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Elftes Kapitel. Die Wanderung nach Spyker.

Der einen Stunde, die sie sich aufzuhalten zugesagt, fügten die drei ausländischen Krieger aus freien Stücken noch eine zweite hinzu, und es ging bereits gegen Mittag, als endlich der Augenblick des Aufbruchs gekommen war. Die ganze Familie des Herrn von Bagewitz geleitete sie an den Strand, und die Fremden gestanden offen ein, daß sie selten eine so liebenswürdige Hausgenossenschaft kennen gelernt und niemals so viel Gefälligkeit und Herzlichkeit in Feindes Land vermuthet hätten. Am Strande endlich, wo das Boot segelfertig lag, nahm man Abschied; die Gutsherrschaft zog sich, nachdem sie allen eine glückliche Reise gewünscht, zurück und Waldemar betrat mit seinen neuen Gefährten das Boot, das ihn sehr unerwarteter Weise wieder seiner Heimat zuführen sollte.

Erst jetzt hatte er Muße, die beiden Begleiter des beweglichen, leichtblütigen und auf dem Wasser etwas ängstlichen Mr.~Dübois zu mustern. Der holländische Brigadier war ein Mann von ungeschlachtem Körperbau und höchst phlegmatischem Temperament, der wenigstens schon ein Dutzend Dienstjahre auf dem Rücken haben mochte. Seine größte Sorgfalt verwendete er auf ein hölzernes, eine Elle langes und zierlich mit Perlmutter ausgelegtes Besteck, in dem er, wie sich bald ergab, eine echte holländische Pfeife aufbewahrte, die er aus einem wohlgefüllten gestickten Tabaksbeutel stopfte. Viel zu sprechen lag nicht in seiner Gewohnheit. Wenn er eine Antwort zu geben hatte, die namentlich der redselige Franzose sehr oft verlangte, begnügte er sich einfach wie eine Pagode mit dem Kopfe zu nicken, und ein gewisses Wohlbehagen an seiner augenblicklichen Lage ließ er nur dann erkennen, wenn er im Stande war, ein wahres Wolkenchaos wohlriechenden Dampfes aus seiner brennenden Pfeife zu blasen.

Ebenso war der Däne ein schweigsamer Mann, aber nicht aus Phlegma, sondern weil ihm die Sprache des Franzosen, wie des Holländers, ein ziemlich unbekanntes Idiom war, dem ein vollblütiger Däne nur wenig Achtung zu schenken habe. Auch er war ein gedienter Mann und nahm sich in seinem ziegelrothen Rocke, den hellblauen Pantalons und dem steifen Tschako soldatenmäßig genug aus, zumal wenn er, was er sehr oft that, seinen rothen Schnurrbart drehte und nach dem Griffe seines Sarraß fühlte, der ihm handgerecht an dem schneeweißen Bandelier hing, welches er kreuzweise über Brust und Schultern trug.

Als die drei Männer, eng beieinander sitzend, das gastliche Land des Herrn von Bagewitz allmählig verschwinden sahen, während die beiden Schiffer vollauf mit dem Steuern des Bootes und der Segelstellung zu thun hatten, richteten sie ihre Blicke unwillkürlich nach dem Himmel, der sich unterdeß stark mit Wolken bezogen, wie man schon am Morgen dieses Tages hatte voraussehen können. Etwa eine Viertelmeile fuhr man indeß bei ziemlich mäßigem Winde ohne Besorgniß südwärts, als man aber den Werder Neu-Bassin, ein kahles, flaches, unbewohntes, am Buger Ort liegendes Eiland erreicht hatte, auf dessen dürftigem Wiesengrunde einige magere Kühe des Besitzers des Buger Posthauses weideten, erhob sich plötzlich ein starker Wind aus Südosten her und der ganze Horizont nahm ein so finsteres Aussehen an, daß selbst der Unkundigste unter ihnen das lange drohende Gewitter in vollem Anzuge erkennen mußte.

» Monsieur,« sagte der kleine Franzose und rückte dem kräftigen Waldemar, als wolle er Schutz bei ihm suchen, dicht auf den Leib, »was meinen Sie? Wird das Gewitter heraufkommen und werden wir davon zu leiden haben?«

»Ohne Zweifel, mein Herr. Es wird sogleich eine hübsche Böe ausbrechen und wir werden wacker dagegen kämpfen müssen.«

» Mon dieu! Ich bitte Sie! Dann lassen Sie uns rasch zu Lande fahren – da liegt es ja vor uns – ich bin etwas ängstlich auf dem verteufelten Wasser und leide sehr leicht an der Seekrankheit.«

Bei diesen Worten blies der Holländer seinen letzten Dampf aus der Pfeife und steckte sie dann vorsichtig in ihr Futteral; der Däne aber schnallte seinen Säbel ab, als wollte er sich auf eine möglicherweise nothwendig werdende Schwimmübung vorbereiten.

