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Man wird wohl sagen dürfen, daß das letzte Menschenalter von einem so vollkommenen Skeptizismus erfüllt war, wie er vielleicht noch niemals vorher erblickt worden ist. Frühere Zeiten lehrten die Skepsis, diese Menschen aber lebten sie. Zweifel an jeglicher Realität war das geheime Vorzeichen, das alle ihre Handlungen begleitete. Solange man noch über Sein oder Nichtsein philosophiert, ist es nicht schlimm. Diese aber hatten bereits aufgehört, zu philosophieren; und das war das Gefährliche. Ein neuer Menschentypus war höchst bedrohlich in die Erscheinung getreten: der »Skeptiker des Lebens«.
Aber indem wir immer tiefer in die dunkeln Kammern des Schicksals eindrangen, ereignete sich plötzlich etwas Sonderbares: unser Auge, an die Dunkelheit gewöhnt, empfand einen schwachen Lichtschimmer, der von der entgegengesetzten Richtung herkam und uns anzeigte, daß auch in den Gegenden, die wir betreten hatten, nicht völlige Finsternis herrschte. Die Dinge hatten wir abgetan, aber nun erschien es uns auf einmal, als sei noch irgendein Licht hinter den Dingen, ein Licht, das wir niemals erblicken werden, das sich uns aber doch als vorhanden ankündigt. So entstand eine neue Gewißheit, die unklarer ist als die früheren, aber dafür um so sicherer; unaussprechlich, aber darum auch nicht mit Worten widerlegbar; unfaßbarer als jede andere, aber eben deshalb um so unantastbarer. Der Zweifel wurde zur Wurzel einer neuen sublimierten Gewißheit.
Jeder Skeptizismus muß in einen neuen Dogmatismus münden. Dies ist seine innere Legitimation, seine natürliche Aufgabe, sein einziger Sinn. Nihilismus ist bisweilen wohltätig und notwendig, doch nur als Vorstufe zu einer neuen, höheren Ordnung. Aus dem Chaos der Völkerwanderung erstand die wunderbare Stufenordnung der mittelalterlichen Gotteswelt. Aus dem Irrsinn der französischen Revolution entstand der napoleonische Imperialismus. Aus den Torheiten des Jahres Achtundvierzig wurde die deutsche Einheit geboren. Aus der moralischen Anarchie des Römerreichs erhob sich das Christentum. Ein ähnlicher Vorgang vollzieht sich auch heute. Atheismus ist endgültig unmöglich geworden, Glaube, Verehrung, Bejahung zieht wieder in die Welt ein. Aber wir werden die Atheisten nicht mehr verbrennen, nicht mehr mit Gesetzen verfolgen, nicht einmal mehr beschimpfen. Wir werden sie nur noch lächerlich finden.
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Der ungeheure Riß, der durch das Christentum jeglicher Observanz geht und den zu verkleistern mehr als fünfzig Menschengenerationen vergeblich ihren Scharfsinn, ihr Wissen und ihren Glauben aufgeboten haben, besteht darin, daß man einen rein national gedachten, nur den Interessen seiner Landsleute zugewandten, nachträgerischen, jede Konkurrenz unversöhnlich verfolgenden Judengott mit Gott zu identifizieren versuchte. Etwas Ähnliches hatten ja auch schon die Stoiker unternommen, indem sie behaupteten, Gott sei nichts anderes als der vergeistigte Zeus. Das eine ist ebenso blasphemisch wie das andere. Ganz folgerichtig erklärten denn auch die Marcioniten (die klarsten und schärfsten Denker unter den frühen Christen), es existierten zwei Gottheiten: nämlich der »Demiurg«, der die Welt geschaffen habe (unter »Welt« verstanden sie »Juden« und erklärten daher den Weltschöpfer für etwas Bösartiges), und der »höchste Gott«, der zur Erlösung von der Welt seinen Sohn gesandt habe. Sie empfanden ganz richtig, daß, wenn man sich schon nicht entschließen könne, den Judengott ganz zu leugnen wie irgend einen anderen Volksgott, die einzige logische Möglichkeit in der Annahme der Zweigötterei bestehe, einer Art Dualismus nach persischem Vorbild, wobei der Judengott natürlich den Geist der Finsternis vertritt. Da aber eine solche Auslegung nichts ist als ein maskierter Rückfall ins Heidentum, so konnte die Kirche sie natürlich nicht akzeptieren. Man griff daher immer wieder zu Ausgleichen und Kompromissen, die von vornherein aussichtslos bleiben mußten und in die christliche Dogmatik ein Element der Zweideutigkeit, Unsicherheit und Rabulistik gebracht haben. Die Marcioniten (und andere) hatten übrigens auch vorgeschlagen, das Alte Testament einfach hinauszuwerfen, aber auch damit drangen sie nicht durch: Jehovah, auch darin ein echter Jude, ließ sich nicht hinauswerfen, und so ist bis zum heutigen Tage die reinste Religionslehre, die jemals in die Welt getreten ist und jemals in die Welt treten wird, verdorben und verwirrt durch das Gespenst eines rabiaten alten Beduinenhäuptlings und das manische Geschrei seiner Geschäftsträger, der Propheten.
