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Wohnstube bei Kolb.
(Bescheidene und altmodische Einrichtung. Mittelthür, die auf den Flur führt; Seitenthüren rechts und links. Vorn rechts ein Fenster mit verschließbaren Läden. Im Vordergrund rechts viereckiger Tisch, ein gepolsterter Lehnstuhl mit Schlummerrolle und drei Holzstühle; im Vordergrund links ein abgenutztes Sofa und ein Sessel. An der Wand links hinten Kommode; auf derselben allerlei bunter Zierkram, Schreibzeug, eine Bibel und eine Kaffeemaschine. An der Hinterwand links eiserner Ofen mit Schirm; rechts ein Schrank. An den Wänden ein paar billige Oeldrucke von patriotischem Charakter.)
(Wenn der Vorhang aufgeht, sind die Läden des Fensters verschlossen, und die Bühne ist dunkel.) Eugenie (ruht, mit einer wollenen Decke zugedeckt, auf dem Sofa links; ihre Kleidung ist dieselbe wie im zweiten Aufzug. Neben ihr, auf dem Sessel, liegen ihr Hut und Mantel). Frau Kolb (kommt mit einem Licht leise durch die Thür rechts).
Eugenie. Mutter, bist du's?
Frau Kolb. Ja, ich. – (Sie geht zur Kommode und zündet die Kaffeemaschine an.) Ich habe ja die ganze Nacht kein Auge zugethan. – Hast du denn wenigstens ein bißchen geschlafen?
Eugenie. Nicht viel, Mutter. 102
Frau Kolb. Wenn ich's dir nur hätte bequemer machen können! Das alte harte Sofa! –
Eugenie. Ist es schon spät?
Frau Kolb. Heller Morgen. (Sie öffnet die Fensterläden und löscht das Licht. Ein noch gedämpftes Tageslicht fällt herein, das allmählich in vollen Tag übergeht.) Der Vater kann jeden Augenblick aufwachen . . .
Eugenie (steht auf). Weiß er's?
Frau Kolb. Bewahre. Noch kein Wort. Er war ja in einem Zustand, als er gestern von euch heimkam . . . Gleich fiel er aufs Bett und schnarchte, und so schläft er noch. Ach, wenn ich nur wüßte – wenn ich nur wüßte, wie ich's ihm beibringen soll!
Eugenie. Es hilft nichts, Mutter. Ich hab' es ihm erspart – so lang wie möglich.
Frau Kolb (jammernd). Herr Jesus – was für ein Unglück! Was für ein Unglück!
Eugenie. Das Unglück geschah damals, wie ich von euch wegging – nicht gestern.
Frau Kolb. An die Nacht werd' ich denken bis an mein seliges Ende! Zuerst dein Vater – in seinem Zustand, wo 103 ich ihn noch gebeten hatte, und wo er doch ganz genau weiß, daß er's nicht vertragen kann – und dann du, zitternd und bebend und wie im Fieber! Wenn du mir nur nicht krank wirst . . .
Eugenie. Sei unbesorgt! Jetzt werd' ich nicht krank, jetzt gewiß nicht!
Frau Kolb. Ein Täßchen Kaffee – das wird dir gut thun – das sollst du auch gleich haben – auf der Stelle. (Sie ist zur Kommode gegangen und holt die Kaffeemaschine zum Tisch.)
Eugenie (sich an den Tisch setzend, wehmütig). Lebt die alte Maschine auch noch?
Frau Kolb. Wie wir sie zur Aussteuer bekamen, war's das Allerneueste. – Ja, so fein, wie bei euch, haben wir's nicht. Du mußt vorlieb nehmen. – Ach, ich kann's ja noch gar nicht glauben! Ist es denn wahr? Ist es wirklich wahr? Du willst nicht mehr zu ihm zurück?
Eugenie. Nein, nie mehr.
Frau Kolb. Aber das ist ja entsetzlich! Nicht mehr zurück zu deinem Mann! So was darf man doch gar nicht; das ist verboten. (Sie schenkt ein.) Du trinkst ihn ja immer ohne Zucker. – – Das ist eine Sünde! Hast du auch daran gedacht?
Eugenie. Ich habe an alles gedacht. Die Nacht war ja lang genug. Gestern Abend war ich im Fieber – das kann 104 schon sein. Aber nun ist Morgen; nun weiß ich, was ich zu thun habe. (Sie steht auf und greift nach Hut und Mantel.)
Frau Kolb. Du willst fort – in aller Herrgottsfrühe? Wohin?
Eugenie. Zum Anwalt, Mutter. Ich will ihn noch treffen, bevor er aufs Gericht geht.
Frau Kolb. Zum Anwalt?
Eugenie. Ja, zum Doktor Ebeling. Gott sei Dank – er war dabei gestern abend, und ich hab' es ihm angesehen, er stand auf meiner Seite. Von ihm werd' ich erfahren . . .
Kolb (ruft rechts hinter der Scene). Alte, wo bist du denn?
Frau Kolb. Hier! Gleich! (Zu Eugenie.) Wenn du dich erst zurechtmachen willst – draußen in der Küche . . .
Eugenie. Ich weiß.
Kolb (hinter der Scene). Alte – ich kann meine Kleider nicht finden.
Frau Kolb (rufend). Neben dem Waschtisch. – Ach, was soll ich ihm denn nur sagen?
Eugenie. Die Wahrheit. Oder wenn du nicht den Mut hast, so warte, bis ich zurückkomme. (Sie will gehen.) 105
Frau Kolb (umarmt sie). Mein armes Kind.
Eugenie. Willst du mein Glück, Mutter?
Frau Kolb. Was will ich denn sonst auf der Welt?
Eugenie. Dann hast du keinen Grund zu jammern. Denn jetzt will ich wieder deine zufriedene, deine frohe Eugenie werden. (Ab Mitte.)
Frau Kolb. (Dann) Kolb.
Frau Kolb (richtet seufzend die Kaffeemaschine neu her, holt Tassen, macht im Zimmer Ordnung und geht zum Ofen, um einzuheizen).
Kolb (kommt von rechts, im Schlafrock, die Hand vor die Stirn gepreßt; kläglich und kleinlaut). Guten Morgen, Alte. (Setzt sich an den Tisch.)
Frau Kolb (noch am Ofen; während der ganzen Scene unruhig und unsicher). Guten Morgen, Kolb. (Sie kommt zum Tisch und schenkt während des Folgenden Kaffee ein, den beide trinken.)
Kolb. O, ich hab' einen Kopf! – Ich kann es gar keinem Menschen schildern, was ich für einen Kopf habe.
Frau Kolb. Hab' ich dir's nicht vorausgesagt? 106
Kolb. Schön war's doch – wunderschön war's. – Wie bin ich denn gestern eigentlich nach Hause gekommen?
Frau Kolb. Frag' mich lieber gar nicht.