»Das ist leichter gesagt als gethan,« erwiderte Waldemar und warf den beiden Schiffern einen Blick zu, die schweigend und das Wetter beobachtend ihren Dienst verrichteten. »Dort drüben können wir nicht landen und ich denke, wir werden bis zur Wittower Fähre geduldig ausharren müssen.«

»Geduldig? Ausharren? Glauben Sie das? O mon dieu! Was ist das für ein Land!«

»Wir sind auf dem Wasser, Herr, und die Franzosen rechnen sich ja zu den kühnsten Seefahrern.«

»Jawohl, jawohl, ich aber gehöre zur Landarmee und habe nicht gern mit der Marine etwas zu thun. Da – da kommt es!«

Und in der That, es kam, nämlich das Unwetter. Der Wind pfiff gellend über das Land von Südosten her, die Wellen bäumten wild dagegen auf und die Schiffer sahen sich genöthigt, die Segel zu kürzen, wobei sie nicht verhindern konnten, daß das kleine Boot wie ein Trunkener sich geberdete und bald hoch auf den Wasserkämmen schwebte, bald wieder, als wollte es den Grund der See aufsuchen, in die Tiefe sank.

Alle diese jähen Bewegungen, denen die Insassen des Bootes hülflos ausgesetzt waren, wirkten je nach dem verschiedenen Charakter derselben verschieden auf sie. Der kleine Franzose, bis jetzt immer schwatzend, bald hoffend, bald fürchtend, wurde still, wie wenn der Wind das Organ seiner Rede mit hinweggeweht hätte, aber sein Gesicht nahm eine beinah unheimlich blasse Farbe an und er drückte sich immer fester und vertraulicher an seinen kräftigen Nachbar. Der Holländer, einen verächtlichen Blick auf die Wasserwüste werfend, zeigte einen apathischen Ausdruck auf seinen marmorkalten Zügen. Der Däne, mehr für den Schutz seines Leibes bedacht, als um sein Leben besorgt, zog rasch seinen Friesmantel an, da es zugleich heftig zu regnen anfing. Waldemar, der nirgends eine wirkliche Gefahr sah und dergleichen Scenen unzählige Mal erlebt hatte, betrachtete mit kühnem Auge das aufgeregte Gewässer und gab sich ohne Sorgen den tanzenden Bewegungen des kleinen Schiffes hin, welches das naheliegende Land bald hoch bald niedrig erscheinen ließ, und in seinem ruhig pochenden Herzen stieg jene entzückende Freude auf, die nur der Seemann kennt, wenn er Wasser und Wind in ehrlichen Kampf gerathen sieht.

Aus dieser Freude riß ihn aber sehr bald das Angstgeflüster seines Nachbars, der sich krank werden fühlte und in seinen Armen Schutz und Trost suchte. So nahm er ihn denn fest an seiner Brust auf, hielt ihm den wirbelnden Kopf und sprach ihm Trost in seinen Leiden zu. Aber dies Leiden wollte kein Ende nehmen, im Gegentheil, es wuchs von Augenblick zu Augenblick, bis er endlich flehend das Auge zu Waldemar erhob und mit schluchzender Stimme bat, das Boot zu Lande zu führen, da er nahe daran sei, seinen Geist aufzugeben, worüber die beiden Schiffer sich kaum des Lachens erwehren konnten.

Waldemar fing an, mit den Qualen des Armen Mitleid zu hegen, und hielt es auf alle Fälle für gerathen, sich in ihm einen Freund für künftige Zeiten zu erwerben. »Wißt Ihr eine Stelle,« sagte er zu den beiden Schiffern, »wo wir ungefährdet landen können?«

»Ja, Herr, da drüben am Dwarsdorfer Ufer können wir anlaufen, wenn Ihr eine Strecke durch das seichte Wasser schreiten wollt.«

»Vorwärts! Werft das Steuer herum – der Herr hier erträgt es nicht länger.«

Der Steuermann gehorchte dem Befehle, der mit der Stimme eines auf der See Commandirenden gesprochen wurde, und allmählig begann sich der Bug des Bootes nach dem Lande zu wenden, was allerdings, da der schwere Wind fast von vorne kam, langsam ging, aber ohne alle Gefahr geschah, da man so nicht mit Gewalt auf den Strand geworfen wurde. Als man endlich und mit einiger Mühe an die geeignete Stelle gekommen war, warf man einen Anker aus, das Boot stand und Waldemar, nachdem er den Boden untersucht und günstig befunden, sprang in's Wasser, worauf er den kleinen Franzosen ergriff, wie ein Kind aufhob und auf seinen starken Armen zu Lande trug.

Mit mürrischem Gesicht folgte zuerst der Däne, dann mit gleichgültigem der Holländer, sammt ihrem ganzen Gepäck, worauf die Schiffer den Anker hoben und nach erhaltener Erlaubniß wieder in See stachen, um ihrer Heimat zuzusegeln.

Als der Polizeibeamte festen Boden unter seinen Füßen fühlte, kam ihm das Leben und mit ihm zugleich die Sprache wieder. » Monsieur!« sagte er beinahe zärtlich, »Sie haben mir das Leben gerettet. Ich und mein Kaiser werden Ihnen dankbar sein. Sie haben eine Großthat verübt und verdienen das Kreuz der Ehrenlegion. Wenn ich eins zu verschenken hätte, ich wollte es Ihnen im Angesicht dieses dräuenden Meeres überreichen, so aber kann ich Sie nur umarmen und Ihnen versichern, daß ich Ihre Handlungsweise zu schätzen weiß.«

»Lassen Sie es gut sein und folgen Sie mir nach dem kleinen Dorfe da, Baschwitz heißt es, dort werden wir die Fähre finden, um damit so schnell wie möglich nach Wittow zu gelangen, denn hier im nassen Sande dürften wir ein schlechtes Bivouak haben.«

»Was? Wieder über das Wasser?«

»Können Sie vielleicht fliegen?«

»Ich bin nicht so glücklich, aber ich werde mich hüten, in diesem Sturme noch einmal zu Schiffe zu gehen.«

»Das ist kein Sturm, das ist nur ein leichter Wind, und die Fähre ein größeres und sichereres Fahrzeug als jenes Boot da, dessen Segel Sie kaum noch sehen können.«

Waldemar schlug mit schnellem Schritte den Weg durch die Felder nach der bezeichneten Stelle ein, hinter ihm her wankte noch immer taumelnd der Franzose, dem sich die beiden andern mit stoischem Gleichmuth anschlossen.

Als sie die Landungsstätte der Fähre erreichten, war dieselbe eben im Begriff, abzustoßen. Ein Wagen mit zwei Pferden sollte mit hinüber, und da kein Platz für ihn auf dem kleinen Gefährt war, so mußten die Hinterräder über Bord hängen, und nur die Menschen und Pferde fanden Raum genug für sich.

Halb mit Gewalt führte Waldemar den Mann an Bord, der ihm das Kreuz der Ehrenlegion zuerkannt hatte und sich fortan dicht an seiner Seite hielt, als wäre er nur da sicher und vor Todesgefahr bewahrt. Erst als man am Wittower Haken und dann gleich darauf im Fährhause angelangt war, fühlte er sich geborgen, und nachdem er an einem Heerdfeuer seine Kleider getrocknet und seinen erschrecklichen Fieberdurst gestillt, wie er sagte, erinnerte er sich, daß er ein Mann der Kaiserlichen Gewalt sei, und theilte an den Pächter des Fährhauses die gedruckten Befehle des französischen Gouverneurs von Stralsund aus.

Nachdem auch die beiden Brigadiers sich hinreichend getrocknet, gelabt und einen Wagen zu ihrem weiteren Fortkommen requirirt hatten, nahmen die vier Männer auf demselben Platz, denn Waldemar konnte der Einladung des Franzosen, ihn bis Wiek zu begleiten, nicht gut ausweichen, obwohl er gern von nun an seinen Marsch allein fortgesetzt hätte. Die kleine Meile bis dahin wurde ziemlich schnell zurückgelegt; als man aber den Eingang des Dorfes erreicht, hielt es Waldemar für gerathen, sich von seiner Begleitung zu verabschieden und seines Weges allein zu ziehen. Allein davon wollte der von Dankbarkeit überfließende Franzose nichts wissen, Georg Forst mußte wider Willen bis in's Dorf mitfahren, und erst da war endlich die Trennungsstunde gekommen, jedoch nicht eher, als bis der Polizeibeamte sich eine Viertelstunde mit Schreiben beschäftigt hatte, um seinen Brief durch Waldemar so rasch wie möglich an sein Ziel befördern zu lassen.

