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Die Vögtin aus dem Tobel.

. Der Verfasser hat von Jugend an gern Geschichten gelesen, und vornehmlich solche, darin erzählt wird, wie einer in der Welt zu Ehren gekommen, von dem man's nicht geglaubt. Denn man sieht's dem Kindlein in der Wiege nicht an, was einmal aus ihm wird, so wenig wie der häßlichen Raupe, die am Boden kriecht und die Knospen frißt, daß sie einmal als schöner Schmetterling durch die Luft fliegt. Item: Es sitzt auch manches Büblein auf der Schulbank, und kriegt alle paar Tage die Hosen angemessen, nicht vom Schneider, sondern vom Herrn Schulmeister, und zwar dort, wo sie am breitsten sind, und bekommt das Wort mehr als einmal zu hören: »Hör, Junge, aus dir wird dein Lebtage nichts!« und doch wird später einmal aus ihm etwas Tüchtiges und geht ihm nicht anders, als wie dem Knaben Joseph, den seine Brüder in die Grube warfen und der später ein Herr in Egyptenland wurde und in des Königs Leibwagen fuhr. Darum man auch kein Kind verachten soll, dieweil man nicht weiß, was aus ihm wird. Das passiert nun den Knaben manchmal, darum man auch den jungen Soldaten sagt, daß jeder in seiner Patrontasche den Feldmarschallstab trage, und noch ein Moltke werden könne, wenn er sich ordentlich daran halte; aber bei den Mägdelein kommt das etwas seltener vor, denn sie sind nicht so verwegen und dreist, wie die Knaben. Aber vorgekommen ist's doch schon, daß ein armes Mägdlein eines Königs Braut geworden und braucht der geneigte Leser nur an die Geschichte vom Aschenbrödel zu denken oder an die Agnes Bernauerin – oder an das Hirtenmädchen von Sankt Peter im Schwarzwald, deren Geschichte ich ihm erzählen will.

Ob's zwar immer gut tut, wenn einer aus dem Staub hinaufgehoben wird und seine Barfüßigkeit gegen goldene Pantoffeln eintauscht, will der Verfasser nicht behaupten, denn er denkt daran, daß die hohen Bäume im Wald vom Sturm mehr geschüttelt werden, als die kleinen Sträucher, und daß der Blitz sich namentlich die hohen Häuser aussucht, wenn er einschlagen will. So etwas davon wird der geneigte Leser auch in dieser Geschichte finden. und ist das so ein Pülverlein gegen die liebe Hoffart. –


Wer etwa ums Jahr 1775 zu Sankt Peter im badischen Schwarzwald gewesen wäre, um dort Tannenluft zu atmen und Forellen zu speisen, hätte es nicht bloß um hundert Prozent billiger gefunden als heutzutage, sondern würde auch auf den Bergen, mitten im Steingerölle sitzend, ein junges Mädchen gefunden haben, das die Ziegen, oder wie man's dort nennt, die Geißen hütete. Das war das Töchterlein des blutarmen Klosterknechts, der auf den Klosterwiesen gratis wohnte und dafür das Klein-Vieh zu hüten hatte bei den geistlichen Herren. Von Mitte April bis zum Ende Oktober war das Kind draußen mit seinen Geißen, die am Halse große Glocken hatten, damit sie sich nicht verliefen. Das Kind hatte seine liebe Not mit den Vierfüßlern, die sich in keine Zucht und Ordnung fügen wollten und die Kreuz und Quer, über Stein und Fels stiegen und mit ihren langen Bärten dann von der Höhe herab auf das Kind schauten, das sie fangen wollte. Da mußte sie oft stundenlang einer einzigen Geis nachlaufen, die sich etwa verloren oder verstiegen, und wenn eine fehlte am Abend, gab's Schläge. In die Schule kam sie nur im Winter, und da nur wenig. Denn die Schulmeister wußten dazumal selber nicht viel, und sind nicht so gelehrt gewesen, wie heutzutage, und der Unterricht fiel oft aus. Wenn z. B. während der Schulstunde des Schulmeisters neugeborenes Kindlein schrie im Nebenzimmer, so wurde ein Mägdlein abkommandiert zum wiegen helfen bei der Frau Schulmeisterin – oder wenn des Schulmeisters Tabaksdose bedenklich leicht wurde, da hieß es: »Buben, heut ist frei, da geht ihr hinüber ins Amtsstädtlein und holt mir für 15 Kreuzer Schnupftabak vom Besten.« Und die Schulkinder hatten gar nichts dagegen einzuwenden, und weinten auch nicht, wenn ihr geliebter Lehrer es einmal in den Hals bekam, daß er nicht sprechen konnte, oder das Zipperlein in den Fuß, daß er nicht gehen konnte, sondern gönnten ihm und sich die Ruhe und lernten dabei nichts.