Kolb. Hätt's nicht geglaubt. Ich meinte, ich wäre der Stärkere. Aber der Wein war der Stärkere. – O, o! – Aber schön war's doch. Einmal muß der Mensch doch sein Vergnügen haben. Kommt früh genug wieder zurück in sein graues Elend . . . grau – alles ganz grau.
Frau Kolb. Wenn du's nur gut verträgst!
Kolb. Warum denn nicht? Vergnügen ist gesund. Das Unglück ist nur, daß so was nicht öfter an mich kommt. Alle Mittag Wasser trinken – immer Wasser, und alle Abend Weißbier – immer Weißbier – und sich's am Munde absparen, daß man die Miete bezahlen kann . . . O, o, was für ein irdisches Jammerthal!
Frau Kolb. Ja, im Ueberfluß haben wir's nicht.
Kolb. Und meinst du, daß der Kaffee gut ist? Schlecht ist der Kaffee. – Und wenn es so weiter geht, dann werden wir trockenes Brot essen müssen – einfach trockenes Brot. Das Fleisch ist wieder aufgeschlagen – und der kalte Winter – und die Steuern – und der Wilhelm schreibt, daß er Geld braucht, und der Gottlieb schreibt, daß er Geld braucht . . . 107
Frau Kolb. Ach, die Kinder schränken sich genug ein.
Kolb. Ja, wo soll ich denn aber das alles auftreiben? Bin ich ein pensionierter Staatsdiener, oder bin ich ein Millionär?
Frau Kolb. Der liebe Gott wird schon weiter helfen.
Kolb. Ja, wenn die Jungens erst was verdienen. Aber das dauert eine Ewigkeit. Wir sind alte Leute; des Menschen Leben währet siebzig Jahre, und wenn's hoch kommt, achtzig – das ist das Ende vom Lied. – Ja, die Eugenie, die Eugenie – die weiß gar nicht, wie gut sie's hat.
Frau Kolb (mit Ueberwindung). Wenn sie's aber doch nicht aushalten kann bei ihrem Mann?
Kolb. I, sie wird sich hüten. Hättest nur dabei sein sollen gestern abend; da hättest du was erleben können. Wie der Tisch wieder gedeckt war – das Porzellan und das Glas – und mindestens ein Dutzend verschiedene Weine, von den allerteuersten. Was da gestern draufgegangen ist – ein ganzer Monatsgehalt von mir reicht nicht hin.
Frau Kolb. Hast du denn sonst gar nichts bemerkt?
Kolb. Was soll ich denn bemerkt haben?
Frau Kolb. Keinen neuen Streit zwischen Eugenie und ihrem Mann? 108
Kolb. Wieder ein Herz und eine Seele!
Frau Kolb. Aber wenn sie trotzdem . . .
Kolb. Was hast du denn eigentlich?
Frau Kolb. Ach, ich kann es dir nicht länger verschweigen . . . (Es klingelt.) Ich . . .
Kolb. Sieh erst nach . . .
Frau Kolb. Ach Gott! (Sie eilt durch die Mittelthür, läßt sie offen und macht die hinter derselben sichtbare Flurthüre auf.)
Kolb (währenddessen). Was ist denn los? Wer kann jetzt . . .
Frau Kolb (prallt erschrocken zurück beim Anblick Waldecks und eilt ihm voran ins Zimmer, indem sie ihrem Manne Zeichen macht).
Vorige. Waldeck.
Kolb (sehr erstaunt). Sie sind es, Schwiegersohn? Sie bei uns – um diese Zeit?
Waldeck. Das wundert Sie? Wissen Sie denn noch gar nichts? 109
Kolb (sieht abwechselnd Waldeck und seine Frau an). Ja, was soll ich denn wissen?
Waldeck. Ihre Tochter ist mir davon gelaufen.
Kolb (fast sprachlos). Davonge . . .
Waldeck. Ganz glatt. Gestern, bei nachtschlafender Zeit. Aus meinem Hause davongelaufen!
Kolb. Aber wohin denn? Wo ist sie denn?
Waldeck. Das wollte ich Sie fragen.
Frau Kolb (zitternd). Sie war hier die Nacht. Ich habe sie aufgenommen . . .
Kolb. Und das sagst du mir erst jetzt?!
Frau Kolb. Ich wollte ja grade . . .
Kolb. So ist sie wieder nach Hause zurück?
Frau Kolb. Nein, sie will nicht.
Waldeck. Sie will nicht? 110
Kolb (losbrechend). Schockschwerenot, das hat mir grade noch gefehlt!
Waldeck. Mir auch! Können Sie sich denken.
Kolb. Was ist da vorgefallen? Zuallererst muß ich wissen, was vorgefallen ist.
Waldeck. Nichts, gar nichts.
Frau Kolb. Eugenie sagt, Sie hätten Sie gekränkt, beleidigt . . .
Waldeck. Ich sie!
Kolb. Ruhig, Frau! Was meine Tochter sagt, das will ich von ihr selber hören. Eins nach dem andern! Und wenn auch alles zusammenbricht, Ordnung muß sein. Ich bin der Vater, und als solcher habe ich Sie vor allem zu fragen, Herr Waldeck: Haben Sie unserm Kind etwas zuleide gethan?
Waldeck. Trauen Sie mir so was zu – mir? Ganz im Gegenteil, freundlich bin ich zu ihr gewesen – ja, ich kann sogar sagen, liebevoll. Und was thut sie? Sie reißt sich von mir los – und auf und davon, wie eine Verrückte!
Kolb. Verhält sich das wirklich so und nicht anders? 111
Waldeck. Das kann ich beschwören – vor Gericht beschwören. Hie und da bin ich ja einmal ein bißchen hitzig. Du lieber Himmel, man ist nur ein Mensch und sie kann einen dazu bringen, Ihre Tochter. Aber dafür hab' ich sie auch ernährt, für sie gesorgt – und wie gesorgt! Nichts war mir zu teuer für sie; noch zu Weihnachten das prachtvolle Armband – gerade jetzt wieder ein seines neues Kleid. Zum Haushaltungsgeld hab' ich ihr noch vor vierzehn Tagen was zugelegt. So bin ich! Und was hab' ich für alles das von ihr verlangt? Nichts als mein bißchen Bequemlichkeit, nichts als Ordnung und Pünktlichkeit im Hause. Ja, wozu ist denn eine Frau sonst da – möcht' ich wissen! Und trotzdem immer ein mürrisches Gesicht; alles gleich übel genommen; sogar die Dienstboten hielten's nicht bei ihr aus. Die Neue hat wieder gekündigt, und heute früh hab' ich sie davongejagt, weil sie noch unverschämt dazu war. (Rührselig.) Jetzt bin ich ganz allein, habe keinen Menschen zu meiner Bedienung . . . ein verheirateter Mann – und kann nicht einmal zu Hause essen! So weit hat sie es gebracht, Ihre Tochter; das – das ist ihr Dank.
Kolb. Und Sie haben sich sonst nichts vorzuwerfen, Herr Waldeck? – Geh' mal ein bißchen beiseit, Alte.
Waldeck. Kann ruhig hierbleiben – Ihre Frau; ganz ruhig. Einen treueren Ehemann wie mich soll man mal suchen! Was gehn mich fremde Weiber an? Mein Geschäft und meine Häuslichkeit – weiter existiert für mich nichts! Wenn jemand von uns beiden Ursache gehabt hätte zur Eifersucht . . .
Kolb (stark). Was? 112
Waldeck. Na ja, meinen Sie, daß es mich nicht geärgert hat – ihr ewiges Zusammenhocken mit dem Lukas!
Frau Kolb (mit ungewohnter Energie). So was behaupten Sie nicht von meinem Kind – so was nicht!
Waldeck. Ich behaupte gar nichts. Thatsache ist nur: Sie hat die Behausung ihres rechtmäßigen Mannes böswillig verlassen – und das ist ein Scheidungsgrund.
Frau Kolb (plötzlich sehr erschrocken). Herr meines Lebens, Sie wollen doch nicht . . .
Waldeck. Wenn ich klage, dann wird sie der schuldige Teil. Dann hat das gute Leben ein Ende. Ich brauche dann nicht mehr für sie zu sorgen – ich nicht.
Kolb (immer ängstlicher). Aber dazu werden Sie's doch nicht kommen lassen. Sie war ja nicht bei klarem Bewußtsein . . . sie hat sich ja keine Rechenschaft gegeben, was ein solcher Schritt bedeutet. Und dann – bedenken Sie doch nur – ein Prozeß – die Schande, die Schande!
Waldeck. Jawohl, ein regelrechter Skandal – in aller Leute Mäuler – verklatscht und verketzert – sehr richtig! Meinen Sie vielleicht, daß mir das besonderes Vergnügen machen würde – was?
Kolb. Nun also . . . 113
Waldeck. Ich will auch gar keine Scheidung.
Kolb (erleichtert). Gott sei gelobt!
Waldeck. Ich will weiter nichts, als daß sie ihr unerhörtes Betragen bereut, und daß sie unverzüglich ins Haus zurückkommt. Das ist die erste Bedingung.
Kolb. Ja, das können Sie verlangen.
Waldeck. Wenn sie noch heute freiwillig zu mir kommt – verstehen Sie wohl – noch heute vor dem Mittagessen – dann will ich ihr sogar noch einmal verzeihen; dann will ich ihr nichts nachtragen, und alles soll sein wie vorher.
Kolb. Das ist edel von Ihnen, Schwiegersohn.
Waldeck. Thut sie dies aber nicht, dann versichre ich Ihnen, dann wird sie durch den Richter dazu aufgefordert werden, und zwar unter Androhung von hohen Geldstrafen. Dann werd' ich ihr den Unterhalt entziehen und für ihre Schulden nicht aufkommen; ja, dann werd' ich kein gesetzliches Mittel unversucht lassen, um sie auf den Weg der Pflicht zurückzubringen. Das bin ich nicht allein mir, das bin ich auch der Heiligkeit der Ehe schuldig. Jetzt kennen Sie meinen Standpunkt. Teilen Sie ihn Ihrer Tochter mit. – Guten Morgen. (Ab.) 114
Kolb. Frau Kolb.
Kolb (während der ganzen Scene in großer Erregung). Wo ist sie? Wo ist meine Tochter? Sie muß zu ihm heim – augenblicklich heim.
Frau Kolb. Sie wollte gleich wiederkommen . . .
Kolb. Ich will sie empfangen, ich. Eindringlich und vernehmlich will ich meine Stimme erheben. Hab' ich sie nicht erzogen in Ehren? Bin ich ihr nicht vorangegangen mit gutem Beispiel all mein Lebtag? Hab' ich sie nicht erst kürzlich vermahnt und gewarnt? – Aber ich hab's immer gesagt – immer: Ein Dutzend Jungens machen den Eltern nicht so viel Last wie ein einziges Mädchen. Die muß man behüten und bewachen Tag und Nacht – und dann, wenn sie erwachsen ist, die Angst, daß ihre Seele keinen Schaden nimmt, und die Sorge, daß sie einen Mann bekommt, und die Mühe, bis man sie untergebracht hat – und mit alledem soll's noch nicht genug sein?
Frau Kolb. Aber bevor du sie selbst gehört hast . . .
Kolb. Was kann sie sagen? Was kann ein Weib sagen, das seinem Eheherrn davongeht? Haben wir zwei nicht auch manchmal miteinander gehadert? Denk nur, wenn du mir hättest fortlaufen wollen.
Frau Kolb. Gott soll bewahren! 115
Kolb. Ja, das kannte man damals nicht. Denn damals herrschte Zucht und Sitte. Aber das kommt von den neumodischen Ideen, von den neumodischen Büchern. (Er holt von der Kommode die Bibel.) Hier – hier ist ein Buch – das wird doch wohl auch noch was gelten, und darin steht: »Die Frau soll Vater und Mutter verlassen und dem Manne folgen.«
Frau Kolb. Wenn du sie nur gesehen hättest gestern abend! . . .
Kolb. Ich habe sie ja gesehen. Ich saß an ihrem Tisch, und ihr Mann war wie ein guter Hausvater. Sind wir nicht alle paar Tage bei ihr gewesen? Haben wir nicht über sie gewacht? Wenn sie wirklich schlecht behandelt worden wäre – das hätten wir doch gemerkt – wir zuerst.
Frau Kolb. Ach, ich meine doch, du solltest . . .
Kolb. Erlaub mal! Rede mir jetzt nicht hinein. Das ist jetzt meine Sache. Ich habe die väterliche Gewalt; ich bin das Familienoberhaupt. (Er eilt zum Schrank und vertauscht seinen Schlafrock mit einem schwarzen Rock.) Ordnung muß sein – in der Familie wie im Staat. Das weiß ich doch wohl am besten.
Vorige. Eugenie.
Frau Kolb (bei Eugeniens Eintreten, angstvoll). Da ist sie.
Kolb. So! – (Er geht auf Eugenie zu.) Das also muß ich von dir erleben – das! Wenn du sonst über diese 116 Schwelle tratest, so habe ich gesagt: Willkommen, meine Tochter. Heute sag' ich dir: Kehre um! Gehe zurück den Weg, den du kamst; gehe ihn, solang er dir noch offen steht.
Frau Kolb. Dein Mann war eben hier . . .
Kolb. Ja – und er ist großmütig genug, dir zu verzeihen, wenn du auf der Stelle . . .
Eugenie. Er hat mir nichts zu verzeihen.
Kolb. Nicht? Da irrst du dich ganz gewaltig. Du bist im Unrecht – unter allen Umständen! Und wenn er dich auch zehnmal gekränkt, beleidigt, mißhandelt hätte – fortlaufen durftest du ihm deshalb noch lange nicht.