» Monsieur Forest!« sagte er mit süßem Lächeln, »noch einmal wiederhole ich, daß ich Ihnen zu ewigem Danke verpflichtet bin, da Sie mir das Leben gerettet haben. Ich beehre mich, zur Erinnerung an die verlebten gefährlichen Stunden Ihnen meine Karte zu überreichen. Hier ist sie – ja, ja, ich heiße Charles Dübois. Außer dieser Karte aber gebe ich Ihnen noch einen Brief mit und hier haben Sie ihn. Sie kommen früher als ich nach Spyker, da ich meinen Dienst erst auf Wittow vollenden muß, bevor ich an meinen Besuch auf dem Schlosse denken kann, und so bitte ich Sie, einstweilen mein Botschafter zu sein, denn ich möchte meine Befehle gern recht schnell in aller Welt Händen wissen. Dieser Brief ist, wie Sie sehen, an den Commandeur der Abtheilung Chasseure gerichtet, die in Spyker in Quartier liegen. Es ist der Capitain de Caillard, ein sehr liebenswürdiger Mann, den ich die Ehre habe, meinen Freund zu nennen. Ich habe ihm mitgetheilt, was Sie einem Franzosen Gutes gethan. Gott vergelte es Ihnen! In diesem Briefe eingeschlossen ist die Ordre, auf den Grafen Brahe und seinen Spießgesellen, den Müller Granzow, zu fahnden –«

»Was,« unterbrach ihn Waldemar, »Granzow heißt der Mann, den Sie suchen?«

Der Franzose riß die Augen auf, so weit er konnte. »Wie,« rief er, »hat Ihr Onkel Ihnen nicht den Namen des Bösewichts genannt?«

»Wohl möglich, aber ich habe nicht recht darauf Acht gegeben.«

»Kennen Sie ihn vielleicht?«

»Ganz genau, mein Herr, es ist ein verteufelter Kerl, auf den ich schon lange ein Auge habe.«

»Haha! Das ist brav, sehr brav! Courage, mes amis! Und wie sieht der Bursche aus?«

»Er ist einen Kopf kleiner als ich, hat ein wachsbleiches Gesicht wie Mehl und schielt auf einem Auge.«

Mr.~Dübois hatte schon seine Schreibtasche hervorgezogen und notirte das glücklich erfahrene Signalement, eine Beschäftigung, der die beiden Brigadiers eifrigst ihre ganze Theilnahme schenkten. »Das wäre gemacht!« rief er frohlockend, »nun wissen wir endlich, wie er aussieht. Courage, mes amis! En avant! Und grüßen Sie den Herrn Capitain, er wird Ihnen zu Allem behülflich sein, denn er ist ein gefälliger Mann. Aber nun – nun wollen Sie scheiden? Ah!«

Und schon breitete er die Arme aus und drückte seinen Lebensretter an sich, wobei er wohl keine Ahnung haben mochte, daß er den an sein Herz schloß, den er zu verfehmen und zu verfolgen ausgesandt war.

Nachdem auch die beiden Brigadiers dem Scheidenden die Hand geschüttelt und für seine Gefälligkeiten gedankt hatten, trennte man sich endlich und Waldemar war froh, als er die drei Männer im Rücken und den Weg nach Breege vor sich hatte, um von da auf die Schabe zu gelangen und so die letzte Strecke zu überwinden, die ihn von seinem diesmaligen Ziele trennte.

*

Waldemar war allein, der erste Schritt seines kühnen Unternehmens war vollständig gelungen und seine Person sogar gegen jede fernere Anfechtung sicher, da er in dem Schreiben des Kriegspolizeibeamten an den commandirenden Officier auf Spyker einen unter den obwaltenden Umständen nicht zu verachtenden Geleitsbrief besaß. Er athmete tief auf, lächelte still vor sich hin und empfand jenen leicht zum Riesen anwachsenden Muth, den ein furchtloses Herz empfindet, wenn es ein kleines Abenteuer glücklich überstanden hat und nun mit gerechtfertigter Kühnheit einem größeren entgegengeht. So blickte er denn dankbar zum Himmel auf, gleichsam um zu erforschen, ob er auf seinen Beistand rechnen könne, aber dieser Himmel war heute sehr trübe und schien so bald keine Aenderung der Witterung hoffen zu lassen. Zwar war das Gewitter längst vorübergerauscht, der Regen hatte aufgehört, aber der Wind war in seiner ganzen Mächtigkeit geblieben, blies nur noch etwas mehr aus Osten und jagte dick zusammengeballte Wolkenmassen vor sich her, die kein Ende nehmen wollten und den ganzen sichtbaren Horizont nach allen vier Himmelsgegenden überspannten.