So wuchs das Annemeile – (oder Anna Maria) auf wie ein wilder Rosenbusch mit Blüten und Dornen untereinander. Seelenfroh war sie, wenn der Bürgermeister ausschellen ließ, daß jetzt wieder das Vieh auf die Weide getrieben werde. Da holte sie ihren langen Geißenstecken hinter dem Ofen her und zog ihr Hirtenkleidchen an, das aus allerhand Flicken und Lappen bestand und trieb ihre Zöglinge den Berg hinaus.

Das Mägdelein gedieh draußen unter Regen und Sonnenschein und wuchs wie eine Schwarzwaldtanne heran und bekam trotz seiner bloßen Füße keinen Schnupfen und kein Zahnreißen, wie die Fräulein aus der Stadt. Von denen sah sie dann und wann welche kommen, die sich draußen in St. Peter erholen wollten. Die stiegen dann, wie ihre Geißen, auch in den Bergen umher, und das Hirtenmädchen mußte ihnen erzählen bald von den Patres und bald von den Geißen, wie's eben kam. Und die Fräuleins aus der Stadt hätten gar zu gern mit dem Hirtenmädel getauscht, vornehmlich als sie hörten, daß man dabei nichts zu lernen brauche –; aber das Hirtenmädel hätte noch viel lieber mit den Stadtfräulein getauscht, denn ihre schönen Lederstiefel und ihr Schleierhut und alles, was sie noch um und an sich hatten, stachen ihr in die Augen, und das Lernen dünkte sie ein lustiges Ding zu sein. Nur einmal war sie bis jetzt aus ihrem stillen Orte gekommen, das war bei einer Wallfahrt, die sie in die Schweiz nach Maria Einsiedeln mitmachen durfte. Da vergaffte sie sich aber in den Städten an den hohen Häusern und geputzten Leuten und sie bedurfte es wohl, daß die alte Klostermagd, die Ursula, die ihr vorgesetzt war, sie mit Rippenstößen zum Weitergehen und Singen aufmunterte. Etliche Bäuerinnen hatten dem Hirtenmädchen Geld mitgegeben, um dafür geweihte Bilder und Blumen zu kaufen; aber als sie in Konstanz am Bodensee an einem Zuckerladen vorbeiging und hörte, daß darin alles von Zucker sei, da war sie nicht zu halten. Denn sie hatte nur einmal ein Stück Zucker über die Lippen bekommen und gemeint, das könne man nur weit über'm Meere haben. Und nun war's so nah! So kaufte sie sich denn Zuckerzeug für das Geld. Aber als es in Maria Einsiedeln zum Beichten kam, da mußte es heraus und sie konnte nun doch eine Sünde beichten, daß sie das Geld »vergessen« habe, denn sie konnte sich sonst keiner andern Sünde erinnern. Der Pater schenkte aber dem treuherzigen Kinde ein paar Bilder und geweihte Blumen, damit sie nicht als Diebin heimkam. Das war ihre erste Reise. Aber seit dieser Zeit, seit sie die Städte und die himmelvielen Menschen gesehen, da ward's ihr zu einsam bei den Geißen. Wohl trieb sie mit ihnen ihren Scherz und zog ihnen dann und wann ihr Häubchen über den Kopf, daß die Tiere meinten, es sei Nacht, und sich schlafen legten, wohl sang sie noch ihre alten, selbstgemachten Lieder – aber Ruhe war keine mehr dabei. Wenn eine Gesellschaft aus der Stadt heraufkam nach St. Peter, da bat sie, sie möchten sie doch mitnehmen nach der Stadt, wo die hohen Häuser und die vielen Menschen wären. Aber die Stadtleute hüteten sich, die Waldblume zu versetzen, denn das tue selten gut.