Eugenie. Tausendmal wollt' ich's thun und that es nicht. Gestern konnte ich nicht mehr anders.
Kolb. Erlaub mal: und warum nicht?
Eugenie (die Hände vors Gesicht schlagend). Wie er auf mich zukam . . . mit dem Weindunst, und mich an sich preßte . . . (Zusammenschauernd mit einem Laut des Ekels.) Aeh –! und ganz in seiner Gewalt – ein Stück von seinem Eigentum – o, es ist so grauenhaft, daran zu denken – so widerlich! . . . Da schrie es in mir: Keine Nacht mehr, keine Stunde, keine Minute! – Und wär' ich nicht so hinausgekommen bei Gott, dann hätt' ich mich aus dem Fenster gestürzt. 117
Frau Kolb. Herr Jesus!
Kolb (kopfschüttelnd). Das begreife, wer kann. – Hat er dich vielleicht doch hintergangen?
Eugenie. Nein.
Kolb. Hat er dich geschlagen?
Eugenie. Nein.
Kolb. Er selbst hat auch feierlich erklärt, daß er sich nichts derart vorzuwerfen hat. Er sagt, er kann's beschwören.
Eugenie. Ich glaub's ihm schon, daß er nicht weiß, nicht ahnt, wie er mich gemartert hat. Was weiß er denn überhaupt von mir?
Kolb. Schockschwerenot, jetzt möcht' ich aber doch wahrhaftig erfahren . . .
Frau Kolb. Ach, ich glaube . . .
Kolb. Ruhig, Frau! Mische du dich jetzt nicht hinein. Ich will endlich den Grund wissen – den Grund, warum sie ihrem Manne weggelaufen ist!
Eugenie. Weil mir das Leben mit ihm unerträglich geworden ist, weil seine Berührung mir Schauder erweckt, weil er 118 mich zwingen will zu allem, zu allem – und weil ich ihm nicht mehr gehorchen kann.
Kolb. So, so! – und willst du auch mir nicht mehr gehorchen – auch deinem Vater nicht?
Eugenie. Ich habe dir gehorcht, als ich unwissend und unmündig war – als du mich diesem Manne gabst. Jetzt kann ich niemand mehr gehorchen als mir selbst.
Kolb. Ja – wenn du so weit bist! Wenn du vor nichts mehr Ehrfurcht hast, nicht vor Gott, nicht vor der Ehe, nicht vor deinen Eltern, dann ist es sonnenklar: du rennst in dein Verderben.
Frau Kolb. Eugenie, er hat gedroht mit der Scheidung!
Eugenie. Gedroht? Das braucht er gar nicht. Ich komme ihm zuvor.
Kolb. Du?!
Eugenie. Deshalb war ich eben beim Anwalt.
Kolb. Eine Scheidung! – Und du wirst der schuldige Teil.
Eugenie. Mir gleich, wenn ich nur von ihm loskomme. 119
Kolb. Und weißt du auch, was dann geschieht? Er sorgt nicht mehr für dich; er gibt dir nichts mehr.
Eugenie. Ich würde auch nichts mehr von ihm annehmen.
Kolb. So! Und nun sage mir nur noch das eine: Was willst du dann anfangen?
Eugenie (betroffen, nach einer kleinen Pause mit leiser Stimme). Das – das weiß ich noch nicht.
Kolb. Wovon willst du dann leben?
Eugenie. Ich werde versuchen, mir etwas zu verdienen . . .
Kolb. Du dir was verdienen? Ja, wenn das so einfach wäre! Du hast ja nichts recht gelernt, als was zur Haushaltung gehört.
Eugenie. Ich will irgend eine Stelle annehmen – jede soll mir recht sein.
Kolb. Erst muß sie sich finden für eine geschiedene Frau! Und wer soll dich bis dahin unterhalten? Wer soll die Prozeßkosten tragen? Wer soll die Strafen bezahlen – die hohen Geldstrafen? Hast du dabei vielleicht auf mich gerechnet? 120
Eugenie (mit zunehmender Niedergeschlagenheit). Ich –
Kolb. Das mußt du dir nur nicht einreden, daß ich das kann. Der liebe Himmel weiß, ich kann es nicht.
Frau Kolb (begütigend). Kolb!
Kolb (sich zu seiner Frau wendend). Ja, was denn? Soll ich's aus dem Aermel schütteln? Hab' ich nicht gespart von ihrer Geburt bis zum Tag ihrer Verlobung? Hab' ich nicht Jahr um Jahr jeden überflüssigen Groschen von meinem Gehalt auf die Seite gelegt für sie? Ihre Mitgift nahm alles fort; für ihre Brüder blieb nicht so viel übrig. Jetzt bin ich nicht mehr im Amt; die Pension reicht knapp für uns zwei; wir haben diese kleine Wohnung nehmen müssen, alle schönen Möbel verkauft; nicht einmal ein Mädchen können wir uns halten. Und warum? (Wieder zu Eugenie gewandt.) Weil jetzt deine Brüder endlich an die Reihe kommen. Was ich jetzt noch zusammenschrappe, das gehört nach Recht und Billigkeit ihnen. Oder meinst du nicht?
Eugenie (erschüttert). Ja, ja!
Kolb. Und wenn ich heute sterbe, was dann?
Frau Kolb. Kolb, versündige dich nicht!
Kolb. Dann sitzt deine alte Mutter da und hat nichts, gar nichts. Das Nachsehen hat sie dann. 121
Eugenie (immer haltloser). Ich weiß ja . . . ich sehe ja ein . . . ihr habt so unendlich viel gethan . . .
Kolb. Freudig haben wir's gethan. Denn wenn wir den letzten Pfennig dransetzten an die Erziehung unsrer Kinder – wenn wir uns einschränkten für euch, uns nicht satt aßen für euch – da sagten wir uns immer, deine Mutter und ich: Im Alter wird's uns Früchte tragen; da werden sie uns heimzahlen mit Zins und Zinseszins, was wir an sie gewandt; da werden sie uns ein weiches Bette machen und von unsern müden Schultern die Sorgen nehmen.
Eugenie. Vater! (Aufschluchzend und vor ihm niedersinkend.) Vater – verzeih – verzeih!
Kolb. Steh auf – meine Tochter – steh auf! Warum soll ich dir nicht verzeihen, wenn du endlich wieder zur Vernunft kommst. Du bist ja doch meine kluge Eugenie; ich wußte ja, du wirst einsehen, was du zu thun hast.
Eugenie (noch knieend und in Thränen). Alles will ich thun – alles – nur das eine nicht!
Kolb (enttäuscht und aufgebracht). Nicht? Nachdem ich so mit dir gesprochen habe? Nachdem ich dir gesagt habe, daß du uns allesamt zu Grunde richtest! Und doch nicht? Dann sind wir zwei fertig miteinander.
Eugenie. Willst du mich auf die Straße stoßen? 122
Kolb. Ich will dir den Weg zeigen, den du zu gehen hast.
Eugenie (wendet sich zur Thür). Dann lebt wohl.
Frau Kolb (ihr entgegen und sie aufhaltend). Nein, nein, das wird nicht geschehn. (Auf eine Bewegung Kolbs.) Hier red' ich mit – jawohl. Ich bin die Mutter; ich duld' es nicht.
Kolb (streng). Frau!
Frau Kolb. Bist du so ein Unmensch, daß du dein armes unglückliches Kind von deiner Thüre weisest! Ja, es wäre freilich das beste, wenn sie zurückginge; das sage ich auch; aber wenn sie's nicht thut, dann ist hier ihr Platz – hier und nirgendwo anders.
Kolb (milder). Wenn sie sich absolut ins Unglück stürzen will – meinetwegen. Ich aber sage vor Gott und vor den Menschen: Ich habe meine Vaterpflicht gethan. (Geht ab rechts.)
Frau Kolb. Eugenie.
Eugenie (hat sich gesetzt und sieht ratlos und verzweifelt ihre Mutter an).
Frau Kolb. Sei nur ruhig, mein Kind, nur ganz ruhig. Es wird schon alles werden, so Gott will. Wo zwei essen, werden auch dreie satt. Und wir können ja ganz gut 123 die Pendule verkaufen – weißt du – die vom Großvater – und wir haben doch auch noch ein paar Lose, wo nächstens Ziehung ist. Und drinnen in der Kammer (deutet nach links) – da werd' ich dir's ganz bequem einrichten – ganz gemütlich. – Hast du dir denn sonst gar nichts mitgebracht? All deine Sachen zu Hause gelassen?
Eugenie. Wie konnte ich . . .
Frau Kolb. Wenn man das wenigstens herausbekommen könnte! Es ist doch jammerschade – all die teure schöne Wäsche – und die Kleider . . . Ich weiß wirklich nicht, ob meine Sachen dir passen.
Eugenie (steht auf). Laß sein, Mutter; laß gut sein. Der Vater hat ganz recht.
Frau Kolb. Ach, der alte Brummbär!
Eugenie. Nein, es ist so; ich kann auf die Dauer nicht bei euch bleiben – ich darf nicht. Nur ein paar Tage, bis sich irgend etwas für mich gefunden hat . . . eine Stelle als Erzieherin, oder in einem Geschäft . . . ich mache ja gar keine Ansprüche – wenn ich nur durchkommen kann. Und das mußt du wissen: Man nimmt sich jetzt der alleinstehenden Frauen an; man hilft ihnen auf; es gibt genug edeldenkende Menschen . . . (Es klingelt.)
Frau Kolb. Wart nur mal; ich will sehen . . . (Sie geht durch die Mittelthür, die sie wieder offen läßt, und öffnet die Flurthür. Durch diese tritt Susanne ein, wechselt mit Frau Kolb ein paar unhörbare 124 Worte. Dann zeigt Frau Kolb nach vorn.) Ja, da ist sie. (Sie läßt Susanne eintreten und zieht sich zurück, die Thür hinter sich schließend.)
Eugenie. Susanne.
Susanne. Soeben, meine Liebe, erhalte ich Ihr Briefchen . . .
Eugenie. Ja, ich mußte Sie sprechen – ganz notwendig. Es ist für mich von so außerordeutlichem Wert, von so großer Wichtigkeit . . . und ich wäre ja gern zu Ihnen gekommen; aber Sie werden begreifen – nach dem gestrigen Vorfall . . .
Susanne. Danach hätte ich auch nicht zu Ihnen kommen sollen.
Eugenie. Ich bitte Sie, lassen Sie uns das jetzt vergessen; rechnen wir darüber nicht ab. Ich bin Ihnen ja auch doppelt und dreifach dankbar, daß Sie trotzdem so schnell . . . (Lädt sie zum Sitzen ein.)
Susanne. Die Neugier, meine Liebe. Denn ich konnte mir wirklich gar nicht denken, was Sie mir so Wichtiges mitzuteilen haben und noch dazu in der Wohnung Ihrer Eltern . . .
Eugenie. Ich habe das Haus meines Mannes verlassen.
Susanne (perplex). Was der tausend! – 125
Eugenie. Und ich bin entschlossen, gegen ihn auf Scheidung zu klagen.
Susanne. Ist es die Möglichkeit! – Ich falle aus den Wolken. –
Eugenie. Aber dazu ist vor allem nötig, wie mir Herr Doktor Ebeling gesagt hat . . .
Susanne (beunruhigt). Herr Doktor Ebeling? – Er also hat Ihnen geraten, sich an mich zu wenden?
Eugenie. Nein, das nicht.
Susanne. Ich muß Ihnen gleich vorweg bemerken, daß mir dieser Herr im höchsten Grade gleichgültig ist, und daß ich keinen ferneren Verkehr mit ihm wünsche.
Eugenie. Davon ist ja auch gar nicht die Rede.
Susanne. Nicht? – Nun, Sie sind da freilich in einer sehr peniblen Situation. Sie thun mir leid – aufrichtig leid. Ich stehe selbstverständlich auch gern zu Diensten, wenn Sie glauben, daß durch meine Vermittelung . . .
Eugenie. Es ist etwas andres, wofür ich Ihren Beistand erbitte.
Susanne (wieder unruhig). Etwas andres? Aber was habe ich denn sonst mit der ganzen Geschichte zu thun? 126
Eugenie (zögernd und mit Ueberwindung). Es ist durchaus notwendig für mich, daß ich – daß ich Zeugen finde – und zwar schon jetzt. – Ach, das ist alles so unsagbar peinlich . . .
Susanne. In der That . . .
Eugenie. Aber es muß ja sein. Noch bevor der Prozeß beginnt, muß ich vom Gericht die einstweilige Erlaubnis bekommen, daß ich von ihm getrennt bleiben darf. Und das geht nur, wenn ich durch Zeugenaussagen beweisen kann . . .
Susanne. Und dabei haben Sie an mich gedacht?
Eugenie. Ja, an Sie zuerst. Seien Sie versichert, ich hätte Sie nicht bemüht, wenn ich mir sonst zu helfen wüßte. Aber es ist so schwer für mich . . . Mein Mann war immer so ganz anders, wenn Dritte dabei waren. Und gerade Sie gehören zu den wenigen, die gemerkt haben müssen . . .
Susanne (einfallend). Ich habe nichts gemerkt, aber rein gar nichts. Und auch sonst kann ich mich nicht entsinnen . . . Oder wenn Sie vielleicht auf das gestrige Intermezzo anspielen – mein Gatte würde ja sicher zu jeder Ehrenerklärung bereit sein. Sie haben die Sache wirklich ganz unnötig aufgebauscht. Du mein Gott, wir waren alle ein bißchen angeheitert. Und was ist denn schließlich auch dabei . . .?