Das trübe Licht, welches dadurch hervorgebracht wurde, der sausende Wind, der bald pfeifend, bald heulend daherfuhr, stand ganz in Einklang mit der öden Gegend, die des Wanderers Fuß zu betreten im Begriff war. Denn wir nähern uns endlich jener schon mehrfach erwähnten Landenge, der Schabe, die wie eine nach Westen und Süden ausgeschweifte Klammer, als würde sie durch die von Osten heranstürmende See dahin gedrückt, die Halbinsel Wittow mit den bergigen Waldungen Jasmund's verbindet. Schon die letzte Viertelmeile, bevor man den schmalen Landstreifen selbst betritt, fängt das auf Wittow liegende Land an, den Charakter der Schabe anzunehmen. Ihr Hauptbestandtheil ist gelblicher, wahrscheinlich in der Vorzeit durch die Meeresfluthen zusammengeschwemmter Sand, der nur wenig über dem Meeresspiegel hervorragt und bei Oststürmen von den schäumenden Wellen ganz überfluthet wird. Nur hie und da auf der Seite der Tromper Wiek ragt eine etwas höhere Düne empor, die aller Vegetation und jedes verschönernden Steingerölles bar ist, wie die ganze übrige Landenge. Nirgends unterbricht ein belaubter Baum die stille Eintönigkeit, nirgends erblickt das Auge einen Menschen oder eine Spur seiner Hände Werke. Verlassen von allem, was man im Leben so freudig erstrebt, blickt der Wandrer nur den Himmel an, der sich schweigend über ihm wölbt, und hört die See ihr ewiges Lied brausen oder in leisem Wellengemurmel in die Lüfte aushauchen, als wollte sie wenigstens etwas Geräusch in seine Nähe bringen, um ihn sich nicht ganz aus dem Bereich des lebendigen Weltalls träumen zu lassen.

Waldemar Granzow betrat mit stillem Nachdenken, dem sich allmählig ein eigenthümlicher Schauer beigesellte, die schmalste, nur etwa 600 Fuß breite Stelle der Landzunge am Breeger Bodden, und zuerst einen Blick über das ostwärts heranwogende Meer werfend, das von hier aus gesehen sich wie ein rollender Berg gestaltet, der sich mit wilder Wuth auf den dürren Sand der Dünen stürzt, begrüßte er es mit Herzlichkeit, als wäre er schon wieder lange davon getrennt gewesen. Je weiter und weiter er aber auf dem kahlgewaschenen Boden vorschritt, der an manchen Stellen von Seewasser noch feucht war, das in vollem Sturmandrange vor einigen Stunden darüber hinweggespült, um so langsamer ging er, denn um so düsterer wurde sein offenes Gesicht, um so verschleierter sein kindlich treues Auge, da die trostlose Einsamkeit, in der er sich befand, seine jugendlichen Hoffnungen umwölkte und sein Herz mit einer Wehmuth füllte, die ihm sonst nicht eigenthümlich war. Magnus Brahe, sein zärtlich geliebter Freund, trat vor sein geistiges Auge, und die traurige Gemüthsstimmung, die diesen so oft ergriff, drohte auch ihn zu umspinnen, indem sie den lebensvollen Horizont seiner Zukunft mit düsteren Bildern bevölkerte.

»Was wird das Ende von dem Allen sein?« fragte er sich wiederholt. »Wie lange werden wir ringen und wagen gegen des Geschickes mächtige Sendboten? Wird er, werde ich siegreich aus dem Sturme des Lebens emportauchen, oder wird ihn, wird mich, vielleicht auch uns beide, die erbarmungslose Woge verschlingen? Ha! wie ist mir so ängstlich und bänglich zu Muthe, wie rauscht mir das Meer heute nur Trauerlieder zu, und da – da krächzt eine einsame Möve mir ihren Grabesgesang entgegen, als hätte ich noch nicht der Unglückspropheten genug!«

Als er mit diesen mehr vor sich hin geträumten als gesprochenen Gedanken langsam den einsamen Weg verfolgte und sein Auge von dem Wasserberge zur Linken und dem grauen Jasmunder Bodden zur Rechten, dessen jenseitige Ufer hinter einem mattgrauen Nebelwalle verborgen lagen, abwandte, da geschah ihm, indem er geradeaus blickte, etwas ganz Eigenthümliches. Denn plötzlich, wie in unserm verödeten Herzen oft ein höherer Gedankenblitz hell aufleuchtet, der uns Rettung oder wenigstens neue Hoffnung vorzaubert, um aus einer gefährlichen Lage zu gerathen, so tauchte, vor ihm, in der Entfernung etwa einer halben Meile das heimatliche Jasmund mit seinen bergigen Vorsprüngen auf, die, in tiefblauen Duft gehüllt, sich wie vom Himmel herniederließen, um ihm einen Zielpunkt vorzumalen, der im Stande wäre, seinem ganzen Gedankengange eine angenehmere Richtung anzuweisen.