Aber einmal gelang es doch. Eine vornehme Herrschaft kam heraufgefahren, um Sommerfrische im Kloster zu halten; die Kinder gingen hinaus auf den Berg und erzählten von einem Hirtenmädchen, das wunderschöne Geschichten wüßte, stundenlang hätten sie noch zuhören können. Dabei sei sie sauber und schlank und hätte Zöpfe bis auf die Erde herunter. Da wollte denn auch einmal die gnädige Herrschaft das Wunderkind sehen, ließ die Kinder vorangehen und versteckte sich dann im Gebüsch, daß sie sie belauschen konnte. Das Hirtenmädel hatte just seinen guten Tag und' schwatzte wie eine Elster, sagte Gedichte her, die sie selbst erfunden und sang mit heller Stimme so schmetternd in die Luft wie eine Lerche. Den Kindern hatte sie Kränze gemacht aus Tannenreis und Farrenkrautschürzen, sie selbst saß mit ihren langen aufgelösten Haaren unter den Kindern, wie eine Waldnixe. Die Herrschaft stahl sich still wieder weg, hinunter zum Kloster und erkundigte sich beim Prior von wegen des Mädchens. Der war damit einverstanden, dem Vater den Vorschlag zu machen, sie der Herrschaft mitzugeben. Als der Bauernknecht davon hörte, was seiner Tochter begegnen sollte und die Herrschaft ihm gleich zehn blanke Gulden Haftgeld anbot, da dachte er: »So viel Geld hast du noch nie beieinander gesehen und kriegst's auch nicht mehr zu sehen,« und schlug ein. Das Annemeile sollte als Kindermädchen zur gnädigen Herrschaft nach Freiburg im Breisgau und sollte gut gehalten werden, wie ein eigen Kind.

Als sie des Abends nach Hause kam mit ihren Geißen, da nahm ihr der Vater den Stecken ab und hieß sie auf die Bank sitzen und erzählte ihr alles, und daß ihr Wunsch erfüllt werden sollte.

Da sprang das Mädchen auf und machte einen Satz so hoch wie ihre Geißen – aber plötzlich hielt sie inne und schaute traurig auf den Vater und sagte: »Aber Vater, wer hütet Euch denn die Geißen und wer bleibt bei Euch? Mutter haben wir keine mehr, und wer kocht Euch zu morgens die Supp' und abends den Brei?«

Da schaute der Klosterknecht treuherzig drein und sagte: »Kind, gräm' dich nicht, für mich ist auch gesorgt, denn der hochwürdige Herr hat gesagt, sie wollten mich zum Meßbub machen, weil ich doch schon alt wäre und den Geißen nicht mehr nachspringen könnte. Und dann, Annemeile, weißt: 's dauert doch nicht mehr lang mit mir. Seit die Mutter fort ist, ist auch das Leben fort und Freud' hab ich wenig mehr. Ich komm' alsdann und wann herunter nach der Stadt und bring' dir ein'n Käs oder sonst was. Drum tröst' dich, du kriegst's ja gut bei der Herrschaft.« – So reden die zwei miteinander, und des Nachts schlief das Annemeile wenig, und bald zog sie's nach der Stadt, und bald zum Vater und zu den Geißen, bis sie endlich überm Weinen einschlief, wie ein Kind.

