungenschaften, die damals auf dem Gebiete der praktischen Medizin gemacht wurden, sind der Augenspiegel und die Antisepsis. Über den ersteren sagte sein Erfinder Helmholtz: »Er erforderte weiter keine Kenntnisse, als was ich auf dem Gymnasium von Optik gelernt hatte, so daß es mir jetzt lächerlich vorkommt, wie andere Leute und ich selbst so vernagelt sein konnten, ihn nicht früher zu finden. Es handelt sich nämlich um eine Kombination von Gläsern, die es ermöglicht, den dunkeln Hintergrund des Auges zu beleuchten und gleichzeitig alle Einzelheiten der Netzhaut genau zu sehen, sogar genauer, als man die äußeren Teile des Auges ohne Vergrößerung sieht, weil die durchsichtigen Teile des Auges dabei die Stelle einer Lupe von zwanzigmaliger Vergrößerung vertreten.« Die Antisepsis war eine unmittelbare Folge der Pasteurschen Entdeckung der Fäulniserreger. Der englische Chirurg Joseph Lister schloß daraus, daß das wichtigste Erfordernis für eine erfolgreiche Wundbehandlung die sorgfältige Desinfektion sei. Zu diesem Zweck umgab er das gesamte Operationsfeld mit einem Karbolnebel, wofür er einen besonderen Zerstäubungsapparat, den »Karbolspray«, verfertigt hatte. In kürzester Zeit fand das »Listern« allgemeine Verbreitung und nahm zahlreichen Operationen ihre bisherige Lebensgefährlichkeit.
In jene Zeit fällt auch die Entstehung einer neuen naturwissenschaftlichen Disziplin, der experimentellen Psychologie. Ihr Begründer ist Ernst Heinrich Weber, der als erster exakte Untersuchungen über die Unterschiedsempfindlichkeit der Körperoberfläche für benachbarte Tasteindrücke anstellte und zu der absteigenden Stufenordnung gelangte: Zungenspitze, Lippen, Fingerspitzen, Handfläche, Handrücken, Arme, Schenkel, Rumpf. Er maß auch Druck- und Temperaturdifferenzen und kam zu folgendem generellen Resultat: je größer ein Reiz ist, um so größer muß auch seine Veränderung sein, um als solche empfunden zu werden. Hebt man zum Beispiel ein Gewicht von 40 Gramm und dann eines von 41 Gramm, so kann man den Unterschied gerade noch konstatieren. Bei 400 Gramm sind 10, bei 800 Gramm 20 Gramm erforderlich, um den Zuwachs merklich zu machen. Das Verhältnis zwischen dem Reiz und seinem spürbaren Zuwachs ist also in allen Fällen eine unveränderliche Größe, eine Konstante, was sich, wenn man mit einen beliebigen Reiz, mit d den Zuwachs bezeichnet, in der Formel ausdrücken läßt d:=constans. Einen weiteren Ausbau erfuhren diese Untersuchungen durch Gustav Theodor Fechner, der auch auf anderen Gebieten ein origineller Philosoph war: er erforschte das Seelenleben der Pflanzen und betrachtete die Gestirne als bewußte Wesen, Zwischenstufen zwischen Gott und Mensch. In seinem Fundamentalwerk, den »Elementen der Psychophysik«, stellte er das Gesetz vom Schwellenwert der Empfindung auf, welches besagt, daß jeder Reiz erst bewußt wird, wenn er erstens eine gewisse Stärke besitzt, durch die er die Empfindungsschwelle überschreitet, und zweitens sich von anderen Reizen genügend unterscheidet, die Unterschiedsschwelle passiert hat. Das Webersche Gesetz formulierte er folgendermaßen: die Intensitäten der Empfindungen bilden eine arithmetische, die Intensitäten der Reize eine geometrische Reihe, oder mit anderen Worten: die Empfindungsintensitäten steigen in demselben Verhältnis wie die Logarithmen der Reizintensitäten; die Empfindung ist proportional dem Logarithmus des Reizes, wenn der Schwellenwert als Einheit betrachtet wird. Diese Formel ergänzte Helmholtz durch die wichtige Berichtigung, daß bei sehr heftigem Reiz eine obere Grenze erreicht wird, über die hinaus er nicht mehr wächst.
Der Marchese Corti entdeckte in der »Schnecke« zahllose mikroskopisch kleine Plättchen, die mit den Fasern der Hörnerven in Verbindung stehen: wie das Auge eine photographische Kamera ist, so ist das Ohr ganz ähnlich konstruiert wie ein Klavier. Hierauf baute Helmholtz seine »Lehre von den Tonempfindungen«, deren Grundgedanke darin besteht, daß wir niemals einfache Töne vernehmen, sondern Akkorde mit dominierendem Grundton: durch die mitschwingenden Obertöne entsteht das, was wir Klangfarbe nennen. Er knüpfte hieran eine ausführliche physiologische Psychologie der Tonarten, der ästhetischen Gesetze der Harmonie, der verschiedenen historisch und ethnographisch bedingten Musiksysteme und schuf damit die tiefste und umfassendste Darstellung, die dieser Gegenstand jemals gefunden hat. Eine Art experimenteller Psychologie war auch Brehms Tierleben, dessen sechs Bände zwischen 1864 und 1869 erschienen, ein Werk von solcher Geduld und Genauigkeit, Liebe und Vollständigkeit, wie es nur ein Deutscher vollbringen konnte. Ergänzungen zum Darwinismus lieferten Ewald Hering durch seine Theorie des Gedächtnisses, in dem er ein vererbbares Urvermögen aller organisierten Materie und die Hauptursache für die Entstehung der Instinkte erblickte, und Pfarrer Mendel durch seine Pflanzenkreuzungsexperimente, auf Grund deren er zu ganz bestimmten Regeln für die Übertragung, Verdrängung und Mischung der Ahnenmerkmale gelangte.
Eine literarische Macht wurde der Darwinismus durch Hippolyte Taine. Er debütierte mit geistvollen Abhandlungen über Lafontaine und Livius, die seine neue Methode bereits ziemlich deutlich ankündigten, und einem Buch über die französischen Philosophen des neunzehnten Jahrhunderts, das mit facettenreicher Satire gegen den herrschenden spiritualistischen Eklektizismus und dessen Führer Victor Cousin kämpfte. 1863 erschien seine »Histoire de la littérature anglaise« in drei Bänden, dazu ein Jahr später der Schlußband »Les contemporains«; keine Literaturgeschichte im landläufigen Sinne, vielmehr eine Psychologie der englischen Rasse, exemplifiziert an prachtvoll kolorierten Porträts ihrer großen Dichter und Schriftsteller. 1864 wurde er zum Professor der Ästhetik an der École des Beaux-Arts ernannt; der Extrakt seiner dort gehaltenen Vorträge ist seine »Philosophie de l'art«, ein Programmwerk über Entstehung, Wesen und Wertung der großen Kunstepochen, belegt und belebt durch hinreißende Rundgemälde der griechischen, italienischen und niederländischen Kultur. In seiner »Pyrenäenreise« und seinen »Briefen über England« gab er originelle und sprühende Charakteristiken des Volks und Landes: er ist aber eigentlich in allen seinen Werken in erster Linie ein genialer Reiseschilderer gewesen. 1875 erschien der erste Band seiner »Origines de la France contemporaine«, »L'ancien régime«, dem weitere Bände über die Revolution und Napoleon folgten. Er sagt darin im Vorwort: »Um zu erfahren, was das moderne Frankreich ist, muß man wissen, wie es entstanden ist. Am Ende des vorigen Jahrhunderts machte es eine Metamorphose durch, gleich einem sich häutenden Insekt. ... Diese drei Stadien, altes Regime, Revolution, modernes Regime, werde ich als historischer Anatom genau zu schildern versuchen. Einen anderen Zweck verfolge ich nicht. Ich behandle meinen Gegenstand, wie der Naturforscher ein Insekt behandeln würde.« Sein Vorbild, das er aber an Zauberkraft der historischen Wiederbelebung noch weit übertraf, war der ausgezeichnete Alexis de Tocqueville, der in seinem 1856 erschienenen Werk »L'ancien régime et la révolution« mit bewundernswertem sozialpsychologischen Urteil und hellsichtiger Anschauungsfülle zum erstenmal eine Ätiologie und Diagnostik der Französischen Revolution zu geben versuchte: »Ich habe«, sagte er, »nicht allein nach dem Übel forschen wollen, an dem der Kranke starb, sondern auch nach dem Mittel, das ihn vom Tode hätte erretten können. Ich machte es wie jene Ärzte, die im ausgelebten Organ die Gesetze des Lebens zu erspähen suchen. Mein Zweck war es, ein Bild zu entwerfen, das treu wäre und zugleich lehrreich sein könnte.« Dies ist das Gemeinsame zwischen Tocqueville und Taine: sie verfolgen beide didaktische Absichten, aber nicht mit den Hilfsmitteln der Rhetorik, sondern der Biologie und einer Art Seelenchemie: »Wenn man«, sagt Taine, »bei der psychologischen Analyse sich bemüht, die Bestandteile jedes Gebietes zu erkennen, wird man entdecken, daß sich in den einzelnen Retorten Elemente zusammenfinden, die einander ähnlich sind ... Die Naturforscher haben beobachtet, daß die verschiedenen Organe eines Tieres voneinander abhängen. In ähnlicher Weise können die Historiker feststellen, daß die verschiedenen Anlagen und Neigungen eines Individuums, einer Rasse, einer Epoche miteinander korrespondieren. ... Die Naturforscher zeigen, daß in einer bestimmten Gruppe des Tierreichs sich derselbe Organisationsplan bei allen Arten wiederfindet: daß die Tatze des Hundes, der Fuß des Pferdes, der Flügel der Fledermaus, der Arm des Menschen, die Flosse des Walfisches dasselbe anatomische Glied ist, das durch gewisse Veränderungen den verschiedensten Aufgaben angepaßt ist. Durch eine ähnliche Methode können die Historiker nachweisen, daß in derselben Schule, in demselben Jahrhundert, in demselben Volk Personen, die im Hinblick auf ihre Lage, ihre Abstammung, ihre Erziehung, ihren Charakter einander entgegengesetzt sind, alle einen gemeinsamen Typus aufzeigen, einen Kern von ursprünglichen Fähigkeiten und Anlagen, die, auf die verschiedenfachste Weise verkürzt, verbunden, gesteigert, die Gesamtheit der Gruppe in ihrer Vielartigkeit verkörpern«; »niemand macht dem Reiher seine langen zerbrechlichen Beine, seinen mageren Leib, seine beschauliche unbewegliche Haltung zum Vorwurf, niemand tadelt am Fregattenvogel die riesigen Flügel, die verkümmerten Füße: am Reiher ist die Magerkeit, am Fregattenvogel der Mangel an Ebenmaß eine Schönheit. Das eine wie das andere Merkmal offenbart eine Idee der Natur, und Aufgabe des Naturforschers ist es, sie zu verstehen, nicht zu verspotten. Er billigt ihre verschiedenen Formen, verwirft keine von ihnen und beschreibt sie alle.« Aus vier algebraischen Größen, einer ethnographischen, einer soziologischen, einer historischen und einer biologischen: der »race«, dem »milieu«, dem »moment« und der »faculté maîtresse« komponiert Taine seine kulturpsychologischen Gleichungen. »Laster und Tugend sind Produkte wie Vitriol und Zucker«, lautet der berühmte Satz aus der Vorrede zur »Littérature anglaise«, der in Frankreich so große Empörung hervorrief, obgleich höchst unberechtigt, da er nur das gallische Glaubensbekenntnis formuliert. In der Tat bezeichnet Taine einen der höchsten geistigen Triumphe der Rasse, deren faculté maîtresse der Cartesianismus ist; hier entsteht das ganze Versailles der Philosophie in seiner kalten Pracht noch einmal: der Geist der sezierenden Analysis und der konstruierenden Architektur, dessen haarscharf gehandhabte Instrumente das Skalpell des Logikers und der Zirkel des Geometers sind. Und noch aus einem anderen Grunde konnte die Milieutheorie nur in Frankreich geboren werden: nur dort gibt es eine so übermächtige soziale Umwelt, die diese Lehre bis zu einem gewissen Grade rechtfertigt. Leopold Ziegler sagt in einem vortrefflichen Essay: »Die konventionelle Auffassung gewisser Tatsachen der Wirklichkeit durch die Franzosen tritt in ihrer Gegensätzlichkeit zu unserer deutschen Eigenheit scharf hervor. ... Diese angeborene Begabung für alle Wirklichkeit, wofern sie konventioneller Herkunft ist, scheint allmählich den Blick geschärft zu haben für das Phänomen der Vergesellschaftung im erweiterten Begriff, nämlich für alles, was Personen und Dinge aneinander bindet, was für sie Lebensgrund und Bedingung ihrer Gemeinschaftlichkeit ist.« Im Grunde fließt auch dies wieder aus dem cartesianischen Rationalismus: wir brauchen uns nur zu erinnern, wie sehr Descartes sowohl in seiner Philosophie als in seinem Privatleben Kirche, Staat, Gesellschaft stets als übergeordnete Mächte respektiert hat. In Frankreich hat immer der Glaube oder Aberglaube an die Gleichförmigkeit der Menschen, ihre Herkunft aus demselben Prägewerk das Lebensgefühl bestimmt: hierin waren sich Richelieu und Robespierre, Racine und Rousseau vollkommen einig. Dieser stillschweigende innere Konsensus einer ganzen menschlichen Spielart ist es aber andrerseits auch gewesen, der sie zu solchen kulturellen Höchstleistungen befähigte; der Franzose trägt sein Leben lang eine Uniform, aber eine sehr glänzende.
Hatte der Darwinismus die Natur des Geistes entkleidet, so tat Taine den unvermeidlichen zweiten Schritt: er machte den Geist zum Naturphänomen, die Moral zur Physik. Die Entstehung einer Nation, einer Kultur, einer Kunstschöpfung, eines Genies ist nichts als ein verwickeltes Problem des mechanischen oder geometrischen Kalküls. Kennt man die Werkstücke, so kann man den Apparat nachkonstruieren; kennt man die Gleichung, so kann man die Figur aufzeichnen. Bei jedem anderen wäre dieses gespenstische Schema ein dürres düsteres Schultafeltheorem geblieben. Aber unter Taines Händen füllte es sich mit Fleisch und Blut, Saft und Sonne, Farbe und Glanz. Er ist nicht nur der Philosoph des literarischen Impressionismus, sondern auch einer seiner vollendetsten schriftstellerischen Vertreter, indem sich in ihm der nur in Frankreich mögliche Fall ereignete, daß ein doktrinärer pedantischer Gelehrter zugleich einer der anschauungsgewaltigsten Menschengestalter und Sprachzauberer war. Es zeigte sich an ihm wieder einmal, daß es in der Kunst niemals auf die Stichhaltigkeit ankommt, sondern immer nur auf die Kraft der Vision. Mit seinen vier rostigen Schlüsseln öffnete er dem staunenden Betrachter imaginäre Bildersäle von einem feenhaften Glanz, der jeden Zweifel verstummen ließ.
Seine dichterische Methode war, wie gesagt, die impressionistische: die kunstvolle Komposition der zahllosen, mit größter Sehschärfe und Farbenempfindlichkeit aufgefaßten »petits faits significatifs«. Es war dieselbe, die Flaubert handhabte. Dieser kommt eigentlich noch von der Romantik her: sein kosmisches Grundgefühl ist das »désenchantement de la vie«, nur zum Atheismus der alleinigen Anbetung der petits faits gefroren. Sein finsteres Grundthema ist die menschliche Dummheit und sein Oeuvre ein riesiges Glossarium, Herbarium, Bestiarium, eine umfassende Morphologie, Biologie, Ökologie aller irdischen Beschränktheiten: sein letztes, fragmentarisch gebliebenes Werk sollte sogar in systematischer Form ausschließlich davon handeln. Er ist aber eben darin auch wieder der äußerste Gegenpol der Romantik: indem er nämlich auf jede Stilisierung, Verklärung, Appretur der Wirklichkeit, auf alle bunten Gläser verzichtet und den Menschen in seiner Winzigkeit, Kleinlichkeit, Gewöhnlichkeit, ja Verächtlichkeit zeigt; seine Helden sind keine Helden mehr. Er schildert seine Welt mit derselben wissenschaftlichen Gründlichkeit und Kälte wie ein Entomologe einen Ameisenhaufen oder Bienenkorb: es gibt bei ihm keine einzige subjektive Zeile. Er hat es selbst gesagt: »Der Autor muß in seinem Werk sein wie Gott im Weltall: überall gegenwärtig und nirgends sichtbar.« Aber gleicht der Dichter nicht auch darin Gott, daß er in seinen Geschöpfen lebt wie der Vater im Kinde? Zweifellos; und auch bei Flaubert verhielt es sich nicht anders. Die unerhörte Neuheit seiner szientifisch unsentimentalen Betrachtungsweise hat seine Zeitgenossen und ihn selbst darüber getäuscht, daß auch in ihm, wie in jedem Künstler, die verstehende Liebe das schöpferische Prinzip war. Seine zarte Poetenseele ist in den funkelnden Eispalästen seiner Werke eingeschlossen wie das Insekt im glänzenden Bernstein, der Mumienweizen im Königsgrab, die Larve im Gletscherschnee. Seine Gemälde vermögen so wenig objektiv zu sein wie irgendeines vor oder nach ihnen, sie besitzen nur die relative Objektivität, die die reine Deskription im Verhältnis zum hineinredenden Lyrismus hat. Nietzsche sagte von ihm: »er hat das klingende und bunte Französisch auf die Höhe gebracht«, womit er, wenn auch mit polemischer Spitze, das eminent Malerische und Musikalische als Grundqualität seines poetischen Vermögens hervorhob. Seine Prosa ist mit einer bis dahin beispiellosen Feinheit und Fülle instrumentiert; er ist der erste große Freilichtmaler in der europäischen Literatur. Er sagt zum Beispiel: »Die taubengraue Seide des Schirms beleuchtete sonnendurchschimmert mit huschendem Flimmern die weiße Haut ihres Gesichts: sie lächelte darunter in der lauen Wärme und man hörte die Wassertropfen, einen um den andern, auf den gespannten Stoff fallen« oder: »In der Allee erhellte grünes Licht, vom Laubwerk gedämpft, das rosige Moos, das leise unter ihren Schritten krachte. Die Sonne senkte sich; der Himmel flammte zwischen den Zweigen und die gleichragenden Stämme der Bäume, in gerader Linie gepflanzt, sahen aus wie braune Säulen über einem Goldgrund.« Sein Idol, vor dem er Tag und Nacht opferte, war die »impeccabilité« der Prosa; er schrieb täglich ein paar Blätter, oft nur ein paar Sätze, an denen er immer von neuem schweißte und ziselierte: einmal hatte er viele Stunden lang an einer einzigen Seite gearbeitet und wollte sich vor dem Einschlafen an ihr ergötzen, fand sie aber schlecht, sprang aus dem Bett und verbrachte die ganze Nacht im bloßen Hemd und in der Winterkälte mit ihrer Umstilisierung. Unermüdlich quälte er sich in freiwilliger Klausur, ein Mönch der Literatur, wie Faguet ihn genannt hat, machte Vorarbeiten wie ein Spezialgelehrter, auch zu Gegenwartsstoffen, Forschungsreisen, um das Lokal zu studieren, durchstöberte Witzblätter, Gerichtsakten, Stiche, Modejournale, Waschzettel, Adreßbücher, Straßenpläne. Das Feilen und Wiederfeilen genügte ihm nicht: schien ihm ein Stück annähernd »impekkabel«, so las er es sich laut vor, um die sinnliche Klangwirkung zu prüfen. Zweifellos übertrieb er die artistische Finesse: den Wechsel im Ausdruck beobachtete er so streng, daß kein Wort zweimal auf derselben Seite, keine Silbe zweimal in demselben Satze vorkommen durfte; seine rigorose Harmonik und Dynamik führte nicht selten zu einer Art Lautornamentik und Wortmusivik, deren gläserne Pracht byzantinisch wirkt. Es war in ihm dieselbe Arbeitswut wie in Balzac, aber aristokratisch getönt, in Selbstzweck, Sport und Liebhabertum sublimiert: er verhält sich zu dem genialen Plebejer wie ein gleitendes Luxusautomobil zu einem keuchenden Dampfpflug. Es ist der bereits hervorgehobene Unterschied zwischen der Gesellschaft des Julikönigtums und des second empire.
Sein erstes Werk, »Madame Bovary«, die Biographie einer Provinzlerin, die aus Unbefriedigung am Dasein zur Ehebrecherin wird, 1857 erschienen, trug ihm eine Anklage wegen Unzüchtigkeit ein, obgleich es eigentlich in seiner versteckten Moralistik sehr kleinbürgerlich ist. Die Empörung, die es erregte, läßt sich nur aus der Neuheit seiner Optik erklären. Hierin und hierin allein bestand Flauberts »Unsittlichkeit«. Jeder fundamental neue Weltaspekt wirkt »zersetzend«, zersplittert kompakte Solidaritäten, zerreißt eingelebte Zusammenhänge. Spätere Zeitalter, die ihn nicht mehr nötig haben, pflegen den Dichter der Vergangenheit sehr zu schätzen, lassen ihn in der Schule lernen und versuchen die lebenden Dichter mit ihm totzuschlagen; aber seine Zeitgenossen, die einzigen Menschen, die ihn brauchen, nennen ihn zersetzend. Das ist er auch in der Tat: wie jedes Ferment. Seine scharfen Fragen dringen in die Lücken und Risse des geistigen Bodens, auf dem die »Jetztzeit« behaglich wohnt, lockern ihn auf, verwittern ihn, spalten ihn auseinander. Man kann in jederlei Sinn sagen: der Dichter ist das Salz der Zeit.
Manet malte einen Bund Spargel. Sogleich erhob sich eine Springflut von Beschimpfungen, Drohungen, Verwünschungen. Geben wir zu, daß es ein ganz miserabler Spargel war. Aber sind die Explosionen von Haß, Wut und Verachtung, die er hervorrief, damit erklärt? Welches der heiligsten Güter der Menschheit ist dadurch verletzt, daß einer nicht imstande ist, Gemüse zu malen? Ibsens Stücke waren zum Teil verboten, obgleich sie nicht einmal »kraß« sind, die Paralyse in den »Gespenstern« etwa ausgenommen. Aber was ist das gegen die Brutalitäten bei Schiller, Dante, Shakespeare? Es zeigt sich hier die geheimnisvolle Wirkung, die das Werk des Genies auf jedermann ausübt: die einen zieht es an, die anderen stößt es ab, aber beide mit der gleichen magischen Kraft. Auch die Philister waren fasziniert, sie fühlten instinktiv, daß hier die Entwicklung einen neuen gewaltigen Anstoß bekommen habe, aber sie spürten nur den Stoß und taumelten betäubt und erbittert zurück. Wären die impressionistischen Bilder wirklich nur rohe und häßliche Farbenhaufen gewesen, wie sie behaupteten, so hätten sie sie einfach übersehen, statt mit Regenschirmen darauf loszugehen, und wäre Ibsen ein Revolutionär vom Schlage Sudermanns gewesen, so hätte er sich alles erlauben dürfen und wäre von ihnen ebenso augenblicklich bejubelt worden wie dieser. Nach der Pariser Premiere des »Volksfeind« saßen Francisque Sarcey, der damalige Pariser Literaturpapst, und Jules Lemaître im Kaffeehaus. Plötzlich sagte Sarcey: »Jawohl, ich finde diesen Ibsen lächerlich und talentlos, und Sie halten mich deshalb für ein altes Rindvieh. Sie werden diesen Titel erst nach meinem Tode erlangen.« Damit hatte der gute alte Sarcey etwas Richtigeres gesagt, als er vielleicht ahnte. Das »alte Rindvieh« ist nämlich die unvermeidliche Position des sogenannten führenden Kritikers und des von ihm geführten Publikums zum Neuen. Und der Dichter ist wahrscheinlich schon geboren, dem gegenüber wir alle uns als eine Herde altes Rindvieh entpuppen werden.
Noch größeres Befremden als seine erste Erzählung erregte 1862 Flauberts großer historischer Roman »Salammbô«, der zur Zeit des karthagischen Söldnerkriegs spielt. Im Grunde ist hier die gleiche Methode angewendet wie in »Madame Bovary«: die »exactitude documentaire«, nur daß sie bei einem so exotischen Stoff mehr auffällt. Andere betrachteten die Historie unter dem Aspekt des Gegenwartsmenschen, Flaubert erblickte sogar die Gegenwart mit den Augen des Historikers: als peinlich genauer Chronist, Rekonstrukteur vergessener Zusammenhänge, Wiederentdecker verschütteter Lebensquellen, entlegener Daseinsformen, vergrabener Seelenkuriosa. In seinem dritten Roman, der »Éducation sentimentale« vom Jahre 1869, der Geschichte einer langjährigen uneingestandenen Liebe, deren Anfang in die vierziger Jahre verlegt ist, brachte er sogar das Kunststück zuwege, die leisen Wandlungen, denen die Umgangssprache in Modeausdrücken und Vulgarismen, Wortdynamik und Affektbetonung, ihrer »Stimmlage« sozusagen, innerhalb einer einzigen Generation unterworfen ist, mit einer Delikatesse festzuhalten, die manchmal bis an die Grenze der Pedanterie geht. Auch in »Salammbô« wird die Sehschärfe bisweilen zur Mikroskopie und die Schaubühne zum Museum. Das Äußerste an analytischer und pittoresker Psychologie aber leistete er in seiner »Tentation de Saint-Antoine«, die 1874 erschien. Es ist eigentlich ein ungeheures Monodrama: die Visionen des Heiligen Antonius während einer Nacht. Es ist falsch, daß er, was eines solchen reinen Gestalters gänzlich unwürdig gewesen wäre, darin das Fiasko der Religion symbolisieren wollte. Flaubert ist Atheist; aber er sagt es nicht. Ihn interessiert nur die Beschreibung des »Falls«, der Psychose. Alle erdenklichen versuchenden Gesichte ziehen an dem durch Hunger, Vigilien und Selbstquälerei überreizten Anachoreten vorüber: Wollust, Grausamkeit, Schwelgerei, Herrschsucht, sämtliche Formen des Unglaubens: Zweifel an der Bibel, Häresie, Vielgötterei, Pantheismus. Schließlich ruft eine der Erscheinungen: »Mein Reich ist so groß wie die Welt und meine Begierde hat keine Grenzen. Ich gehe immer fort, Geister befreiend und Welten wägend, ohne Furcht, ohne Mitleid, ohne Liebe, ohne Gott. Man nennt mich die Wissenschaft.« Aber der Teufel weiß etwas noch Schlimmeres zu sagen: »Wer weiß, ob nicht die Welt bloß ein ewiger Strom von Dingen und Geschehnissen, der Schein das einzig Wahre, die Illusion die einzige Wirklichkeit ist!« Endlich ist die Nacht zu Ende. Der Tag steigt herauf, und zwischen goldenen Wolken erscheint die Sonnenscheibe. Sie trägt das Antlitz Christi. Der Eremit bekreuzigt sich und kehrt zu seinem unterbrochenen Gebet zurück.
Flaubert starb 1880, von fast niemandem betrauert. Manche betrachteten ihn als einen Narren, manche als einen Schulmeister, manche als einen Schädling, alle aber, was in Frankreich das Todesurteil bedeutet, als langweilig.
Es war eine ganz besondere Eigentümlichkeit dieser neuen positivistischen Literatur, daß sie die Grenzen zwischen Kunst und Wissenschaft verwischte. Während Flaubert eine Art Geschichtsforscher war (seine Salammbô enthielt sogar gelehrte Anmerkungen), war Ernest Renan eine Art Romancier. Sein Hauptwerk handelt wie das Tainesche von den »origines«, aber nicht des zeitgenössischen Frankreich, sondern des Christentums. Er sagt darüber: »Eine Geschichte der Ursprünge des Christentums müßte die ganze dunkle, sozusagen unterirdische Periode umfassen, welche sich von den ersten Regungen dieser Religion bis auf den Zeitpunkt erstreckt, wo ihre Existenz eine öffentliche, bekannte, jedermann klare Tatsache wurde. Eine derartige Geschichte würde aus vier Teilen bestehen. Der erste, den ich hiermit veröffentliche, erörtert das Ereignis, das dem neuen Kultus als Ausgangspunkt gedient hat: er beschäftigt sich nur mit der erhabenen Person des Stifters. Der zweite Teil würde sich mit den Aposteln und ihren unmittelbaren Schülern befassen. Der dritte Teil würde das Christentum unter den Antoninen darstellen, wie es sich langsam entwickelte und einen beinahe steten Kampf gegen Rom führte. Der vierte Teil endlich würde den bedeutenden Fortschritt schildern, den es beim Beginn der syrischen Kaiserherrschaft gemacht hat, und zeigen, wie das Bildungssystem der Antonine zusammenstürzte, der Verfall der antiken Kultur unabwendlich eintrat.« Diesen Riesenplan hat er auch tatsächlich ausgeführt, indem er seinem »Vie de Jésus« die Werke: »Les apôtres«, »Saint- Paul«, »L'Antéchrist«, »Les Évangiles ou la seconde génération chrétienne«, L'Église chrétienne«, »Marc-Aurèle et la fin du monde antique« folgen ließ, ja, er schuf sogar noch in seiner fünfbändigen »Histoire du peuple Israël« einen monumentalen Unterbau.