Und wie es uns oft ergeht, daß inmitten unsers träumerischen Brütens sich vor unserm inneren Gesicht eine aus farbigem Lichte gewobene Gestalt erzeugt und uns plötzlich, wir wissen nicht wie und warum, mit neuer Lebenslust erfüllt, als wollte sie uns wieder durch ihre Erscheinung und Vermittelung mit der froheren Außenwelt verknüpfen, so sah, so glaubte er wenigstens eine Gestalt aus diesem blauen Bergdufte auftauchen zu sehen, die er erst einmal in seinem Leben – er gestand es sich jetzt ein – zu seiner Freude erblickt hatte.

»Hille!« sagte er laut, »Du grüßest mich in Gedanken auf meinem traurigen Gange. Ha! Du grüßest mich! Ist mir doch, als ob ich Dein freundliches Gesicht, Dein schönes blaues Auge sähe, als ob ich Deine süße Stimme meinen Namen flüstern hörte! O wie glücklich, wie hoffnungsreich, wie froh macht mich dieser Gedanke! Horch, ist das dasselbe melancholische Brausen der See noch, krächzt die alte Möve noch ebenso heiser, rauscht der Wind noch ebenso dämonisch über mir? Nein, nein, das war ja nur eine vorübergehende Erscheinung, mein Auge war verschleiert, mein Herz verödet, jetzt, jetzt pocht es wieder feuriger in mir, die Stimmen der Natur haben ein anderes Lied begonnen, und ich sehe, was vor mir liegt, nicht mehr in den trüben Nebel der Zukunft gehüllt, es wird licht – licht – und ja, da tauchen die Berge meiner Heimat auf und laden mich gastfrei, näher zu treten, ein. Ich komme, ich komme, Du trauliches Jasmund, ich komme, mein väterliches Haus, und da – da springt die Glower Ecke hervor, da ragen meine grünen Bäume, da ziehen die vaterländischen Störche und singen meine bekannten Vögel in den Gebüschen schon wieder!«

Und rasch vorwärtseilend, näherte er sich schon den bewaldeten Hügeln; die traurige Schabe war überwunden und das befreundete Dorf Glowe trat mit seinen grauen Strohdächern und fruchtbaren Aeckern wie ein lächelnder Friedensbote hervor.

Als er Glowe erreicht hatte und dann nach Osten blickte, blieb er plötzlich stehen. Der mehrfach ausgezackte Spyker'sche See lag vor ihm, und an dessen südlichem Ufer in einer sanft geneigten Ebene, von blühenden Gebüschen und riesigen Bäumen umschattet, ragte das alte Schloß in seiner ganzen romantischen Schönheit auf.

Schon bei vollem Tagesglanze keinen erheiternden Anblick gewährend, tauchte es jetzt bei bedecktem Himmel und im dämmernden Abendlichte aus seinen Umgebungen, deren Schatten gleichsam ängstlich zitternd sich im bewegten See wiederspiegelten, noch viel düsterer hervor. Vom grauen Alterthum geschwärzt, vielleicht noch eingedenk manches stürmischen Anlaufs, den sie siegreich abgeschlagen, blickten seine dicken massiven Mauern und die gewaltigen Kuppeln seiner runden Thürme finster trotzig über das graublaue Wasser herüber, schon von Weitem den Geist des Kriegers offenbarend, der es 1650 erbaute und dabei mehr auf Größe, Festigkeit und Dauer, als auf Reinheit und Zierlichkeit der Form Rücksicht nahm.

Nachdem Waldemar es eine Weile aus der Ferne betrachtet, schritt er langsam näher, wobei er sich wunderte, daß es wie ausgestorben vor ihm lag, als wäre es ganz von allen Bewohnern verlassen, trotzdem außer dem Kastellan, seiner Familie und mehreren Dienern jetzt noch ein ganzes Heer fremder Gäste darin hauste. Doch kaum hatte er es gedacht und war am Ufer des Sees entlang einige Schritte weiter vorgedrungen, so sah er einen alten Diener des Hauses aus dem Parke daherkommen, dem er sich jetzt selbst näherte. Der Mann, sobald er Waldemar erblickte, stand einen Augenblick still, als wundere er sich über den Besuch eines Fremden, oder als sinne er nach, wer derselbe wohl sein, und was er bezwecken könne. Gleich darauf aber stieß er einen Schrei der Ueberraschung aus, schlug die Hände über dem Kopf zusammen und lief dann mit sichtbarer Freude dem Ankommenden entgegen, den er endlich erkannt hatte.