Die Herrschaft wollte in wenigen Tagen aufbrechen und ließ darum die Grete, die Klosterschneiderin, kommen, die das Hirtenmädel rangieren sollte. Die wusch sie denn zuerst mit Bürsten so blank, als ob sie ein Zinnteller wäre, so daß das Mädchen oft aufschrie. Aber die alte Schneiderin verfuhr mit ihr wie ein Doktor, der einmal am Schneiden ist und denkt, »auf ein paar Stiche mehr kommt's auch nicht an« und sich ums Schreien nicht kümmert. »Das ist in der Stadt so, das muß alles blank sein, inwendig und auswendig. Du bist vom Walde her und das möchten dir die Leute anmerken.« Fast wäre dem Mädchen über dieser Kur eine Reue angekommen, daß sie in die Stadt gewollt, denn sie meinte, das bißchen Schmutz schade auch nicht. Dann nahm die Grete den Kamm, kämmte das schöne Haar, aber hart bis auf den Boden, daß das Mägdlein laut aufschrie. »Das ist alles von wegen der Stadt, lieb's Kind, denn dort haben sie falsche Haare und allerhand Ding's drauf. Aber selbst gewachsen hält besser, aber sauber muß sein.« Dann legte sie ihr die neuen Kleider an, einen hochroten Rock und ein goldgesticktes Mieder und Strümpfe, wie der frischgefallene Schnee bis an die Knie hinauf und eine grünseidene Schürze und enge Schuh, daß sie kaum mit dem Schuhlöffel hinein kam. Als sie fertig war, drehte sie die Klosterschneiderin bald rechts und bald links, und das Hirtenmädchen mußte nach allen Windrichtungen hingucken und wußte sich in dem engen Rock gar nicht zu drehen, und es war ihr nicht anders, als wenn sie ein Halseisen um den Leib hätte. Endlich führte sie sie vor den Spiegel und sah sie an, als wollte sie sagen: »Gelt aber!« So wurde sie der Herrschaft vorgeführt, die das Hirtenmädchen kaum mehr erkannten und selbst der Vater zupfte sie am roten Rock und den blendend weißen Hemdärmeln, um sich zu überzeugen, ob das wirklich seine Annemeile sei.

Endlich kam der Abschied, und der war doch noch schwer. Denn man meint manchmal, man sei ganz los, wie ein wackeliger Zahn im Munde; und doch tut's weh, wenn er heraus soll, denn da sieht man wohl, wie fest er sitzt. Aber der Postillon blies, das Hirtenmädchen küßte allen Patres ehrerbietig die Hand und dem Vater den Mund und kletterte wie eine ihrer Ziegen mit einem Satze hinauf auf den Bock zum Postillon. Bald lagen die Berge hinter ihr und ihre Geißen, die sie alle noch geküßt hatte; es ging der Stadt zu. Dort an einem hohen Haus, dem alten Sickingischen Palaste, hielt der Wagen. Die Kinder riefen: »Annemeile! das ist unser Haus!« Da sah man sie denn alle Tage als Kindswärterin in ihrer Schwarzwälder Tracht umhersteigen mit dem hochroten Unterrock und den langen Zöpfen. Auf der Straße blieben die Leute stehn und schauten ihr nach, denn sie erinnerten sich kaum eines so sauberen Mädchens. Bis dahin hatte sie nichts davon gewußt, daß sie so schön sei, und das ist immer das Schönste an der Schönheit, und die Leute tun einem den schlechtesten Dienst damit, wenn sie's einem so ins Gesicht sagen. Die anderen Mädchen am Brunnen lachten und kicherten über sie, und nannten sie, weil sie so stolz daher käme: »Die Vögtin aus dem Tobel«. Da brach sie in Tränen aus und erzählte alles haarklein ihrer Herrschaft und fragte, »ob denn alle Leute so böse wären in der Stadt.«

Die gnädige Frau tröstete sie und sagte, daß das der Neid und die Eifersucht sei, und das Mädchen fragte sie treuherzig, was denn das sei, davon habe sie in Sankt Peter nichts gehört, ob das böse Geister am Ende seien, die in der Stadt wären. Darüber kam die gnädige Frau in Schwulität und schickte das Mädchen hinaus, das Kind zu hüten. Aber das Hirtenmädchen sann Tag und Nacht darüber nach, was das wohl sein könne, aber sie kriegte es nicht heraus. Nur kam dann und wann einmal es über sie, daß sie laut weinte und wieder heimkehren wollte. Sie hätte gemeint, in der Stadt seien lauter gute Menschen, da sie doch so schöne Kleider hätten.