Eugenie. Ach, darum handelt es sich jetzt nicht. Ich suche bei Ihnen Hilfe für mein gutes Recht; ich spreche als Frau 127 zu einer Frau! Sie müssen mich verstehen; Sie dürfen mich nicht im Stich lassen. Haben Sie nicht selbst immer gesagt, wir sollten uns verbünden, wir sollten zusammenhalten?
Susanne (steht auf). Nun denn, um deutlich zu sein, ich möchte Sie ganz dringend gebeten haben: Lassen Sie mich aus dieser Affaire heraus. Ich bin nicht gern in einen Skandal verwickelt, und in diesen schon gar nicht. Auch meinem Mann wäre das äußerst fatal – bei seiner exponierten Stellung . . . Und außerdem – ich weiß ja auch wirklich nichts; ich könnte nur sagen, daß Ihr Schritt mich vollständig überrascht hat, und daß ich von Ihrer Ehe nie einen andern Eindruck hatte, als den allerbesten.
Eugenie. Aber das ist ja unmöglich die Wahrheit!
Susanne (spitz). Wollen Sie die Wahrheit von mir hören, meine Liebe? Sie haben da recht unbesonnen gehandelt – und wenn Sie sich etwa einbilden, daß die Gesellschaft Ihr Vorgehen billigen wird . . .
Eugenie. Nicht die Gesellschaft. Aber Sie – Sie müssen es.
Susanne. Ich? Da irren Sie sich sehr.
Eugenie. Sie, die Sie kämpfen wollen für unsre Rechte, für unsre Freiheit!
Susanne. Bitte sehr – das hat damit nichts zu thun. Wir haben genug andre Mittel, um zu kämpfen. Aber was128 Sie gethan haben, das kann unsre Bestrebungen nur kompromittieren.
Eugenie. Was hab' ich denn gethan?
Susanne. Wozu denn noch jetzt dieses Versteckspiel? Vor mir dürfen Sie getrost die Maske fallen lassen.
Eugenie (starr). Wie?
Susanne. Halten Sie mich doch nicht zum Narren; machen Sie mich doch nicht dumm. Ins Blaue hinein thut man so etwas nicht.
Eugenie (aufflammend). Was wollen Sie damit sagen?
Susanne. Ich will sagen: Man läuft seinem Manne nicht davon.
Eugenie. Aber man betrügt ihn – nicht wahr?
Susanne (den Kopf zurückwerfend, mit feindseligem Blick). Mir scheint, wir sind zu Ende.
Eugenie (außer sich). Also das glauben Sie von mir – das! Ich, die ich nichts will, als mein einfachstes Menschenrecht, nichts als die Befreiung aus unerträglicher Knechtschaft – und Sie wagen es, mich so zu verleumden, so über mich den Stab zu brechen – Sie! Aber dann sagen Sie auch nicht mehr, daß Sie für unsre Rechte kämpfen; dann 129 mißbrauchen Sie nicht unsre bitterste Not, unsre sehnlichsten Wünsche zum Deckmantel für Ihre Genußsucht!
Susanne. Genug, meine Liebe; warum regen Sie sich so auf? Ich meinesteils hab' es wahrhaftig nicht nötig, mich mit Ihnen zu streiten. Was wir für uns in der Stille thun, das geht niemand etwas an. Die Gesellschaft steht auf meiner Seite, und ich fürchte sehr, mein armes Kind, Sie werden das noch ganz gewaltig merken. (Ab Mitte.)
Eugenie. (Dann) Käthe.
Eugenie (allein. Eine kleine Weile unbeweglich, wie gelähmt; leise vor sich hin). Was nun? (Ein Gedanke erfaßt sie; dann schüttelt sie energisch den Kopf.) Nein! (Nachdenklich, unschlüssig.) Und doch . . . (Sie geht zur Kommode, holt das Schreibzeug, setzt sich, beginnt einen Brief zu schreiben, halblaut mitsprechend.) »Lieber Herr Lukas . . .« (Plötzlich legt sie die Feder hin und zerreißt den Brief.) Nein – unmöglich! (Sie stützt den Arm auf den Tisch und bedeckt mit der Hand die Augen.)
Käthe (öffnet vorsichtig die Thür, eilt auf Eugenie zu und umschlingt sie mit sanfter Zärtlichkeit). Meine liebe, gute, süße Tante Eugenie!
Eugenie (überrascht und gerührt). Käthe – du? – Wie kommst du denn hierher?
Käthe. Ach, ich bin – ich habe . . . Es thut mir ja so weh – ich bin so unglücklich . . . (Sie bricht in Thränen aus.) 130
Eugenie (sie liebkosend). Aber Kind, um Gottes willen, was hast du denn? Was ist dir denn geschehen?
Käthe (allmählich ruhiger, noch hie und da die Thränen schluckend). Ich hab' ja alles erfahren; ich weiß ja alles . . .
Eugenie. Du weißt . . .
Käthe. Heute früh – Papa war schon ins Bureau gegangen, und ich wollte gerade in die Schule – da kommt auf einmal die Lina angelaufen, mit puterrotem Gesicht, und hat mir alles erzählt – daß du fort bist gestern abend – und daß sie auch nicht länger bleibt – und daß es nicht zum Aushalten war. Und geflucht hat sie dazu – und ich habe geweint, so schrecklich geweint . . .
Eugenie. Kind, Kind, ich bitte dich . . .
Käthe. Ja – denn da ist's mir auf einmal eingefallen, wie unglücklich du gewesen sein mußt die ganze Zeit . . . und wie unglücklich du jetzt bist . . . Und ich – deine Käthe – ich ahnte nichts davon! Du hättest mir ja nie etwas gesagt; aber ich hätt' es von allein merken müssen, nicht wahr? O, ich war so dumm, so dumm – und so schlecht; denn ich habe nur immer an mich gedacht.
Eugenie. Mein liebes Kind, wie konntest du verstehen . . .
Käthe. So viel versteh' ich, daß du recht haben mußt – du 131 ganz allein. Und ich schwöre dir, ich will dir beistehen, ich will dich verteidigen, ich will nicht von dir lassen! –
Eugenie (kaum mehr der Sprache mächtig). Käthe!
Käthe. Ja – und wenn auch die ganze Welt gegen dich wäre – ich fürchte mich nicht. O, ich habe Mut! Ich will es ihnen allen ins Gesicht sagen, daß du viel besser bist als sie, und daß sie vor dir knien sollen – so wie ich. (Sie fällt ihr wieder zu Füßen.)
Eugenie (überwältigt). O Gott!
Käthe. Bist du mir böse, Tante Eugenie?
Eugenie (sie emporziehend). Ich dir böse? Es ist nur die Freude – die ungewohnte, die übermäßige Freude. – Dieser Augenblick entschädigt mich für viele, viele Schmerzen. – (Pause.) Und nun, Käthe, versprich mir vorerst nur eines.