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Das Zentralproblem des Christentums, dem es seine Entstehung verdankt, das seine gesamte geschichtliche Entwicklung und alle Kämpfe der Sekten beherrscht hat und aus dem es immer wieder neue Nahrung und Lebenskraft ziehen wird, ist die ungeheure Frage: Wie kommt es, daß der Mensch einerseits ein ganz unleugbar böses Geschöpf ist und andrerseits doch nicht böse sein will? Warum trifft er keine klare Wahl zwischen den beiden Möglichkeiten, die ihm gegeben sind? Kurz gesagt: warum tut er das Böse mit bösem Gewissen? Er ist weder Tier noch Engel. Das Tier unternimmt ohne moralische Skrupel alles, was ihm und seiner Nachkommenschaft nützt. Der Engel besitzt Gewissen und handelt danach. Der Mensch tut weder das eine noch das andere. Er lebt weder »gottgefällig« noch »natürlich«. Durch dieses monströse Dilemma wird er zum grotesken Unikum, zum Absurdissimum in der gesamten Schöpfung. Er ist eine grandiose Mißgeburt, ein wandelnder Fragebogen. Wenn er gut ist, warum tut er das Böse? Wenn er böse ist, warum liebt er das Gute? Diese beiden beängstigenden Fragen stellt jedes Menschenschicksal von neuem.
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Religion ist wie alles Edle, Reine und Tiefe niemals eine Sache der Gemeinsamkeit und Gemeinschaft. Religion ist eine aristokratische Angelegenheit. Man kann in Massen Steine klopfen und im Varieté sitzen, man kann in Massen fressen und saufen, politisieren und Menschen umbringen, aber man kann nicht in Massen Gott verehren, so wenig wie man in Massen lieben kann. Der unsinnige Glaube, daß alle menschlichen Lebensäußerungen gemeinsam verrichtet werden können, ja sollen, hat in unserer heutigen Kultur seinen Gipfelpunkt erreicht, wir betreiben alles in Rotten, Riegen, Kompagnien: Kunst, Wissenschaft, Naturgenuß, Religion. Das ganze Leben soll nichts sein als ein dankbares Objekt für Formen, Formeln, Paragraphen, Reglements. Der Wille unserer Zeit, der aus der ganzen Menschheit eine Fabrik, eine Kaserne, ein Riesenhotel, einen Trust, eine Korrektionsanstalt machen will, verbindet folgerichtig das Massentreiben mit der Uniformierungstendenz. Dies endet schließlich allemal im Jakobinertum. Kultus eines abstrakten und leeren »être suprême«, alles andere ist dann »suspekt«, heimliches Aristokratenwesen. Der große Rückschlag gegen alle diese Dinge muß von der Religion ausgehen, von einem neuen Verhältnis zu Gott, wie alles von Gott her seinen Anfang nehmen muß.
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Gewiß, die Lehre Jesu, seine Gottessohnschaft, ja sogar seine Existenz: dies alles ist bis zu einem gewissen Grade eine Sache des Glaubens. Aber alles ist eine Sache des Glaubens. Wer absolut will, kann alles bezweifeln. Die ganze Welt, mein eigenes Ich ist auch nur ein Glaube. Und es hat ja in der Tat Menschen gegeben, die das Ich, die überhaupt alles Wirkliche leugneten. Zu allem brauchen wir Glauben, zu jeder einfachsten Betätigung. Von diesem Glauben leben wir. Das war ja eben die ewige Tat, die Jesus vollbracht hat, daß er einer Menschheit, die bereits gelernt hatte, an allem zu zweifeln, zurief: Zweifelt nicht! Diese Welt ist und sie ist ein Werk Gottes. Alles ist, auch das Geringste und Niedrigste: die Ärmsten und Einfältigsten, die Kinder, die Sünder, die Lilien und Sperlinge, alles dies ist, wenn ihr daran glaubt, wenn ihr es liebt. Diese beiden größten, ja einzigen Realitäten: Gott im Himmel und die Liebe auf der Erde hat er neu bekräftigt.
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Ich schrieb einmal folgendes: »Der Mensch ist ein ewiger Gottsucher. Was man auch sonst von ihm aussagen wollte, wäre sekundär. Denn aus dieser einen Quelle strömt alles, was er tut und unterläßt.« Der Setzer aber druckte: »Der Mensch ist ein ewiger Goldsucher.« Dieser Druckfehler war wirklich und wahrhaftig vom Teufel, und zwar von jenem Teufel, der nicht bloß das Gedruckte regiert, sondern auch das Geschriebene, und nicht bloß das Geschriebene, sondern auch die Gehirne derer, die es schreiben, und nicht bloß die Gehirne, sondern auch die Seelen, und nicht bloß die Seelen, sondern die ganze Welt. Kurzum: das Tragische dieses Druckfehlers bestand darin, daß er keiner war.
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Es gibt flache Egoisten und tiefe Egoisten. Die letzteren nennt man Altruisten.
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Man kann auch als Immoralist noch immer ein Philister sein. Jeder Mensch, der von der Ansicht ausgeht, daß die Gesetze, die für ihn gut sind, auch für andere gelten müssen, ist ein Philister. Die Freiheit hingegen besteht darin, daß jeder tut, was seine Individualität ihm vorschreibt. Wenn mich jemand zum Beispiel zur Freiheit in erotischen Angelegenheiten zwingen will, während es in meiner Natur liegt, diese Beziehungen als vorwiegend unfreie und gebundene aufzufassen, dann beschränkt er meine Freiheit. Wenn jemand mir verbieten will, in moralischen Dingen ein Philister zu sein, obgleich gerade dies mir entspricht, so stellt er an mich ein philiströses Verlangen.
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Was zu einem Kunstwerk gehört, was an ihm organisch ist, das pflegen wir das Schöne an ihm zu nennen; was zu einem Menschen gehört, all das ausnahmslos, aber nur das, müssen wir an ihm sittlich nennen.
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Haben jene, die aus der Tatsache des »Elends in der Welt«, der »ungerechten Güterverteilung« und dergleichen erbärmlichen Argumenten auf die Nichtexistenz Gottes schließen, schon einmal bedacht, daß ihre ganze Beweisführung nichts ist als kindischer und dilettantischer Anthropomorphismus? Gott irgendwelche (auch zur höchsten Vollkommenheit gesteigerte) menschliche Eigenschaften beizulegen, ist bereits irreligiös. Daß Gott vollkommen unfaßbar und unverständlich ist, eben darin bestand ja die neue und tiefe Erkenntnis des Christentums, im Gegensatz zum Judentum, das sich seinen Gott immer bloß als einen besonders begabten Oberjuden vorgestellt hatte. Wir dürfen daher auch von Gott nicht die Qualitäten eines braven Bezirksrichters verlangen, schon deshalb, weil wir ja nicht wissen können, ob das, was wir »Gerechtigkeit« nennen, nicht etwas vollkommen Idiotisches ist.
Und ferner zeigen diese Einwände eine völlige Mißkenntnis oder vielmehr Unkenntnis des Begriffes der »Erlösung«. Diese Erlösung, die Jesus verkündigt hat, bestand in der einfachen Feststellung der Tatsache, daß Gott die Welt wirklich regiert; wie er sie regiert, hat Jesus nicht gesagt. Wer an diese Tatsache glaubt, der lebt allemal und überall in einer guten und gerechten Welt, einerlei, wie es ihm äußerlich ergeht. Wer an diese Tatsache nicht glaubt, der ist unselig, auch wenn seine Geschäfte noch so brillant gehen.
Vom Standpunkt des bürgerlichen Gesetzbuches oder einer platten Philistermoral betrachtet, war Jesu Leben und Tod die denkbar größte Ungerechtigkeit Gottes: der reinste, aufopferndste, gotterfüllteste Mensch wurde verachtet, verhöhnt und gekreuzigt. Daß aber Jesus gleichwohl niemals an Gott gezweifelt hat, beweist mehr als seine Predigt, wie er es gemeint hat.
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Daß es den Bösen gut geht, ist nur in der Ordnung, sie bezahlen ja für ihr materielles Glück reichlich damit, daß sie ohne Gott leben müssen. Aber wie kommt es, daß es auch den Guten so oft gut geht? Daß sie zu ihrer Gewißheit, Gott zu gefallen, und zu ihrem Bewußtsein, gut zu sein, auch noch den äußeren Lohn haben? Ist das nicht ein unverdienter Überschuß, eine Art Überzahlung? Ich möchte dieses Problem das Aenigma christianissimum nennen.
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Der »böse Mensch« ist der Kitsch der Schöpfung.
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