»Herr Granzow!«rief er, »ist es möglich –« aber er verstummte schon wieder, denn er nahm Waldemar's abwehrende Geberde wahr, der sich rasch nach allen Seiten umblickte, ob auch niemand den Ausruf des Mannes gehört hätte. Außer diesem war aber nur ein mit Harken der Wege beschäftigter Gärtnerbursche in der Nähe, der ihn aber nicht gehört hatte und Waldemar auch nicht einmal kannte.

»Tarbot! Seid Ihr's?« rief Waldemar und eilte schnell auf ihn zu. »Da habt Ihr meine Hand, seid mir herzlich gegrüßt, aber merkt es Euch, Alter, und vergeßt es nicht wieder – ich bin nicht der, den ihr soeben nanntet – ich heiße vielmehr Georg Forst; Herr von Bagewitz auf Kloster in Hiddens-öe ist mein Oheim, und ich besuche den Kastellan, um mich um eine seiner Töchter zu bewerben. Versteht Ihr?«

»Ob ich verstehe! Also das ist nöthig in diesen Zeiten?«

»Sehr nöthig, Tarbot; und ich bitte Euch sogar, sobald wie möglich zu sämmtlichen Dienern zu gehen und ihnen die schärfste Befolgung dieses meines Wunsches an's Herz zu legen. Es sind doch noch die alten Bekannten im Hause und kein Verräther darunter?«

»O, Herr, wann hat ein Verräther in Spyker Brod gegessen? Einer ist so zuverlässig wie der andere, ich bürge für alle, und ich würde mir lieber einen Finger abbeißen, als denken, daß irgend wer von uns Euern Wunsch mißachten könnte.«

»So ist es gut, Tarbot; wie steht es im Schlosse?«

»Ach, Herr, es ist eine böse und auch eine recht traurige Zeit. Wir haben französische Chasseure in Quartier und der Commandeur, Capitain Mr.~de Caillard, sein Lieutenant Mr.~de Chaillier, und ihre Diener nebst einem Maréchal de logis, ein Trompeter, ein Sergeant, und zehn Gemeine wohnen darin mit ihren Pferden, die anderen aber hier in der Nähe auf den umliegenden Ortschaften, eine ganze Schwadron.«

»Was sind es für Leute?«

Der Alte zuckte die Schultern. »Hm! Es sind just Franzosen, wie sie alle sind, lustig und redselig, singend und trillernd, schmausend und zechend, liebelnd und pürschend – o, das werden Sie bald weghaben, wenn Sie nur einen Tag hier blieben.«

»Gut. Ich werde sogar länger hier bleiben. Ist der alte Ahlström und seine Familie gesund?«

»Wie die Fische, wie die Fische, Herr, obwohl sie alle ihre liebe Noth haben bei diesem Hundeleben.«

»Das glaube ich. Aber hört mal, Tarbot, ist etwa auch das Fräulein –«

Der Alte verstand ihn schon, nickte mit dem Kopfe und machte eine Miene, die Waldemar Alles klarer auseinandersetzte, als hätte sich jener einer endlosen Reihe von Worten bedient. »Das gnädige Fräulein Gylfe meinen Sie, nicht wahr? O ja, die ist hier, und recht lustig und vergnügt ist sie, und wären Sie eine Stunde früher gekommen, so hätten Sie sie mit dem Herrn Capitain da hinaus nach Bobbin können reiten sehen.«

»Also es ist wahr?«

»Ja, es ist wahr!« erwiderte der Alte, obwohl Waldemar nichts näher angedeutet hatte und seine alleroberflächlichste Frage allein schon hinreichte, die Befürchtungen seines Innern von dem treuen Diener errathen und bejahend beantworten zu lassen. »Aber wo haben Sie unsern jungen gnädigen Herrn, den Grafen Magnus?« fuhr der Alte fort.