Sein »Leben Jesu«, das noch größeres Aufsehen erregte als das Straußische, erschien 1863; in demselben Jahr wurde er seiner Professur des Hebräischen am Collège de France enthoben. Es war die Frucht einer wissenschaftlichen Expedition zur Erforschung des alten Phönizien, die er in den beiden vorhergegangenen Jahren geleitet hatte: »Und dort«, erzählt er selber, »gewann die alte Legende für mich in einem Maße Form und Körper, das mich verblüffte. Die überraschende Übereinstimmung der Texte mit den Örtlichkeiten, die wunderbare Harmonie des evangelischen Ideals mit der Landschaft, die ihm als Rahmen diente, wirkte auch auf mich wie eine Offenbarung. Ich sah ein fünftes Evangelium, das freilich zerrissen war, aber doch leserlich, und erblickte statt eines abstrakten Wesens, von dem man glauben sollte, es sei nie gewesen, eine bewundernswerte menschliche Gestalt, die lebte und sich bewegte.« In der Tat war noch nie vorher das Lokal des Neuen Testaments so rein und reich, intim und farbensatt porträtiert worden. Dabei ist das Werk keineswegs »belletristisch«, wie hämische Nichtskönner bis zum heutigen Tage behaupten, vielmehr hochwissenschaftlich, ja viel wissenschaftlicher als das Straußische, weil es auf viel universellerer Bildung ruht. Renan war kein bloßer Vergleicher von Textbrocken und disputierender Hegelianer wie der Verfasser jenes Stuben- und Lampenbuchs, sondern ein Orientalist im umfassendsten Sinne des Wortes: Kenner aller kleinasiatischen Sprachen, Glaubensdialekte und Lebensformen, Archäolog, Geograph, Ethnograph, Folklorist, vor allem Psycholog. Und dazu kam noch seine ungeheure künstlerische Überlegenheit. Die Straußische Arbeit ist ein philologisch- dialektischer Sandhaufen, die seinige eine Porzellankostbarkeit, jene ein obstinates Pastorengebrumme, diese ein Stück Kammermusik. Durch sein Künstlertum war Renan auch davor geschützt, die Gestalt des Heilands unter Aspekten von so roher und vernagelter Trivialität zu erblicken, wie wir sie im vorigen Kapitel bei Strauß kennengelernt haben. Berühmt sind die schönen Schlußworte seines Kapitels über den Tod Jesu: »Ruhe nun in deiner Glorie, edler Pionier! Dein Werk ist vollbracht. Den Gefahren der Gebrechlichkeit entrückt, wirst du von der Höhe göttlichen Friedens herabblicken auf die unendlichen Folgen deines Wirkens. Um den Preis einiger Stunden des Leidens, die deine große Seele nicht einmal berührten, hast du dir die vollkommenste Unsterblichkeit erkauft. Jahrtausende hindurch wird die Welt sich an dir aufrichten. Wahrzeichen unserer Widersprüche, wirst du das Banner sein, um das der heißeste Kampf entbrennen wird. Tausendmal lebendiger, tausendmal geliebter seit deinem Tode als während der Tage deines Erdenwallens, wirst du in solchem Maße zum Eckpfeiler der Menschheit werden, daß die Welt bis in ihre Grundfesten erzittern müßte, wollte man ihr deinen Namen entreißen. Zwischen dir und Gott wird nicht mehr unterschieden werden. Sieger über den Tod, nimm Besitz von deinem Reiche, wohin dir auf der erhabenen Bahn, die du gewiesen hast, anbetende Jahrhunderte folgen werden.« Jedoch sieht man schon aus diesen Sätzen, daß auch Renan bei aller liebenswürdigen Bereitschaft weit davon entfernt ist, seinen Gegenstand zu erfassen, was man auch von einem Pariser Salonphilosophen des zweiten Kaiserreichs nicht gut verlangen kann. Sein Buch ist eine exquisite Bijouteriearbeit. Es macht aus der Passionsgeschichte eine schimmernde Idylle, »une délicieuse pastorale«. Die Magie des Geschehens wird naturalisiert, bisweilen auf eine Weise, die an Frivolität grenzt. Jerusalem ist für Renan der bekämpfte Sitz der Großbourgeoisie und des Klerikalismus, der Scholastik und der Korruption, der Skepsis und Genußsucht, kurz: Paris, und statt des Ringens zweier Urwelten: Jehovahs und des Gottessohns, das mit Worten kaum faßbar ist, erblicken wir einen Kampf zwischen Stagnation und Fortschritt, Reaktion und Freiheit. Der frohe Bote, der verkündet hat, daß man das Leben verlieren müsse, erscheint als Lehrer eines verbesserten Lebens, als »Reformator«. Der eingeborene Sohn Gottes, tiefste Mitwisser seiner Geheimnisse und höchste Mandatar seines Willens, der die Pole der Welt vertauscht, alles umgeworfelt und das Antlitz der Erde verwandelt hat, ist bei Renan ein liebenswürdiger Wanderprediger, naiver Seelenhirte und heiterer Volksfreund. »Er hat den Grund gelegt für den wahren Liberalismus und die wahre Zivilisation«: in diesem leitmotivischen Satz demaskiert sich das Werk, das die evangelische Wahrheit gegen den Napoleonismus aufruft, als dessen bloßer Negativabdruck: second empire gegen second empire!
Je mehr sich das Christentum von seinem Ursprung entfernt und in den Strom der Welt eintaucht, ein desto adäquaterer Gegenstand wird es für die mondäne Pinselkunst Renans. Über die apostolische Periode denkt er noch recht sonderbar: »Sicherlich, wenn das Christentum in den Händen dieser guten Leute geblieben wäre, eingesperrt in die Konventikel der Erleuchteten, es wäre erloschen wie der Essenismus, ohne eine starke Spur des Andenkens zu hinterlassen. Der unlenksame Paulus wird das Christentum zu Ehre und Ansehen bringen und es, allen Gefahren Trotz bietend, kühn auf die hohe See steuern. Der Protestantismus existiert bereits fünf Jahre nach dem Tode Jesu; Paulus ist dessen erlauchter Gründer. Jesus hat ohne Zweifel solche Jünger nicht vorausgesetzt; sie aber sind es, die immer am meisten dazu beigetragen haben, daß sein Werk am Leben blieb, ja ihm die Ewigkeit sichern werden.« Aus dieser Auffassung spricht ein Opportunismus, der jedes religiöse Gefühl verletzen muß, obgleich oder vielmehr gerade weil er sich in so ungehässiger Form äußert. In seinem Element ist Renan, wenn er interessante Zivilisationsphänomene schildern kann wie Nero, den Antichrist, Marc Aurel und das dekadente Rom, das wiederum Paris ist. Als Gesamtpersönlichkeit wirkt er nicht unähnlich wie ein höchstkultivierter, eleganter, sanft-ironischer Kirchenfürst der Renaissance, der zur Kunst und Wissenschaft ein sehr intimes, gourmethaft-kennerisches Verhältnis hat, zur Religion aber gar keines, nicht einmal das des Zweifels.
Dreißig Jahre lang schrieb Charles-Auguste Sainte-Beuve seine allwöchentlichen »Causeries du lundi«: »Montag mittags atme ich eine Stunde lang auf; dann wird das Gitter wieder geschlossen und sieben Tage lang sitze ich in der Gefängniszelle.« Im Zeitalter des Positivismus ist offenbar sogar die Plauderei eine wissenschaftliche Robot. Man hat Sainte-Beuve den »Fürsten der Kritik« genannt, und er war auch in der Tat mit allen typischen Eigenschaften eines solchen ausgestattet: ein stilistischer Goldarbeiter, jedes Satzkörnchen auf der Waage prüfend; Meister und Anbeter des geschliffenen Adjektivs und Präger glitzernder Motmedaillons; raffinierter Aufspürer versteckter Schönheiten und Schönheitsfehler, aber völlig instinktlos für das Ganze und Wesentliche einer Persönlichkeit; das Zukunftsvolle, Originale, Vorwärtsdrängende mit feiner Nase anschmeckend, aber nie mit dem ganzen Leib als Fahne deckend; auch bei den schon intabulierten Größen immer ins Pastell einbiegend, ohne den geringsten Sinn für das Heroische im Genius, das er stets zum Genrehaften atomisiert: eine fast unvermeidliche Folge aller überintimen Kleincharakteristik, der das psychologische Mikroskop zumeist statt blühender Haut ein Stück runzliges Leder zeigt.
Die Werke Taines und Flauberts, Renans und Sainte-Beuves verdanken nichts der Muße und Laune, alles der Arbeit und Zucht. Sie sind, gleich gewissen kostbaren Hyazinthensorten, von einer Symmetrie der Form, Stärke des Dufts und Feinheit der Farbe, wie sie sich in der Natur nicht findet. Sie sind gefüllte Treibhausprodukte.
Es ereignete sich in jenen Tagen sogar die Paradoxie, daß die Lyrik »objektiv«, ichlos, wissenschaftlich, atheistisch zu sein begehrte: lauter Eigenschaften, die ihrem innersten Wesen widerstreben. Danach konnte ihr als Aufgabe nur noch ein kalter Kultus der Form übrigbleiben, ein virtuoses Spiel mit goldenen Wortbällen. Diese Richtung, die außerdem dezidiert pessimistisch und revolutionär war, vertraten die »Parnassiens«, die, ursprünglich spottweise so genannt, später in der Zeitschrift »Le Parnasse contemporain« ihr Sammelorgan fanden. Ihr Führer war Leconte de Lisle, der die »impassibilité« für das poetische Ideal erklärte, die »montreurs« verhöhnte, die geschwätzig und abgeschmackt ihre Seele herzeigen, und dem Lyriker nur noch die Philosophie, die Völkerkunde, die Kulturhistorie, die Landschaft, das Porträt, alles streng »sachlich« behandelt, als Objekt einräumte. Ihr stärkstes Talent war Baudelaire, Übersetzer Poes, Vorkämpfer Manets und Wagners, Opiumraucher und Alkoholiker, Dandy und Masochist, der erste große Dekadent der Neuzeit. Sein Leben verzehrte sich in Ekstasen, Schwelgereien, Exotismen, Depressionen und in Liebesmartyrien zwischen seiner »schwarzen Venus«, einer Mulattin aus einem Café chantant mit »Augen wie Suppentellern« und einem Geruch »wie Teer, Muskat und Kokosöl«, und seiner »Madonna« Madame Sabatier, der sanften mondänen Geliebten eines Bankiers. Er schrieb nur zwei größere Werke: die Gedichtsammlung der »Fleurs du mal« und die »Paradis artificiels«, eine Prosaode auf die Wonnen und Schrecken des Haschischgenusses. Seine Poesie ist nichts weniger als objektiv, vielmehr der Gipfel der Subjektivität: nämlich pathologisch und pervers, dabei jedoch von einem betäubenden Zauber arrangierter Verruchtheit und Extravaganz durchwittert. Zu der Schule der Parnassiens lassen sich auch die »Contes cruels« Villiers de l'Isle-Adams rechnen, aparte Luxusdrucke eines sadistischen Visionärs, und Barbey d'Aurevillys Novellen »Les diaboliques«, die, stechend parfümiert, überbelichtet, satanistisch um jeden Preis, in ihrer chargierten Freigeisterei und weltmännischen Skepsis eigentlich eine späte Nachblüte des achtzehnten Jahrhunderts sind; als Zeichner gehört hierher der Belgier Félicien Rops, dessen Verworfenheit und Satyriasis heute schon ein wenig gepreßt und panoptikumhaft wirkt.
Mit der Kunstanschauung des Parnasse berührt sich die l'art pour l'art-Theorie. Schon Théophile Gautier hatte sie verkündet: »was nützt, ist häßlich und gemein, der nützlichste Teil eines Hauses sind die Latrinen«; Poe erklärte, der Zweck der Kunst sei »creation of beauty«, die Erzeugung von Lust-und Glücksgefühlen, auch durch Grauen, Trauer, Mystik und Wahnsinn, aber niemals die Moral oder die Wahrheit. Am schärfsten hat dieses Bekenntnis Oscar Wilde 1882 in einem Essay formuliert: »Ein Gemälde hat durchaus nicht mehr geistige Bedeutung für uns als ein blauer Ziegel. Es ist eine schöngefärbte Fläche, nichts anderes, und wirkt auf uns mit keiner aus der Philosophie gestohlenen Idee, mit keinem aus der Literatur gerafften Pathos, sondern mit seiner eigenen unsagbaren künstlerischen Wahrheit: mit der besonderen Form der Wahrheit, die wir Stil nennen.« Hierin trat die jüngere Generation zu ihrem bisherigen Wortführer Ruskin, den sie als Schriftsteller und Kunstkenner weiter verehrte, in schroffen Gegensatz. Dieser, ein leidenschaftlicher Bekämpfer des kalten Klassizismus, als dessen Prototyp er Raffael ansah, und frühester Wegbahner der modernen Malweise, deren Begründer er in Turner erblickte, wurde der Schöpfer einer ästhetischen Biologie der Tiere und Pflanzen, Steine und Wolken (denn auch diese sind für ihn Lebewesen), einer Naturgeschichte für Künstler, betonte aber bei aller Artistik, daß die Kunst eine moralische Aufgabe habe. Auch in seinen nationalökonomischen Lehrmeinungen war er Ethiker und Ästhetiker zugleich: einerseits verlangte er, daß niemandem gestattet sein solle, von fremder oder von toter, früher geleisteter Arbeit zu leben, andrerseits forderte er, daß alle Arbeit geadelt werde, indem sie wieder künstlerisch werde wie im Mittelalter, wo Handwerker und Künstler dasselbe bedeutete, und verdammte daher die Maschinen. Carlyle schrieb an ihn, er freue sich, daß er sich nunmehr in einer Minorität von zwei Stimmen befinde.
Ruskin war der Apostel des Präraffaelismus, als dessen »Vater« William Dyce gilt, der Schöpfer des entzückenden Bildes »Jakob und Rahel«; dieser stand in Rom mit Overbeck in Verkehr, wodurch eine gewisse Verbindungslinie zwischen Präraffaelismus und Nazarenertum gebildet wurde. Eigentlich war der erste Künstler dieser Art William Blake, ein 1827 verstorbener Malerdichter, der seine mystischen Poesien mit farbigen Radierungen von seltsam müdem Reiz illustrierte; Swinburne schrieb, diesen Zusammenhang fühlend, seine Biographie. 1848 wurde die P.R.B., die Pre-Raphaelite Brotherhood, gegründet, der unter anderem Dante Gabriel Rossetti, Holman Hunt, John Everett Millais, später auch Edward Burne-Jones und William Morris angehörten. Der angesehenste Vertreter dieser Schule, obgleich nicht Mitglied der Bruderschaft, war Robert Browning. Berühmt ist der Lebensroman seiner Gattin Elisabeth Barrett: ihre Flucht aus dem Hause des Vaters und heimliche Trauung, ihr Briefwechsel mit dem Verlobten und der Sonettenkranz, in dem sie die Geschichte ihrer Liebe erzählt. Obgleich dem Tode geweiht, wurde sie von Robert durch eine Art seelischer Therapie von ihrem Lungenleiden errettet und starb erst nach vieljähriger Ehe. Von Browning stammen Theaterstücke, die aber diaphan, spirituell, zweidimensional sind, und viele andere Poesien: Mysterien, seltsam betörend und unergründlich wie dunkle Märchenwälder. Wilde, der ihn sehr bewunderte, sagte von ihm: er weiß mit tausend Zungen zu stammeln. Ein ähnliches Liebesschicksal wie Browning erfuhr Dante Gabriel Rossetti mit der jungen Elisabeth Siddal, einer schwindsüchtigen Modistin von königlicher Schönheit mit bronzenen Haaren, langen Wimpern und grünen Augen. In seiner Sonettenfolge »The House of Life« schildert er die Seelengeschichte ihres Bundes; sie war sein ewiges Modell, seine Beatrice, als die er sie auch malte, in Erinnerung an den Dichter, mit dem er sich nicht bloß durch den Namen verknüpft fühlte. Er ist der einzige Erotiker unter den Präraffaeliten: seine Frauengestalten sind mit einer delikaten, kennerischen Sinnlichkeit geschaut. Die prachtvollen gotisierenden Tafeln hingegen, die sein Schüler Burne-Jones geschaffen hat, sind betont übergeistig, gobelinhaft, ornamental, dem Kunstgewerbe angenähert; die süßen Spezereien, von denen sie duften, verursachen auf die Dauer Kopfschmerzen.
Für William Morris und das Künstliche des ganzen Präraffaelismus ist es bezeichnend, daß er in seinen gefeierten Dichtungen antike Stoffe in der Auffassung des Spätmittelalters nachgestaltete: ein kapriziöses Doppelmaskenspiel und bloßes mystifikatorisches Kartenkunststück. Sehr bedeutsam war seine Wirksamkeit auf dem Gebiet der dekorativen Künste, die er durch programmatische Schriften und die Gründung einer eigenen Werkstätte für Glasmalereien, Tapeten, Möbel, Kacheln, später auch durch Errichtung einer Kunstdruckerei und Buchbinderei entscheidend reformierte; sein Hauptmitarbeiter war Burne-Jones, der wundervolle Teppiche, Kirchenfenster, Blumenfriese, Vorsatzblätter entwarf. Auch Ford Madox Brown beteiligte sich an diesen Bestrebungen, ein sehr origineller Maler, archaisierend in Zeichnung, Farbe und Perspektive, primitiv und pikant, hölzern und hektisch; in seinem Drang nach entrückender Verseelung mehr an das flämische Quattrocento anknüpfend als an das italienische. Holman Hunt wandte sich, nach ernsten Studien in Palästina, ganz der religiösen Symbolik zu und erinnert darin noch am ehesten von allen Präraffaeliten an die Nazarener, doch tat er es auf eine sehr späte, wissende Art, die ihn wieder von diesen unterscheidet. George Frederick Watts gelang das seltene Kunststück, moralische Allegorien zu malen, ohne abgeschmackt oder undramatisch zu werden.
Der Präraffaelismus krankte an dem inneren Widerspruch aller Renaissancen, indem er den selbstmörderischen Versuch unternahm, das einzige wirkliche Leben, nämlich das der Gegenwart, in die verstorbenen Formen eines früheren Daseins zu füllen. Indes fehlte ihm vollkommen die naive Blauäugigkeit des Nazarenertums; und gerade die Tatsache, daß sein Infantilismus gestellt und angeschminkt, eine dekadente Bizarrerie war, verband ihn mit der eigenen Zeit. Überhaupt war das Quattrocento von den Nazarenern von vornherein mißverstanden worden: sie hielten es für primitiv, weil sie selber primitiv waren; in Wirklichkeit war es eine graziöse und aparte, aristokratische und anämische, sublimiert sinnliche und durchfeinert ästhetizistische Welt gewesen. Die Präraffaeliten fühlten die echte Verwandtschaft, das Gemeinsame in der interessanten Lebensunfähigkeit und Wirklichkeitsflucht aus Überdruß an der massiven siegreichen Realität. Aber die Müdigkeit jener um vierhundert Jahre jüngeren Zeit war die Verträumtheit des Frühlings gewesen; ihre »Wiederbeleber«, Kinder des Herbstes, steigerten die Melancholie zur Morbidität, die Hochkultur zur Überzüchtung, die Eleganz zur Blasiertheit, das Könnertum zur Kunstspielerei. Sie machten aus dem Leben eine Goldarabeske und aus der Kunst eine Seidentapete.
Das Ideal der Schule war der »Painter-Poet«, was aber nicht bloß äußerlich gemeint war: man verlangte vom Künstler nicht nur, daß er sowohl Maler wie Dichter, sondern auch, daß er beides in demselben Werk sei. Jede Dichtung sollte eine Farbensymphonie sein und jedes Gemälde ein poetisches Manifest. Dazu kam noch, daß fast allen präraffaelitischen Schöpfungen eine hohe Musikalität eignete. Im Grunde war es die alte romantische Forderung nach der Vermischung aller Künste. Aber es entstand nur ein künstliches Dekokt. Die Präraffaeliten hatten nur die einzelnen kostbaren Drogen in der Hand, die sie geschickt zusammenschüttelten. Als Rossetti einmal mühevoll gleichzeitig an einem Bild arbeitete und an einem Sonett, das es bedichtete, sagte Whistler zu ihm: »Ich würde an Ihrer Stelle das Bild aus dem Rahmen nehmen und das Sonett hineintun.« Delacroix nannte die Präraffaeliten »l'école sèche«. Sie gehören, streng genommen, nicht in die Geschichte der Kunst, sondern in die Geschichte der Ästhetik; sie waren, trotz ihren ethischen und religiösen Tendenzen, in einem höchsten Sinne unernst: bis hart an die Grenze des Snobismus. Und doch hat, so hintergründig und widerspruchsvoll ist der Gang der menschlichen Geistesgeschichte, der Präraffaelismus über sein Zeitalter eine erstaunliche Herrschaft erlangt. Der galvanisch wiedererweckte Botticellitypus drang ins Leben. Die Frauen verloren ihre Busen, ihre Hüften, ihre Wangenröte. Allenthalben erblickte man jene träumerischen fragilen Gestalten, deren blasse Häupter wie welke Blütenköpfe auf den überzarten Stengeln ihrer müden Körper trauerten. Wie kann eine Lüge solche Macht gewinnen?
Das Wort »Ästhet« gehört zu jenen, die, je nachdem man sie ausspricht, eine Schmeichelei oder eine Beleidigung bedeuten können. Was uns betrifft, so möchten wir darin eher das letztere erblicken. Eigentlich gibt es ja nichts Unästhetischeres als einen Ästheten. Denn was ist ästhetisch? Übereinstimmung mit den Gesetzen des eigenen Organismus. Daher ist die Natur immer ästhetisch. Kolibri und Nachtpfauenauge, Lotosblüte und Meduse sind nicht schön, weil sie anmutig, farbenprächtig, apart sind, sondern weil sie ihr Wesen erfüllen. Darum hat auch ein Ochsenfrosch, ein Sumpflattich, ein Dreck und Feuer spuckender Krater seine eigentümliche Schönheit. Die Besonderheit des Ästheten besteht aber gerade darin, daß er etwas anderes sein will, als ihm im Schöpfungsplan bestimmt ist. Er ist nicht das, was Gott mit ihm gewollt hat. Der himmlische Gedanke, dem er seine Existenz verdankt, deckt sich nicht mit seiner irdischen Funktion. Er täuscht die Form einer Kraft vor, die nicht in ihm wohnt. Er ist ein Glasauge, eine Wachshand.
Aber andrerseits muß man bedenken, daß der Ästhet, ja sogar der Snob der extremste Typus des Idealisten ist, den man sich vorstellen kann. Er hat vor sich ein Bild errichtet, dem er mit solcher Inbrunst des Wunsches gleich zu werden strebt, daß er es schließlich wirklich wird. Er ist der »Schauspieler seines Ideals«. Und wie wir bei einem Schauspieler nicht danach fragen, ob er lügt, so vergessen wir auch bei ihm, wenn er nur genug Feuer und Verwandlungskraft besitzt, daß er bloß ein fremdes Kostüm trägt. Wenn er das, was er ambitioniert, mit Vollkommenheit nachahmt (und dies ist allerdings die Voraussetzung), so verkörpert er so gut wie jeder andere einen der vielen Grundrisse der menschlichen Varietäten, nämlich die platonische Idee des Menschen, der ganz in der Phantasie lebt. Nichts, was er ist, tut, läßt, ist wahr, weil er nämlich mit dem Leben dichtet. Die Realität geht ihn nichts an, denn er macht sich seine eigene. Er ist ein kleiner Souverän, oft ein recht armseliger, aber zumindest unsere Rührung können wir ihm nicht versagen. Dieses Problem der Lebenslüge, die zur Lebensflamme wird, hat bekanntlich Ibsen unsterblich gestaltet. Aber wenn wir ganz auf den Grund zu blicken versuchen, so ist eigentlich gar nicht Hjalmar der Held jenes Dramas, sondern der alte Ekdal, worauf ja auch der Titel hinweist. Mit der Kraft der Sehnsucht hat er die Dachkammer in einen geheimnisvollen Forst, die Wildente in das Symbol aller Jagdabenteuer verwandelt. Ist der Unterschied zwischen ihm und einem »Nimrod« nicht die bloße Differenz zweier Aspekte, die vor dem Geiste ebenso gleichwertig sind wie ein Körper und seine Projektion im Gehirn des Geometers? Ist er ein König oder ein Narr, ein Snob oder ein Dichter? Wenn wir es so betrachten, so können selbst Wachshand und Glasauge Leben bekommen: sobald wir es nämlich hineintragen. Und deshalb ist es sehr wahrscheinlich, daß die Musen den Ästheten nicht verdammen, sondern bloß nachsichtig belächeln.
Auch jenseits des Ozeans produzierte das Angelsachsentum neuartige Formen. Der erste, der die Welt Amerikas mit eigenen Akkorden besang, war Walt Whitman, ein wildes, riesenförmiges, ja barbarisches Naturgewächs, das auf dem rauhen fetten Boden seines Landes ungepflegt und lange Zeit unbeachtet emporschoß. Whitman hatte, als echter Amerikaner, alle Berufe und keinen: er war Laufbursche, Buchdrucker, Dorfschullehrer, Zimmermann, Rechtsgehilfe, Redakteur, im Bürgerkrieg freiwilliger Krankenpfleger. 1855 erschienen die »Leaves of Grass«, von ihm selbst gesetzt und in meergrünes Leinen gebunden, ein Heft von noch nicht hundert Seiten, das seinen späteren Ruhm begründete; seinen Titel und Inhalt erklären die Worte: »ich glaube: ein Grashalm ist nichts Geringeres als das Tagwerk der Sterne.« Es sind Gedichte, wie die Psalmen Gedichte sind, Eruptionen, deren Poesie in ihrer Kraft und Ursprünglichkeit hegt: »Camerado, das ist kein Buch! Wer dies berührt, berührt einen Menschen!« Sie schöpfen ihre Macht aus ihrem völlig neuen Ton und einer sehr erfrischenden Unbildung, die nichts von Hemmungen der Form und der Logik weiß. Ihr Grundgefühl ist eine Art rabiater Pantheismus und trampelnder trompetender Optimismus: »Ich bin, wie ich bin. Wenn's niemand auf der Welt bemerkt, so sitz' ich zufrieden da, und wenn's die ganze Welt bemerkt, so sitz' ich zufrieden da!«; »für mich ist jede Stunde des Lichts und der Finsternis ein Wunder, jeder Kubikzentimeter Raum ist ein Wunder, jeder Quadratmeter Erde ist besät mit Wundern, jeder Fuß des Erdinnern strotzt von Wundern.« Man sagte von ihm, er habe das Äußere und Betragen eines Elefanten, und so ist er auch als Dichter: urwaldhaft, gutmütig, weise, humorvoll, überlebensgroß, im Zimmer nicht zu brauchen.
Der geistige Mittelpunkt Nordamerikas war Massachusetts. Von dort aus hatte schon in der ersten Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts der Pfarrer Jonathan Edwards durch seine Philosophie richtunggebend gewirkt, die im Anschluß an Augustinus und Malebranche alles Geschehen als »God's actings« betrachtete: wir vermögen, lehrte er, alle Dinge nur durch Gott und in Gott zu sehen. Dort lebte auch Henry David Thoreau, zuerst als Kuhjunge, später als Bleistifterzeuger, schließlich am Waldenteich, anderthalb Meilen südlich von Concord, in einer selbstgezimmerten Hütte aus Weißtannen. Vögel setzten sich auf seine Hand, Eichhörnchen aßen aus seiner Schüssel, Schlangen wanden sich um seine Beine, Fische ließen sich von ihm aus dem Wasser nehmen, Wild suchte bei ihm Zuflucht. Er erinnert darin an Franz von Assisi, dessen brüderliches Leben mit den Tieren helle Köpfe, die sich nichts vormachen lassen, in das Reich der Legende verwiesen haben; hier aber haben wir mitten im erleuchteten Zeitalter der Mitrailleuse, des Clearingverkehrs und der Vivisektion einen beglaubigten ganz ähnlichen Fall, der sich zweifellos vervielfältigen ließe, wenn die Menschen etwas weniger gefräßig und geldgierig wären. Die Frucht dieses zweijährigen Bundes mit der Natur war Thoreaus Buch »Walden, or life in the woods«; als Motto könnte ihm der Vers dienen: »I cannot come nearer to God and Heaven than I live in Walden even.« »Ich bin nicht einsamer«, sagt Thoreau, »als der Seetaucher, der dort auf dem Teiche so laut lacht, nicht einsamer als der Waldenteich selbst. Welche Gesellschaft hat denn dieser einsame See? Und doch spiegelt sich nicht Trübsinn, sondern Himmelsheiterkeit in dem Azur seines Wassers. Die Sonne ist allein, Gott ist allein, aber der Teufel ist sicher nicht allein, der hat viele Kameraden! Der ist Legion! Ich bin nicht einsamer als eine alleinstehende Königskerze, als ein Löwenzahn auf dem Wiesengrund, als ein Bohnenblatt, ein Sauerampfer, eine Pferdefliege, eine Hummel.« Wundervoll ist Thoreaus Gabe, in die Charakterologie von Naturgeschöpfen so einzudringen, daß sie zu seinen, ja zu unseren intimsten Bekannten werden: »Die Goldbirke hat mit der Schwarzbirke den süßen Beerenduft gemeinsam und mit der Canoebirke die lose, ausgefranste, quastige Rinde. Der Wipfel ist besenartig wie bei der Schwarzbirke, die Rinde von wunderbar zarter Goldfarbe und in senkrechten, klaren, glatten Zwischenräumen vom Stamme weggekräuselt, als ob ein Hobel nach oben geführt worden wäre. Der Anblick dieser Bäume bewegt mich mehr als kalifornisches Gold. Die Goldbirke ist die blonde, flachshaarige, goldlockige Schwester der dunkelhaarigen Schwarzbirke. Gesund und munter faßt sie Fuß und gürtet sich im sumpfigen Boden. Ein Baum im Negligé. Daneben fließt burgunderfarbig ein Bach auf eisenrotem Sand im dunkeln Moor, Moorwein«; »eine junge Katze ist so beweglich, daß sie fast doppelt erscheint. Das Hinterteil ist ein zweites Kätzchen, mit dem das Vorderteil spielt. Sie entdeckt erst, daß ihr Schwanz ihr gehört, wenn sie auf ihn tritt. Sie springt auf den Stuhl, stellt sich auf die Hinterfüße, um zum Fenster hinauszuspähen, und betrachtet sich still die nahen und fernen Gegenstände, erst auf die eine, dann auf die andere Seite schauend, denn sie sieht so gern zum Fenster hinaus wie jedes Frauenzimmer. Hier und da biegt sie die Ohren zurück, um zu hören, was im Zimmer vorgeht, und die ganze Zeit über berichtet ihr beredter Schwanz vom Erfolg und Fortschritt der Inspektion.«
Thoreau verachtet alle Tradition. »Manche Leute«, sagt er, »schreien uns in die Ohren, wir Amerikaner, ja wir modernen Menschen überhaupt seien geistige Zwerge, verglichen mit den Alten oder auch nur mit dem Zeitalter der Elisabeth. Soll ein Mann hingehen und sich aufhängen, weil er zu der Klasse der Zwerge gehört, oder soll er nicht lieber trachten, der größte Zwerg zu werden, der er überhaupt sein kann? ... Es ist ganz gleichgültig, ob ein Mensch reift wie ein Apfelbaum oder wie eine Eiche. Warum soll er seinen Frühling zum Sommer machen? Sollen wir mit unsäglicher Mühe einen Himmel von blauem Glas über unseren Häuptern errichten, bloß damit wir, wenn er fertig ist, durch ihn zum wahren Himmelsäther emporblicken können?« Hierin berührte er sich mit seinem Patron Emerson, der übrigens seine eigenen Gedanken ebenfalls »Kinder des Waldes« genannt hat. Concord, in den Vereinigten Staaten schon dadurch berühmt, daß seine Einwohner den Engländern 1775 den ersten bewaffneten Widerstand leisteten und damit das Signal zum Befreiungskrieg gaben, die Geburtsstadt Thoreaus, war auch der Ort, der in Emersons Leben die Hauptrolle spielte: er ist zwar nicht dort geboren, aber seine Familie stammte von dort (sein Großvater befand sich unter den Aufständischen) und er verbrachte dort mehr als die Hälfte seines Lebens. Auch Emerson hält nichts von Dogmen und Überlieferungen: er sagt, er wolle niemals von einer Sache feststellen, ob sie wahr oder falsch sei; er wolle im Gegenteil gar nichts feststellen, sondern alles verrücken. Hierin weist er wieder seinerseits auf Montaigne, mit dem ihm auch die lockere Form der Darstellung, die Realistik der Diktion und der leidenschaftliche Drang, durch den Schleier der oberflächlichen Alltagsmeinungen an den wahren Sinn aller Lebensverhältnisse vorzudringen, gemeinsam ist, und er selber sagte nach der ersten Lektüre der »Essays«, es sei ihm, als habe er sie in irgendeiner Präexistenz geschrieben; doch darf man andrerseits nicht übersehen, daß Montaigne im höchsten Sinne war, was Nietzsche unter einem »guten Europäer« versteht: etwas, das Emerson nicht einmal vom Hörensagen bekannt war. Auch mit Carlyle pflegt er oft zusammen genannt zu werden, und man braucht in der Tat nur seine »Representative men« mit Carlyles »Hero-worship« zu vergleichen, um die Ähnlichkeit, die bis in die äußere Architektonik geht, sogleich zu erkennen. Indes bestehen auch große Verschiedenheiten. Emerson war die harmonischere und ausgeglichenere, aber auch die weichere und zerfließendere Natur. Beide wirken nach der Art einer Naturkraft, nur daß der elementare Impetus Carlyles einem wilden Gewässer gleicht, das, über die eigenen Ufer tretend, alles mit sich fortreißt, während Emersons Geistesrhythmus mehr an das sanfte Dahingleiten eines Wiesenflusses erinnert, der sich langsam und friedlich sein Bett gräbt. Etwas vom Prediger hatten beide; aber Emerson ist kein ungestümer zürnender Prophet wie Carlyle, sondern mehr ein milde überredender Pastor. Sein konzilianter Optimismus enthielt nicht selten, besonders in den späteren Schriften, etwas »Mondschein«, wie Carlyle es in seinen letzten Lebensjahren zu bezeichnen pflegte. Emerson vermag so gut wie Carlyle allem, was er sagt, den beziehungsreichen Charakter des Unendlichen zu geben, aber der grenzenlose Ozean, in dem wir uns bei ihm befinden, enthält im ganzen zu wenig Salz, wir schwimmen in einem Meer von Süßwasser. In der Vorrede, die Carlyle 1841 zu Emersons »Essays« schrieb, nannte er diese »a true soul's soliloquy«. Keine der Schriften Carlyles könnte man einen Monolog nennen: er spricht immer zu einer fiktiven Menge.
Es ist zwecklos, ja unmöglich, Emersons Philosophie zu reproduzieren oder zu erläutern, denn wie ein Kristall oder eine Landschaft beschreibt und kommentiert er sich selbst. Seine Sätze sind da, unvorbereitet, undiskutierbar, gleich Matrosensignalen aus einer nebelhaften Tiefe. Er trat zu einer Zeit auf, wo Amerika bereits vor der Gefahr stand, völlig amerikanisiert zu werden, und setzte gegen die Realität der Maschine die Realität des Herzens. Aber ein Mann, der alle mühsam errungenen Wirklichkeiten vor das Forum des Gedankens und des Glaubens ruft, wird keineswegs ein Träumer und Grübler sein dürfen, der als Ersatz für Dampfmehl und Gefrierfleisch, Fernsprecher und Setzmaschine ein paar armselige Luftschlösser anbietet, sondern wird mitten aus dem Realismus des wirklichen Lebens heraus seine höheren und reicheren Weltansichten entwickeln müssen. Dies gibt Emersons Physiognomie ihren besonderen Charakter. Er ist Amerikaner und schreibt für ein Volk von Selfmademen, er ist der Philosoph der »Neuen Welt«. Er sieht den Dingen mit dem gesunden kerzengeraden Blick eines Menschen ins Gesicht, der nicht durch gelehrte Überlieferungen eingeschüchtert ist und für junge Köpfe denkt. Er wird niemals abstrakt, sondern nimmt seine Beispiele und Gleichnisse aus dem Reichtum des täglichen Lebens, das er von Grund aus kennt. Seine Sprache hat die Bilderkraft eines Menschen, der nicht nach Bildern sucht.
Es ist schwer zu sagen, ob Emerson mehr Idealist oder mehr Naturalist war. Die ganze philosophische Strömung, die von ihm ausging, wird zumeist »Transzendentalismus« genannt. Man kann den Namen akzeptieren, wenn man ihm nicht die besondere Bedeutung gibt, die er seit Kant besitzt. Denn über das Problem der Erkenntnis hat sich Emerson im ganzen wenig Gedanken gemacht. Künstlernaturen pflegen diese Frage ja meist zu übergehen; selbst Goethe hat sich bekanntlich nie viel um sie gekümmert. Man kann indes ganz wohl sagen, daß Emerson philosophischer Idealist war. Er hatte nämlich das, was man das »transzendentale Organ« nennen könnte. Er wußte und fühlte, was alle tiefer veranlagten Naturen fühlen: daß die Realität für den Menschen etwas Unerreichbares ist. Aber er war zu dieser Weltansicht nicht durch wissenschaftliche Untersuchungen gelangt, sondern aus Gefühlsgründen. In seinem Essay »Experience« lautet eine der schönsten Stellen: »Wenn ich nicht irre, ist es Boscovich, der herausgefunden hat, daß die Körper sich niemals berühren. Nun also: die Seele berührt auch niemals ihre Gegenstände. Ein uferloses Meer wirft seine stillen Wogen zwischen uns und die Dinge, nach denen wir streben und mit denen wir umgehen. Auch der Schmerz lehrt uns die Idealität der Welt. Vor zwei Jahren starb mir ein Sohn, und heute scheint es mir, als hätte ich damals ein schönes Landgut verloren nicht mehr. Näher kann ich mir die Sache nicht bringen. So ist's mit allen meinen Unglücksfällen: sie reichen nicht an mich heran. Ich bin voll Kummer darüber, daß Kummer mich nichts lehren kann, daß er mich keinen Schritt weiter in die Geheimnisse der Natur führt. Auf einem Indianer lastete ein Fluch: kein Wind durfte für ihn blasen, kein Wasser für ihn fließen, kein Feuer für ihn brennen. Der Fall dieses Indianers ist unser Fall. Unsere teuersten Erlebnisse sind ein Sommerregen und wir sind wasserdichte Mäntel, von denen jeder Tropfen abfließt. Nichts ist uns gelassen als der Tod, und wir blicken auf ihn mit einer gewissen grimmigen Befriedigung, indem wir uns sagen: da ist doch einmal etwas Positives, das uns nicht foppen wird.«
So hat Kant niemals gesprochen. Er hatte den Phänomenalismus so sicher begründet, daß niemand ihn wieder umstoßen konnte; aber nachdem er dieses Geschäft energisch und gründlich besorgt hatte, ging er ruhig an seine wissenschaftliche Arbeit wie irgendein eingefleischter Positivist. Er hatte sich gleichsam nur »salviert«. Emerson hat niemals daran gedacht, den Idealismus theoretisch zu fundieren. Aber obgleich er, gegen Kant gehalten, ein naiver Empiriker ist, geht doch durch alle seine Schriften ein tief phänomenalistischer Unterton, und eine Linie von diskreter Skepsis läßt sich noch an seinen apodiktischsten Behauptungen erkennen.
Er ist absoluter Impressionist: in seinem Stil, seiner Komposition, seinem Denken. Er bringt seine Gedanken nicht in einem bestimmten logischen oder künstlerischen Aufbau vor, sondern in der natürlichen und oft zufälligen Anordnung, die sie gerade in seinem Kopfe haben. Er kennt nur provisorische Meinungen, Augenblickswahrheiten. Er opfert niemals die Wahrheit auch nur eines einzelnen Wortes, Satzes oder Gedankens der Architektonik des Ganzen. Dinge wie: »Disposition«, »Einleitung«, »Übergänge« gibt es bei ihm nicht. Er beginnt irgendeine Ansicht zu entwickeln, und man glaubt, er werde sie nun systematisch weiterspinnen, von allen Seiten beleuchten, gegen mögliche Einwände verschanzen. Aber plötzlich springt irgendein fremdes Bild, Gleichnis, Epigramm oder Aperçu, das ihm gerade einfällt, mitten in die Gedankenkette, und das Thema dreht sich von nun an um ganz andere Gegenstände. Er hat einen seiner Essays »considerations by the way« genannt, aber man könnte alles, was er je geschrieben hat, ebenso betiteln. Form und Zusammenhang seiner Gedanken sind ihm gleichgültig, wichtig ist ihm nur die Geisterstimme, die in ihm ruft. Man kann Emerson nicht widersprechen. Seine überzeugende Kraft beruht ja eben darauf, daß er alles aus seinem inneren Diktat schöpft und nichts dazutut. Er hält still, lauscht auf sein Herz und schreibt mit.
Eine Persönlichkeit vom Schlage Emersons fehlte auf dem Kontinent. Zumal in Deutschland herrschte ein ganz grobdrähtiger Materialismus. Die Schreibtischideologie der Achtundvierziger hatte Bankerott gemacht; in dieser Krise warf der Zeitgeist alle bisherigen Traditionen der deutschen Kultur von sich: Romantik, Weimar, Kant, Hegel gerieten unterschiedslos in Verruf, nur Schiller, aber zum liberalen Leitartikler appretiert, behielt ein gewisses Ansehen. Wir haben bereits gehört, daß fast alle Naturforscher von Säkularformat die rein mechanische Naturerklärung ablehnten; aber Macht über das Publikum gewann eine Gruppe von feuilletonistischen Halbgelehrten, die aus Darwin, Comte, Feuerbach und den Enzyklopädisten die handgreiflichsten Platitüden zu einer naturwissenschaftlich auflackierten Philosophie des gesunden Menschenverstandes kompilierten. Nicht umsonst heißt im Deutschen ein Kolonialwarenhändler Materialist: es war wirklich eine Weltweisheit für Gewürzkrämer. 1852 ließ Jacob Moleschott seinen berühmten »Kreislauf des Lebens« erscheinen, »physiologische Antworten auf Liebigs chemische Briefe«, welcher, wie bereits erwähnt, dezidierter Vitalist war. Den Phänomenalismus widerlegt Moleschott durch folgendes Raisonnement: »Ist grün etwas anderes als ein Verhältnis des Lichtes zu unserem Auge? Und wenn es nichts anderes ist, ist das grüne Blatt nicht für sich ebendeshalb, weil es für unser Auge grün ist? Dann aber ist die Scheidewand durchbrochen zwischen dem Ding für uns und dem Ding an sich.« Ein Satz von einer derartigen bei einem Popularisator besonders frappierenden Unklarheit müßte, wenn er schon so dunkel ist, wenigstens sehr tief sein; übersetzt man ihn aber, so stellt sich heraus, daß er nicht bloß flach, sondern schwachsinnig ist: Moleschott meint nämlich, daß das Blatt von unserem Auge nicht als grün empfunden werden könnte, wenn es nicht tatsächlich grünes Licht ausstrahlte, oder, mit anderen Worten: alles, was grün wirkt, ist grün; eine metaphysische Beweisführung von unbezweifelbarer Überzeugungskraft, aber kaum weiter führend als die Schlußfigur: alles, was Flügel hat, fliegt.
1854 erhob sich der sogenannte »Materialismusstreit«. Der Physiologe Rudolf Wagner hatte gewagt, auf einer Naturforscherversammlung zu erklären, die Wissenschaft sei noch nicht reif, die Frage nach der Natur der Seele zu beantworten. Darauf antwortete Karl Vogt mit seiner vielgelesenen Schrift »Köhlerglaube und Wissenschaft«, worin er mit knotigen Bierwitzen und apodiktisch vorgetragenen Realschülerkenntnissen den Gegner satirisch zu vernichten suchte. Dort findet sich auch der oft zitierte Satz, das Gehirn scheide Gedanken aus wie der Magen Verdauungssäfte und die Leber Galle, den Vogt von Cabanis entlehnt hatte, nur fügte er noch das geschmackvolle Bild vom Urin und den Nieren hinzu; was bei dem Franzosen des Rokokos ein kapriziöser Scherz war, machte er zu einer humorlos breitgetretenen Glaubensformel. 1855 erschien Ludwig Büchners »Kraft und Stoff«, ein in grobem Packpapierdeutsch verfaßtes, kahles und streitsüchtiges Oberlehrergeschwätz, gegen »Hegel und Konsorten« und den »Kant-Schwindel« gerichtet: »Der bekannte Satz, daß alle Erkenntnis mit der Erfahrung anhebe, aber doch nicht aus ihr entspringe, ist unklar oder ungereimt ... Kants unglückliche Einteilung der Erkenntnis in apriorische und aposteriorische folgt notwendig aus seiner Versäumnis, die Begriffe der Erfahrung und Erkenntnis nicht vorher ordentlich ins Auge gefaßt zu haben ... Kant hat auch nicht die Zeit, in der er lebte, zur Entschuldigung, da vor ihm Locke, Hume und manch einer gelebt haben, welche dem Apriorismus den Krieg erklärt hatten.«
Die materialistischen Richtungen lassen sich in drei Gruppen sondern; keine von ihnen kann auf Originalität Anspruch machen und alle haben ihre Modelle verflacht und vergröbert. Die erste Spielart, der soeben charakterisierte Materialismus im engeren Sinne, lehrt den Absolutismus des Stoffs und leitet sich von Holbach her; die zweite, der Sensualismus, lehrt den Absolutismus der Empfindung und hat ihren Stammvater in Condillac, ihren deutschen Hauptvertreter in Feuerbach; die dritte, die eine wesentliche Vergeistigung bedeutet und sich fast schon als ein Spiritualismus mit physikalischen Gewissensbissen definieren ließe, lehrt den Absolutismus der Kraft: sie geht auf Leibniz zurück und wurde am konsequentesten als »Energetik« von dem Chemiker Wilhelm Ostwald ausgebaut, für den die Materie »als primärer Begriff nicht mehr vorhanden« ist: diese entsteht vielmehr »als sekundäre Erscheinung durch das Zusammensein gewisser Energiearten«. Diese Auflösungsform des Materialismus ist aber erst ein Menschenalter später hervorgetreten: für »Büchner und Konsorten« gibt es nur Stoff, und die Kraft gehört zu ihm bloß als seine Eigenschaft und Äußerung wie zum Klotz das Wackeln oder zum Wind das Blasen: eine Weltansicht, die sich, streng genommen, in gar nichts von dem Fetischismus unterscheidet, den der Medizinmann mit demselben fanatischen Geschrei verkündet.
Ein gewisser wirtschaftlicher Aufschwung, die häufige Begleiterscheinung materialistischer Strömungen, ist in jener Zeit auch in Deutschland zu beobachten, obschon lange nicht in dem Maße wie in Frankreich und England. Es kam zur Errichtung neuer Eisenbahnstrecken und Schiffslinien, Bergwerke und Fabriken, vor allem großer Bankhäuser und Aktiengesellschaften. Im Zusammenhang damit steht die Entwicklung des Sozialismus, der mit jedem echten Kapitalismus fast gleichzeitig in die Welt tritt und ihm auf Schritt und Tritt folgt wie der Geist des Bettlers dem übermütigen Flottwell. Seine zwei stärksten Exponenten waren, wie jedermann weiß, Marx und Lassalle, beide aus prononciert bürgerlichem Milieu stammend. Marx ist neben Darwin der einflußreichste Gelehrte des neunzehnten Jahrhunderts, obgleich er ebensowenig Philosoph war wie dieser. Sein Hauptwerk »Das Kapital«, von dem nur der erste Band zu seinen Lebzeiten erschien, ist ein höchst verwickeltes, kunstvoll und künstlich vernietetes System von abstrakten Definitionen und Schlußfiguren, das nicht nur dem Proletarier, sondern auch dem Durchschnittsgebildeten in großen Teilen unzugänglich ist, so daß man mit einiger Übertreibung behaupten könnte, ein Marxist sei ein Mensch, der Marx nicht gelesen hat. Aber durch eine Art geheimnisvoller geistiger Ausstrahlung sind seine Lehren doch in die ganze Welt gedrungen. Den Katechismus der neuen Doktrin enthielt das im Februar 1848 gleichzeitig in deutscher, französischer, italienischer, flämischer und dänischer Sprache erschienene »Manifest der Kommunistischen Partei« von Marx und Engels, gerichtet gegen die Bourgeoisklasse, die »an die Stelle der mit religiösen und politischen Illusionen verhüllten Ausbeutung die offene, unverschämte, direkte, dürre Ausbeutung gesetzt hat«, indem sie das Privateigentum für neun Zehntel der bestehenden Gesellschaft aufhob, wodurch sie das Proletariat zwinge, seinerseits das Privateigentum aufzuheben und »alle Produktionsinstrumente in den Händen des Staates, d. h. des als herrschende Klasse organisierten Proletariats, zu zentralisieren«: »mögen die herrschenden Klassen vor einer kommunistischen Revolution zittern. Die Proletarier haben nichts zu verlieren als ihre Ketten. Sie haben eine Welt zu gewinnen. Proletarier aller Länder, vereinigt euch!« Marx lehnte alle früheren sozialistischen Theorien ab und erklärte sich für den ersten Vertreter des »wissenschaftlichen Sozialismus«, der an keinerlei Gefühle oder moralische Erwägungen appelliert, sondern bloß den realen Tatbestand und dessen unausweichliche Entwicklung aufzeigt, indem er nicht feststellt, was sein soll, sondern was sein wird. »Als Werte«, lehrt er, »sind die Waren nichts als kristallisierte Arbeit.« Sie sind genau so viel wert, als sie von dieser Arbeit enthalten, ihr Maß ist daher ganz einfach die Zahl der auf ihre Herstellung verwendeten Arbeitsstunden. Die Kosten dieser Arbeit werden durch die Menge der Subsistenzmittel bestimmt, die ein Arbeiter braucht, um sich dauernd im Zustande der Produktionsfähigkeit zu erhalten. Dies ist der »verbrauchte« Wert. Der Wert, den der Arbeiter produziert, ist aber stets erheblich höher als der verbrauchte. Dieser Überschuß, den Marx Mehrwert nennt, stellt den Profit des Unternehmers dar. Da der Arbeiter nur den Lohn bezieht, der dem verbrauchten Wert entspricht, so wird er, obgleich er scheinbar erhält, was ihm zukommt, um den Mehrwert geprellt: er leistet Mehrarbeit, und zwar um so mehr, je länger die Arbeitszeit ist; denn wenn zum Beispiel zur Deckung seines Unterhalts fünf Arbeitsstunden nötig sind, so ist bei zehnstündiger Tagesarbeit der Profit des Unternehmers größer als bei achtstündiger. Der naheliegende Einwand, den unter anderen Karl Jentsch gemacht hat, daß Mehrwert noch lange nicht Reingewinn sei, denn der Fabrikant habe ihn »mit dem Grundrentner, auf dessen Grund und Boden die Fabrik steht, mit dem Kaufmann, der die Fabrikate vertreibt, und mit dem Kapitalisten, von dem er Geld geliehen hat« zu teilen, ist im Sinne Marxens nicht stichhaltig, da auch diese Abzüge: Bodenrente, Zwischenhandelsprovision, Darlehenszinsen alle der Ausbeuterklasse zugute kommen und es im Prinzip offenbar gleichgültig ist, ob sich der Unternehmer selber oder ein anderer Kapitalist: ein Grundeigentümer, Warenhausbesitzer, Bankier mit der Mehrarbeit bezahlt macht.
Kapital ist nach Marx, was eine Rente, ein durch die Arbeit anderer erzieltes Einkommen abwirft; daher gab es im Mittelalter noch kein Kapital im strengen Sinne, denn die meisten Arbeiter waren noch Eigentümer ihrer Produktionsmittel. Durch eine Reihe von Ursachen kam es im Laufe der Neuzeit nicht nur zur Entstehung solchen echten Kapitals, sondern auch zu seiner immer stärkeren Akkumulierung in den Händen einiger weniger und zur Expropriation aller übrigen. Früher hatte der Handwerker seine Produkte verkauft, jetzt ist er gezwungen, sich selbst zu verkaufen. Dies führte zur Entstehung eines massenhaften Proletariats; damit aber hat die Bourgeoisie »ihre eigenen Totengräber produziert«. Es liegt im Wesen des Kapitalismus, daß er zu periodisch wiederkehrenden Handelskrisen führt, die sich immer mehr verschärfen. Durch sie wird jedesmal eine große Zahl von Besitzenden ruiniert und das Kapital in immer weniger Händen konzentriert, während das Elend der Massen immer höher steigt: schließlich wird die verschwindende Minorität der Expropriateure expropriiert.
Dem Marxismus ist mit dem Darwinismus gemeinsam, daß er keine Katastrophenlehre ist, sondern organische Umbildungen annimmt, die sich fast von selbst vollziehen, indem sie sozusagen durch die eigenen Fallgesetze ihren Lauf bestimmen, und daß er überhaupt an wissenschaftlich kontrollierbare Gesetze des Geschehens glaubt. Lassalle hat Marx den »Ökonom gewordenen Hegel« genannt, und in der Tat besteht das Grundwesen und auch Grundgebrechen des marxistischen Systems in seinem Rationalismus, der als selbstverständlich voraussetzt, daß die soziale Entwicklung ein Problem der Logik, des Kalküls, der Deduktion sei, kurz, daß sie sich nach Hegel richte. Der Mensch aber unterscheidet sich unter anderem dadurch vom Tier, daß er sehr oft, und gerade auf seinen Höhepunkten, unlogisch oder überlogisch handelt: die staatenbildenden Insekten wird er nie erreichen. Die Geschichte hat denn auch bis jetzt die marxistischen Lehren nirgends befolgt: gerade in Rußland, wo der Kapitalismus am schwächsten entwickelt war, kam es zur Diktatur des Proletariats, und in Amerika, wo die Konzentration der Kapitalien auf eine ungeahnte Höhe gestiegen ist, hat der Kommunismus die geringsten Chancen.
Der kollektivistische Grundgedanke des Sozialismus ist einfach und gerecht. Er besagt, daß Grund und Boden, alle Produktionsmittel und alle Verkehrsmittel Gemeinbesitz sein sollen. Daß die Erde, ihre Erzeugnisse und die von der Menschheit gemeinsam geschaffenen Werkzeuge auch ebendieser Menschheit gemeinsam gehören sollen, ist eine billige Forderung. Bei Gartenanlagen und rollenden Trottoirs, Badeanstalten und Spielplätzen, Bibliotheken und Museen, Schulen und Spitälern ist dies heute schon vielfach durchgeführt. Nahezu erreicht ist dieser Zustand auch schon bei der Briefbeförderung und Wasserversorgung, die trotz dem enormen Apparat fast kostenlos sind, und bei den Theatern, die fast nur noch von Freikartenbesitzern besucht werden. Daß dieses System auf Beleuchtung und Beheizung, Beförderungsmittel und Wohnstätten ausgedehnt werden wird, kann nur eine Frage von Jahrzehnten sein, daß es sich auch auf Bekleidung und Nahrung erstreckt, nur eine Frage der Organisation und des guten Willens. Aber dieser Kollektivismus ist keineswegs identisch mit Gleichheit der Rechte und Pflichten, des Arbeitsausmaßes und Geldeinkommens, denn dies würde voraussetzen, daß alle Menschen gleich sind, welche Annahme ein gottloser Unsinn ist. Der Marxismus behauptet: »die Geschichte aller bisherigen Gesellschaften ist die Geschichte von Klassenkämpfen.« Wenn das wahr ist, dann ist der Klassenkampf ewig, denn immer wird es unter den Menschen Gruppen mit verschiedenen Fähigkeiten und Zielen geben und immer wird jede von ihnen behaupten, sie sei die vornehmste und wichtigste. Kein Mensch wird einem Matrosen einreden können, die Sterne hätten nicht den ausschließlichen Zweck, seine Fahrt zu bestimmen, kein Mensch einem Astronomen, sie seien noch für etwas anderes da als für seine Fernröhren, oder vielmehr: ein Matrose oder Astronom, der etwas anderes glaubt, ist talentlos. Demnach muß zwischen Matrosen und Astronomen ein Klassenkampf entbrennen, auch wenn keiner von beiden einen Mehrwert einstreicht. Dies ist aber ganz und gar nicht die Meinung des Marxismus, vielmehr behauptet er, daß der Klassenkampf zwischen Bourgeoisie und Proletariat der letzte sein wird, weil der Kollektivismus »auch die Klassen selbst zum Verschwinden bringen wird«. Wodurch aber? Durch die Diktatur einer einzigen! Dies wäre ein sehr hinterlistiger Sophismus, wenn er nicht unbewußt wäre. Der ideale Endzustand, den der Marxismus nicht bloß postuliert, sondern als eine unentrinnbare, geradezu physikalische Gewißheit hinstellt, wäre also die in Permanenz erklärte Tyrannei einer einzelnen Klasse, noch ungerechter als alle jemals in die Geschichte getretenen, weil sie die der niedrigsten wäre. Der Trugschluß, daß es nur Proletarier gebe, läßt sich nur durch zügellose Gewalt aufrechterhalten, indem man nämlich alle anderen Klassenangehörigen ausrottet oder zu Proletariern kastriert. Hierin überbietet der Marxismus sogar die untermenschliche eiserne Logik der Insektenstaaten, denn selbst diese bestehen nicht aus einer einzigen Klasse: die Bienen haben die Luxusklasse der Drohnen, die Amazonenameisen die Kämpferklasse der »Ritter«, denen die Nahrung von den Arbeitern nicht nur herbeigeschleppt, sondern sogar in den Mund gesteckt wird, die Termiten bilden einen gegliederten Kastenstaat und alle drei haben Königinnen oder Könige.