Käthe. Was du willst!
Eugenie. Sage deinem Vater noch nichts – hörst du – heute noch nichts.
Käthe. Aber ich hab' ihm ja schon alles gesagt!
Eugenie (sehr erschrocken). Das hast du gethan? 132 Ich bin sogleich von zu Hause in sein Bureau gerannt . . . Ach, du hättest ihn nur sehen sollen! Ganz blaß ist er geworden, und zehnmal hat er mich gefragt: »Ist es wahr? Bist du ganz sicher, daß es wahr ist?« Und dann ließ er mich zu dir gehen und sagte, er wolle sobald als möglich nachkommen.
Eugenie. Hierher?
Käthe. Ja gewiß.
Eugenie. Käthe, du mußt augenblicklich wieder zu ihm hin. Sag' ihm, daß ich fest überzeugt bin von seiner Freundschaft. Aber ich kann ihn heute nicht empfangen – nicht sprechen.
Käthe. Er muß ja gleich hier sein . . .
Eugenie. Geh ihm entgegen, mein Kind, eile dich! – Was du heute an mir gethan hast, das gedenk' ich dir, solang' ich lebe. (Sie geht schnell ab links.)
Käthe. (Gleich darauf) Frau Kolb, Lukas.
Käthe (bleibt einen Augenblick nachdenklich stehen; dann geht sie dem Ausgang zu. Noch bevor sie die Thür erreicht hat, tritt Frau Kolb mit Lukas ein).
Lukas (wie im Gespräch fortfahrend). Ja, erschreckt hat es mich auch, aber nicht überrascht. Ich hab' es lange kommen sehen.
Frau Kolb. Aber ich frage Sie nur – Sie sind doch ein so gescheidter Mann – was soll sie nun beginnen?
Lukas. Gerade darüber will ich mit ihr reden. Vielleicht finden wir einen Ausweg.
Frau Kolb (nach links gehend). Gott geb's!
Käthe. Papa, ich soll dir ausrichten von Tante Eugenie, daß sie dich heute nicht sprechen kann.
Lukas. Nicht? Dann allerdings . . .
Frau Kolb. Ach, du lieber Himmel, sie soll froh sein, wenn sich jemand um sie kümmert.
Lukas. Nun ja – teilen Sie's ihr doch auf alle Fälle mit, daß ich hier bin, und wenn es ihr irgend möglich ist, dann lasse ich sie recht sehr bitten, mir einen Augenblick Gehör zu schenken.
Frau Kolb (nickt zustimmend und geht ab links).
Käthe (resolut). Nicht wahr, Papa? Wir wollen ihr helfen – wir zwei?
Lukas. Hm! Wie stellst du dir das vor, Käthe? 134
Käthe. Ach, ich weiß noch nicht. Ich weiß nur, daß ich alles, alles thun will, um sie wieder recht glücklich zu machen. – Sie war ja immer so gut zu mir – wie eine Mutter.
Lukas (seine Rührung bezwingend). Und du möchtest wohl, daß es so bleiben soll?
Käthe (eifrig). Immer!
Lukas. Ja, nun wird sich vieles ändern; nun wird sie von ihrem Manne getrennt leben – vielleicht in eine andre Stadt ziehen . . .
Käthe. Dann ziehen wir mit!
Lukas (lächelnd). Sehr einfach! – Nun, was würdest du dazu sagen, wenn wir sie gar nicht fort ließen? Wenn sie eines Tages zu uns käme – ganz und auf immer?
Käthe (jubelnd). Das ist ja eben, was ich will!
Lukas. So, das willst du?
Käthe. Und du auch, Papa! Du auch! Denn nicht wahr? Du hast sie doch gerade so lieb wie ich.
Lukas (ergriffen). Meinst du? (Die Thür links öffnet sich.) 135
Käthe (legt den Finger auf den Mund). Pst! – (Sie wendet sich zum Gehen, kehrt noch einmal um, gibt ihrem Vater einen herzhaften Kuß und eilt davon.)
Frau Kolb (von links, die Thür offen lassend). So. – Das hat Mühe gekostet, Herr Lukas. (Sie geht gleichfalls ab Mitte.)
Lukas. Eugenie.
Eugenie (ist ihrer Mutter auf dem Fuße gefolgt und bleibt mit gesenktem Haupt bei der Thür stehen).
Lukas (zögernd, beinahe verlegen). Halten Sie mich nicht für zudringlich, wenn ich trotz Ihrem Wunsche darauf bestand . . . Ich dachte, ich müßte Ihnen wenigstens die Hand drücken . . . Und dann – ich wollte doch auch nicht hinter meiner Käthe zurückstehen . . .
Eugenie (reicht ihm schweigend die Hand).
Lukas. Ich weiß, Sie haben ausgeharrt über Menschenkraft hinaus, und daß Sie endlich, endlich den Mut gefunden haben . . . das läßt auch mich aufatmen, wie nach einer langen, schweren Beklemmung. – Aber, was ist das? Ich habe gehofft, ich würde Sie stark finden und gefaßt – froh im Bewußtsein Ihres guten Rechtes. Und Sie sind bleich – Sie zittern – Sie haben geweint . . .
Eugenie. Ach, Herr Lukas, was hab' ich alles erfahren müssen in wenigen Stunden! 136
Lukas. Was denn?
Eugenie. Ich war ja wirklich so überzeugt von meinem Recht; ich glaubte, alle Welt müßte für mich sein. Aber alle Welt ist gegen mich – sogar meine eigenen Eltern.
Lukas (bitter lachend). Dachte mir's doch!
Eugenie. Ich glaubte – wo alles so klar und einfach ist – ich könnte innerhalb von ein paar Wochen geschieden sein. Aber wie der Anwalt mir sagt, wird es im allergünstigsten Fall mehrere Monate dauern.
Lukas. Und bis dahin wollen Sie bei Ihren Eltern bleiben?
Eugenie. Nein.
Lukas (erstaunt). Nicht?
Eugenie. Ich darf ihnen nicht so lange zur Last fallen.
Lukas. Nun, da haben wir's ja! Sie bedürfen jetzt eines Rates, einer Stütze . . . und ich war so verwegen, mir einzubilden, dazu wär' so ein alter Freund noch vielleicht zu brauchen.
Eugenie. Ich danke Ihnen herzlich, Herr Lukas. Und seien Sie versichert, wenn ich Hilfe nötig haben sollte, dann werd' ich niemand lieber . . . 137
Lukas. Sie haben Hilfe nötig! Sie wollen mir's nur nicht zugestehen.
Eugenie. Nun ja, Herr Lukas – es wäre mir nicht möglich, mir von Ihnen helfen zu lassen.
Lukas. Nicht? Und warum nicht? Weil's mich stolz, weil's mich glücklich machen würde? (Da Eugenie schweigt.) Und das soll ich ertragen? Ihr Freund soll ich sein und müßig danebenstehen, wenn Sie in Bedrängnis sind!