»Still! Auch dessen Namen dürft Ihr nicht nennen. Wir beide sind geächtete Leute zu dieser Zeit, Ihr werdet bald noch mehr darüber hören. Wo wohnen die Herren Franzosen im Schlosse?«

»Nun, die schlechtesten Zimmer haben sie sich nicht ausgewählt, das können Sie wohl denken. Sie lieben die schönen Aussichten so sehr, wie sie getäfelte Gemächer, und wohlbesetzte Tafeln lieben, und so sind fast alle Räume, die sonst die gräfliche Familie bewohnte, von ihnen in Beschlag genommen.«

»Auch der Spukthurm da auf der nordöstlichen Ecke?«

»Der Spukthurm? Gott bewahre! Den haben sie noch nie betreten und vermeiden ihn zu umgehen, selbst bei Tage, denn eine Furcht haben sie vor dergleichen Orten und vor Gräbern, als würden sie von den Gespenstern, die darin wohnen sollen, bei dem bloßen Gedanken daran mit faustgroßen Steinen geworfen. Nein, Herr, der Spukthurm steht leer wie immer, da sehen Sie nur, die Fenster sind geschlossen und verhangen wie in früherer Zeit, und so lange ich denken kann, sind sie noch nicht geöffnet gewesen.«

»So wissen sie auch von dem verborgenen Gange nichts, der nach der alten Ruine auf dem Todtenfelde bei Quoltitz führt?«

»Gott bewahre! Wer wird ihnen das Familiengeheimniß verrathen, das sich der alte Wrangel – Gott habe ihn selig – zu seinem eigenen Frommen angelegt hat?«

Waldemar lächelte; so hatte er es sich gedacht und so fand er es nun bestätigt. »Kommt,« sagte er, »laßt uns dreist zum Schlosse gehen. Ich sehe da eine Schildwache auf- und abstolziren und will mit ihr reden. Ihr aber beherrscht Euer Gesicht und wundert Euch über nichts, was Ihr hört; die Erklärung davon soll Euch später zu Theil werden. Ist der alte Ahlström zu Hause?«

»Ja, Herr; er sitzt, glaube ich, mit seiner Familie bei'm Vesperbrod.«

»Haben sich seine Töchter auch mit den Fremden eingelassen?«

»Nein, Herr, durchaus nicht. Der Herr Lieutenant hat sich zwar große Mühe gegeben, die Gysela oder Alheid zu gewinnen, aber die alte Heylike, ihre Mutter, hält sichere Wacht und die Mädchen sind auch von Natur nicht dazu geneigt.«

»Das ist noch ein Vortheil, auf den ich kaum gerechnet hatte. Nun kommt aber, der behelmte Herr hat mich schon in's Auge gefaßt.«

Langsamen Schrittes wandelten sie dem nach Westen liegenden Eingange des Schlosses zu, vor dessen gothischer Thür eine Schildwache in kurzem grünen Rock, reich mit gelben Wollschnüren besetzt und den Helm mit dem schwarzen Haarbusch auf dem Kopfe, mit gezogenem Pallasch auf- und abklirrte und den kräftig gewachsenen Fremden, dessen Gesicht einen energischen Ausdruck zeigte, schon lange auf's Korn genommen hatte.

»Guten Tag!« sagte Waldemar in französischer Sprache ernst aber höflich zu der stillstehenden und ihn betrachtenden Wache. »Ist der Herr Capitain zu sprechen?«

»Nein, mein Herr, er ist spazieren geritten.«

»Wann kommt er wieder?«

»Wann es ihm gefällt. Wollen Sie etwas von ihm?«

»Ich muß ihn sprechen, denn ich bringe ihm eine Botschaft vom General Gratien aus Stralsund.«

Der Posten salutirte dienstmäßig. »Ich werde es dem Herrn Capitain melden, sobald er zurückkehrt,« sagte er.

»Ihr werdet mir einen Gefallen damit thun. Ich gehe jetzt zum Verwalter und werde mich bei demselben so lange aufhalten, bis ich höre, daß Euer Chef zurückgekehrt ist. Adieu! – Führt mich zu Herrn Ahlström!«

Die letzten an den alten Diener gerichteten Worte wurden ohne Verzug befolgt. Tarbot schritt in den alten Hausflur ein, dessen gewölbte Steinbögen die Schritte der Männer laut widerhallen ließen, hinter denen die schweren Thorflügel hart zuschlugen. Waldemar Granzow war in das Innere des Schlosses Spyker getreten und stieg die Stufen empor, die nach der Wohnung des Kastellans führten. Als er die alten Treppensteine unter seinen Füßen knirschen hörte, war ihm eigenthümlich, fast bänglich zu Muthe, und die kühle Luft in dem hoch gewölbten Raume machte sein warmes Blut frösteln, was ihm nie begegnet war, als er früher im harmlosen Jugendmuthe und weder an Krieg noch Gefahr denkend, seinen Fuß so oft unter das gastliche Dach des schwedischen Grafen gesetzt hatte.


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