Marx war ein Professor ohne Lehrstuhl, Lassalle hingegen ein Künstler, in seinem beweglichen Überesprit ein wenig an Heine erinnernd, der auch als einer der ersten sein großes Talent erkannte: er nannte ihn einen neuen Mirabeau. Mit dem bronzenen provençalischen Seigneur hatte der hysterische Breslauer Seidenhändlerssohn allerdings wenig Ähnlichkeit, höchstens darin, daß auch er die Politik als ein Spiel betrachtete, in dem er die Befriedigung seiner dramatischen Instinkte und Geltungstriebe suchte. Bismarck sagte in einer Reichstagsrede von ihm, er sei einer der geistreichsten und liebenswürdigsten Menschen gewesen, mit denen er je verkehrt habe, »durchaus nicht Republikaner«. Aber auch ein anderes Wort Bismarcks: daß Eitelkeit eine Hypothek sei, die auf den meisten politischen Begabungen laste, läßt sich auf ihn in sehr starkem Maße anwenden. Seine praktischen Hauptforderungen waren: allgemeines, gleiches, geheimes und direktes Wahlrecht und Gründung staatlicher Produktivgenossenschaften mit Gewinnanteil für die Arbeiter. Er verspottete die »Nachtwächterrolle« des heutigen Staates, der nichts anderes gewähre als den Schutz der Ausbeuter. 1863 stellte er sein berühmtes »ehernes Lohngesetz« auf, doch stammt nur der Name und die prägnante Fassung von ihm, denn es findet sich schon bei Ricardo. Es besagt, »daß der durchschnittliche Arbeitslohn immer auf den notwendigen Lebensunterhalt reduziert bleibt, der in einem Volke gewohnheitsmäßig zur Fristung der Existenz und zur Fortpflanzung erforderlich ist: dies ist der Punkt, um welchen der wirkliche Tageslohn in Pendelschwingungen jederzeit herumgravitiert.« Um sich der Wirkung dieses Gesetzes zu entziehen, muß sich der Arbeiterstand zu seinem eigenen Unternehmer machen. Doch hat Lassalle offenbar nicht genügend beachtet, daß das »Existenzminimum« selber eine variable Größe ist. Ein anständig bezahlter Arbeiter verfügt heute, besonders in England, über ein größeres Maß an Komfort und Hygiene, als es in den Zeiten der Völkerwanderung ein Fürst genoß.
Vom Marxismus leitet sich auch die »materialistische Geschichtsauffassung« her, die bekanntlich annimmt, daß die ökonomische Struktur der Gesellschaft »den sozialen, politischen und geistigen Lebensprozeß überhaupt« bedingt. Diese barbarische Banalität ist nun wohl schon damals von keinem wirklichen Historiker ernst genommen worden; der materialistische Geist der Zeit beeinflußte aber auch die Geschichtswissenschaft insofern, als sie sich vollkommen politisierte, indem sie sich nicht nur in enggeistiger Ausschließlichkeit auf die reine Staatengeschichte beschränkte, sondern diese sogar der Parteipolitik dienstbar machte. Johann Gustav Droysen versuchte in seiner antihabsburgischen »Geschichte der preußischen Politik« nachzuweisen, daß das Haus Brandenburg vom Großen Kurfürsten an die Leitung der deutschen Dinge in Händen gehabt habe und die Geschichte Deutschlands seit zwei Jahrhunderten nach der kleindeutschen Lösung tendiere; Heinrich von Sybel suchte an der Geschichte des Mittelalters nachzuweisen, daß das großdeutsche Kaisertum eine verfehlte Idee und ein Unglück für Deutschland gewesen sei. In seiner »Geschichte der Revolutionszeit 1789 – 1800«, einer langatmigen Aneinanderreihung politischer Paraphrasen über sehr fleißig geschöpftes Aktenmaterial, ist von nichts die Rede als von Verfassungskämpfen, militärischen Bewegungen und diplomatischen Schiebungen; sie handelt nicht bloß von Frankreich, sondern von sämtlichen Ländern des Erdteils, aber indem sie ganz Europa in Totalansicht zu zeigen glaubt, verzettelt sie sich in unendliche Details und vermehrt bloß die Rubriken. Während Droysen noch Sage und Anekdote als Geschichtsquellen gelten läßt, mißtraut Sybel jedem mündlichen Bericht und huldigt, emsig alle erreichbaren Archive durchstöbernd, einem papierenen Aktuarrealismus; auf seine Methode paßt das Wort Nestroys: »die Menschen sind schon so unsinnig, daß sie das für Wahrheit halten, wovon sie ein' Schein in Händen haben.« Bismarck sagt einmal, es gebe zwei Gattungen von Historikern: »die einen machen die Wasser der Vergangenheit klar, die anderen machen sie trübe; zu den ersteren gehört Taine, zu den letzteren Sybel.« In Droysens an sich vortrefflicher »Geschichte des Hellenismus« ist Mazedonien Preußen und Demosthenes ein von den Persern (Österreichern) bestochener Partikularist. Doch wirkt diese Historik ad usum Delphini bei ihm nicht so verletzend wie bei Sybel, weil er eine viel lebendigere, menschlichere Persönlichkeit war. Ein Tendenzwerk in seiner Art war auch die »Griechische Geschichte« von Curtius, da sie in prononcierter Weise das Dogma vom klassischen Altertum verficht: sie ist sozusagen der Abgesang des Klassizismus, aber ein sehr melodischer und rührender.
Auch Mommsen, dessen »Römische Geschichte« ungefähr um dieselbe Zeit zu erscheinen begann, modernisiert, sogar am stärksten von allen Genannten. Cato ist ein Konservativer von der Kreuzzeitungspartei, Cicero ein schriftstellernder Advokat und Parlamentarier à la Thiers, Crassus ein Börsenkönig à la Louis Philipp, die Gracchen sind Sozialistenführer, die Patrizier Junker, die Graeculi Pariser Zigeuner, die Gallier Indianer. Man könnte daher meinen, er sei eine Art Georg Ebers der Wissenschaft gewesen, dessen archäologische Romane damals sehr stark gelesen wurden. Aber hier zeigt sich wieder einmal, daß in der Kunst niemals das Was, sondern immer nur das Wie, das heißt: die Persönlichkeit entscheidet. Mommsen zieht die Historie in die Gegenwart herein, Ebers zieht sie zur Gegenwart herab; Mommsen treibt sie durch seine Betrachtungsweise ins Relief, Ebers schleift sie durch dasselbe Verfahren bis zur Unkenntlichkeit ab; Mommsen macht aus der Professur eine Kunst, Ebers aus der Kunst eine Professur. Und alle diese Unterschiede kommen ganz einfach daher, daß diese beiden Historiker nicht dieselbe Gegenwart hatten. Die Mommsensche ist gestuft, gefüllt und original, die Eberssche eintönig, einseitig und philiströs.
Man hat Mommsen von Anfang an und seither immer wieder Journalismus vorgeworfen: eine völlige Umkehrung des wahren Tatbestandes. Denn was ist Journalismus? Falsches Ethos und unerlebtes Pathos; leerlaufende Routine und ausgemünzte Phrase; konventioneller Blick durch das Auge des »Zeitgenossen« und anmaßendes Glossieren von unten; zwangsläufige Themenwahl, diktiert durch Nachfrage; geistlose Überschätzung des »Nachrichtenmaterials«. Und genau alles dieses ist auch professoral. Das Gemeinsame ist die Unbildung. Wenn man von den Produkten der Durchschnittsgelehrsamkeit die Philologie (dies Wort im weitesten Sinne genommen) in Abzug bringt, so bleibt nichts als ein verlangweilter Journalismus; unterschieden sind sie von diesem nur durch die verschwenderische Ausstattung, etwa in der Art, wie gewisse Hoftheater der Vorkriegszeit nichts waren als reichdotierte Schmieren.
Will man aber den Journalismus in seiner idealen Bedeutung nehmen, wie es Bernard Shaw tut, dann war Mommsen ein Journalist. Shaw sagt in einem seiner Essays: »Plato und Aristophanes, die dem Athen ihrer Zeit etwas Vernunft einzubläuen suchten, Shakespeare, der dasselbe Athen mit elisabethinischen Kavalieren und Handwerkern bevölkerte, Ibsen, der die Ärzte und Kirchenvorsteher einer norwegischen Gemeinde photographierte, Carpaccio, der das Leben der heiligen Ursula ganz so schilderte, als ob sie in einer benachbarten Straße gewohnt hätte, sind noch überall lebendig und gegenwärtig, mitten zwischen der Asche und dem Staub Tausender von akademischen, peinlich genauen, archäologisch korrekten Männern der Wissenschaft und der Kunst, die ihr Leben lang der gemeinen Sitte des Journalisten, sich mit dem Vergänglichen zu befassen, hochmütig ausgewichen sind. Ich bin auch Journalist und stolz darauf und streiche mit Vorbedacht alles aus meinen Arbeiten, was nicht Journalismus ist, überzeugt, daß nichts, was nicht Journalismus ist, lange als Literatur lebendig bleiben kann. Ich habe keine Berührung mit irgendeiner historischen Persönlichkeit als in dem Teil von ihr, der auch ich selber bin, was vielleicht, je nachdem, nur neun Zehntel oder ein Hundertstel von ihr sein mag (wofern nicht etwa ich größer bin als sie). Aber dieser Bruchteil ist jedenfalls alles, was ich von ihrer Seele überhaupt erfahren kann. Der Mann, der über sich selbst und über seine eigene Zeit schreibt, ist der einzige Mann, der über alle Menschen und über alle Zeiten schreibt. Und darum mögen andere nur immer pflegen, was sie Literatur nennen: für mich den Journalismus!« In der Tat ist ja auch Shaws Cäsarbild von Mommsen entlehnt. Beide Dichter haben auf wundervolle Weise die ewige Wahrheit, daß das Genie nichts ist als der menschlichste Mensch, in eine neue und glänzende Beleuchtung gerückt.
In dem Zeitraum, von dem wir sprechen, beherrschte der Professor das gesamte deutsche Kulturleben in einem Maße wie niemals vorher. Er stellt die Majorität unter den Politikern, Malern, Poeten, er ist die Zierde der Salons, der typische Romanheld wie eine Generation früher der »Zerrissene«, das Ideal der jungen Mädchen wie eine Generation später der Leutnant, und in dem Bayernkönig Maximilian dem Zweiten bestieg er sogar den Thron. Das merkwürdige Herrschergeschlecht der Wittelsbacher war eine Mischung aus gesunder, klarer, verständiger, fast bürgerlicher Solidität und einer Kompliziertheit und Eigenwilligkeit, Phantasieüberfülle und Hypersensibilität, die ans Pathologische grenzte. Nun wäre das ja fast die Formel für das Genie: dies ist das Holz, aus dem Prachtfiguren des historischen Kabinetts wie Friedrich der Große, Goethe, Schopenhauer, Ibsen, Bismarck, Carlyle geschnitzt sind. Nur leider: diese beiden Veranlagungen waren immer auf verschiedene Wittelsbacher verteilt. Das Extrem der reizbaren Phantastik war in Ludwig dem Zweiten verkörpert, das Extrem der nüchternen Klugheit in seinem Vater Maximilian dem Zweiten. Er sagte selber von sich, er habe von einer Entthronung nichts zu befürchten, denn er könne sich jederzeit als Geschichtsprofessor sein Brot verdienen. Er soll niemals gelacht haben, was sich ja auch in der Tat für einen ordentlichen Professor nicht schickt. Er berief den großen Liebig, die Historiker Sybel und Giesebrecht, die Rechtslehrer Bluntschli und Winscheid und wollte eine Art poetisches Seminar schaffen, indem er eine Menge Dichter nach München zog und in regelmäßigen Zusammenkünften, den »Symposien«, bei denen es aber keineswegs dionysisch zuging, vereinigte. Man nannte diese literarische Gruppe kurzweg die »Münchener«, auch die Idealisten. Ihre Parole lautete, im Gegensatz zum Jungen Deutschland: »Abkehr von der Tendenz, Rückkehr zur Kunst«, worunter sie aber reines Epigonentum verstanden: »klassische«, hohle, polierte, blasse Form und »romantischen« Historizismus und Sentimentalismus. Ihr architektonisches Pendant ist der »Maximilianstil«, der, sehr gebildet und anspruchsvoll, aber unpersönlich und temperamentlos, auf dem Glauben fußt, daß, wenn man die Kostbarkeiten aller Zeiten mechanisch legiert, etwas besonders Hochwertiges herauskommt.
Diese »Klassiker« unterschieden sich von den echten dadurch, daß sie keinen Weg gemacht hatten, daß ihre Werke nicht Entwicklungsprodukte, schwierige Erwerbungen, Errungenschaften waren. Sie meinten, über ihrer Zeit zu stehen, während sie bloß neben ihr standen. Sie glaubten, Idealismus bestehe darin, daß man über die Realität hinwegsehe, und Schönheit darin, daß man das Häßliche ausschalte. Sie waren leider Klassiker von Geburt an, und darum waren sie es nicht. Geibel war ein kultivierter Galeriemaler, dessen Hauptqualität im geschmackvollen Kopieren bestand, ein Akademiker mit »warmer Farbe« und »schönem Atelierton«. Bodenstedts berühmte »Lieder des Mirza Schaffy« sind die Bonmots eines jovialen Schöngeists, der im Perserkostüm auf einen Münchener Bürgerball geht. Freiligraths Dichtungen, auf die Heine das treffende Wort »Janitscharenmusik« prägte, erinnern an die Panoramen, die damals aufkamen: vorne ausgestopft, hinten Kulisse, aber nicht ohne einen gewissen pittoresken Reiz. Aus Heyses unermüdlicher Feder flossen Sonette, Novellen, Romane, Epen, Memoiren, Proverbes, Gesellschaftsstücke, Geschichtsdramen, und Ottaverimen, Terzinen, Hexameter, Trochäen ebenso leicht wie Prosa; seine Jambentragödie vom »Raub der Sabinerinnen« hat aber ein weit kürzeres Leben gehabt als der gleichnamige Schwank der Brüder Schönthan. Heyse war ziemlich genau das, was sich der Bürger unter einem Dichter vorstellt: eine Seele mit Samtrock und immer schrecklich interessant. Indes, es muß auch solche Schriftsteller geben. Unerträglich wird Heyse erst durch eine saure Mischung aus tantenhaftem Moralismus und genäschiger »Sinnenlust«, ein vorwitziges Spielen mit erotischen Problemen unter Gouvernantenaufsicht der Tugend, das unsittlich ist, weil es zu wenig unsittlich ist. Wilhelm Jordan hinwiederum war der »moderne Rhapsode«: der Sänger des Nibelungenliedes, das er einerseits forciert altertümlich, andrerseits hochaktuell, nämlich darwinistisch nachdichtete und persönlich vortrug, wobei ihm seine natürliche Bardenmaske zustatten kam. Und dann gab es noch Victor von Scheffel, den Liebling der reiferen Jugend, nämlich jener, die bereits Alkohol zu sich nimmt. Seine Gaudeamuslieder sind wie die animierenden Wandmalereien in guten alten Wirtshäusern, seine epischen Produkte wie die »Diaphanien«, die damals auch sehr begehrt waren: saubere, freundliche Glasmalereiimitationen in leuchtendem Buntlack. Und was ist von all dieser klassisch, altdeutsch, orientalisch, modern kostümierten Dichterei übriggeblieben? Der »Struwwelpeter« des Frankfurter Irrenarztes Heinrich Hoffmann.
Auf dem Theater herrschten die süßen Wachspuppen Friedrich Halms und die komischen Masken von Roderich Benedix, die, obgleich gänzlich geistlos und konventionell, dennoch verraten, daß ihr Schöpfer als Schauspieler und Verfasser vortrefflicher Lehrbücher der Vortragskunst ein genauer Kenner der Bühne war. Daneben wirkte Bauernfeld, der mit etwas blassem und schüchternem Buntstift eine Art Gesellschaftszeichnung versuchte und sogar etwas wie Konversation auf die deutsche Bühne brachte; freilich fehlt jede plastische Individualisierung: seine Stücke sind eigentlich bloß »gut geschrieben« wie ein gelungenes Feuilleton, was aber für die damalige Zeit schon sehr viel war. Was dieses Feuilleton selber anlangt, so kam damals auch in Deutschland die Sitte auf, es mit Romanfortsetzungen zu füllen, die, an sich schon der Erzählerkunst schädlich, infolge des prononcierten Familienblattcharakters der Zeitungen auf die Produktion verheerend wirkte. Der Charakter dieses Genres ist mit dem Wort »Gartenlaube« erschöpfend bezeichnet, das zum Gattungsbegriff avanciert ist, und seine Meisterin war Eugenie Marlitt, die mit Recht unsterblich geworden ist, weil sie inmitten der gediegen und gedankenvoll, sozial und realistisch tuenden Zeitromane ein Naturgewächs war, indem sie an ihre rosa Lügen glaubte, wodurch ihre Geschöpfe etwas von dem lieblichen Stumpfsinn einer Wasserrose oder der überzeugenden Kitschigkeit eines Goldkäfers erhielten. Von Berthold Auerbach läßt sich keineswegs dasselbe behaupten. Er war ein Jude aus einem Neckardorf, und die Personen seiner ungemein erfolgreichen »Schwarzwälder Dorfgeschichten« sind als Bauern verkleidete jüdische Schmierenschauspieler, die »Lichtstrahlen aus Spinoza« gelesen haben. Cornelius Gurlitt erzählt in seiner »Deutschen Kunst des neunzehnten Jahrhunderts«, Schwind habe über Auerbach gesagt: »die höchste Begeisterung für alles, was Bauernlackel ist, und dabei gar nicht bemerken, daß alle diese sozial-kommunistischen Bilder genau für den Salon des Bankiers und Stutzers berechnet sind: das geht über meinen Horizont!«: ein Ausspruch, der wieder einmal zeigt, daß der echte Romantiker der Natur viel näher verbunden ist als der falsche Realist; und Richard M. Meyer weist in seiner »Deutschen Stilistik« darauf hin, daß Auerbach in seinem Roman »Spinoza« den Rabbi Isaak einmal als schmächtig und rotbärtig und kurz darauf als wohlgenährt und schwarzbärtig schildert: eine Unstimmigkeit, die keineswegs in die Gruppe jener berechtigten und unvermeidlichen Widersprüche gehört, von denen in der Einleitung dieses Werkes gesprochen wurde, vielmehr bei einem Dichter einfach unverzeihlich ist, da sie nicht aus dem Reichtum an Anschauung kommt, sondern aus ihrem völligen Mangel, indem sie zeigt, daß er seine Figuren nicht sieht. Es ist übrigens ganz dieselbe Unart, zu gar nichts innerlich Beziehung zu nehmen, sondern einfach draufloszuzeichnen, wie sie an den damaligen Klassikerillustratoren zu beobachten ist, bei denen Recha, Louise und Gretchen auf jedem Bild anders aussehen. Dies sind keine »Kleinigkeiten«, sondern entweder Beweise vollkommener Talentlosigkeit oder dreiste Mißachtungen des Publikums.
Gutzkow versuchte in seinen »Rittern vom Geist« den »Roman des Nebeneinander«, wie er es nannte, und es wurde auch wirklich ein bloßes Nebeneinander, ein mechanisches Gemenge, keine chemische Verbindung, geschweige denn ein Organismus. Was er in Wirklichkeit vorhatte, ein Querschnitt durch das gesamte geistige und soziale Schichtwerk der Zeit, war für einen Journalisten ein aussichtloses Unterfangen. Bescheidener waren die Ziele, die sich Gustav Freytag mit »Soll und Haben« gesetzt hatte. Ludwig Speidel spricht in einem seiner Feuilletons von dem »nahrhaften Duft«, den das Werk durch die ganze deutsche Welt verbreitete, »als es frisch aus der Pfanne kam«. Es war ein vortreffliches Gericht aus lauter reinen soliden Zutaten, aber eben doch nur eine wohlschmeckende kräftige Komposition der Küchenkunst. Daß er für das Theater weit weniger begabt war, zeigte Freytag nicht nur durch seine Bühnenwerke, die fast alle versagten, sondern auch durch seine »Technik des Dramas«, die ein halbes Jahrhundert lang das Erquicken aller Deutschlehrer und den Schrecken aller Obergymnasiasten gebildet hat. Man könnte sie geradezu eine Anweisung zum Verfassen schlechter Dramen nennen. Vom »Götz« wird darin gesagt, er sei »kein auf der Bühne wirksames Stück«, Euripides wird »ganz gewissenlos« genannt, Parricida und der schwarze Ritter werden für überflüssig erklärt. Wie man schon aus diesen drei Beispielen ersieht, wird die Dramatik hier als eine pure Handwerkskunst aufgefaßt, die mit Maurerkelle und Zimmermannsbleistift arbeitet. Jedes Drama hat sich in »fünf Teilen« und »drei Stellen« abzuwickeln, sie heißen: »a) Einleitung, b) Steigerung, c) Höhepunkt, d) Fall oder Umkehr, e) Katastrophe« und »das erregende Moment, das tragische Moment, das Moment der letzten Spannung«. Ein einziges Mal hat Freytag selber gewissenlos gearbeitet, überflüssige Episoden eingeführt und sich um keine »Momente« gekümmert, und dieses Stück war sein einziges erfolgreiches. Es sind die »Journalisten«, ein frisches, liebenswürdiges, sogar originelles Lustspiel mit so lebendig geschauten Figuren, daß zwei von ihnen sogar zu Gattungsbegriffen geworden sind: der Bolz und der Schmock. Allerdings ist es von einer Harmlosigkeit, die uns heute unbegreiflich vorkommt (die ganze Korruption der Presse besteht darin, daß »Enten« erfunden werden) und eigentlich schon dem Zeitalter Balzacs hätte unbegreiflich sein müssen. Überhaupt ist der hervorstechendste Defekt Freytags seine untragische Zufriedenheit mit der Welt, die manchmal geradezu etwas Unmoralisches an sich hat, und seine unproblematische Vernünftigkeit, die an Philistrosität grenzt. Daher sind ihm niemals Gestalten gelungen, sondern immer nur Bilderbogen, und seine schönste und reifste Arbeit sind denn auch seine kulturgeschichtlichen »Bilder aus der deutschen Vergangenheit«, in ihrer Art ein klassisches Werk. Als historischer Dichter war er nur zu oft ein Seminarist, als dichtender Historiker ist er einer der feinsten Pastellmaler.
Im ganzen genommen, zeigt die deutsche Literatur jener Zeit gegenüber der des Auslands einen erstaunlichen Tiefstand. Zwei Jahre vor Spielhagens »Problematischen Naturen« erschien die russische Vision einer problematischen Natur, der »Oblomow«; zwei Jahre vor der »Ägyptischen Königstochter« von Ebers schuf Flaubert sein Gemälde des alten Orients in »Salammbô«; zwei Jahre nach »Soll und Haben«, der Psychologie des zeitgenössischen Bürgertums, trat dasselbe Thema in französischer Fassung ans Licht in »Madame Bovary«; und als Baudelaire seine »Fleurs du mal« dichtete, begann Scheffel seine Gaudeamuslieder zu verbreiten.
Allerdings kam in jenem Zeitraum auch der Grüne Heinrich zur Welt, aber auch dieser verliert einigermaßen, wenn man bedenkt, daß er ein Zeitgenosse Raskolnikows ist. Kellers eigentliches Gebiet war die kräftige Kleinplastik, und daher ist alle seine Romandichtung Novellenschichtung, auch wo sie dies nicht äußerlich ist. Er schrieb einmal an Heyse, eine ungeschriebene Komödie gehe durch alle seine Epik, und in der Tat war seinem dichterischen Wesen eine feine Falte lächelnder Ironie dauernd eingekerbt. Hierin sowie in seinem unkonventionellen psychologischen Realismus, der nie aus dem über die Dinge Gesagten, sondern aus deren direkter Anschauung und der individuellen Wahrheit des eigenen Herzens schöpft, und in einem gewissen gepflegten Humanismus der Form, der aber natürlich genug bleibt, um sich oft und gern ins lebendig Saloppe aufzulockern, erinnerte er an seinen Landsmann Burckhardt. Die Universalität des Weltblicks, die diesen auszeichnete, fehlte ihm: er ist in seiner kantonalen, versponnenen, vor den letzten Abgründen des Lebens und der Erkenntnis geflissentlich zurückweichenden Gemütsart stets Schwyzer geblieben. In Zola sah er einen »gemeinen Kerl«, an Georg Büchner fand er nur die Frechheit bewundernswert. Er war bekanntlich viele Jahre Stadtschreiber in Zürich, und etwas Ähnliches ist er auch als Dichter gewesen: der treue, klare, kundige Chronist des kleinen Lebens.
Wir haben aber noch Hebbel und Otto Ludwig vergessen, die in der Literaturgeschichte ein untrennbares Begriffspaar bilden, wie Plautus und Terenz, Fichte und Schelling, Raimund und Nestroy, Heine und Börne, indem sie sozusagen von den Literaturprofessoren immer gleichzeitig an die Tafel gerufen wurden. Während diese anderen ziemlich wenig Gemeinsames hatten, bestanden unter ihnen tatsächlich gewisse Ähnlichkeiten. Daß sie beide im Jahr der Völkerschlacht geboren sind und eine bis heute erfolglose »Agnes Bernauer« hinterließen, ist wohl nur eine Äußerlichkeit; charakteristischer ist schon ihr lebenslänglicher Antagonismus gegen Schiller, der aus versteckter Rivalität entsprang: Ludwig plante einen Wallenstein und eine Maria Stuart, Hebbel arbeitete an einer Johanna und einem Demetrius, den er auf fünfthalb Akte brachte. Sowohl Ludwigs Realismus wie Hebbels Rationalismus war verdrängte Schillersche Romantik, ihre Versform Schillerscher Klassizismus; infolgedessen entwickelte sich in ihnen gegen Schiller eine Art Ödipuskomplex. Übereinstimmende Züge in ihrem Oeuvre waren: die harte Zeichnung; der spröde Intellektualismus; der Mangel an Atmosphäre; die nicht (wie bei Schiller) erquickend kolportagehafte, sondern kalt psychiatrische Vorliebe für das dramatische Kuriositätenkabinett; und, damit zusammenhängend, das Übermotivieren, das, theatermäßig betrachtet, ein Untermotivieren ist, indem die überspitzte Psychologie in Pathologie hinübergleitet. Dies zeigt sich besonders schlagend in Ludwigs »Erbförster«, der aber andererseits etwas hat, was Hebbel niemals und Ludwig auch nur hier zu erzeugen vermochte: Lokalduft und magische Schicksalsstimmung. Die »Makkabäer« hinwiederum stehen tief unter allen Dramen Hebbels: sie werden im Affekt stets rhetorisch, und an vielen Stellen schlägt nicht mehr Schiller durch, sondern schon Schillerersatz, nämlich Gutzkow. Aus allen diesen Eigenschaften erklärt es sich, daß beide ihre schriftstellerischen Meisterwerke auf dem Gebiet der philosophischen Spekulation und kunstwissenschaftlichen Analyse geschaffen haben: Ludwigs »Shakespearestudien« und Hebbels »Tagebücher« sind wahre Schatzkammern der Erkenntnis.
Von Hebbels äußerer Erscheinung sagte sein Freund, der Kunstschriftsteller Felix Bamberg: »sein Gliederbau schien auf Unkosten des Kopfes zu zart ausgefallen und nur dazu da, diesen Kopf zu tragen«; man darf darin ein Symbol für sein ganzes Wesen erblicken. Es hat vielleicht wenige Menschen gegeben, die von einer solchen leidenschaftlichen Lust am Denken erfüllt waren wie Hebbel, aber auch wenige, die so sehr unter der Last ihres eigenen Denkens gelitten haben. Es gibt dramatische Denker, wie es dramatische Dichter gibt, und Hebbel hat unter beide gehört. Noch mehr: er war ein tragischer Denker. Wollte man diesen Begriff auf seine einfachste Formel bringen, so könnte man vielleicht sagen: tragisch ist eine Weltanschauung, die von der Erkenntnis ausgeht: Einzelexistenz ist Sünde, jede Individuation ist ein Abfall vom Ureinen, und da die ganze Welt in ihrer Mannigfaltigkeit nur durch Individuation besteht, so ist sie ein einziger großer Sündenfall. Besonders scharf finden wir dieses Weltbild in dem einzigen Fragment fixiert, das uns von Anaximander überliefert ist: »Woher die Dinge gekommen sind, dahin müssen sie auch wieder zurück zu ihrem Untergang: so will es das Gesetz; denn sie müssen Buße tun für das Unrecht, daß sie vorhanden waren.« Auch Hebbel hat als Dichter und Denker diese Weltansicht verkörpert: der Mensch ist schon durch seine Existenz ein tragisches Geschöpf; jedes Individuum bedeutet eine Trennung von der Idee; es muß zerstört werden, um wieder in die Idee aufzugehen. Dieses düstere Thema hat Hebbel unermüdlich variiert, theoretisch in seinen Abhandlungen, praktisch in seinen Dramen.
Übrigens hat es wohl keinen tiefen Philosophen gegeben, den dieser Gedanke nicht in irgendeiner Form beschäftigt hätte, kein Denker, der an die metaphysischen Wurzeln der menschlichen Existenz vordringt, kann an ihm vorübergehen. Es fragt sich nur, ob er dauernd von ihm hypnotisiert wird oder nicht. Hegel überwand ihn durch seine selbstsichere Dialektik, Goethe durch seine andächtige Versenkung in die Natur, Fichte durch sein siegreiches ethisches Pathos, Sophokles durch seine heidnische, Calderon durch seine katholische Frömmigkeit, Nietzsche durch seinen Zukunftsglauben, Emerson durch den unwiderleglichen Optimismus seiner glücklichen Persönlichkeit, der nichts Philosophisches, sondern eine Naturkraft, gewissermaßen etwas Physiologisches war.
Etwas Physiologisches war auch der Pessimismus Hebbels. Mit dieser bestimmten organischen Struktur ist man Pessimist. Mit widrigen Lebensschicksalen läßt sich eine solche Tatsache nicht erklären; derlei oberflächliche Begründungen eignen sich nur für Doktordissertationen. Das Weltbild eines Dichters ist nicht aus der Zahl der eingenommenen Mahlzeiten und der angenommenen Manuskripte zu konstruieren. »Du fragst mich, an welcher Todeskrankheit ich darniedergelegen wäre?«, schreibt Hebbel, noch nicht ganz fünfundzwanzigjährig, an seine Geliebte Elise Lensing, »liebes Kind, es gibt nur einen Tod und nur eine Todeskrankheit, und sie lassen sich nicht nennen; aber es ist die, derentwegen sich Goethes Faust dem Teufel verschrieb, die Goethe befähigte und begeisterte, seinen Faust zu schreiben; es ist die, die den Humor erzeugt; es ist die, die das Blut zugleich erhitzt und erstarrt; es ist das Gefühl des vollkommenen Widerspruchs in allen Dingen; es ist mit einem Wort die Krankheit, die du nie begreifen wirst, weil du danach fragen konntest. Ob es für diese Krankheit ein Heilmittel gibt, weiß ich nicht; aber das weiß ich, der Doktor (sei er nun über den Sternen oder im Mittelpunkte meines Ichs), der mich kurieren will, muß zuvor die ganze Welt kurieren, und dann bin ich gleich kuriert. Es ist das Zusammenfließen alles Elends in einer einzigen Brust; es ist Erlösungsdrang ohne Hoffnung und darum Qual ohne Ende.« Das sind dunkle Worte, die wohl auch gescheitere Menschen als die arme Elise nicht begriffen hätten, und doch erhellen sie Kern und Wesen dieses Mannes, der, von der Mitwelt platt verkannt, von der Nachwelt maßlos bewundert, auf beide niemals eine andere Wirkung ausgeübt hat, als daß er sie beunruhigte; der so inbrünstig und zäh wie je einer danach gerungen hat, ein Dichter zu sein, und doch nur das vollkommenste Gegenspiel eines Dichters war, ein Dichter etwa, wie Luzifer ein Engel war. Weil er die Welt nicht geliebt hat.
»Das Gefühl vollkommenen Widerspruchs in allen Dingen« ist in der Tat das Gefühl, aus dem Kunst, Philosophie, Religion, kurz: alles Schöpferische seinen Ursprung nimmt. Es war sicher die Wurzel, aus der die Problematik des jungen Goethe entsprang, und höchstwahrscheinlich der Grund, warum Faust sich dem Teufel verschrieb, und auch das ist zweifellos richtig, daß es den Humor erzeugt. Aber zur Krankheit, zur Todeskrankheit wurde es erst in Hebbels Seele. In ihm hat es nicht den Humor erzeugt. Wenn Hebbel humoristisch wird, so hat man immer etwa den Eindruck, wie wenn eine Hyäne Pfötchen gibt. Humor ist ein Aroma, eine Begnadung; und das eine wie das andere fehlte Hebbels Schöpfungen. Er schrieb in einer Kritik über Stifters »Nachsommer«: »Drei starke Bände! Wir glauben nichts zu riskieren, wenn wir demjenigen, der beweisen kann, daß er sie ausgelesen hat, ohne als Kunstrichter dazu verpflichtet zu sein, die Krone von Polen versprechen ... Ein Inventar ist ebenso interessant.« Dieses Unverständnis ist sehr verständlich; Stifter besaß alles, was Hebbel versagt war: Musik, den Pinsel für Valeurs, Naturverbundenheit, Glauben, Harmonie, heitere Andacht vor dem Kleinen. Hebbel hat das selber in manchen Momenten sehr wohl empfunden: »Sind wir nicht Flammen, welche ewig brennen und alles, alles, was sie auch umwinden, verzehren und doch nicht umarmen können?« Aber sein Verhängnis war stärker als er.
Betrachtet man einzelne seiner Dichtungen auf den Rhythmus ihres Geschehens, so könnte man glauben, er sei ein dramatischer Hegel gewesen: sehr scharf springt dies zum Beispiel bei »Herodes und Mariamne« in die Augen, wo das Schema These Antithese nicht bloß einmal, sondern in genau derselben Konstellation auf einer höheren Schraubenwindung noch ein zweites Mal angewendet ist. Sieht man aber näher zu, so bemerkt man, daß er ein Hegelianer war, der nicht fertig geworden ist, der nicht Kraft genug besaß, den ganzen dialektischen Prozeß seines Lehrers zu wiederholen, indem er niemals These und Antithese zu jener Synthese versöhnte, die man mit einem unphilosophischen Ausdruck Liebe nennt; infolge irgendeiner geistigen Dyspepsie oder wohl richtiger: aus einer tief in seinem Wesen verankerten, in seiner Natur radikal angelegten Bosheit.
Otto Ludwig macht in den »Shakespearestudien« die sehr feine Bemerkung: »Bei Shakespeare haben die Charaktere ihre Ruhepunkte, ihr Eigentlichstes zeigt sich nur, wenn es herausgefordert wird durch die Situation; Hebbels Charaktere sind Tag und Nacht in ihrer vollen Wappenzier; jede seiner Personen ist beständig auf der Jagd nach den eigenen charakteristischen Zügen. Der Charakter ist in jedem bis zur Monomanie gesteigert. Sie wissen alle, daß sie Originale sind, und möchten beileibe nicht anders erscheinen.« Am auffallendsten zeigte sich dies bei der ersten großen Gestalt, die Hebbel geschaffen hat, dem Holofernes. Hier ist ihm beim »Überhüpfen des Menschen«, das Schiller an seinem Franz Moor feststellte, jene Achsendrehung zur Komik passiert, die vielleicht nur einen Grad beträgt und von Schillers Theaterinstinkt gerade noch knapp vermieden wurde. Zudem hat die »Judith« das Unglück gehabt, durch Nestroys geniale Parodie bei der Geburt erwürgt zu werden. Andererseits fehlt es in keinem seiner Dramen an prachtvollen Einzelheiten (man denke zum Beispiel an den großartigen Schluß des »Herodes«) und an verblüffenden Antizipationen modernster Psychologie: in der Décadence des Kandaules ist das Fin de siècle vorausgeahnt, in der Moralproblematik der »Maria Magdalena« Ibsen, in der Erotik des Herodes Strindberg, im Golo Nietzsche. Am größten ist er aber, wie gesagt, in seinen theoretischen Schriften; und so werden vielleicht Hebbels Gedanken: seine bohrenden, wühlenden, seltsam aufreizenden Seelenanalysen, seine magisch aufflammenden Ideenblitze, die durch das sofort wieder einbrechende Dunkel noch an mysteriöser Wirkung gewinnen, seine nach allen Seiten ausgreifenden Kunstbeobachtungen noch zu einer Zeit ins Leben wirken, wo seine Dramen nur noch den historischen Reiz von Zyklopenbauten besitzen werden.
Eine gewisse Ähnlichkeit mit Hebbel und Ludwig besaßen Feuerbach und Marées, die ebenfalls immer zu zweit genannt werden. Anselm Feuerbach war wie ein Schauspieler, der immer mit »Einlagen« auftritt, um äußerlich imposanter zu erscheinen; es wühlte in ihm ein grübelnder, flackernder, sich überschlagender Ehrgeiz, der Tod jedes freien Schaffens. Er war ein Dekorateur (obschon im allervornehmsten Sinne) und darin wie auch in seiner Gedankenblässe und Bildungshoffart der Maler seiner Zeit, obgleich diese ihn als ihren Konterpart empfand. Sein Großvater und sein Vater, die beide genau so hießen wie er, waren berühmte Professoren: der erstere Reformator der bayrischen Strafprozeßordnung und Begründer der sogenannten Feuerbachschen oder Abschreckungstheorie, der letztere Archäolog und Verfasser eines bedeutenden Werks über den Apoll von Belvedere; dessen Bruder war der Philosoph Ludwig Feuerbach, und es gab sogar noch eine fünfte Zelebrität in der Familie, den Mathematiker Karl Wilhelm Feuerbach, nach dem der Neunpunktekreis oder Feuerbachsche Kreis seinen Namen hat. Schon als Knabe war der jüngste Feuerbach von Gipsabgüssen, erlesenen Stichen, griechischen Hexametern umgeben, während seiner Werdejahre kopierte er auf virtuose Weise nacheinander Rethel, den Franzosen Couture und den Belgier Wappers, die damals in der Malerei führend waren, die Venezianer, die Florentiner. In Rom lernte er seine Nana kennen, eine majestätische italienische Schönheit; sie wurde seine Gattin, seine Medea und Iphigenie. Es war dies schon ein Klassizismus in zweiter Potenz: seine Seele sucht nicht mehr das Land der Griechen, vielmehr gilt seine Sehnsucht denen, die es gesucht hatten. Er war von Natur ein großes koloristisches Talent, gelangte aber mit der Zeit immer mehr dazu, alles auf Ruinenfarben: ein freudloses Grau und verwittertes Pompejanischrot zu tönen. Er war der Prinzipal jenes vornehmen, aber auch hochmütigen Connoisseuridealismus, der sowohl »Popularität« wie »Illusion« geflissentlich meidet, was große Kunst niemals tut. Mozart und Weber, Götz und die Räuber, Andersen und Busch versteht jeder Mensch. Und was die Griechen anlangt, so war ihnen der Begriff Popularität überhaupt unbekannt, weil sie von dem Gegenbegriff nichts wußten, der erst in der Alexandrinerzeit aufkommt. Der »Kenner«, der »Esoteriker« ist stets der Totenvogel des echten Schöpfertums. Und welche Höhenkunst hat jemals die Illusion verpönt? Das antike Theater, der Parthenon, die perikleischen Freistatuen hatten eine Wirkung, die höchstwahrscheinlich der des Panoptikums sehr nahe kam. Daß der Klassizismus aus seinen Vorbildern die entgegengesetzen Prinzipien herauslas, beweist nur, daß alle Kunst Selbstdarstellung ist.
Auch Hans von Marées gehörte zu jenen in Deutschland immer wieder auftauchenden edeln Doktrinären wie Carstens, Cornelius, die Deutschrömer, die ohne und gegen die Malerei malen wollen. Einer der letzten Helden im aussichtslosen Rückzugsgefecht des Klassizismus, kämpfte er gegen allen Kolorismus und Luminismus und für die reine Form, indem er in der Komposition fast geometrische Gesichtspunkte vertrat. Er wollte alle Malkunst auf abstrakte Bewegungsmotive: eine Art Koordinatenzeichnung und auf Typengestaltung: Verkündung platonischer Ideen reduzieren. Was er ohne diese echte deutsche Marotte gekonnt hätte, zeigen die prachtvollen Fresken für den Bibliothekssaal der zoologischen Station in Neapel, die er selbst aber gering schätzte.
Das umgekehrte, ebenso falsche Extrem vertrat die Pilotyschule. Sie machte aus den Gemälden Bilderbogen. Karl von Piloty, Professor an der Münchener Akademie, malte schwere, protzige historische Prunkstoffe wie: der Tod Alexanders, die Ermordung Cäsars, der Triumph des Germanicus, Galilei im Kerker, Wallenstein und Seni, Nero zündet Rom an, Maria Stuart wird zum Tod verurteilt. Schwind fragte ihn: »Herr Kollega, was malen S' denn heuer für ein Malheur?« Auf seinen Riesenbildern erscheinen zweitklassige Hofschauspieler in erstklassigen Kostümen. Von seinen Schülern verlangte er in erster Linie »Komposition«, worunter er tüchtige Massenregie und wirksame Stellungen verstand. Daneben blühte die Genremalerei weiter. Ihre beliebtesten Sujets waren allerlei heitere oder rührende Situationen aus der Kinder- und Tierwelt: der Dorfprinz, die erste Zigarre, die umgeworfene Flasche, Mutterglück, Kind und Kätzchen, der freche Sperling. Ihr prominentester Vertreter war Ludwig
Knaus, der seine liebenswürdigen Schnurren noch obendrein kommentierte, was ein guter Anekdotenerzähler nie tun soll. Vergleicht man Piloty mit Delacroix und bedenkt man, daß um 1850 in Frankreich schon der Impressionismus einsetzte, so fällt auch in der Malerei die Bilanz für Deutschland recht ungünstig aus, und man wird vielleicht finden, daß es damals keineswegs das »Herz Europas« war.
Das Wort vom deutschen Wesen, an dem die Welt genesen solle, hat, übermäßig und an falscher Stelle zitiert, nicht wenig zu den Antipathien beigetragen, die Deutschland im Weltkrieg entgegengebracht wurden. Gleichwohl braucht man kein verbohrter Chauvinist zu sein, um in ihm eine Wahrheit zu erkennen. Sein Sinn kann freilich nicht, wie man damals glaubte, der sein, daß Europa zu einer deutschen Kolonie gemacht werden solle. Deutschland soll nicht über die anderen Völker herrschen, denn das könnte es nur um den Preis seiner Seele. Aber die geistige und moralische Zukunft Europas, wenn es noch eine hat, ruht in der Tat bei Deutschland. Rußland ist das Chaos und gehört überhaupt nicht zu Europa, Frankreich befindet sich in schleichendem, aber unaufhaltsamem Niedergang, Italien bloß in wirtschaftlichem und politischem Aufschwung. Warum England hier nicht mitzählt, wollen wir nicht nochmals erörtern. Es bleibt wahr, was Fichte in seinen »Reden an die deutsche Nation« gesagt hat: »Kennen wir ein Volk, von welchem die gleichen Erwartungen sich fassen ließen? Ich denke, jeder werde diese Frage mit Nein beantworten.« Dies zeigte sich auch in dem Zeitabschnitt, den wir betrachten. Aus dem trüben Nebel jener Tage erhoben sich zwei scharfgekantete leuchtende Profile: die beiden Philosophen Bismarck und Schopenhauer.
Schopenhauers Hauptwerk erschien schon 1819, aber erst die »Parerga« vom Jahre 1851 machten ihn in weiteren Kreisen bekannt. Um die Mitte der fünfziger Jahre war seine Philosophie bereits die große Mode; 1857 dichtete dann Wagner seinen Tristan; in demselben Jahr wurden in Bonn, Breslau, Jena Kollegien über ihn gelesen, in der letzteren Stadt von Kuno Fischer, dem glänzendsten Interpreten der neueren Philosophie. Daß Schopenhauer erst so spät, dann aber mit so außerordentlicher Macht zu wirken begann, erklärt sich aus dem Wandel der Zeitform nach 1848, die, im Gegensatz zu der vorhergegangenen, eine eigentümliche Mischung aus Voluntarismus und Pessimismus darstellte. Für das breite Publikum war Schopenhauer der Würgengel der kompromittierten Hegelschen Ideologie und das Sprachrohr des politischen Katzenjammers der Reaktionszeit. Daß er ebenso ein Schüler des kantischen Idealismus war wie Fichte, Schelling und Hegel und sein Pessimismus nur ein sehr apartes, aber nebensächliches Ornament, übersah man vollständig. Es handelte sich also um den Fall eines berechtigten Erfolges durch Mißverständnis, ähnlich wie bei Spengler, dessen Werk ebenfalls nicht durch seine seltene Originalität und Spannweite siegte, sondern durch die Stimmung der Nachkriegszeit, die im Untergang des Abendlandes eine Art verzweifelten Trosts für das erlittene Fiasko erblickte. Beide zeigen uns auch, daß die epochebildenden Denksysteme fast niemals von den behördlich approbierten Berufsphilosophen auszugehen pflegen, eine Tatsache, die sich durch die ganze Geschichte der Philosophie verfolgen läßt. Die historisch wirksamen Denker sind in Griechenland Tagediebe gewesen wie Sokrates, Protagoras, Diogenes, in England Staatspersonen wie Bacon, Locke, Hume, in Frankreich Kavaliere wie Montaigne, Descartes, Larochefoucauld, aber niemals Professoren. Eine Ausnahme macht nur die Zeit der deutschen Klassiker, weil damals entweder der Universitätsbetrieb so vergeistigt oder der Philosophiebetrieb zu verzünftelt war; wir werden wohl das erstere annehmen dürfen. Übrigens wird die echte Philosophie von den Laien nicht nur geschaffen, sondern auch zuerst entdeckt und rezipiert; die Fachphilosophie hat gegen sie immer so lange wie möglich die Stellung der aktiven und passiven Resistenz eingenommen und sie, wenn sie sie endlich zulassen mußte, nur dazu benützt, die inzwischen heraufgekommene jüngere Philosophie zu diskreditieren: selbst der vortreffliche Kuno Fischer ließ sich keine Gelegenheit entgehen, Schopenhauer gegen Nietzsche auszuspielen. Im Jahr 1791, zehn Jahre nach dem Erscheinen der »Kritik der reinen Vernunft«, stellte die Berliner königliche Akademie der Wissenschaften die Preisfrage, worin die wirklichen Fortschritte bestünden, die die Metaphysik seit Leibniz und Wolff in Deutschland gemacht habe. Ein Professor Schwab in Tübingen bewies in einer großen Abhandlung, daß sie keine Fortschritte gemacht habe, und erhielt den Preis.
Schopenhauer sagt in seiner Abhandlung »Vom Genie«: »Alle großen theoretischen Leistungen, worin es auch sei, werden dadurch zustande gebracht, daß ihr Urheber alle Kräfte seines Geistes auf einen Punkt richtet, in welchem er sie zusammenschießen läßt und konzentriert, so stark, fest und ausschließlich, daß die ganze übrige Welt ihm jetzt verschwindet und sein Gegenstand ihm alle Realität ausfüllt«; »das Talent vermag zu leisten, was die Leistungsfähigkeit, jedoch nicht die Apprehensionsfähigkeit der übrigen überschreitet: daher findet es sogleich seine Schätzer. Hingegen geht die Leistung des Genies nicht nur über die Leistungs-, sondern auch über die Apprehensionsfähigkeit der anderen hinaus: daher werden diese seiner nicht unmittelbar inne. Das Talent gleicht dem Schützen, der ein Ziel trifft, welches die übrigen nicht erreichen können; das Genie dem, der eines trifft, bis zu welchem sie nicht einmal zu sehen vermögen: daher sie nur mittelbar, also spät, Kunde davon erhalten, und sogar diese nur auf Treu und Glauben annehmen«; »die Beschaffenheit des Gehirns und Nervensystems ist das Erbteil von der Mutter. Dieselbe ist aber, um das Phänomen des Genies hervorzubringen, durchaus unzureichend, wenn nicht, als Erbteil vom Vater, ein lebhaftes leidenschaftliches Temperament hinzukommt ... wenn die vom Vater kommende Bedingung fehlt, so wird die von der Mutter stammende günstige Beschaffenheit des Gehirns höchstens ein Talent, einen feinen Verstand, den das alsdann eintretende Phlegma unterstützt, hervorbringen: aber ein phlegmatisches Genie ist unmöglich«; »jedes Genie ist schon darum ein Kind, weil es in die Welt hineinschaut als in ein Fremdes ... Wer nicht zeitlebens gewissermaßen ein großes Kind bleibt, sondern ein ernsthafter, nüchterner, durchweg gesetzter und vernünftiger Mann wird, kann ein sehr nützlicher und tüchtiger Bürger dieser Welt sein; nur nimmermehr ein Genie«. Diese Sätze enthalten eine erschöpfende Charakteristik Schopenhauers. Alle Merkmale, die er am Genie hervorhebt, finden sich auch bei ihm: die Konzentration des ganzen Daseins auf einen einzigen Gegenstand, der ihm die Realität ersetzt; die späte Aufnahme bei der Welt, und selbst dann nur auf Treu und Glauben; eine gewisse Infantilität, ja Unvernünftigkeit, die zeitlebens sein Wesen durchdrang und seine Werke so bezaubernd macht. Auch im Hinblick auf seine Heredität gilt die Übereinstimmung. Seine Mutter, eine zu ihrer Zeit sehr bekannte Romanschriftstellerin, besaß offenbar viel Verstand; sein Vater war ein hochgebildeter, charaktervoller, aber etwas schrullenhafter Mann, in seiner letzten Lebenszeit geistig gestört, allem Anschein nach infolge erblicher Belastung, da seine Mutter irrsinnig, einer seiner Brüder schwachsinnig war. Von ihm hatte der Sohn offenbar den Einschlag von krankhafter Reizbarkeit, ohne den kein Genie möglich ist. Wie Schopenhauer aus jeder Seite seiner Werke lebendig hervortritt, ein unvergleichliches Selbstporträt eines großen Dichters: in seinem bizarren Doktrinarismus und cholerischen Verfolgungswahn, seiner theoretischen Lebensweisheit und praktischen Weltfremdheit, seinen rührenden Marotten und närrischen Vorurteilen, seiner tragischen Genieeinsamkeit und komischen Hagestolzenversponnenheit, ist er eine unsterbliche Genrefigur, wie sie höchstens Ibsen in seinen besten Stunden geglückt ist. Wir müssen an Stockmann denken, wie er in streitbarem Idealismus gegen die »kompakte Majorität« ringt, an Borkman, wie er in unerschütterlicher Zuversicht auf die großartige Rehabilitierung wartet, und sogar ein wenig an den Doktor Begriffenfeldt.
Man hat denn auch gewisse dieser chargierten Eigenheiten seines empirischen Charakters zuungunsten seiner Gesamtpersönlichkeit, seines »intelligibeln Charakters« auszubeuten gesucht, der von seltener Größe, Tiefe und Reinheit war. Man verwies darauf, daß er gegen seine Mutter kein zärtlicher Sohn war und eifrig nach lobenden Zeitungskritiken fahndete, gern gut zu Mittag aß und ein Aufwartweib über die Treppe warf. Dies ist die alte Oberlehrermethode: man sammelt »Züge« und gelangt zu dem Schlußzeugnis: Leistungen vorzüglich, sittliches Betragen wenig befriedigend. Als ob ein »Zug« nicht bei jedem Menschen im Ensemble seines Charakters etwas anderes bedeutete, wie ein Tupfen Schwefelgelb oder Lachsrosa in jedem Gemälde einen anderen Farbensinn hat! Und als ob sich diese Zweiteilung der Zensur irgendwoanders durchführen ließe als in dem Gehirn eines unwissenden Pädagogen! Zwischen Leben und Schaffen besteht niemals eine Divergenz. Wir haben gesehen, daß Rousseaus häßlicher und krankhafter Charakter in seinen hochtalentierten, aber verlogenen, tückischen und überreizten Schriften seinen genauen Abdruck gefunden hat, daß Bacon, der in unphilosophischer Weise nach äußeren Ehren und Besitztümern jagte, aus ebendiesem Grunde nur ein Philosoph zweiten Ranges geworden ist und ein System geschaffen hat, in dem das Irdische ganz ebenso triumphiert, wie es in seiner Seele triumphierte. Eine gewisse selbstische Geltungssucht, die man eines Tages unter großem Lärm in Richard Wagners Erdenwallen entdeckte, hätte man schon bedeutend früher in seinen Opern auffinden können. Ferner hören wir, daß Ibsen ein grober, zugeknöpfter und rücksichtsloser Mensch war. Aber was soll uns dieser Kaffeehausklatsch? Hier sind seine Werke. Wer Ibsens Herz kennen lernen will, der frage die kleine Hedwig Ekdal. Um den Widerspruch zwischen seiner Biographie und seiner Morallehre, den man ihm vorwirft, aufzuheben, hätte Schopenhauer offenbar, statt sich die nötige Muße und Sammlung für seine adeligen Erbauungsbücher zu sichern, Mitglied der Heilsarmee werden müssen.
Schopenhauers wahre Biographie ist in den Worten enthalten, die er, dreiundzwanzigjährig, zu Wieland sagte: »Das Leben ist eine mißliche Sache, ich habe mir vorgesetzt, es damit hinzubringen, über dasselbe nachzudenken.« Sieben Jahre später schreibt er an den Verleger Brockhaus: »Mein Werk ist ein neues philosophisches System: aber neu im ganzen Sinn des Wortes: nicht neue Darstellung des schon Vorhandenen: sondern eine im höchsten Grad zusammenhängende Gedankenreihe, die bisher noch nie in irgendeines Menschen Kopf gekommen. Das Buch, in welchem ich das schwere Geschäft, sie anderen verständlich mitzuteilen, ausgeführt habe, wird, meiner festen Überzeugung nach, eines von denen sein, welche nachher die Quelle und der Anlaß von hundert anderen Büchern werden. ... Der Vortrag ist gleich fern von dem hochtönenden, leeren und sinnlosen Wortschwall der neuen philosophischen Schule und vom breiten glatten Geschwätze der Periode vor Kant: er ist im höchsten Grade deutlich, faßlich, dabei energisch und ich darf wohl sagen nicht ohne Schönheit: nur wer ächte eigene Gedanken hat, hat ächten Stil.« Wiederum eine Selbstcharakteristik, wie sie sich treffender kaum denken läßt. Daß sie nicht »bescheiden« ist, liegt an der Unverlogenheit, die vielleicht den hervorstechendsten Charakterzug Schopenhauers bildete.
Seinen Ausgang nimmt Schopenhauer von Kant. Dessen philosophisches Verdienst charakterisiert er in seiner »Kritik der Kantischen Philosophie« ebenso anschaulich wie erschöpfend dahin, »daß er die ganze Maschinerie unseres Erkenntnisvermögens, mittelst welcher die Phantasmagorie der objektiven Welt zustande kommt, auseinanderlegte und stückweise vorzeigte, mit bewundernswerter Besonnenheit und Geschicklichkeit«. »Man fühlte sich alsdann«, fügt er an einer anderen Stelle (in seinem Aufsatz »Über die Universitätsphilosophie«) hinzu, »dem ganzen traumartigen Dasein, in welches wir versenkt sind, auf wundersame Weise entrückt und entfremdet, indem man die Urelemente desselben jedes für sich in die Hand erhält und nun sieht, wie Zeit, Raum, Kausalität, durch die synthetische Einheit der Apperzeption aller Erscheinungen verknüpft, diesen erfahrungsmäßigen Komplex des Ganzen und seinen Verlauf möglich machen, worin unsere, durch den Intellekt so sehr bedingte Welt besteht, die eben deshalb bloße Erscheinung ist.« In dem unbedingten Phänomenalismus stimmt Schopenhauer mit Kant vollkommen überein; »die Welt ist meine Vorstellung«: mit diesem Satz beginnt sein Hauptwerk. Objektsein heißt: von einem Subjekt vorgestellt werden; das vorgestellte Ding ist nichts anderes als die Vorstellung. In der näheren Lehre von den transzendentalen Vermögen entfernt er sich jedoch von Kant. Von den zwölf Kategorien läßt er nur die Kausalität gelten, die übrigen elf nennt er »blinde Fenster«; diese aber ist für ihn keine Kategorie, kein Begriff des Verstandes, sondern eine Form der Anschauung, ja die alleinige Form der Anschauung, da auch Raum und Zeit Kausalität sind, indem durch sie die Dinge als gesetzmäßig miteinander verknüpft, einander verursachend erscheinen, entweder im Verhältnis der Lage oder der Folge: Objektsein, Vorgestelltsein heißt Begründetsein, Notwendigsein; diese Notwendigkeit hat aber selbstverständlich nur den Charakter der Erscheinung. Die Illusion der Welt, heißt es in der Betrachtung über »die Lehre von der Unzerstörbarkeit unseres wahren Wesens durch den Tod«, wird hervorgebracht, »durch den Apparat zweier geschliffener Gläser (Gehirnfunktionen), durch die allein wir etwas sehen können; sie heißen Raum und Zeit, und in ihrer Wechseldurchdringung Kausalität«. Die Materie definiert Schopenhauer genial einfach als »die Wahrnehmbarkeit von Zeit und Raum« oder »die objektiv gewordene Kausalität«. Zum Ding an sich können wir natürlich nicht auf dem Wege der Vorstellung gelangen, sondern durch einen anderen, der uns gleichsam durch Verrat die Festung öffnet. Der Verräter ist unser Selbstbewußtsein. Unser Leib ist uns zweimal gegeben: einmal von außen, als Vorstellung, einmal von innen, als Wille: die Welt ist Wille und Vorstellung. Der Wille ist das Wesen der Dinge und in allen seinen Eigenschaften das Gegenteil der Erscheinung. Dieser ist vielfältig, vergänglich, der Kausalität unterworfen; er ist unteilbar, ewig, allgegenwärtig, frei. Der Wille ist das Ansich, die Substanz der Welt, der Intellekt nur Akzidens und sekundäres Produkt. Mit dem Intellekt erkennen wir, mit dem Willen sind wir. Der Intellekt ist bloß das Werkzeug: der erkenntnislose Wille verhält sich zu ihm wie die Wurzel des Baumes zur Krone oder, in einem Gleichnis, das alles zusammenfaßt, wie der Blinde zum Lahmen, den er auf den Schultern trägt. Die Natur ist Sichtbarkeit des Willens zum Leben und bildet eine Stufenordnung von Objektivationen des Willens: vom Stein, der Wille zum Fallen ist, bis zum Gehirn, das Wille zum Denken ist. Der Wille erscheint auf der untersten Stufe als »mechanische, chemische, physikalische Ursache«, in der Pflanze als »Reiz«, im Tier als »anschauliches Motiv«, im Menschen als »abstraktes, gedachtes Motiv«. Dieser Wille Schopenhauers ist kein scholastisches Prinzip, kein »ens rationis«, kein »Wort von ungewisser, schwankender Bedeutung«, »sondern«, sagt Schopenhauer, »wer mich fragt, was es sei, den weise ich an sein eigenes Inneres, wo er es vollständig, ja in kolossaler Größe vorfindet, als ein wahres ens realissimum. Ich habe demnach nicht die Welt aus dem Unbekannten erklärt; vielmehr aus dem Bekanntesten, das es gibt, und welches auf eine ganz andere Art bekannt ist als alles übrige«.
In diesem Reich des Willens herrschen die düsteren Mächte des Schmerzes und des Todes, der Enttäuschung und der Langeweile, während die Freuden und Güter bloße Illusionen sind. Zuletzt muß der Tod siegen, denn wir sind ihm schon durch die Geburt anheimgefallen, und er spielt nur eine Weile mit seiner Beute, bevor er sie verschlingt. Wir setzen indessen unser Leben mit vielem Anteil und großer Sorgfalt fort, so lange als möglich, wie man eine Seifenblase so lange und so groß als möglich aufbläst, wiewohl mit der festen Gewißheit, daß sie platzen wird. Das Leben der allermeisten Menschen ist ein mattes Sehnen und Quälen, ein träumerisches Taumeln durch die vier Lebensalter hindurch zum Tode, unter Begleitung einer Reihe trivialer Gedanken; sie gleichen Uhrwerken, welche aufgezogen werden und gehen, ohne zu wissen, warum. Die Wilden fressen einander und die Zahmen betrügen einander, und das nennt man den Lauf der Welt. Auf der Bühne spielt einer den Fürsten oder General, ein anderer den Diener oder Soldaten; aber die Unterschiede sind bloß im Äußeren vorhanden, im Innern steckt bei allen dasselbe: ein armer Komödiant mit seiner Plage und Not. Im Leben ist es auch so: die allermeisten Herrlichkeiten sind bloßer Schein, wie die Theaterdekoration. Unsere Freudenäußerungen sind für gewöhnlich nur das Aushängeschild, die Andeutung, die Hieroglyphe der Freude, sie haben bloß den Zweck, andere glauben zu machen, hier sei die Freude eingekehrt, aber sie allein hat beim Feste abgesagt. Mitten in diesem Trauerspiel der Leere und des Leidens erblicken wir nur eine Gattung von Glücklichen: die Liebenden; aber warum begegnen ihre Blicke sich so heimlich, furchtsam und verstohlen? »Weil die Liebenden die Verräter sind, welche heimlich danach trachten, die ganze Not und Plackerei zu perpetuieren, die sonst ein baldiges Ende erreichen würde.«
Aus diesem Jammer gibt es nur zwei Auswege: die reine Anschauung des Genius und die Willensverneinung des Heiligen. Wenn man die gewöhnliche Betrachtungsart fahren läßt, sich ganz der ruhigen Kontemplation hingibt und sich, nach einer sinnvollen deutschen Redensart, ganz in seinen Gegenstand »verliert«, sein Individuum, seinen Willen verliert und nur noch als klarer Spiegel des Objekts bestehen bleibt: dann ist, was auf diese Weise erkannt wird, nicht mehr das einzelne Ding als solches, sondern die Idee. Der gewöhnliche Mensch, »diese Fabrikware der Natur«, ist einer solchen völlig uninteressierten Betrachtung nicht fähig. »Während dem gewöhnlichen Menschen sein Erkenntnisvermögen die Laterne ist, die seinen Weg beleuchtet, ist es dem genialen die Sonne, welche die Welt offenbar macht.« »Der Grad, in welchem jeder im einzelnen Dinge nur dieses, oder aber schon ein mehr oder minder Allgemeines, bis zum Allgemeinsten der Gattung hinauf, nicht etwa denkt, sondern geradezu erblickt, ist der Maßstab seiner Annäherung zum Genie.« Was nun der Genius auf intellektuellem Wege erreicht, das leistet die Askese auf moralischem: »Ein Mensch, der, nach vielen bitteren Kämpfen gegen seine eigene Natur, endlich ganz überwunden hat, ist nur noch als rein erkennendes Wesen, als ungetrübter Spiegel der Natur übrig. ... Er blickt nun ruhig und lächelnd zurück auf die Gaukelbilder der Welt, die einst auch sein Gemüt zu bewegen und zu peinigen vermochten, die aber jetzt so gleichgültig vor ihm stehen wie die Schachfiguren nach beendigtem Spiel oder wie am Morgen die abgeworfenen Maskenkleider, deren Gestalten uns in der Faschingsnacht neckten und beunruhigten.«
Die zahlreichen »Widersprüche«, die Schopenhauers Deduktionen aufweisen, sowohl in den Einzelheiten wie im Fundament, sind vielfach erörtert worden, am ausführlichsten und lichtvollsten von Kuno Fischer, der sie abgeteilt und ausgerichtet wie Soldaten vorbeidefilieren läßt, und von Rudolf Haym, der zu dem Resultat gelangt, daß kein Stein auf dem anderen bleibe; auch Eduard Zeller erklärt in seiner vortrefflichen »Geschichte der deutschen Philosophie seit Leibniz«, daß Schopenhauer alle Widersprüche und Grillen seiner launenhaften Natur in sein System übertragen habe. Indes sind solche Korrekturen ja stets ein überflüssiges Geschäft, weil derlei Unstimmigkeiten sich unvermeidlich und ausnahmslos in jedem reellen Gedankengebäude finden, und bei Schopenhauer ein ganz besonders unangebrachtes, weil seine Philosophie nur scheinbar ein theoretisches System, in Wirklichkeit ein Kunstwerk ist, das man entweder als Ganzes annehmen oder als Ganzes ablehnen muß. Schopenhauer ist, wie Nietzsche sogleich erkannte, ein Erzieher. Seine Schriften gehören dem Inhalt nach in die Gattung der »Imitatio Christi«, der Konfessionen Augustins, der Selbstbetrachtungen Marc Aurels und Montaignes, der Form nach unter die Meisterwerke der Prosamalerei. Man kann ihn als Stilisten nur mit einem antiken Autor vergleichen: kein Neuerer vermag in diesem Maße Biegsamkeit mit Lapidarität, Temperament mit Würde, Ornamentik mit Natürlichkeit zu verbinden. Schopenhauer sagt einmal über den berufenen Schriftsteller (womit er natürlich wiederum sich selber meint), er spreche wirklich zum Leser, er liefere Gemälde, während der Alltagsschreiber bloß mit Schablonen male. In der Tat ist seine Rede ein lebendiger, höchst persönlicher Verkehr mit dem Leser: alle seine Sätze sind in Bau und Rhythmus, in Wahl und Stellung jedes einzelnen Worts von seiner einmaligen Individualität imprägniert, jede Metapher, jede Antithese, ja jedes Zitat ist innerlich erlebt. Seine Sprache, völlig unimpressionistisch, »klassisch« im doppelten Sinne des Worts, steht wie die griechische jenseits von Popularität und Gelehrsamkeit. Seine Philosophie hingegen hat viel mehr Zusammenhänge mit dem »Windbeutel« Fichte und dem »Unsinnschmierer« Schelling als mit Kant und den Klassikern: sie ist in ihrem Irrationalismus und Pessimismus, Ästhetizismus und Aristokratismus, Geniekult und (unterirdischen) Katholizismus die reifste und reichste Blüte der Romantik.
Auch Bismarck wurzelte mit der einen Hälfte seines Wesens im Vormärz, ja sogar mit gewissen Zügen im achtzehnten Jahrhundert. In seiner Ära hatte ein Politiker nur die Wahl, liberal oder reaktionär, Demokrat oder Absolutist, positivistisch oder orthodox zu sein; Bismarck war nichts von alledem, weil er alles zusammen war. Er war nämlich ein Seigneur des Rokokos und daher vertrugen sich in seiner Seele der Legitimist und der Revolutionär, der Freigeist und der Pietist, der Citoyen und der Feudale auf eine Weise, wie es in seiner Zeit keinem anderen mehr möglich war. Doch war dies, wie gesagt, nur die eine Hälfte seines Wesens, die andere gehörte weder der Vergangenheit noch der Gegenwart, sondern der Zukunft an: in ihm lebte bereits der Gedanke einer demokratischen Diktatur und eines paneuropäischen Staatensystems, der unser Jahrhundert beherrscht. Daß er als geheimnisvolle schöpferische Janusgestalt an der Wegscheide zweier Zeitalter stand und daß sein ganzes Leben eine Art Kampf mit dem Teufel (auch mit dem eigenen) war, ist sein Gemeinsames mit Luther; die stärkste Verwandtschaft aber hatte er mit Friedrich dem Großen. Fast alle Züge, die wir an diesem hervorgehoben haben, finden sich bei ihm wieder. Zunächst jene paradoxe Mischung aus Realismus und Idealismus, aus anpassungskräftiger Elastizität und unerschütterlicher Prinzipientreue, die den Preußenkönig zu einem so fruchtbaren Staatsmann gemacht hat. Sodann das ebenso paradoxe Verhältnis, das beide zur Wahrheit hatten: scheinbar nämlich haben sie bisweilen gelogen (Bismarck übrigens höchst selten); aber dies war nur ihr Berufsjargon, im Innern waren sie die aufrichtigsten Menschen, die sich denken lassen. Man kann nämlich sein ganzes Leben lang äußerlich stets die Wahrheit gesprochen haben und dabei die Seele eines gottverdammten Heuchlers, Spiegelfechters und Falschmünzers besitzen; aber auch das Umgekehrte ist denkbar. Wer nur einige Kapitel der »Gedanken und Erinnerungen« gelesen hat und nicht spürt, daß hinter ihnen ein Elementargeist steht, dessen Grundpathos der leidenschaftliche Drang war, allen Menschen, Dingen und Ereignissen ihr wahres Gesicht abzulesen, aber auch ihnen ein wahres Gesicht zu zeigen, daß sich in ihnen eine kristallene Seele spiegelt, offen und klar und freilich auch unergründlich tief wie ein Bergsee: der hat überhaupt kein Organ für Wahrheit oder will absichtlich nicht sehen. Und hierin stand Bismarck noch höher als Friedrich der Große, wie er denn auch, was zweifellos damit zusammenhängt, der noch viel größere Schriftsteller war. Seine betont geistreiche, stets leicht ironische, in apart gefaßten Epigrammen, funkelnd geschliffenen Antithesen und zitatreifen Aperçus sich bewegende Betrachtungsart ist ganz dix-huitième und hat, so paradox dies angesichts seines Vulgärbilds klingen mag, ebenso wie die Friedrichs des Großen etwas Französisches. Gänzlich unfranzösisch hingegen waren seine tiefe Religiosität, sein Gemüt und sein Humor, mit welch letzterer Eigenschaft es wiederum zusammenhängt, daß er von allen Personen, die je auf dieser Erde Macht besessen haben, eine der uneitelsten war. Wir konnten dies auch an Friedrich dem Großen konstatieren und müssen hinzufügen, daß Bismarck ebenfalls kein ernster Mensch war. Statt zahlloser Belege, die sich hierfür vorbringen ließen, sei ein einziger angeführt, der mehr beweist als alle Anekdoten, nämlich eine Stelle aus dem Tagebuch des späteren Kaisers Friedrich. Dieser, Bismarck, Roon und Moltke waren am 15. Juli 1870 dem König Wilhelm, der aus Ems nach Berlin kam, bis Brandenburg entgegengefahren. Unterwegs hielt Bismarck dem König einen zusammenfassenden Vortrag über die europäische Lage, und der Kronprinz fügt hinzu: »mit großer Klarheit und würdigem Ernst, frei von seinen sonst gewöhnlich beliebten Scherzen.« Man denke sich in die Situation: zwischen Emser Depesche und allgemeiner Mobilmachung entwickelt der Kanzler des Norddeutschen Bundes dem König, dem Kronprinzen, dem Kriegsminister und dem Chef des Generalstabs die maßgebenden Gesichtspunkte, bleibt dabei vollkommen ernst, macht nicht einen einzigen Witz, und der Kronprinz notiert diese auffallende Tatsache in sein Tagebuch.
Wir könnten die Parallele noch bis in viele Details fortführen. Besonders bemerkenswert scheint mir, daß auch Bismarck, obgleich so oft das Gegenteil behauptet worden ist, kein Militarist war, indem er den Krieg ebenfalls nur als »Brechmittel« betrachtete, allerdings aber, wenn er ihn für unvermeidlich ansah, im günstigsten Zeitpunkt zu führen suchte, wodurch er scheinbar zum Angreifer wurde; und daß er auch kein Monarchist war. Er war nämlich Royalist, was durchaus nicht dasselbe ist: seine Anhänglichkeit an die Dynastie wurzelte in den feudalen Traditionen seines Hauses und seine Stellung zu den Hohenzollern hatte immer etwas von unterirdischer Fronde. Am überraschendsten aber ist es, daß ihm mit Friedrich dem Großen sogar die »physiologische Minderwertigkeit« gemeinsam war. Er war durchaus nicht der steinerne Roland, als den das Volk sich ihn denkt, sondern der Typus des Dekadenten; vor allem darin ein geradezu klassisches Exemplar des Neurotikers, daß sich psychische Attacken bei ihm regelmäßig in physische umsetzten: zum Beispiel Ärger und Enttäuschung in Trigeminalschmerzen. Kein Maléquilibré des Fin de siècle übertraf ihn an Reizbarkeit und Labilität des Nervensystems. Ein »eiserner Kanzler«, der Weinkrämpfe bekommt, wenn er seinen Willen nicht durchsetzen kann, ist doch eine recht sonderbare Erscheinung, in ihrer Art ebenso sonderbar wie ein »deutscher Heldenkönig«, der zwischen zwei Schlachten französische Alexandriner dichtet. Und schließlich haben die beiden auf dem Wege zum Tode und nach dem Tode ganz ähnliche Schicksale gehabt, indem sie sich in ihren letzten Lebensjahren bis zur Unwirklichkeit vergeistigten und von der Nachwelt bis zum heutigen Tage wild umstritten werden, bald wie Halbgötter verehrt, bald als Bösewichter, ja Verbrecher gebrandmarkt.
Man kann sagen, daß die Natur alle ihre Geschöpfe eigentlich nur hervorbringe, um jedesmal zu zeigen, was ein einzelnes Organ zu leisten vermag, wenn es bis an die äußersten Grenzen seiner Raum- und Kraftentfaltung gelangt. Der Tiger ist ein ganz reißendes Gebiß, der Elefant nichts als ein riesiger Greif- und Tastrüssel, das Rind ein wandelnder Kau- und Verdaumagen, der Hund eine Witternase auf vier Füßen. Beim Menschengeschlecht wiederholt sich dieser Vorgang auf geistigem Gebiet in der Erschaffung des Genies. Jedes ist die staunenswerte Hypertrophie einer seelischen Potenz. Shakespeare ist ganz Phantasie, Goethe ganz Anschauung, ein ungeheures inneres Auge, bei Kant war, wie ausführlich gezeigt wurde, die Fähigkeit, die zu stupender Überlebensgröße entfaltet war, der theoretische Verstand, bei Bismarck: der praktische Verstand. Was darunter zu verstehen ist, sagt ein Ausspruch Schopenhauers: »Der Begabte denkt rascher und richtiger als die übrigen; das Genie hingegen schaut eine andere Welt an als sie alle, wiewohl nur indem es in die auch ihnen vorliegende tiefer hineinschaut, weil sie in seinem Kopfe sich objektiver, mithin deutlicher und reiner sich darstellt.« Und noch einfacher drückt Carlyle denselben Sachverhalt aus: »Mein grober alter Schullehrer fragte immer, wenn man ihm einen neuen Jungen brachte: Aber sind Sie auch sicher, daß er kein Dummkopf ist? Nun, dieselbe Frage könnte man an jeden Menschen in jeder Lebenstätigkeit stellen und sie als die einzige Untersuchung ansehen, die nötig ist: sind Sie sicher, daß er kein Dummkopf ist? Denn man muß in der Tat sagen: die Summe von Anschauung, die in einem Menschen lebt, ist der genaue Gradmesser seiner Menschlichkeit. Zu jedem Menschen sagen wir zu allererst: sieh! Kannst du sehen, so ist in Tun und Denken überall Hoffnung für dich.« Hätten alle Menschen einen ähnlich reinen, klaren, natürlichen Verstand, wie ihn Bismarck besaß, so wären sie zwar keineswegs frei von Untugenden und Irrtümern (denn Bismarck war weder ein unfehlbarer Papst noch ein fleckenloser Heiliger), aber ihre Untugenden und Irrtümer wären für sie und die anderen unschädlich, nämlich in Weisheit, Verstehen und Geist aufgelöst.
Nun, diesen Verstand hat wohl noch niemand Bismarck abgesprochen; aber viele behaupten, daß er dabei »unmoralisch« war. Als ob sich hoher Verstand und Unmoral vereinigen ließen! Ein Bodenspekulant, ein Bankanwalt, ein Theateragent mag ein Gauner und dabei in seinem Fach »gescheit« sein, aus dem sehr einfachen Grunde, weil sein ganzes Gewerbe eine Gaunerei ist; aber schon ein Kunstgärtner, ein Brillenschleifer, ein Orgelbauer muß eine gewisse Sittlichkeit besitzen. Um ein Ding zu können, muß man es erkennen, um es zu erkennen, muß man in sein Herz blicken, und das heißt: in einer moralischen Beziehung zu ihm stehen. Der Feige, der Selbstsüchtige, der Hochmütige wird nie das Vertrauen eines Dings gewinnen, durch welches allein er dessen Wahrheit erschließen kann.
Man kommt bei längerer und genauerer Betrachtung der Menschen immer mehr zu der überraschenden Erkenntnis, daß sie sich in ihren Prinzipien gar nicht so sehr voneinander unterscheiden. Fast alle wissen, im allgemeinen und im besonderen, ziemlich gut, was das »Rechte« ist; aber sie tun es nicht. Erkennen und Handeln sind bei ihnen zwei völlig getrennte Ressorts, zwei Kammern, die fast nie miteinander kommunizieren. Und zwar liegt der Fall nicht so einfach, daß der Mensch bewußt seine Grundsätze verleugnet. Nein, er tut es mit bestem Gewissen, er hat sie einfach, wenn er handelt, vergessen und ist daher sehr erstaunt, wenn man ihm vorhält, daß er doch so ganz anders sei, als er immer predige. Es geht ihm wie dem Besitzer eines Patents, das keinen Verwirklicher findet. Die Idee, das Modell, das Prinzip allein ist da. Fast alle Menschen sind theoretisch im Besitz des Geheimnisses, wie sie zu leben hätten, aber die großartige und einzigartige Erfindung, die jeder von ihnen verkörpert, wird fast nie realisiert. Dies eben war der große und neue Sinn des Christentums, daß es die Menschen lehrte: das Wesentliche ist nicht das Wissen, sondern das Sein. Ein Mensch, der nur einige wenige Wahrheiten kennt, sie aber lebt, wird ein göttliches Leben führen; ein Mensch, der alle Weisheit der Welt besitzt, aber bloß in seinem Kopf, als totes Programm, kann noch immer ganz und gar dem Teufel verfallen sein.
In diesem Sinne war Bismarck ein großer Christ. Er hatte kühne und weise Gedanken; aber die hatten andere auch. Er aber hat sie mit seinem wilden, starken Junkerblut gefüllt und gelebt, der letzte Held, den die Neuzeit erblickt hat.
Um die Entstehung dessen, was Bismarck gewirkt hat, historisch zu begreifen, müssen wir bis nach Amerika hinüberblicken. Von dort kam die erste starke Erschütterung des französischen Kaisertums, das ein halbes Menschenalter lang vom Glück begünstigt worden war. Der neue Erdteil, schon seit seiner Emanzipation in lebhafter Entwicklung begriffen, nahm seit etwa der Mitte des Jahrhunderts einen staunenswerten wirtschaftlichen Aufschwung. Damals erhob sich elektrisierend die Parole: westward ho! Ganz anders als in Europa gingen Eisenbahnbauten der Erschließung neuer Siedlungsgebiete voraus: während um jene Zeit zwischen München und Wien noch die Postkutsche den Verkehr besorgte, liefen dort über völlig menschenleere Riesenstrecken bereits die Bahngeleise. 1845 wurde Texas in die Union aufgenommen, 1848 mußte Mexiko Neumexiko und Kalifornien an die Vereinigten Staaten abtreten, etwa die Hälfte seines Gebiets. Noch in demselben Jahr ertönte ein zweiter Alarmruf: Gold in Kalifornien! Ein ungeheurer Strom von Einwanderern ergoß sich nach dem Westen. Es war nicht das Gold allein, das lockte, sondern auch eine Fülle anderer Bodenschätze: Erze, Öle, Kohle und eine Prachtvegetation, die Obst, Gemüse, Brotfrüchte und Viehfutter in unerhörter Güte lieferte. Inzwischen hatte sich ein starker Gegensatz zwischen den Nordstaaten und den Südstaaten herausgebildet. In diesen lebten auf erträgnisreichen Großplantagen eine Pflanzeraristokratie neben und über den »armen Weißen«, die eigentlich fast ebensolche Sklaven wie die Neger waren. Die Hauptprodukte waren Reis, Zucker, Tabak, vor allem Baumwolle; der Wahlspruch des Südens hieß: »cotton is king!« Das politische und wirtschaftliche Übergewicht der Südstaaten beruhte auf ihrem Reichtum, dieser auf der Sklaverei, während man im Norden, wo Farmertum und Industriebetrieb überwogen, der Neger weniger bedurfte, sie auch wohl aus klimatischen Gründen nicht ausgiebig verwenden konnte. Der Abolitionsstreit war also in seiner Wurzel eine ökonomische Angelegenheit. Dreimal hat Amerika in seiner bisherigen Geschichte einen großen Krieg begonnen, und allemal um Geld. Denn worum drehte es sich im glorreichen Befreiungskampf von 1775? Um den Zuckerstempel. Und auch in den Weltkrieg, an dem sie politisch vollkommen uninteressiert waren, haben die Vereinigten Staaten nur eingegriffen, um ihr ausgeliehenes Geld wieder hereinzubekommen. Es darf allerdings nicht verschwiegen werden, daß es auch nicht an christlichen Idealisten fehlte, die die Negerbefreiung aus moralischen Gründen forderten. William Lloyd Garrison, wie fast alle geistigen Größen des damaligen Amerika in Massachusetts geboren, begründete schon 1831 zu diesem Zweck die Zeitschrift »The Liberator«, 1833 die »American Antislavery Society«. Auch Emerson billigte diese Bestrebungen, obgleich er, als freier Geist, für Organisationen nichts übrig hatte; »es ist hohe Zeit«, schrieb er, »daß unser böser Wohlstand sein Ende erreicht«, und als ihm seine Kinder einmal erzählten, das Thema für ihren nächsten Schulaufsatz laute: »der Bau eines Hauses«, sagte er: »Ihr müßt schreiben, daß heutzutage kein Haus vollkommen ist, wenn es nicht irgendeinen Winkel besitzt, in dem sich ein flüchtiger Sklave sicher verbergen kann.« 1852 wurde die ganze zivilisierte Welt durch Harriet Beecher-Stowes Roman »Uncle Tom's cabin« erschüttert, der, obgleich sentimental und öldruckhaft, wegen seiner edeln Tendenz den ewigen Dank der Menschheit verdient. Mit dem Konflikt in der Sklavereifrage verband sich der Gegensatz der republikanischen und der demokratischen Partei. Die erstere, in den Nordstaaten überwiegend, betonte die Autorität des Bundes, die letztere, in den Sklavenstaaten allmächtig, forderte möglichst ausgedehnte Souveränität der Einzelstaaten. 1861 kam es zum Bruch. Die elf Südstaaten erklärten ihren Austritt aus der Union und schlossen einen Sonderbund unter einem eigenen Präsidenten, weshalb der vierjährige Kampf, der nun ausbrach, Sezessionskrieg genannt wird. In erbitterter Feindschaft standen sich Union und Konföderation, Washington und Richmond gegenüber. Der Krieg wurde zum größeren Teil auf dem Gebiet der Südstaaten geführt, die die Vorzüge und Nachteile der inneren Linie hatten, am heftigsten und hartnäckigsten in den Grenzstaaten Virginia, das zum Süden, und Maryland, das zum Norden hielt. Die meisten europäischen Regierungen sympathisierten mit dem Süden; sowohl Palmerston wie Napoleon wünschten den Zerfall der Vereinigten Staaten: dieser, weil er durch die Gründung eines von Frankreich abhängigen mexikanischen Kaiserreichs die Monroedoktrin zu durchbrechen suchte, jener, weil er die Entstehung einer transozeanischen Konkurrenzmacht befürchtete und auch weil England der Hauptkonsument der Baumwolle war, wozu noch das Ressentiment wegen des seinerzeitigen Abfalls der amerikanischen Kolonien kam. Die öffentliche Meinung Europas hingegen fand fast einstimmig, daß das moralische Recht auf der Seite der Nordstaaten sei.
Der Sezessionskrieg war der erste ausgesprochen moderne Krieg: er hatte große Ähnlichkeit mit dem Deutsch-Französischen, ja sogar schon mit dem Russisch-Japanischen, besonders im Hinblick auf die bis dahin unerhörte Masse der aufgewendeten Kämpfer, die enorme Ausbreitung und Länge der Schlachten, die große Rolle, die die neuen Mittel der Technik spielten. Die Zahl der Soldaten wuchs allmählich auf mehr als drei Millionen, von denen über eine halbe Million fielen oder starben. Die Kriegskosten betrugen drei Milliarden Dollar. Die Dampfkraft gewann zum erstenmal strategische Bedeutung: man verwendete bereits armierte Panzerzüge, Feldeisenbahnen und Panzerfregatten: das erste Exemplar dieser Gattung war der »Merrimac« der Konföderierten, dessen Deck bis zur Wasserlinie abgetragen war und in einen Rammsporn auslief, nach der Art des Rostrums, das die Römer im ersten Punischen Krieg verwendet hatten; daraufhin baute die Union den »Monitor«, der ganz ähnlich konstruiert war, aber außerdem einen drehbaren Panzerturm mit schwerem Geschütz besaß: diese Schiffsform der Monitoren, wie man sie nach ihrem Urbild nannte, erwies sich als so kriegstüchtig, daß sie alsbald in der ganzen Welt kopiert wurde. Auch der Feldtelegraph stand allgemein in Gebrauch, und man verstand sogar schon das Ablesen feindlicher Telegramme durch eingeschaltete Handapparate. Die Truppen des Südens hatten die kundigere Führung und den besseren militärischen Geist einzusetzen, die des Nordens die erdrückende numerische Überlegenheit, doch wurde dieser Vorteil dadurch beeinträchtigt, daß es in der Union selber Parteien gab, die sezessionistisch empfanden, weil sie gegen den Krieg und für die Sklaverei waren. Dazu kam, daß der Kriegsminister kurz vor Ausbruch des Krieges den größten Teil der Waffen und Geschütze nach dem Süden dirigiert hatte. General Lee, der ausgezeichnete Oberbefehlshaber der Konföderierten, operierte sehr geschickt auf der inneren Linie und erfocht ansehnliche Teilerfolge, aber allmählich machte sich doch die Übermacht der Nordtruppen geltend, um so mehr, als sie sich durch die Kriegsgewohnheit besser disziplinierten und das Schreckensmittel der Blockade zur Verfügung hatten. Das erste Kriegsjahr brachte den Sonderbundstruppen den Sieg am Bull-Run, einem Seitenarm des Potomac, des Grenzflusses zwischen Maryland und Virginia, im nächsten Jahr siegten sie abermals in der siebentägigen Schlacht bei Richmond, die sogar die Bundeshauptstadt Washington bedrohte, im Herbst erlitten sie eine Niederlage bei Antietam, die sie jedoch, noch ehe das Jahr zu Ende ging, durch den Sieg bei Fredericksburg wieder wettmachten:
Lee überschritt den Potomac. Am 1. Januar 1863 erklärte eine Proklamation Abraham Lincolns, des Präsidenten der Union, alle Sklaven für frei. In diesem Jahr wurde Lee in der Schlacht bei Gettysburg in Pennsylvanien, der blutigsten des Krieges, die vom 1. bis zum 3. Juli währte, geschlagen, und der 4. Juli brachte eine noch größere Katastrophe: General Grant, in dem die Unionstruppen endlich einen befähigten Kommandanten gefunden hatten, gelang es, durch die Einnahme Vicksburgs den Mississippi in die Hände der Nordstaaten zu bringen und damit die Konföderation im Westen von dem verbündeten Texas und dem neutralen Mexiko abzuriegeln, wodurch der Ring der Blockade, bisher vielfach durchbrochen, sich vollkommen schloß, denn im Norden stießen die Südstaaten an die Union, im Osten und Süden waren sie vom Meer begrenzt. Alsbald zeigten sich auch alle drückenden Folgen: es begann an Heilmitteln und Bekleidungsstoffen, Heizkörpern und Baumaterial, Proviant und Munition zu fehlen. Auch eine groteske Verfügung der Südregierung, die alle Neger für frei erklärte, die sich am Kampf (für die Sklaverei) beteiligen würden, konnte das Schicksal nicht wenden. Am 3. April 1865 wurde die Hauptstadt Richmond nach dreitägigem Kampf genommen, am 10. April kapitulierte Lee mit dem Rest der Armee. Vier Tage später wurde der edle Abraham Lincoln von einem dummen Fanatiker, dem Schauspieler Booth, einem Bruder des berühmten Tragöden, erschossen, während er in der fahnengeschmückten Präsidentenloge der Festvorstellung beiwohnte, die den Frieden feiern sollte. Er war eine prächtige, echt amerikanische Figur, naturwüchsig und doktrinär, nüchtern und gütig, inmitten eines mörderischen Bruderkrieges ein rührender Zivilist. Er fiel auf dem Gipfel seines Wirkens durch blinde Tücke, gleich Philipp von Mazedonien, Cäsar, Henri le Grand. Diese fanden Testamentsvollstrecker: Alexander, Augustus, Richelieu; er brauchte keinen, denn sein Werk war vollendet.
Wir Europäer betrachten dieses Resultat mit gemischten Gefühlen. Daß Neger befreit werden, ist gut; daß sie als Menschen angesehen würden, wäre vielleicht noch besser. Daß feindliche Brüder sich versöhnen und von neuem zu friedlichem Streben vereinigen, ist erfreulich; weniger erfreulich, daß die Geburt dieses gemeinsamen Schaffens ein schauerlich-skurriler Leviathan ist, der den Planeten zu verschlingen droht, ein Chaos aus Wirtschaftselefantiasis, Übertechnik, Megaphongebrüll und Psychoanalyse. Doch dies hat mit der »Krisis der europäischen Seele« nur indirekt zu schaffen.
Zwei Jahre nach der Ermordung Lincolns vollzog sich in der Mitte desselben Erdteils eine andere Tragödie. Der Sezessionskrieg gab Napoleon Mut zu einem sehr gewagten Unternehmen. Französische Truppen landeten unter einem völkerrechtlichen Vorwand in Mexiko, drangen vor und eroberten die Hauptstadt. Eine dorthin berufene Nationalversammlung von bezahlten Figuranten wählte den Erzherzog Maximilian, Bruder des Kaisers Franz Joseph, zum Kaiser von Mexiko. Dieser, einer von den »liberalen« Habsburgern, ein unklarer Fibelidealist vom Schlage Josephs des Zweiten, war doch nicht liberal genug, sich einer Bevölkerung nicht aufzudrängen, die ihn nicht mochte, sondern kämpfte, von den Franzosen unter Bazaine unterstützt, gegen die »Insurgenten« und den bisherigen Präsidenten Juarez. Der Friedensschluß im Norden machte allem ein Ende. Die Vereinigten Staaten erhoben Einspruch, Napoleon sah sich vor die Eventualität gestellt, mit ihnen Krieg führen zu müssen, und zog seine Truppen zurück, Maximilian, der, ebenso töricht wie tapfer, die Flucht verschmähte, wurde vor ein Kriegsgericht gestellt und erschossen. Dies war ein empfindlicher Stoß für das napoleonische Prestige.
Bereits vorher aber hatte Napoleon eine gewisse, jedoch mehr indirekte Schwächung seines Ansehens erlitten, die von den dänischen Händeln ihren Ausgang nahm. Der Streit ging um die beiden Erbherzogtümer Schleswig und Holstein, die mit Dänemark durch Personalunion verbunden waren. Da der König Friedrich der Siebente kinderlos war, für die Herzogtümer aber ein anderes Erbfolgerecht galt als für Dänemark, so wären diese nach seinem Tode an eine andere Dynastie übergegangen, nämlich an den Herzog Christian von Sonderburg-Augustenburg. Nur Holstein gehörte zum Deutschen Bund; infolgedessen betrieb die Partei der »Eiderdänen« (so genannt, weil sie die Eider als dänische Grenze wünschten) die Einverleibung Schleswigs, die denn auch im Revolutionsmonat, März 1848, ausgesprochen wurde. Die Antwort war ein Aufstand in beiden Herzogtümern, unterstützt von preußischen und anderen deutschen Bundestruppen. Aber die Blockade der dänischen Schiffe, die das Meer und die Mündungen der Elbe, Weser und Oder beherrschten, und der diplomatische Druck Englands und Rußlands lähmten den Krieg. Auch Österreich stellte sich auf die Seite Dänemarks und erzwang 1850 in der bereits geschilderten Konferenz zu Olmütz unter energischer Assistenz des Zaren den Verzicht Preußens auf jede Einmischung in die schleswig- holsteinische Frage. Daß sich danach immer noch Menschen fanden, die von einer »deutschen Mission« des Habsburgerstaats deklamierten, ist ein Rätsel. Dieser hätte nämlich Schleswig-Holstein auch bereitwilligst den Fidschiinsulanern zugesprochen, nur damit Preußen es nicht bekomme. 1852 wurde im »Londoner Protokoll« zwischen den fünf Großmächten, Schweden und Dänemark vereinbart, daß Prinz Christian von Sonderburg-Glücksburg nach dem Tode Friedrichs des Siebenten die gesamte dänische Herrschaft erben solle. Der Herzog Christian von Sonderburg- Augustenburg versprach, daß er der neuen Ordnung nicht entgegentreten werde, übertrug aber später seine Erbansprüche auf Schleswig-Holstein an seinen Sohn Friedrich. Also ein großes Durcheinander.
1863 erließ König Friedrich der Siebente ein Patent, das Schleswig von Holstein trennte und mit Dänemark vereinigte. In demselben Jahre starb er. Die erste Regierungshandlung seines Nachfolgers war die Bestätigung der Gesamtverfassung für Schleswig und Dänemark. Daraufhin wurde in Holstein Friedrich von Augustenburg zum Herzog ausgerufen und Preußen erklärte den Krieg, dem auch Österreich sich anschloß; was seinen Grund darin hatte, daß es hoffte, entweder im Norden eine Art Kolonie zu erwerben, nach der Art Belgiens, mit dem es aber sehr üble Erfahrungen gemacht hatte, oder aber zumindest durch Schaffung eines neuen partikularistischen Kleinstaats Preußen innerhalb seiner Einflußsphäre Mißhelligkeiten zu bereiten. Die Verbündeten verfügten über 60000 Mann, die Dänen bloß über 40000, aber über vortreffliche Befestigungen. Die Preußen waren von »Papa Wrangel« befehligt, der ein Stratege der alten Schule und überhaupt mehr Reitergeneral war, während Moltke auf die Kriegshandlungen einen geringen Einfluß hatte. Sein vorzüglicher Plan, der dänischen Armee den Rückzug auf Flensburg zu verlegen und sie durch Einkreisung zu vernichten, gelangte nicht zur Ausführung. Die Österreicher, von Gablenz tüchtig geführt, in der Stoßtaktik gut geschult und im Sturm bravourös, täuschten, an kleineren und anderen Aufgaben gemessen als jenen, die ihnen später entgegentraten, über ihr militärisches Kraftverhältnis zu Preußen. Nach der ruhmvollen Erstürmung der Düppeler Schanzen durch die Preußen besetzten die Verbündeten ganz Jütland. Damit war aber noch nichts Entscheidendes erreicht, denn die Dänen konnten den Krieg auf ihren Inseln, die ihnen einen ausgezeichneten Schutz boten, noch lange hinausziehen. Deshalb wurde der Vormarsch auf die Insel Alsen beschlossen, der den Preußen unter General Herwarth von Bittenfeld überraschend schnell gelang. Nach Besetzung einiger anderer kleinerer Inseln kam es zum Waffenstillstand. Im Frieden von Wien trat Dänemark die Herzogtümer Schleswig, Holstein und Lauenburg an Österreich und Preußen ab, die dort eine gemeinschaftliche Regierung errichteten. Dies war aber eine offenkundige Verlegenheitslösung. Österreich befürwortete die Einsetzung des Augustenburgers, Bismarck verlangte für diesen Fall eine Art preußisches Protektorat. Um die Spannung zu beseitigen, schlossen die beiden Großmächte 1865 den Gasteiner Vertrag, worin sie sich die gemeinschaftliche Oberhoheit über beide Herzogtümer vorbehielten, die Verwaltung aber bis auf weiteres in Holstein an Österreich, in Schleswig an Preußen übertragen wurde, während das Herzogtum Lauenburg gegen eine Geldentschädigung definitiv in preußischen Besitz überging. Bismarck, der aus diesem Anlaß in den Grafenstand erhoben wurde, war von diesem Arrangement nicht entzückt und nannte es eine »Verklebung der Risse im Bau«.
Die Situation war in der Tat unhaltbar. Das Nebeneinanderregieren in Schleswig-Holstein stellte sich sogleich als eine praktische Unmöglichkeit heraus, doch war dies nur eine Nebenfrage und der bloße äußere Anlaß zum Bruch. Der wahre Kriegsgrund war der lächerliche Deutsche Bund. Es war auf die Dauer vollkommen unerträglich, daß ein verkalkter Morlakenstaat sich die Herrschaft über das deutsche Volk anmaßte und die berufene deutsche Vormacht aus kleinlicher Rivalität und gehässigem Eigensinn an jeder kräftigen Aktion sowohl der inneren wie der äußeren Politik verhinderte. Der Zusammenbruch dieses Systems war seit dem Tage, an dem es geschaffen worden war, eine historische Notwendigkeit. Nach genau einem halben Jahrhundert trat diese Notwendigkeit ein. Die Geschichte läßt sich oft ziemlich lange Zeit; aber nichts auf der Welt kann Dauer haben, das von einem chimärischen und schiefen Gedanken, einem widernatürlichen und erschlichenen Anspruch, einer Lüge lebt. In Wirklichkeit war der deutsche Krieg von 1866 keine Auseinandersetzung zwischen dem Norden und dem Süden, sondern eine deutsche Revolution, wie die meisten wirksamen Revolutionen von oben her gemacht, diesmal von einem einzigen Manne, der die im Staatsleben so seltene Vereinigung von Klarblick und Energie besaß. »Jeder andere preußische Krieg vor dem österreichischen«, sagte Bismarck, »ist die reine Munitionsvergeudung.« Seine Superiorität bestand darin, daß er, im Gegensatz zu Napoleon, niemals schwankte, immer dasselbe wollte und alle halben Lösungen ablehnte; so zum Beispiel den Vorschlag Bayerns, eine deutsche Trias zu bilden: Österreich auf die Erbländer beschränkt, Süddeutschland unter bayerischer, Norddeutschland unter preußischer Führung. Bismarck war, und hierin zeigt sich wiederum seine Kongenialität mit Friedrich dem Großen, sein Leben lang von einem einzigen großen Gedanken getragen, der den unerschöpflichen Speicher seiner Kraft bildete. Napoleon hingegen hatte bloß eine Menge »Ideen«, nach der Art eines Aventuriers, dem jeden Tag ein anderer Coup einfällt, und eine erdrückt die andere. Sein wirklicher »Königsgedanke« war, seine Firma um jeden Preis und mit allen erreichbaren, auch den gegensätzlichsten Mitteln über Wasser zu halten. Und diesen einfachen Gedanken verstand Napoleons Nation, ja sie identifizierte sich mit ihm, solange die Geschäfte florierten. Den Gedanken Bismarcks aber verstanden seine Landsleute nicht. Im Mai 1866, als das Attentat auf ihn verübt wurde, dem er nur wie durch ein Wunder und unter allgemeinem Bedauern entging, war er der verhaßteste Mann in ganz Deutschland.
Napoleon hat in dieser Krise keinerlei politischen Scharfblick, geschweige denn Vorausblick bewährt. Er förderte den Abschluß des preußisch-italienischen Bündnisses, weil er Österreich für stärker hielt (zum Teil aus nationaler Eitelkeit, da eine Armee, die von Frankreich nur mit Mühe besiegt worden war, offenbar der ganzen übrigen Welt überlegen sein mußte), weil die Befreiung Venetiens in der Linie seines italienischen Einigungsprogramms lag und weil die »Kompensationen«, auf die er mit Bestimmtheit rechnete, sein Prestige wieder gehoben hätten: er hoffte Belgien, die Pfalz und die Rheinprovinz (diese beiden eventuell nur als Herzogtümer unter französischem Protektorat), zumindest das Kohlenbecken von Saarbrücken zu gewinnen: dies alles unter dem Titel der » revendication«, denn in Frankreich ist man der Ansicht, daß alles, was jemals von französischen Truppen besetzt war, der grande nation gehöre und jederzeit zurückgefordert werden könne; außerdem glaubte auch er an die Möglichkeit einer » troisième Allemagne«, die, als eine Art Rheinbund natürlich ebenfalls unter französischem Einfluß, die preußische Hegemonie im Norden reichlich aufgewogen hätte. Thiers, der Führer der damaligen Kammeropposition, blickte viel tiefer, als er in einer vierstündigen Rede erklärte, daß Frankreich an dem geeinten Deutschland und Italien nur gefährliche Rivalen haben werde und die einzige nationale Politik daher in der Linie Richelieus und Ludwigs des Vierzehnten liege. Kann man aber Napoleon bloß den Vorwurf machen, daß er kein politisches Genie war, so ist die diplomatische Haltung, die die österreichische Regierung vor Kriegsausbruch einnahm, geradezu schwachsinnig zu nennen. Sie hätte gegen Venetien jederzeit die Neutralität, vielleicht sogar die Bundesgenossenschaft Italiens eintauschen können; statt dessen wies sie alle derartigen Anerbietungen hochmütig zurück, um plötzlich, als die Gefahr des preußischen Angriffs in unmittelbare Nähe rückte, auf alles einzugehen. Es war aber schon zu spät: der Vertrag zwischen Preußen und Italien bereits auf drei Monate abgeschlossen. Es wiederholte sich genau derselbe Vorgang wie zu Anfang des Jahres 1915, als die Monarchie so lange mit der Abtretung des Trentino zögerte, bis Italien bereits der Entente verpflichtet war. Napoleon übermittelte gleichwohl den Antrag auf Neutralität gegen Überlassung Venetiens an die Florentiner Regierung, die nun ohne Krieg bekommen konnte, was sie in einem solchen nur erhoffen durfte; aber sie besaß das Ehrgefühl, den Vertrag nicht zu brechen, und zudem war die Volksstimmung schon so erhitzt, daß ein Zurückweichen nicht mehr möglich war. Damit aber noch nicht genug. Am 12. Juni schloß Österreich mit Napoleon einen Geheimvertrag, in dem es sich verpflichtete, in Deutschland keine politischen und territorialen Veränderungen ohne französische Zustimmung vorzunehmen, im Falle der Wiedererwerbung Schlesiens das linke Rheinufer an Frankreich abzutreten und auf Venetien unter allen Umständen (also auch nach einem Siege über Italien) zu verzichten. Man ist im Zweifel, ob man mehr über die Dummheit oder über die Perfidie dieser Abmachungen erstaunt sein soll: ein Staat, der Aachen und Köln, Mainz und die Pfalz (diese beiden noch außerdem den Bundesgenossen gehörig) dem Empire preisgibt, hatte jedenfalls schon damit bewiesen, daß er unwürdig sei, an der Spitze Deutschlands zu stehen. Der österreichische Minister Graf Beust, damals noch in sächsischen Diensten und zeitlebens einer der enragiertesten Preußenfresser, sagte denn auch, als er den Vertrag später kennenlernte, er sei das unglaublichste Aktenstück, das ihm je untergekommen sei.
Hannover und ganz Süddeutschland traten sofort auf die Seite Österreichs; aber auch in Preußen war der Krieg nichts weniger als populär, was sich in zahlreichen Petitionen äußerte; dazu kam die katholische Agitation in Schlesien und der Rheinprovinz. Selbst der Hof war nicht unbedingt fürs Losschlagen: der Kronprinz ausgesprochener Kriegsgegner, der König zumindest pessimistisch: er erklärte, er werde im Falle einer Niederlage abdanken, und als sein Vorleser ihn um Aufnahme ins Hauptquartier bat, antwortete er: »Wozu? Sie werden doch von Potsdam nach Großbeeren hinüberreiten können?« Andere wieder sprachen von einem zweiten Dreißigjährigen Krieg. Diese haben am wenigsten recht behalten, denn er war von allen großen Kriegen, die wir kennen, der kürzeste: die entscheidenden militärischen Aktionen dauerten eine Woche, zwischen dem ersten preußisch-österreichischen Gefecht und dem Waffenstillstand lag genau ein Monat. In Österreich herrschte optimistische Stimmung. Mit dem landesüblichen kindischen Chauvinismus, der aber nicht wie der französische aus unbelehrbarem Dünkel, sondern aus ahnungsloser Frivolität stammt und daher nach einem Debakel sofort bereit ist, in Selbstverachtung überzugehen, gab man die Parole aus, die Preußen würden »mit nassen Fetzen« nach Hause gejagt werden. Zu dieser Zuversicht lag jedoch kein Anlaß vor. Der österreichische Soldat war tapfer, aber ohne jede Erudition, da alle, die eine Mittelschule absolviert hatten oder einen »Tausendguldenmann« stellen konnten, vom Militärdienst befreit waren, also so ziemlich der ganze Mittelstand. Das Offizierskorps bestand aus eingebildeten Aristokraten und eingedrillten Kadettenschülern, denen beiden es zumeist an tieferen Kenntnissen und geistigem Horizont fehlte. Im preußischen Heer hingegen war die Volksschulbildung allgemein und die Intelligenz der Chargen durchwegs höher, so daß die selbständige Befehlsgebung schon bei den Kompanieführern begann. Die österreichische Artillerie war, wenigstens was das Material anlangt, besser als die preußische, sie besaß fast lauter gezogene, diese noch zu zwei Fünfteln glatte Geschütze. Dafür hatten die Preußen das Zündnadelgewehr, mit dem man dreimal so schnell schießen konnte wie mit dem österreichischen Vorderlader. Infolgedessen legte Moltke das Hauptgewicht auf das Feuergefecht, während die Österreicher den schneidigen Bajonettangriff, den sie im italienischen Krieg den Franzosen abgelernt hatten, für das Wichtigste hielten; außerdem setzte er ihrer veralteten Stoßtaktik, die noch mit geschlossenen Abteilungen operierte, elastische umfassungsfähige Plänklerketten entgegen.
Deutschland wurde von Preußen als Nebenkriegsschauplatz behandelt. Zunächst mußten Hannover und Kurhessen besetzt werden, die sich als gefährliche Keile in preußisches Gebiet schoben, was der Westarmee binnen zwei Tagen gelang. Bald darauf zwang sie die gesamte hannoversche Streitmacht bei Langensalza zur Kapitulation, besiegte die Bayern und rückte in Frankfurt ein. Am 2. August kam es zum Waffenstillstand.
Den Italienern hatte Moltke folgenden Kriegsplan unterbreitet: Umgehung des Festungsvierecks und Marsch auf Wien; Landung in Dalmatien und Insurgierung Ungarns. Um aber diese glänzenden Operationen ausführen zu können, hätten sie über eine viel energischere und umsichtigere Leitung verfügen müssen. An der Spitze der österreichischen Südarmee stand der Erzherzog Albrecht, der Sohn des Erzherzogs Karl, des größten militärischen Talents, das das Habsburgergeschlecht hervorgebracht hat; sein Generalstabschef war die stärkste, ja vielleicht einzige strategische Kapazität der österreichischen Armee, der Freiherr von John. Von diesem stammte der Plan zur Schlacht bei Custozza, in der den Österreichern, obschon unter großen Verlusten, die Durchbrechung des feindlichen Zentrums gelang: ein entscheidender Sieg, der zur Hälfte der Kopflosigkeit des italienischen Oberkommandos zu verdanken war, das, obgleich über eine starke Übermacht verfügend, die Streitkräfte unklug teilte.
Auf dem Hauptkriegsschauplatz waren die Gegner ungefähr gleich stark: Preußen und Österreicher verfügten über je etwa eine Viertelmillion Mann. Aus mehreren Ursachen wurden die Österreicher aber von allem Anfang an in die Defensive und den Kampf auf eigenem Boden gedrängt: die Mobilisierung der Reservisten, die in alle Teile des Reichs disloziert waren, ging sehr schwerfällig vonstatten; dem preußischen Aufmarsch standen fünf Bahnlinien zur Verfügung, dem österreichischen nur die zwischen Wien und Prag, aber auch die Fußmärsche vollzogen sich auf den schlechtgepflegten Straßen unter erheblichen Verzögerungen; dazu kamen sehr bald Verpflegungsschwierigkeiten. Der Oberbefehlshaber der Nordarmee, Ludwig Freiherr von Benedek, als Sieger von San Martino sehr populär, aber bloß ein schneidiger Korpskommandant, kein Stratege und nur auf dem italienischen Terrain zu Hause, war eine typisch österreichische Fehlbesetzung. Er weigerte sich auch zunächst, den Oberbefehl zu übernehmen, indem er dem Kaiser rundheraus erklärte: in Oberitalien kenne er jeden Baum bis Mailand, aber in Böhmen wisse er nicht einmal, wo die Elbe fließe; er könne Violine spielen, aber nicht die Flöte blasen. Daraufhin appellierte der Generaladjutant Franz Josephs an Benedeks dynastische Gefühle, indem er ihm zu verstehen gab, daß die öffentliche Meinung ihn fordere und der Kaiser abdanken müsse, wenn das Heer unter einem anderen geschlagen würde. Zehn Tage nach der Schlacht von Königgrätz schrieb er an seine Gattin: »Habe wörtlich gesagt, daß ich für den deutschen Kriegsschauplatz ein Esel bin.« Da er als einfacher Troupier für seine Rolle kriegswissenschaftlich ungenügend vorgebildet war, war er genötigt, sich einen strategischen Beirat zu wählen, und hatte dabei das Unglück, auf einen noch viel größeren Esel zu verfallen, den General Krismani, den ihm der Erzherzog Albrecht empfohlen hatte. Es herrschte zwischen den beiden ein ähnliches Verhältnis wie zwischen Blücher und Gneisenau, nur mit dem Unterschied, daß Gneisenau ein Genie war. Krismani war ein Positionsstratege der vornapoleonischen Schule, der allen Ernstes glaubte, im Kriege komme es darauf an, die richtigen »Stellungen« einzunehmen. Er hatte die böhmischen Operationen Friedrichs des Großen genau studiert und war der Ansicht, daß man aus ihnen alle notwendigen Direktiven schöpfen könne, um zu siegen. Seine Methode hatte auf der Kriegsschule den Spitznamen »Wurststrategie«, weil auf seinen »Landesbeschreibungskarten« alle Positionen aus den friderizianischen Feldzügen in Wurstform eingezeichnet waren. Dieses System war echt österreichisch: in seiner reaktionären Anbetung der Vergangenheit, seinem von Karten hypnotisierten Bürokratismus und seiner Phantasielosigkeit, die an Wiederholbarkeit glaubt.
Moltke hingegen fand: »die Strategie ist die Anwendung des gesunden Menschenverstandes auf die Kriegsführung«; womit alles gesagt ist. Sein Prinzip: »getrennt marschieren, vereint schlagen« hatte den Sinn, die Operationsfreiheit so lange wie möglich zu sichern, wobei ihn die neuen technischen Behelfe, Eisenbahn und Telegraph, im raschen und überraschenden Umdisponieren unterstützten. Er bestimmte in richtiger Erkenntnis der militärischen Schwäche Deutschlands sechs Siebentel der preußischen Truppen gegen Österreich, die er von drei Seiten in Böhmen einmarschieren ließ, mit der Direktion auf Gitschin. Mit dem Gelingen dieses Planes war der Krieg eigentlich schon entschieden, denn dadurch wurden die Österreicher auf die innere Linie geworfen, die ihre Vorteile hat, aber nur, wenn sie über einen genügend großen Operationsraum verfügt und mit napoleonischer oder friderizianischer Verve und Geistesgegenwart ausgenützt wird. Im übrigen haben alle großen Dichter von Shakespeare bis Busch schon längst erkannt, daß Namen keine zufällige Äußerlichkeit, sondern ein geheimnisvolles Etikett des Schicksals sind: es ist nicht wahrscheinlich, daß ein Mann, der sich Moltke nennt, von einem besiegt wird, der Krismani heißt.
Der Krieg setzte für die Österreicher scheinbar verheißungsvoll ein: am 27. Juni besiegten sie ein preußisches Korps bei Trautenau, und die Niederlage, die sie an demselben Tage bei Nachod erlitten, wurde nach Wien als Sieg gemeldet. Während der beiden nächsten Tage aber wurden sie in den Gefechten bei Soor, Skalitz, Trautenau, Königinhof, Schweinschädel und Münchengrätz zurückgewiesen, schließlich von der ersten und dritten Armee, die bereits Fühlung gewonnen hatten, in der Schlacht bei Gitschin. Benedek telegraphierte an Franz Joseph: »Bitte Eure Majestät dringend, um jeden Preis Frieden zu schließen. Katastrophe der Armee unvermeidlich.« Der Kaiser antwortete: »Einen Frieden zu schließen unmöglich. Wenn Rückzug erforderlich, ist derselbe anzutreten. Hat eine Schlacht stattgefunden?« Das hieß, aus dem Habsburgischen übersetzt: das Prestige der Dynastie erfordert auf jeden Fall eine Entscheidungsschlacht.
Die Schlacht bei Königgrätz vom 3. Juli 1866, die noch mehr Massen ins Feld brachte als die Völkerschlacht bei Leipzig, war die größte des Jahrhunderts, zugleich, als die erste Probe auf die neue Moltkesche Methode, die gewaltigste Umfassungsschlacht, die die Geschichte bis dahin gesehen hatte. Moltke intendierte noch Größeres als er erreichte, nämlich eine vollständige »Mausefalle« wie bei Sedan, war aber teilweise in seinen Operationen gehemmt, da einerseits die Unterführer die Originalität und Kühnheit seiner Gedanken nicht ganz kapierten und sie deshalb nicht vollständig zur Ausführung brachten, andrerseits ihm keine absolute Befehlsgewalt zustand (er war bloß Chef des Generalstabs) und der König sich nicht entschließen konnte, den Krieg mit dem äußersten Nachdruck zu führen, teils aus Ritterlichkeit und Gewissensbedenken, teils wohl auch aus Altersbedächtigkeit und Befangenheit in den Vorstellungen einer früheren Generation; vor allem verzögerte er, da er um keinen Preis der Angreifer sein wollte, in sehr unvorteilhafter Weise die Mobilisierung: ein Vorgehen, das, aus seinem protestantischen Verantwortungsgefühl entsprossen, ihm, vom rein menschlichen Standpunkt betrachtet, zur höchsten Ehre gereicht.
