Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Erster Teil

Erstes Kapitel

Bei Timothy

Der Besitzinstinkt steht niemals still. Durch Blütezeit und Fehde, Frost und Hitze folgte er den Gesetzen der Entwicklung, selbst in der Familie Forsyte, die ihn für ewig unveränderlich gehalten hatte. Und wie die Qualität der Kartoffel vom Boden, ist er von seiner Umgebung nicht zu trennen.

Der Historiker der Achtziger- und Neunzigerjahre in England wird seinerzeit den etwas raschen Fortschritt vom selbstzufriedenen und maßvollen Provinzialismus zu noch selbstzufriedenerem, wenn auch weniger maßvollen Imperialismus – mit anderen Worten das zunehmende Streben der Nation nach Besitz schildern. Und das zeigte sich, wie in Übereinstimmung damit, auch in der Familie Forsyte. Ihr Besitz nahm nicht nur an äußerer Ausdehnung zu, sondern auch an innerem Gehalt.

Als Susan Hayman, die verheiratete Schwester der Forsytes, im Jahre 1895 in dem lächerlich frühen Alter von vierundsiebzig ihrem Manne in den Tod folgte und eingeäschert wurde, erregte es sonderbarerweise wenig Aufsehen unter den sechs alten Forsytes, die sie überlebten. Diese Gleichgültigkeit hatte drei Gründe. Erstens: die beinah heimliche Beisetzung des alten Jolyon im Jahre 1892 draußen in Robin Hill – er war der erste Forsyte, der das Erbbegräbnis in Highgate aufgab. Dieses Begräbnis, ein Jahr nach Swithins durchaus angemessener Beerdigung, hatte an der Forsyte-Börse, der Wohnung Timothy Forsytes in der Bayswater Road, wo der Familienklatsch sich noch sammelte und blühte, viel von sich reden gemacht. Die Ansichten schwankten zwischen den Lamentationen Tante Juleys bis zu der von Francie offen ausgesprochenen Behauptung, daß es ›ein wahres Glück sei, mit der muffigen Highgategeschichte aufzuhören‹. Onkel Jolyon hatte in seinen späteren Jahren – seit der sonderbaren, bedauerlichen Affäre zwischen dem Verlobten seiner Enkelin June, dem jungen Bosinney und Irene, der Frau seines Neffen Soames Forsyte – der Familie allerdings manche Nuß zu knacken gegeben, und die eigenen Wege, die er stets gegangen war, fingen an, ihnen ein wenig wunderlich vorzukommen. Bei seiner philosophischen Ader war es bei ihm immer wahrscheinlich gewesen, daß er von der Bahn reinen Forsyteismus abwiche, daher waren sie eigentlich auf seine Beerdigung an fremdem Ort einigermaßen vorbereitet. Doch die ganze Sache war immerhin absonderlich, und als der Inhalt seines Testaments gangbare Münze an der Forsytebörse wurde, hatte ein Schauer die Familie ergriffen. Von seinem Vermögen (145.404 Pfund Sterling) hatte er tatsächlich 15.000 Pfund ›wem glaubst du wohl, mein Lieber?‹ vermacht. Irene, dieser davongelaufenen Frau seines Neffen Soames, Irene, einer Frau, die die Familie beinah in Unehre gebracht hätte, und noch erstaunlicher – die keine Blutsverwandte von ihm war. Nicht die ganze Summe an sich, natürlich, sondern nur eine Leibrente, nur die Zinsen davon! Allein es war nun einmal geschehen, und mit dem Anspruch des alten Jolyon der vollkommene Forsyte zu sein, war es ein für allemal vorbei. Das also war der erste Grund, weshalb die Einäscherung Susan Haymans – in Woking – so wenig Aufsehen erregte.

Der zweite Grund war im ganzen viel nachhaltiger und zwingender. Außer dem Haus in Campden Hill besaß Susan ein Landgut (das Hayman ihr hinterlassen hatte), wo die Hayman-Jungen gelernt haben sollten, so gute Schützen und Reiter zu werden, was natürlich allgemein als ein Vorzug angesehen wurde, und die Tatsache, daß sie wirklich Eigentümerin eines Landsitzes war, schien die Überführung ihrer Überreste einigermaßen zu rechtfertigen – wie sie aber auf die Einäscherung verfallen war, begriffen sie nicht! Die üblichen Einladungen dazu jedoch waren ergangen, und Soames war mit dem jungen Nicholas hingefahren. Gegen das Testament war soweit nichts einzuwenden gewesen, da sie nur eine Leibrente besessen hatte und alles ganz einfach in gleichen Teilen auf die Kinder übergegangen war.

Der dritte Grund, weshalb Susans Bestattung wenig Aufsehen erregte, war der nachhaltigste von allen. Euphemia, die dünne, blasse, hatte es kühn in die Worte zusammengefaßt: »Ich finde, daß jeder, auch wenn er tot ist, ein Recht auf den eigenen Körper hat.« Für eine Tochter von Nicholas, einem Liberalen der alten Schule und höchst tyrannisch, war es eine beunruhigende Bemerkung – sie zeigte blitzähnlich den großen Abstand seit dem Tode von Tante Ann im Jahre 1886, gerade zu der Zeit als Soames‹ Eigentumsrecht über den Körper seiner Frau so fraglich geworden war und zu soviel Unheil geführt hatte. Euphemia natürlich sprach wie ein Kind und hatte keine Erfahrung; denn wenn jetzt auch wohl über dreißig, war ihr Name doch noch Forsyte; im Grunde aber war ihre Bemerkung ohne Zweifel ein Beweis für die Erweiterung des Freiheitsprinzips, für die Abkehr und den Wandel in der Hauptfrage über Besitz und Abhängigkeit von andern. Als Nicholas von Tante Hester den Ausspruch seiner Tochter erfuhr, rief er entrüstet: »Frauen und Töchter! Ihre Freiheiten gehen heutzutage über alle Grenzen!« Er hatte die Einführung des Vermögensrechts der Ehefrauen, das ihm so in die Quere gekommen wäre, wenn er nicht glücklicherweise geheiratet hätte, bevor es durchgegangen war, natürlich nie ganz verwinden können. Allein die Auflehnung der jungen Forsytes dagegen, als Eigentum anderer zu gelten, war nicht zu bestreiten; dieser eigentlich koloniale Drang selbständig zu sein, der paradoxe Vorläufer des Imperialismus, nahm fortdauernd zu. