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Ein Dichter ist ein Mensch, der von der Zukunft mehr versteht als von der Gegenwart.
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Ein Dichter ist ein Mensch, der für sich nur noch eine einzige Privatangelegenheit anerkennt: die Sache der Menschheit.
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Jeder Mensch ist verliebt, jeder Mensch ist begeistert, jeder Mensch ist weise – aber nur in wenigen seltenen Augenblicken. Wie der Dichter die Frau immer sieht, so hat sie jeder Mensch mindestens einmal in seinem Leben gesehen: als er liebte; wie der Dichter die Natur, jedes Stück Rasen, jeden verschneiten Baumstumpf, jedes Tulpenbeet, jede alte Bretterhütte empfindet, so hat jeder schon irgendwann einmal Rasen, Baum, Blume und Brücke empfunden, aber nur ein kurzes Zeitteilchen, dann sank alles wieder hinab; er hatte es sofort wieder vergessen. Die meisten Menschen sind eben vergeßliche Dichter. Und ebenso vergeßliche Denker. Wer war nicht schon weise, freilich zumeist gerade dann, wenn er es am wenigsten zu sein glaubte? Gespräche von Holzfällern, Schmieden, Fuhrleuten, Handwerksburschen enthalten oft überraschende Wahrheiten, Tiefblicke, schärfste Sachurteile. Jeder Mensch, der einer Sache kundig ist, vermag über sie die vorzüglichsten Bemerkungen zu machen. Aber er weiß es nicht. Und er sammelt es nicht auf: er ist kein Reservoir seiner Weisheiten.
Der Dichter ist ganz einfach das ununterbrochen, was die übrigen Menschen alle fünf Jahre einmal sind. Er unterscheidet sich in nichts anderem von ihnen. Er lebt mit den Dingen in dauernder Kryptogamie. Er ist immer begeistert, immer verliebt und darum immer weise.
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Alle die Schreckensherrscher, von denen die Historie erzählt, die »Scheusale« der Weltgeschichte: Caligula und Tiberius, Danton und Robespierre, Cesare Borgia und Torquemada, was waren sie anderes als in die Realität verschlagene Künstler? Und alle die Künstler und Gestalter: Shakespeare und Michelangelo, Dante und Poe, Nietzsche und Dostojewski, was waren sie anderes als in die Kunst gerettete Menschenfresser? »Ich habe niemals von einem Verbrechen gehört, das ich nicht hätte begehen können«, sagte Goethe. Er brauchte keine Verbrechen zu begehen, weil er sie künstlerisch gestalten konnte. Und Nero, der Kaiser mit der großen Künstlerambition, wäre kein »Bluthund« geworden, wenn er die Kraft der dichterischen Gestaltung besessen hätte. »Qualis artifex pereo« – vielleicht ist es erlaubt, zu übersetzen: »Was für eine merkwürdige Art Künstler stirbt in mir.«
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Der Künstler kann nicht polemisieren, befeinden, er ist ein Verklärer und Rechtfertiger des Lebens, und wenn die Menschen und die Dinge durch seinen Kopf und sein Herz hindurchgegangen sind, so kommen sie schöner wieder ans Tageslicht, als sie jemals vorher gewesen sind. Goethe war nur dadurch imstande, aus seinem Leben ein so vollendetes Kunstwerk zu machen, weil er das Leben immer als berechtigt anerkannte, in allen seinen Gestaltungen: deshalb vermochte er es zu beherrschen. Shakespeare konnte nur darum die menschlichen Leidenschaften so meisterhaft gestalten, weil er sie alle gelten ließ. Hätte er sich pharisäisch und hochnäsig über seinen Falstaff gestellt und ihn als einen Auswurf der Menschheit betrachtet, so hätte er ihn niemals schildern können. Aber er hat ihn geliebt, in allen seinen Infamien, Hohlheiten und Verkommenheiten, und so wurde dieser miserable Kerl der Freund aller. Und er hat seinen Macbeth geliebt, seinen Jago, seinen Richard Gloster, alle diese schwarzen Schurken waren ein Stück von seinem Herzen. Franz Moor dagegen wird an allen Ecken und Enden zur Psychose, er ist kein wirklicher Mensch, wir glauben nicht recht an ihn. Und warum? Weil sein Erzeuger selbst nicht recht an ihn glaubte, weil er ihn nicht genug lieb hatte, weil er sich nicht sagte: auch dieser hat recht, denn sie haben ja alle recht, alle, alle! Haßt der Zoologe den Maulwurf? Nein, das überläßt er dem Gartenknecht. Aber darum versteht er auch den Maulwurf.
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Was war Homer anderes als ein Historiker »mit ungenügender Quellenkenntnis?« Dennoch wird er in alle Ewigkeit recht behalten, selbst wenn eines Tages ein Professor mit ungeheurem wissenschaftlichen Apparat beweisen sollte, daß es überhaupt kein Troja gegeben hat.
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Das, was von einem Dichter »bleibt«: seine dürftigen und mühseligen Aufzeichnungen – das ist der am wenigsten wertvolle Teil seiner Persönlichkeit. Es sind ein paar dünne Licht- und Wärmestrahlen; nicht die Licht- und Wärmequelle selbst. Freilich leuchtet und wärmt diese, auch erkaltet, noch weiter; aber das kommt nur daher, daß ihre Strahlen so langsam zu uns dringen.
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Einer der wichtigsten Rangunterschiede unter den Schriftstellern besteht darin, ob sie bloß selber denken oder ob sie auch die übrige Welt zum Selbstdenken bringen.
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Gewisse Bücher schmecken fade, gleich chemisch reinem Wasser. Sie sind uns zu destilliert, zu »abgeklärt«, wie wir höflich umschreibend sagen: in Wirklichkeit meinen wir damit ganz einfach, daß sie ungenießbar sind.
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Es gibt Bücher, die wie Pfützen sind: flach und dunkel. Dann aber wieder gibt es Bücher, in denen alles sozusagen wegbeleuchtet ist: alle Dinge sind da in einem so scharfen, grellen Sonnenlicht, daß sie uncharakteristisch werden. Die angemessene und natürliche Beleuchtung ist das »zerstreute« Licht. Das weiß jeder Photograph, und der Schriftsteller, der ja nichts anderes zu sein hat als der Photograph seiner Gedanken und Empfindungen, sollte es auch wissen.
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Die echten Dichtungen haben eine Scheu davor, zu Buchstaben zu gefrieren. Die besten Gedichte sind nur mit dem Herzen aufgeschrieben und kommen niemals in die Setzmaschine.
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Alle berühmten Bücher sind gut, und fast alle guten Bücher sind berühmt, wenn es auch manchmal einige Zeit dauert, bis sie es werden; und die Klage, daß es so viele unbekannte Talente gebe, stammt fast immer von Menschen, die bloß unbekannt sind. Alles Gute, Wertvolle hat die innere Tendenz, sich den Menschen mitzuteilen, es greift infolge eines, man möchte fast sagen: physikalischen Naturgesetzes um sich. Ein Mensch fasse irgendwo, in irgend einem Winkel der Erde einen neuen, schönen und tiefen Gedanken, und dieser Gedanke wird sich so sicher und unwiderstehlich ausbreiten wie Gas.
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Eine Dichtung ist erst dann zu Ende gedichtet, wenn sie den Leser gefunden hat, der spürt, was sie unbewußt gewollt hat.
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Alle echten Dichtungen sind schöne Rätsel und wollen gar nichts anderes sein. Der Dichter unterscheidet sich von den übrigen Menschen dadurch, daß er die Bewegungen des Lebens in ihrem ganzen Reichtum und in ihrer ganzen Tiefe spült. Aber man darf nicht vergessen, daß er eben darum der einzige Mensch ist, der sich niemals einbildet, das Leben zu verstehen.
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Eine Dichtung ist nichts anderes als eine Aufforderung an das Publikum, zu dichten. Je mehr Spielraum sie gewährt, je mehr Stellen sie offen läßt, desto bedeutender ist sie. In jedem Versteher erwächst ihr ein neuer Dichter. Tausend Auffassungen sind möglich und alle sind richtig.
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Daß Kunst einfach Natur wiederholt, ist logisch und psychologisch unmöglich, denn immer tritt etwas hinzu, was nicht Natur ist: nämlich ein Mensch. Daß Kunst gar nichts mit Natur zu tun hat, ist ebenso unmöglich, denn immer ist etwas dabei, was Natur ist: nämlich ein Mensch.
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Es gibt heute schon Naturalisten, die aus lebenswahren Theaterstücken schöpfen.