Das Schlachtfeld erstreckte sich zwischen dem Dorf Sadowa und der Festung Königgrätz, die etwa drei Wegstunden voneinander entfernt waren; die letztere lag hinter der Elbe und war mit dem Gegenufer durch sechs Brücken verbunden, zu denen sechs neue geschlagen wurden: Benedek, der ohne Vertrauen in den Kampf ging, hatte diese Rückzugsmöglichkeit von vornherein ins Auge gefaßt. Die Truppen waren, wie bereits erwähnt, etwa gleich stark, doch kamen von den verfügbaren 230000 Preußen nur etwa 170000 ins Gefecht, so daß sie den Sieg tatsächlich gegen eine Übermacht errangen. Das Zentrum der Österreicher hatte hinter der Bistritz, einem Nebenflüßchen der Elbe, auf den Anhöhen von Chlum Aufstellung genommen, durch über fünfhundert Geschütze gedeckt; dahinter standen die Reserven. Bei den Preußen wurde das Zentrum, das dem österreichischen frontal gegenüberstand, von der ersten Armee gebildet, die vom Prinzen Friedrich Karl geführt war, der rechte Flügel von der dritten oder Elbarmee unter General Herwarth von Bittenfeld, der linke Flügel von der zweiten oder schlesischen Armee unter dem Kronprinzen, die aber in der Nacht zum 3. Juli noch etwa einen Tagesmarsch entfernt und am Morgen, als die Schlacht begann, erst im Anrücken war. Während die Elbarmee im Laufe des Vormittags gegen den linken Flügel des Feindes, der zum großen Teil aus Sachsen bestand, Vorteile errang, kam die erste Armee in harten Kämpfen bei Sadowa nicht vorwärts. Infolgedessen lag die Situation um die Mittagsstunde für Benedek scheinbar günstig, und er erwog, ob er nicht einen Offensivstoß ins preußische Zentrum führen solle. Dies hätte die vollständige Vernichtung der Österreicher bedeutet, denn ihre Präponderanz beruhte lediglich auf ihrer starken Stellung; hätten sie sich aus ihr herausgewagt, so wären auf dem ebenen Terrain alle Momente der preußischen Überlegenheit in Wirksamkeit getreten: das Zündnadelgewehr, die Tirailleurtaktik und die strategische Einkreisung. Er gab jedoch den Plan auf, da er, zwei Stunden früher als das preußische Hauptquartier, die Nachricht erhielt, daß sich die Kronprinzenarmee bereits in unmittelbarer Nähe befinde. Deren Vormarsch, auf regendurchweichtem Erdreich eine bewundernswerte Truppenleistung, brachte die Entscheidung. Als sie um zwei Uhr nachmittags eintraf, überrannte sie den rechten österreichischen Flügel, drang ins Zentrum und eroberte das Dorf Chlum, den Schlüssel der gesamten österreichischen Position. Ein Gegenangriff, den Benedek mit seinen Reserven unternahm, scheiterte; die gleichzeitige Niederlage des linken Flügels zwang auch diesen zum Rückzug. Die Truppen waren bereits im Rücken bedroht und wandten sich in wilder Auflösung zur Flucht, von den Preußen trotz Vorrats an starken Reserven ungenügend verfolgt. Die Gründe hierfür lagen in der Leistungsfähigkeit der österreichischen Artillerie, mehr noch in der mangelnden Siegesgewohnheit der preußischen Offiziere, die die Größe des Erfolges unterschätzten, möglicherweise hat auch hier die Noblesse des Königs mitgespielt.
Die Katastrophe von Königgrätz war für ganz Europa eine große Überraschung. Der Staatssekretär der Kurie, Kardinal Antonelli, rief beim Eintreffen der Nachricht: » il mondo cassa; die Welt geht unter!«; die »Times« gaben in völliger Verkennung der Sachlage die Parole aus: » needle gun is king; Zündnadel ist Trumpf!«; Napoleon meldete sogleich bei Preußen seine »Trinkgeldforderungen« an. Am klarsten erkannte der Wiener Volkswitz die Gründe der Niederlage in dem Vers: »Die Freiwilligen haben kein' Knopf, die Generäle haben kein' Kopf, die Minister haben kein Hirn, so müssen wir alles verliern.« Als Franz Joseph durch die Mariahilferstraße nach Schönbrunn fuhr, rief die Menge: »Es lebe Kaiser Maximilian!« Es ist merkwürdig, daß sich bei den Habsburgern die Popularität fast immer an die jüngeren Brüder geheftet hat. Dies begann schon bei Philipp dem Zweiten, dessen Halbbruder Don Juan d'Austria der Held des Zeitalters war. Auch Leopold von Toskana, der spätere Leopold der Zweite, war viel beliebter als der angeblich so verehrte Kaiser Joseph, und der Erzherzog Karl, der Bruder des Kaisers Franz, war der Abgott der Armee. Auch Maximilian von Mexiko ist bis zum heutigen Tage von einer gewissen Romantik umwittert geblieben, die Franz Werfel in einem sehr interessanten Stück aufgefangen hat.
Die zersprengte österreichische Nordarmee wurde in Olmütz einigermaßen retabliert, ein großer Teil der siegreichen Südarmee wurde zum Schutz Wiens aus Italien abberufen, Erzherzog Albrecht übernahm den Oberbefehl über sämtliche Truppen. Die nunmehr nachdrängenden Preußen besetzten Prag und Brünn und schlugen Benedek bei Tobitschau in Mähren, wodurch er gezwungen wurde, die Marchlinie aufzugeben und nach Ungarn auszuweichen. Ein Treffen bei Blumenau unweit Preßburg am 22.Juli, durch das die Preußen den Donauübergang erzwingen wollten, begann sich bereits zu ihren Gunsten zu entscheiden, als um zwölf Uhr mittags eine fünftägige Waffenruhe verkündet wurde, die nach ihrem Ablauf zum Waffenstillstand erweitert wurde. Zwei Tage vorher war den Österreichern bei der Insel Lissa noch ein großer und unerwarteter Seesieg gelungen. Die italienische Flotte war der gegnerischen an Ausrüstung weit überlegen: sie besaß nicht nur mehr, sondern auch mehr gepanzerte Schiffe und außerdem Geschütze von größerem Kaliber und modernerer Konstruktion. Der ausgezeichnete österreichische Admiral Tegetthoff, ein gebürtiger Westfale, machte jedoch diesen Nachteil dadurch wett, daß er mit erstaunlicher Geschicklichkeit und Kühnheit das vernichtende feindliche Feuer unterlief und durch virtuoses Manövrieren seinen Fahrzeugen den Rammstoß sicherte, wodurch von den italienischen Großkampfschiffen zwei versenkt und zwei kampfunfähig gemacht wurden. Er selbst bohrte mit seinem Admiralsdampfer den feindlichen in den Grund. Zur Belohnung für diesen Sieg, der sich in der jüngeren Geschichte nur mit den Taten Nelsons vergleichen läßt, wurde er kaltgestellt, nach seinem frühen Tode allerdings durch ein Denkmal von sensationeller Abscheulichkeit geehrt. Die Schlacht wurde mit Hilfe zahlreicher venetianischer Matrosen gewonnen, die damals (da Österreich am 4. Juli, einen Tag nach Königgrätz, Venedig offiziell an Napoleon abgetreten hatte) bereits italienische Untertanen waren. Hier ist eine jener Stellen, wo durch das wirre Gewölk des Krieges helleuchtend der Blitz des Wahnsinns schlägt und erkennen läßt, daß der Kampf der Menschen im Grunde barbarischer Selbstzweck ist: ein herrlicher Seesieg, erfochten mit den Soldaten des Feindes, der bereits besitzt, worum von beiden Teilen gekämpft wird.
Die erhebliche Schwächung der Landfront gegen Italien ermöglichte es Garibaldi, in Südtirol mit seinen Freischaren einzubrechen, die zwar zurückgeworfen wurden, aber gleichwohl eine dauernde Bedrohung Trients bildeten. Die Truppen Benedeks hatten sich um Preßburg mit der inzwischen eingetroffenen Armee Erzherzog Albrechts vereinigt, aber diese immerhin ansehnliche Streitmacht war der preußischen aller Voraussicht nach nicht gewachsen. Zudem trug Bismarck kein Bedenken, durch General Klapka aus ungarischen Kriegsgefangenen eine Legion bilden zu lassen, die zur Insurgierung Ungarns bestimmt war. Die einzige Hoffnung war ein energisches Eingreifen Napoleons. Dieser trat denn auch alsbald hervor, aber kurzsichtigerweise nicht, um Österreich zu decken, sondern um sich bei der voraussichtlichen Aufteilung Deutschlands einige Stücke zu sichern: er verlangte, aber ohne Nachdruck, in unpräzisen Andeutungen und von Tag zu Tag in anderem Ausmaß, Kompensationen in Westdeutschland: Mainz, die Pfalz, Saarlouis, Saarbrücken. Ihm schwebte dabei als Modell seine italienische Politik von 1859 vor, wo er für seine Zustimmung zur Einigung Nizza und Savoyen einkassiert hatte. Bismarck verstand es, auf seine »dilatorische« Methode ihn so lange hinzuhalten, bis die Friedenspräliminarien zu Nikolsburg unterzeichnet waren. An eine Einwilligung zur Annexion deutscher Gebiete war natürlich für Preußen nicht zu denken: es hätte dadurch alles Vertrauen in Deutschland eingebüßt. Aber noch Jahre nachher sagte Bismarck, Napoleon habe einen schweren Fehler begangen, als er während des böhmischen Krieges versäumte, Belgien als Pfand zu besetzen. Übrigens war Frankreich damals keineswegs in der Lage, Preußen mit Aussicht auf Erfolg entgegenzutreten. Es konnte, durch das mexikanische Abenteuer geschwächt, am Rhein nicht einmal eine ebenso starke Armee aufstellen wie 1859 in Italien, und selbst dies hätte Wochen in Anspruch genommen. Das preußische Heer hingegen war mobil und ergänzte sich täglich durch neue bedeutende Aushebungen. Moltke hatte denn auch dezidiert erklärt, daß er sich einem Dreifrontenkrieg gewachsen fühle.
Gleichwohl sprach vieles für einen möglichst baldigen Friedensschluß. Jeder Tag steigerte die Gefahr einer Einmischung der Neutralen, nicht bloß Frankreichs. Zar Alexander redete bereits von einem Kongreß. Die Cholera griff im preußischen Heer bedenklich um sich und mit Italien war nach den Niederlagen und der Abtretung Venedigs nicht mehr lange zu rechnen. Wie weit Österreich, wenn man es zu einem Verzweiflungskampf trieb, sich aufraffen würde, war nicht abzuschätzen: es hatte in den napoleonischen Kriegen mehr als einmal bewiesen, daß es gerade als geschlagener Gegner gefährlich war. Selbst Moltke schrieb an seine Gattin: »Ich bin sehr dafür, die erreichten Erfolge nicht aufs Spiel zu setzen, wenn das irgend vermieden werden kann.«
Die Hauptsache aber war, daß die immerhin denkbare Zertrümmerung Österreichs gar nicht im preußischen Interesse lag. Es ist allbekannt, mit welcher Zähigkeit und Umsicht Bismarck für den Hauptgegner die denkbar glimpflichsten Bedingungen durchsetzte. Die Wünsche des Königs gingen auf Ansbach und Bayreuth, die alten Stammsitze der Hohenzollern, die von Napoleon dem Ersten zu Bayern geschlagen worden waren, das österreichische Schlesien und den deutschen Nordwestrand Böhmens mit Eger, Karlsbad, Teplitz, Reichenberg, ferner auf Annexion ganz Sachsens, der sich Franz Joseph als Gentleman ebenso nachdrücklich widersetzte wie der Abtretung eigenen Gebiets. Seine Zustimmung zu den Vorschlägen Bismarcks gab der König schließlich in einem Bleistiftmarginale mit den bitteren Worten: »Nachdem mein Ministerpräsident mich vor dem Feinde im Stiche läßt und ich hier außerstande bin, ihn zu ersetzen ... sehe ich mich zu meinem Schmerze gezwungen, nach so glänzenden Siegen der Armee in diesen sauern Apfel zu beißen und einen so schmachvollen Frieden anzunehmen.« In diesem erkannte Österreich die Auflösung des Deutschen Bundes an, gab seine Zustimmung zu einer Neugestaltung Deutschlands, trat seine Rechte auf Schleswig-Holstein an Preußen ab und willigte in die Annexion Hannovers, Kurhessens, Nassaus und Frankfurts. Das auf diese Weise um etwa ein Viertel vergrößerte Preußen trat an die Spitze des Norddeutschen Bundes, dem Sachsen, Mecklenburg, Oldenburg, Braunschweig, Oberhessen, die thüringischen und alle übrigen nördlich des Mains gelegenen Staaten beitraten.
Die größten Vorteile aus der österreichischen Niederlage zog Ungarn. 1867 schloß Franz Deák mit dem Ministerpräsidenten Beust den »Ausgleich«, auf Grund dessen die »österreichisch-ungarische Monarchie« konstituiert wurde. Franz Joseph hieß von nun an Kaiser von Österreich und »Apostolischer König von Ungarn«; dieses erhielt ein eigenes Parlament und Ministerium, gemeinsam waren von nun an nur noch: auswärtige Politik, Heer, Staatsschuld, Münz- und Zollwesen. Die Krönung des Königspaares fand in Ofen statt; unter bunten und barbarischen Zeremonien. Die Ungarn, bisher so lange unterdrückt, machten es nun mit den Minoritäten ihrer Reichshälfte: den Deutschen, Rumänen, Slowaken, Serben, Kroaten ebenso, indem sie sie gewaltsam zu magyarisieren suchten. Hingegen wurden die konfessionellen Minderheiten: Protestanten, Griechen, Juden loyal behandelt. Das Land, einer der reichsten Getreidespeicher Europas, nahm alsbald einen bedeutenden wirtschaftlichen Aufschwung, während es sozial und kulturell sich nicht merklich weiterentwickelte: der Großgrundbesitz erdrückte den Bauernstand und noch um die Jahrhundertwende war jeder zweite Ungar ein Analphabet. Die Hauptstadt Budapest stieg zu blendendem, obschon schwindelhaftem und basarmäßigem Glanz empor. Auch den zisleithanischen Ländern wurde eine Verfassung gewährt und an die Spitze der Regierung trat ein »Bürgerministerium«. Diese Entwicklung charakterisierte Bismarck im Preußischen Landtag mit den schneidend klaren Worten: »Österreich ist durch eine langjährige Zurückhaltung in die Lage gebracht worden, heute mit demjenigen Liberalismus Epoche zu machen, der bei uns in der Hauptsache schon seit zwanzig Jahren, in vielen seiner Teile bereits seit fünfzig Jahren zu einem überwundenen Standpunkte gehört.«
Derselbe Bismarck sagte im Jahr 1867 zu Karl Schurz: »Jetzt ist die Reihe an Frankreich. ... Ja, wir werden Krieg bekommen und der Kaiser der Franzosen wird ihn selbst anfangen. Ich weiß, daß Napoleon der Dritte persönlich friedliebend ist und uns nicht aus eigenem Antriebe angreifen wird. Aber er wird dazu durch die Notwendigkeit, das kaiserliche Prestige aufrechtzuerhalten, gezwungen werden. Unsere Siege haben es in den Augen der Franzosen sehr herabgesetzt. Er weiß das, und er weiß auch, daß das Kaiserreich verloren ist, wenn es sein Prestige nicht schnell zurückgewinnt. Unserer Berechnung nach wird der Krieg in zwei Jahren ausbrechen. Wir müssen uns darauf vorbereiten und das tun wir auch. Wir werden siegen und das Ergebnis wird gerade das Gegenteil von dem sein, was Napoleon anstrebt. Deutschland wird seine Einigung vollziehen, außerhalb Österreichs, und er selbst wird am Boden liegen.« Genau so traf es ein. Gleich nach Beendigung des Krieges erhob sich das Geschrei: » revanche pour Sadowa!«, womit die Franzosen Königgrätz bezeichneten, offenbar, weil sie diesen Namen nicht aussprechen können. Napoleon erkannte, daß er die Situation nicht ausgenützt hatte, andrerseits aber der lärmenden öffentlichen Meinung etwas geboten werden müsse, und trat nun, nachdem Belgien verpaßt war, mit der um vieles bescheideneren Forderung nach Einverleibung Luxemburgs hervor. Es gelang ihm tatsächlich, vom König der Niederlande einen Verkaufsvertrag zu erreichen; dem aber trat Bismarck entgegen, und die 1867 nach London berufene Konferenz der Großmächte, denen nunmehr auch Italien zugerechnet wurde, bestimmte, daß Luxemburg fortan ein selbständiges Großherzogtum sein solle, dessen Neutralität von ihnen gemeinsam gewährleistet wurde. Dieser diplomatische Erfolg Preußens rückte den Krieg bereits in sehr bedrohliche Nähe. Indes war Napoleon sich über das Risiko eines Zweikampfs vollkommen klar: »Wir können«, sagte er, »einem Kriege nur entgegensehen, wenn wir die Hände voller Bündnisse haben.« Von 1868 bis 1870 wurden darüber Verhandlungen gepflogen. Erzherzog Albrecht erschien in Paris und führte Pourparlers über eine Militärkonvention. Wiederum wurde Frankreich für den Fall, daß Österreich Schlesien und die Hegemonie über Süddeutschland gewinnen sollte, das linke Rheinufer angeboten. Auch Italien wurde sehr umworben: Österreich versprach ihm Südtirol und die Isonzogrenze, Frankreich Nizza und Tunis, wozu es noch freigebig den schweizerischen Tessin fügte. Doch war das Haupthindernis einer Tripelallianz Rom, das sowohl Österreich wie Frankreich in den Händen des Papstes zu lassen wünschten. Auch in Süddeutschland bestanden Sympathien für Frankreich, aus »Rheinbundserinnerungen«, wie Bismarck sagt, und mehr noch Antipathien gegen Preußen, in Württemberg aus demokratischen, in Bayern aus klerikalen Tendenzen. Andrerseits hatte es aber Bismarck verstanden, durch Verlautbarung der annexionistischen Pläne Napoleons gegen ihn auch im Süden Stimmung zu machen, und bereits im August 1866 mit Baden, Bayern und Württemberg Schutz- und Trutzbündnisse geschlossen, die er 1867 veröffentlichen ließ; zweifellos in pazifistischer Absicht. Immerhin rüstete man in Österreich und spielte mit dem Gedanken eines Bündnisses, in das Italien sich vielleicht doch noch hätte hineinreißen lassen, Dänemark unter allen Umständen eingetreten wäre. Diese Möglichkeiten gewannen mit jedem Jahr, das Österreich zu seiner Regeneration zur Verfügung stand, an Wahrscheinlichkeit. Hingegen war es mehr als unwahrscheinlich, daß Rußland, Preußen wohlwollend und verpflichtet, Österreich und Frankreich seit langem feindlich, einer Aufteilung Mitteleuropas unter diese beiden ruhig zusehen werde. Wenn Bismarck daher durch sein keineswegs herausforderndes, aber festes Auftreten den Ausbruch des Kampfes nicht hinausgeschoben hat, so hat er damit nur einen vollkommen unvermeidlichen Krieg lokalisiert und eine allgemeine europäische Konflagration vermieden.
Während bei den meisten großen Kriegen die Schuldfrage einen ewigen Streitpunkt bildet, läßt sie sich bei diesem von jedem unvoreingenommenen Beurteiler ganz unzweideutig beantworten. 1868 war die Königin von Spanien durch einen Aufstand vertrieben worden. Die Cortes beschlossen, dem Erbprinzen Leopold von Hohenzollern-Sigmaringen die Krone anzubieten. Dieser war katholisch, väterlicherseits der Enkel einer Murat, mütterlicherseits der Enkel der Stephanie Beauharnais, der Adoptivtochter Napoleons des Ersten. Außerdem war die Berufung seines Bruders auf den rumänischen Thron von Napoleon nicht nur geduldet, sondern sogar protegiert worden. Die Kandidatur hatte also gar nichts Verfängliches. Bismarck befürwortete die Annahme, weil er sich von ihr für Deutschland handelspolitische und diplomatische Vorteile versprach, indem er fand, daß diese Konstellation »eine spanische Fliege im Nacken Napoleons« bedeute. Es läßt sich aber auch die Vermutung nicht von der Hand weisen, daß er in dieser Verwicklung eine willkommene Gelegenheit erblickte, den Krieg zu einem günstigen Zeitpunkt und aus einer Ursache herbeizuführen, die Frankreich als Friedensbrecher erscheinen ließ. In der Tat verursachte die »spanische Bombe« in Paris ein ungeheures Getöse. Der Minister des Äußern, der Herzog von Gramont, ein typischer Diplomat: selbstgefällig, uninformiert, phrasengebläht, kurz, wie Bismarck einfacher sagte, ein Rindvieh, erklärte im Gesetzgebenden Körper, Frankreich könne nicht dulden, daß durch die Erhebung eines Hohenzollern auf den Thron Karls des Fünften das Gleichgewicht in Europa gestört und die Ehre Frankreichs gefährdet werde; »andernfalls«, schloß er, »werden wir unsere Pflicht zu erfüllen wissen, ohne Zögern und ohne Schwäche«. Thiers, der während dieser Worte den Sitzungssaal betrat, rief entsetzt: »mais c'est une folie!«, aber sein Protest wurde von enthusiastischem Beifall verschlungen. Am 9. Juli stellte der französische Botschafter Benedetti an König Wilhelm in Bad Ems das Verlangen, »dem Prinzen von Hohenzollern die Annahme der spanischen Krone zu verbieten«. Der König antwortete, er könne seine Autorität nicht einsetzen, um ihn zum Widerruf seines Wortes zu bestimmen, werde ihn aber andrerseits auch nicht davon zurückhalten; falls er dazu geneigt wäre, werde er diesen Entschluß nur billigen. Über diese ruhige Haltung des Königs, an der Preußen nicht zu fassen war, herrschte große Wut in den Pariser Blättern. Es wurde die Parole ausgegeben: »La Prusse cane; Preußen kneift.« Der »Pays« schrieb: »Das kaudinische Joch ist bereit, die Preußen werden sich darunter beugen ... hätte Preußen zu uns gesprochen, wie wir zu ihm, so wären wir schon lange unterwegs«, und die »Liberté« erklärte: »Wird Preußen sich weigern, sich zu schlagen? Nun, dann werden wir es durch Kolbenstöße in den Rücken zwingen, über den Rhein zu fliehen und uns das linke Ufer zu räumen.« Bismarck war mit diesem Geschrei sehr zufrieden: »Worauf es mir ankommt«, sagte er zu Lothar Bucher, »ist, daß wir die Geforderten sind: ich habe darauf schon als Student immer einen besonderen Wert gelegt.« Am 12. Juli sprach jedoch der Fürst Anton von Hohenzollern im Namen seines Sohnes, der in hohem moralischen Verantwortungsgefühl nicht »Deutschland in einen Krieg zu stürzen und gleichzeitig Spanien einen blutigen Kampf als Mitgift zu bringen« wünschte, den Verzicht auf die spanische Krone aus. Der König schrieb an seine Gemahlin: »mir ist ein Stein vom Herzen gefallen«, und der französische Ministerpräsident sagte: »c'est la paix«. Derselben Ansicht war auch Napoleon, aber er fügte hinzu: »ich bedaure es, denn die Gelegenheit war günstig.«
Nun aber begann sich Frankreich in ein Irrenhaus zu verwandeln. Das Publikum, das Parlament, die Presse, die Hofclique: alle fühlten sich noch nicht »satisfait«. Gramont telegraphierte an Benedetti: »Damit diese Verzichtleistung ihre volle Wirkung tue, scheint es mir notwendig, daß der König von Preußen sich ihr anschließt und uns die Zusicherung gibt, daß er nie wieder diese Kandidatur zulassen werde.« Ungemein rührend ist das Verhalten des Königs gegenüber dieser Unverschämtheit. Als Benedetti ihm am 13. Juli auf der Kurpromenade das Ansinnen übermittelte, suchte er ihm, obgleich innerlich empört, in durchaus freundlichem und fast bittendem Tone klarzumachen, daß er eine Unmöglichkeit verlange. Den Hergang dieses Gesprächs schilderte er Bismarck in Kürze in der berühmten Emser Depesche, indem er ihm anheimstellte, sie zu publizieren. Nur ein verbohrter Parteigegner oder ein unheilbarer französischer Chauvinist kann behaupten, daß Bismarck sie gefälscht und in eine Herausforderung verwandelt hat. Er hat sie sogar gemildert, indem er den abfälligen Einleitungssatz: »Graf Benedetti fing mich auf der Promenade ab, um auf zuletzt sehr zudringliche Art von mir zu verlangen« wegließ, aus »Zumutung« »Forderung« machte und den Schluß: »daß Seine Majestät dem Botschafter nichts weiter zu sagen habe«, was wie ein Hinauswurf klingt, durch das neutralere: »nichts weiter mitzuteilen habe« ersetzte. Er hat sie allerdings um fast ein Drittel gekürzt, zwar ohne irgend etwas von Belang wegzulassen, ihr aber doch dadurch eine schärfere, konzentriertere, epigrammatischere Form gegeben: er hat sie sozusagen dramatisiert. Und obgleich sie an sich nichts Provokantes enthielt, so mußte sie doch auf die französische Psyche so wirken, was Bismarck ganz genau wußte und auch zugab, als er sagte, sie werde »den Eindruck des roten Tuches auf den gallischen Stier machen«. Die Formulierung war nichts als eine verkürzende Redaktion, wie sie im diplomatischen und journalistischen Leben täglich vorkommt; daß er aber die Depesche überhaupt veröffentlichte, hat zum Krieg geführt.
In der entscheidenden Sitzung des Gesetzgebenden Körpers vom 15. Juli, die fast einstimmig die Mobilmachung beschloß, war man über den genauen Wortlaut der Emser Depesche noch gar nicht unterrichtet. Die wenigen Deputierten, die ihre Vorlegung abwarten wollten, wurden »traîtres« und »Prussiens« genannt. Noch schlimmer war ein zweiter Punkt. Der König hatte nämlich mit Benedetti noch nach dessen Abweisung in dem reservierten Salon des Emser Bahnhofs eine Unterredung gehabt, woraus hervorging, daß er die Verhandlungen nicht für unwiderruflich abgebrochen ansah. Dies wußte Gramont und verschwieg es geflissentlich. Frankreich wollte den Krieg und ließ sich daher leicht einreden, daß Preußen ihn wolle. In ganz Preußen wollte ihn aber niemand außer Bismarck, und auch dieser nur in einer Form, die Frankreich ins Unrecht setzte. Und wäre Frankreich nicht Frankreich gewesen, so hätte er ihn in gar keiner Form gewollt. Dies ist die scheinbar verwickelte, im Grunde aber höchst einfache Wahrheit.
Die Ursache des Krieges, sagte der englische Gesandte, ist die Volksstimmung. Die Kammer, schrieb ein französischer Journalist, gleicht einer Leydener Flasche. Die Kreise des Handels, der Industrie, der Finanz waren, wie zumeist in Frankreich, gegen den Krieg, ebenso das politisch desinteressierte flache Land. Die Kaiserin hielt ihn für notwendig, um ihrem zärtlich geliebten Sohn den Thron zu sichern, und stellte sich ihn als einen militärischen Spaziergang von wenigen Wochen nach der Analogie von Solferino vor. Der Kaiser war, wie immer, schwankend: einerseits erkannte er die Gefahr, andrerseits machte er sich optimistische Vorstellungen von der Haltung Österreichs und Süddeutschlands. Die militärischen Zirkel brannten darauf, das Chassepotgewehr und die Mitrailleuse zu bewähren. Die Salons schnupperten nach Sensation. Die Presse brannte ihre erprobten Feuerwerkskörper ab. Echt französisch mischte sich in das Gewölk aus Größenwahn, Gedankenlosigkeit und Ressentiment die erotische Phantastik: der »Gaulois« versprach, die Turkos würden Wagen voller Frauen nach Frankreich bringen. »Interessant« war der Krieg aber nur in Paris. Frankreich war wieder einmal die Marionette seiner Zentralisation, das Opfer der »ville tentaculaire«.
Und von der Madeleine bis zum Bastilleplatz erklirrte der Ruf: »à Berlin! à Berlin!«