Eugenie. Ich muß mich ja doch auf eigene Füße stellen. Ich werde arbeiten – rastlos arbeiten von früh bis spät . . .
Lukas. Ach, ich fürchte, Sie machen sich noch keinen Begriff von den tausend und abertausend Schwierigkeiten . . .
Eugenie. O doch! – Und wählerisch darf ich ja nicht sein. Ich habe nichts recht gelernt – wie mein Vater sagt – und was ich gelernt habe, das hab' ich vergessen. Wenn man neun Jahre lang abgerichtet worden ist für einen einzigen Menschen – wozu soll man dann noch taugen in der Welt? Ich habe ja keinen Beruf . . .
Lukas (mit leuchtenden Augen). Sie keinen Beruf!
Eugenie. Nein. – Es ist für alles zu spät. 138
Lukas. Nun, dann muß ich Ihnen sagen: Sie haben einen Beruf, sobald Sie nur wollen – einen hohen und heiligen Beruf – den höchsten von allen!
Eugenie. Ich?
Lukas. Gibt es nicht ein Kind, das Sie in sein Herz geschlossen hat? Und lieben Sie es nicht herzlich wieder? – Wäre das nicht ein Beruf, dieses Kind zu erziehen?
Eugenie (freudig). Ja, ja! (Schnell und bestürzt.) Aber das ist unmöglich!
Lukas. Unmöglich?
Eugenie. Ich zu Ihnen – in Ihr Haus –
Lukas. Ja, in mein Haus – als meines Kindes Mutter.
Eugenie (schwankt und hält sich fest an der Lehne eines Stuhls). Das . . . das . . . (Sie ist während des Folgenden wie betäubt von einem Sturm widerstreitender Empfindungen.)
Lukas (warm und schlicht, ohne Pathos, hie und da nach dem rechten Worte suchend). Ich habe Sie jahrelang leiden sehen und jahrelang den stillen Heldenmut bewundert, mit dem Sie es ertrugen. Und dann hab' ich es mit angesehen, wie mein einziges Gut, wie meine Käthe sich fester und immer fester an 139 Sie anschmiegte; wie sie bei Ihnen Ersatz fand für das, was sie kaum besessen. Und da habe auch ich mehr für Sie empfinden gelernt – als nur Verehrung und Mitleid. Ein wärmeres Gefühl – ein tieferes . . . (Kleine Pause.) Ich habe es bekämpft, ich habe es mir weggeleugnet; ich war entschlossen, es mit mir zu begraben – ja, mein Wort darauf, Sie hätten es niemals erfahren! – Aber heute, wo Sie ratlos und verlassen vor mir stehen, wo Sie mit der Vergangenheit gebrochen haben, wo Sie an der Zukunft verzweifeln – heute darf ich, heute muß ich Sie fragen: Glauben Sie nicht, daß Sie noch ein neues Leben finden könnten – in Käthens Dankbarkeit und in meiner innigen Liebe? –
Eugenie (die Hände wie zum Gebet gefaltet, leise). Das träum' ich ja nur.
Lukas. Wenn ein Mann in meinen Jahren so etwas sagt – wenn er es sagt in einer solchen Stunde, nachdem er eben sein Kind umarmt und in dessen reinen Augen die Zustimmung gelesen, dann glauben Sie ihm wohl, daß er den ganzen Ernst seiner Worte kennt und die ganze Schwere seiner Pflichten.
Eugenie. Herr Lukas . . . (Sie ringt vergeblich nach Worten.)
Lukas. Sie sind verwirrt – bestürzt . . . Es ist so viel auf Sie eingestürmt . . . Fassen Sie sich erst . . . überlegen Sie . . . antworten Sie mir noch nicht! – Nur in einem Falle antworten Sie mir gleich – damit ich nicht eine vergebliche Hoffnung davontrage – nur in dem Fall, daß Sie niemals meine Frau werden können, weil – weil Sie mein Gefühl nicht erwidern. 140
Eugenie (in heftigem Seelenkampf). Ich . . .
Lukas. Sagen Sie mir: Ist es so? – Oder bedeutet Ihr Schweigen, daß es so ist?
Eugenie (ausbrechend). O nein! O nein!
Lukas (leidenschaftlich). Eugenie!
Eugenie (plötzlich wie erwacht). O mein Gott – was hab' ich gethan?
Lukas. Mich zum glücklichen Menschen gemacht!
Eugenie (auf einen Stuhl sinkend, vernichtet). Nun bin ich ja schuldig – schuldig! –
Lukas. Schuldig?
Eugenie. Ach, ich hab' es ja selbst nicht gewußt – nicht gewußt – bis zu diesem Augenblick! Ich hätte niemals gedacht, niemals geglaubt – (Mit tiefem Schmerz.) Jetzt hab' ich mein gutes Recht verloren.
Lukas (verstehend und betroffen). Das also . . .
Eugenie.. Nun ist meine That nicht mehr dieselbe – eine ganz andre – eine verwerfliche . . . (Verzweifelt aufspringend.) 141 Nein, ich darf Ihnen nichts gesagt, nichts gestanden haben . . . Ich bitte Sie, Herr Lukas – gehen Sie – wenn Sie mich lieb haben, gehen Sie! Nehmen Sie mir nicht, was mich aufrecht erhalten hat in all der Zeit!
Lukas (sehr bewegt). Sie haben mir nichts gesagt – nichts, was mich berechtigt zu hoffen.
Eugenie. Ach, wie Sie gut sind! Wie Sie zartfühlend sind! – Ja, ich war unglücklich; ja, ich habe unsäglich gelitten; aber ich hatte doch den Trost, daß ich kein Unrecht beging. – Noch bin ich die Frau meines Mannes, und wenn ich ihn anklagen will, so darf ich mich nicht an ihm versündigt haben – auch nicht in Gedanken!
Lukas (immer mehr erschüttert). Sie gehen einem schweren Kampf entgegen.
Eugenie. Um so mehr muß ich mich rein erhalten.
Lukas. Sie werden jeder Kränkung ausgesetzt sein – jeder Verkennung!
Eugenie. Ich muß die Kraft finden, sie zu ertragen.
Lukas. So erlauben Sie mir wenigstens das eine: Ihnen beizustehen, wenn Sie in Not sind.
Eugenie (mit letzter Anstrengung). Ich darf nicht. 142
Lukas. Es ist eine harte Prüfung, die Sie mir auferlegen – und doch – ich liebe Sie deshalb nur um so mehr. – Leben Sie wohl!
Eugenie. Leben Sie wohl.
Lukas (noch einmal zurückgewandt, mit tiefer Empfindung). Und wann – wann werd' ich Sie wiedersehen?
Eugenie. An dem Tage, an dem ich frei geworden bin – (den Blick verklärt nach oben gerichtet) frei! – –
(Während Lukas der Thür zuschreitet, fällt der Vorhang.) 143