Da begegnete ihr aber eines Tages etwas Sonderbares. Als sie aus dem Hause trat mit dem Kinde der Herrschaft, kam ein älterer Herr, den sie im Nachbarhause gegenüber schon oft hatte am Fenster stehen sehen und fragte sie liebreich, wo sie denn her wäre. Sie gab ihm frischweg Antwort so ohne Arg und voll Scherz, daß über die Züge des »einschichtigen Herren«, wie sie ihn nannte, ein Strahl der Freude flog. Er unterhielt sich lange mit ihr, sie erzählte von ihrem Leben im Walde, von den Klosterherren und den Geißen und war höchst vergnügt, daß jemand ihr einmal zuhörte.

»Kannst du denn auch lesen, mein Kind?« frug der Herr.

Da schlug sie hell auf in Lachen und sagte: »Ja das kann der Herr Schulmeister arg gut, der hat so ein Ding, worin viele schwarze Dinger sind, da hat er draus vorgelesen, aber unsereins kann das nicht.«

Da wurde der Herr ernst und fragte: »Möchtest du es denn nicht lernen, mein Kind?«

»Freilich, freilich!« sagte sie, »warum nicht, wenn's nur lustig ist.«

Wenige Tage daraus sah man um die Mittagsstunde einen Herrn die Straße herwandeln im lichtbraunen Tuchrock mit Goldknöpfen, seiner Halskrause, seidenen Strümpfen und Schnallenschuhen, und am Sickingschen Palais die Klingel ziehen. Jedermann grüßte ihn ehrerbietig und sah ihm nach und zerbrach sich den Kopf, was der wohl in dem Palais vorhabe.

Nach einer Stunde trat er wieder heraus und schlug den Heimweg ein. Auf seinem freien, schönen Gesicht lag ein Sonnenstrahl der Freude, wie er über ein Angesicht und Herz scheint, das etwas Gutes getan. Es war derselbe, der mit dem Mädchen gesprochen hatte. Aber noch mehr rissen die Leute die Fenster und die Augen auf, als am folgenden Tage zur Mittagsstunde »die Vögtin aus dem Tobel«, das Hirtenmädchen, im hochroten Rock und goldenen Mieder, mit Büchern unter dem Arm zu dem »einschichtigen Herrn« herauf stieg. Der Mensch ist überall gleich, ob er in Freiburg im Breisgau, oder in Bremen, oder in Stockholm bei den Schweden lebt; jeder bekümmert sich mehr um den andern, als um sich selber, und neugierig sind sie alle, vornehmlich das Weibervolk, und am Mundwerk fehlt's auch nirgends. –

Endlich kam's an den Tag, daß das Mädchen in den Unterricht gehe bei dem gelehrten Herrn Doktor, und zwar ganz umsonst. Sie achtete auf die Spottreden nicht weiter; aber spät in der Nacht, wenn sie die Kinder der Herrschaft zu Bette gebracht, brannte sie ihre zusammengelesenen Lichtstümpfchen an, saß und malte Buchstaben wie Kirschenstiele, und brauchte oft eine ganze Seite, um ein paar Worte zu schreiben. Aber nach und nach ging's besser und die Buchstaben sahen nicht mehr aus wie ihre Geisböcke, die sie einst geweidet in St. Peter. Mit dem Lesen ging's noch schneller. Lebhaft und mit Sinn und Verstand faßte sie auf, was der gelehrte Herr ihr beibrachte, der sich über seine weibliche Studentin viel mehr freute, als über seine männlichen. Denn die schwänzten oft das Kollegium, damit der Herr Professor seine Weisheit nicht auf einmal loswürde und rauchten Tabak in ihrer Schule, daß es dem engbrüstigen Herrn manchmal ganz schwarz vor den Augen wurde. Aber sie kam regelmäßig, brachte, wie's die Zeit gab, bald eine Rose, bald eine Nelke, oder frischen Ziegenkäs und Honig ihrem Lehrer. Dem kam das Mägdlein nicht anders vor, als ein unbesäeter Garten, in dem jede Blume aufgeht. Die Bibel, Geschichte, die Dichter, alles konnte er mit ihr lesen, und das kluge Bauernkind fand manches heraus, was kein Stadtkind gesunden hätte, und machte so witzige Bemerkungen über die alten Römer und Griechen, daß der Herr Doktor seine blauen Wunder sah. Sie trieb alle die Namen der Helden und Dichter vor sich her, wie sie einst ihre Geißen mit dem Stecken hergetrieben, und wenn einer einmal sich verstiegen und verloren hatte in ihrem Kopfe, und ein Römer unter die Engländer durch Zufall geraten war, da holte sie ihn wieder des Nachts in ihrem Kopfe zurecht.