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Die Kunst ist keine Sache der seltsamen und ungewöhnlichen Erlebnisse. Was den Dichter befruchtet, ist weit mehr das kleine Leben des Alltags als die großen Abenteuer. Außerdem hat fast jeder Mensch eine Menge von höchst absonderlichen Dingen erlebt, nur hat er es nie gemerkt. Der Philister weiß nicht, daß er in einer Welt von lauter Originalen lebt und daß sein ganzes Dasein ein höchst abenteuerliches, phantastisches Märchen war. Er wartet immer auf Feen und Drachen, aber die Feen und Drachen sind da, nur inkognito. Noch weniger ist ihm bekannt, daß er selbst im Grunde eine höchst merkwürdige, verwickelte, singulare Persönlichkeit ist. Er erfährt nie die Wahrheit über sich. Man möchte solchen Menschen nur wünschen, daß sie einmal an einen Dichter kämen, der ihnen ihren Charakter erklärte. Aber sie würden ihm wahrscheinlich nicht glauben und sich denken: »Er ist ein Dichter«.
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Einem berühmten Dichter sagte einer seiner Verehrer: »Ich wundere mich jedesmal von neuem über die auserlesene Liebenswürdigkeit und Güte, mit der Sie allen Menschen, auch Briefträgern, Droschkenkutschern und Lohndienern begegnen.« Darauf sah ihn der Dichter ganz erstaunt an und sagte: »Ja was wäre denn der Unterschied zwischen uns und den anderen, wenn wir nicht ein bißchen liebevoller und teilnehmender wären?«
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Die Realität enttäuscht, sie ist eigentlich das Unwirkliche; und der dies zuerst erkannte, war der erste Dichter.
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Das Wort »Berufsdichter« ist ein Unsinn. Der Beruf des Dichters ist der jedes anderen Menschen: leben, assimilieren und assimiliert werden, Energien anhäufen und weitergeben, eine von den Millionen Komponenten er Weltbewegung bilden. Daneben fällt dann bisweilen etwas Lyrik oder Drama ab. Der echte Dichter sezerniert Dichtungen.
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Der Dichter ist der Mensch, der die meisten Mitgefühle hat. Zwischen Jesus und Shakespeare besteht nur ein Gradunterschied.
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Wie gut hatte es doch der Dichter früherer Zeiten, noch der von gestern! Ihm gab ein Gott zu sagen, was er leidet! Ein großes, unschätzbares Geschenk; aber nicht, wie man bisher gemeinhin glaubte, für die Menschheit, als welcher es mit der Zeit allmählich gleichgültig werden dürfte, in wie guten oder wie schlechten Reimpaaren ein Mensch seine Privatangelegenheiten auszuplaudern vermag. Nein: bloß ein Glück für ihn! Er besaß noch die unbegreifliche Fähigkeit, die Dinge aus sich herauszureden, von sich wegzureden, in Worten von sich abzustoßen. Eine Gabe von ungeheurem hygienischen Wert! Ob so einer sich in unsterblichen Sonetten oder in miserablen Gartenlaubegedichten Luft machte: das ergibt einen sehr geringen Unterschied! Die Hauptsache ist: beide, der gottgeweihte Dichter und der sentimentale unfähige Esel hatten ein Ventil.
Aber der kommende Dichter, der nicht mehr imstande ist, mit so groben und falschen Ausdrucksmitteln wie Worten zu arbeiten, der Mensch des schöpferischen Schweigens, blickt voll Neid auf jene anderen, die letzten, die reden konnten. Er kann seine »inneren Gluten« nicht mehr aus sich herausblasen in »feurigen Gedichten«, er muß sein Feuer in seinem eigenen Leibe verbrennen. Vielleicht kommt es doch einmal in irgend einer anderen Energieform ans Tageslicht, ja das ist sogar ganz unvermeidlich, denn Energie geht nicht verloren. Aber wer weiß, in welcher Form? Vielleicht als ein neuer kühner Gedanke, vielleicht als eine dramatische Vision, hingekleckst mit vier Farben, die die Menschen nie wieder vergessen werden, vielleicht als eine Seite Prosa, die wie eine eherne Tafel ist, vielleicht als eine gute Handlung, vielleicht als eine böse Handlung, vielleicht auch nur als die bloße Kraft, weiter zu schweigen.
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