Da begab sich's, daß die alte Haushälterin des Doktors das Zeitliche segnete und dazu noch ihr Zeitliches dem Hirtenmädchen vermachte, die ihrem guten Herrn das Leben so fröhlich machte. Als sie ihr Ende nahe fühlte, rief sie das Hirtenmädchen zu sich und sagte ihm:

»Annemeile – verlaß den Herrn nicht, wenn ich sterbe! So und so will er den Kaffee und den Tee haben und die dicken Pfannkuchen mußt du nicht anbrennen lassen. Bleib' bei ihm, wenn's die Herrschaft erlaubt. Denn er ist ein braver Mann.«

Und die alte Base befahl ihre Seele Gott dem Herrn und das Hirtenmädel ging mit dem Rosmarinzweig hinter dem Sarge drein, samt ihrem Herrn. Und wieder sah man den letzteren die Straße heraufgehen nach dem Palais zu und fröhlich wieder umkehren. Bald darauf wurde eine große Kiste, mit Blumen und Herzen bemalt, in Tannenholz massiv gearbeitet, herübergebracht zu dem Herrn Professor, und hinter drein schritt das Hirtenmädchen. Sie war die Haushälterin geworden; die Herrschaft wollte ihrem Glück nicht im Wege stehen und ließ sie ziehen.

Aber nicht lange Zeit danach da wunderten sich die Leute zu Freiburg im Breisgau noch viel mehr. Denn in der Kirche wurde zum erstenmal aufgeboten: »Der hochgelahrte, wohlgeborene Herr Doktor und Professor ... mit der Anna Maria Müller aus Sankt Peter.« Das gab Stoff zur Unterhaltung, und bald darauf wurden sie getraut.

Freilich ging's nicht so leicht ab, als es sich hier liest. Der alte Klosterknecht hatte zwar nichts gegen den vornehmen Schwiegersohn einzuwenden, wiewohl er öfter den Kopf schüttelte und meinte, der Herr müsse sich geirrt haben – aber die Verwandten von des Doktors Seite waren von dieser Partie nicht ergötzt und hatten allerhand einzuwenden gegen das Hirtenmädchen. Sie glaubten, es sei für ihre Familie eine Schande, wenn so eins darunter sitze, dem man den Geißenstecken noch anmerke, und als Familienwappen eine Geis habe, die auf den Berg steigt. Aber gute Freunde halfen vermitteln, und einer schrieb etliche Briefe an die Verwandten, worin er das Hirtenmädel herausstrich, ihren hellen, lichten Geist, ihre Ordnungsliebe und Sparsamkeit, und wie's der Herr Doktor nur ihr zu verdanken habe, daß er seine Gulden und Taler noch beieinander habe. Denn die gelehrten Herren können wohl das Geld einnehmen, aber zumeist nicht bei sich behalten und werden rechts und links über die Ohren gehauen, und kostet für sie das Groschenbrot drei Silbergroschen und sie merken's nicht, sondern sagen höchstens: »Das ist auch nicht gerade wohlfeil.« So gaben sich denn die Verwandten zufrieden und dachten: »'s ist halt ein Gelehrter, und die sind immer etwas verkehrt und nicht wie andre Leute.« Auf der Hochzeitsreise, die in einer bekränzten Kutsche nach dem Unterlande gemacht wurde, trafen die Verwandten mit dem jungen Paare zusammen. Das Hirtenmädel aber hatte in einer Stunde aller Herzen gewonnen mit ihrem fröhlichen Sinn und gescheiten Antworten und hatten nichts mehr gegen ihr Familienwappen einzuwenden.

So lebten die zwei vergnügt und fröhlich. In allen Gesellschaften hatte man die Doktorin gern, denn sie benahm sich so fein und wohlanständig, als ob sie von jeher dazu gehört hätte; aber an schnellem Witz, an Verstand und Bildung übertraf sie noch manche adlige Dame, denn sie hatte auch, wie Hans Benedix lobesam, mehr von ihrer Mutter geerbt, als die vornehmen Damen in ihren Schulen. Nicht jeder, der viel gelernt hat, ist darum auch schon gescheut. Ihr Glück aber wurde gekrönt durch die Geburt eines Sohnes, den der Doktor trotz seiner Gelehrsamkeit wiegen half und für den er den Brei im Notfall bereitete. Der Professor und Doktor war zugleich ein Dichter, und konnte mehr, als bloß. Verse machen.

Noch ist uns aus den ersten Tagen seines jungen Glückes ein Gedicht aufbewahrt, worin er fröhlich singt:

Dem Schwarzwald bin und bleib ich gut!
Einst kam von ihm herunter
Mit einem weißen Wälderhut
Ein Mädchen, frisch und munter.
Rotwangig, kunstlos, ohne Arg,
Das nichts als Lieb' im Herzen barg.

Wohl war es eines Blickes wert,
Ich fragte: »Willst Du weilen
In unserm Tal, an meinem Herd?
Sollst alles mit mir teilen.«
Wir wußten nicht, wie uns geschah,
Das Wäldermädchen sagte: »Ja!«

In kurzem war es meine Braut,
Mein Weibchen drauf und brachte,
Als wir sein Nestchen ihm gebaut,
Ein Knäblein mir, das lachte
Mich freundlich an auf ihrem Schoß,
Und sprang umher und wurde groß.

Mein Bestes ist seit jener Zeit
Das Weibchen und der Knabe.
Nichts mangelt mir, denn mich erfreut
Das kleinste, das ich habe.
Ein Sonnenblick in mein Gemach,
Vielleicht ein Sperling auf dem Dach.

So sang der Doktor – und wenn er einen seiner Sänge fertig hatte, las er ihn seiner Doktorin vor und fragte, ob's auch so recht wäre. Denn sie merkte bald heraus, wo's fehlte, und hatte ein richtig Urteil. Hat doch das Frauenvolk so feine Fühlhörner, wie ein Schmetterling, notabene: wenn's überhaupt fein ist.

Das ginge nun alles bei dem jungen Ehepaar ganz gut, dieweil der Sonnenschein im Hause war. Wer nach Jahren, da kam ein wunderbares Lüftlein, das strich so kalt durchs Haus. Der Herr Doktor war viel älter, denn seine Frau, und hätte ihr Vater sein können. Nun wurde er, wie man im Alter wird, so etwas griesgrämig, und wenn sie ihn aufheitern wollte mit ihren Scherzen, so nahm er's übel, und was ihm früher Freude gemacht, das störte ihn und war ihm lästig. Das tat ihr wehe, und die Geduld verlor sie auch bald und weinte sich in ihrer Putzstube die Augen rot, dieweil sie's gar nicht mehr recht machen könne. Sie wäre noch gern hinaus in die Welt unter Menschen, und ihr Mann wurde immer menschenscheuer. Ist man aber in der Ehe einen Finger breit auseinander, so geht's wie bei 'nem Haus, das einen Riß bekommt. Der wird immer größer, Wind und Regen kommen durch, von oben drückt die Last, von unten wankt's – und wenn's nicht beizeiten geheilt wird, dann geht das Häuslein auseinander. So war's auch da. Die zwei verstanden sich nicht mehr, sie wollte nicht alt sein und das Leben mit dem einsamen Manne teilen; er merkte doch, wo es seiner Frau fehle, und daß das Geißenmädel noch in ihr stecke, das jetzt mehr als je herauskam. So kams denn, daß sie beide jedes seinen Weg gingen. Wo man einander eben nicht um Gotteswillen lieb hat, da wird die Liebe alt und welk, wie ein Blumenstrauß, der eine Weile wohl im Wasser noch fortblüht, aber weil er keine Wurzel hat, doch zugrunde geht. – Darum suchten die beiden doppelt sich an ihr Kind zu halten. Sie hatten nur dies einzige. So ein einziges Kind ist aber ein Schreckenskind, und ist gerade, wie wenn man nur ein Auge hat. Verlischt das, so wird's eben finster. Wohl wuchs das Kind zum Jüngling heran, flüchtete bald zum Vater und bald zur Mutter, und wußte oft nicht, mit wem er's halten sollte, und hörte die Klagen des Vaters und sah die Tränen der Mutter, die so gern wieder hinauf nach Sankt Peter gegangen wäre. Denn je älter man wird, desto mehr steigt die Jugend heraus und das Herz wirft einen goldenen Sonnenstrahl drüber und alles dünkt einem so traurig gegen den schönen Lebensmorgen. Der Jüngling hatte von beiden Eltern das Erbteil bekommen, nicht Geld, aber Witz und Verstand. Aber seine Jugendkraft vertrauerte er, in seinem Herzen nagte der Kummer über die Eltern – und in der Blüte seiner Jahre, als Student, faßte ihn der Tod, der kein Kirchenbuch aufschlägt und fragt, wie alt die Leute sind, sondern das Buch des Lebens zuschlägt. Da standen nun die beiden Eheleute und begruben ihr Liebstes und begossen das Grab mit ihren Tränen. Der alte Doktor überlebte den Tod seines Kindes nicht lange. Sein Leben war mit dem Sohne schon gestorben, so brach auch er zusammen, und als der Frühling wieder ins Land kam, da trug man auch ihn hinaus und begrub ihn neben dem Sohne.

Nun war's völlig einsam um die Witwe her. Die früheren Freunde waren zum Teil gestorben, oder zogen sich zurück und ließen sie allein, da sie keinen Mann mehr hatte. So eine Witwe ist wie ein Häuslein ohne Dach, dahinein es regnet und schneit, wie's kommt, namentlich wenn man den Witwenvater im Himmel nicht kennt. So war ihr einziges, an das sie sich hielt, ihre Gräber auf dem Kirchhof, da saß sie stundenlang und dachte der alten Zeit. Aber auf den Gräbern wachsen wohl Blumen aber kein Trost. Der fällt von oben her auf den, der auf dem Grabe sitzt, aber von unten herauf von den Toten kommt er nicht.

Oft saß sie in tiefer Mitternacht auf den Gräbern, und gab dadurch Gelegenheit, den Leuten die Mäuler aufzureißen. Sie selbst wurde auch älter und irrer; ihre Gedanken gingen nach der Zeit der Jugend und ihres Glückes, für alles andere hatte sie kein Gedächtnis mehr. So redete sie mit den Leuten, die kamen, um die Witwe des berühmten Doktors und Dichters und sein Grab zu sehen, las ihnen von seinen Gedichten vor – alles klang wie aus einer längst vergangenen Zeit, sie aber meinte, jeder müßte ihn gekannt und gesehen haben. So spann sie sich immer tiefer in ihr eigenes Gedankennetz. Sie wurde launisch und gebrechlich; ein armes Kind aus Sankt Peter, aus ihrer Freundschaft, mußte bei ihr aushalten und hatte wenig gute Tage.

Die Zeit eilte, die Zeitgenossen starben. Vierundsiebzig Jahre war sie geworden, das schöne Haar gebleicht, die muntern Augen starrten wirr und unstät hinaus, die roten Wangen waren verwelkt und eingefallen. Wer sie in Freiburg dahinschlendern sah, den altmodischen Regenschirm und das Bauernkind an der Hand, hätte nicht geahnt, daß sie einst die schönste Blume im Tale war. – So starb sie im vorigen Jahrhundert, ungekannt und unbeweint.

Darum will der Verfasser es nicht allemal loben, wie er zu Anfang gesagt, wenn einer hinauf kommt im Leben. Denn Dornen wachsen auf der Höhe. Aber loben will er es, wenn einer von der Erde in den Himmel hinauf kommt, und den armen Kittel der Sterblichkeit vertauscht mit dem Feierkleid himmlischer Herrlichkeit. Da ist er wahrhaftig über seinen Stand hinaus erhoben und doch in seinen wahren Stand gekommen.

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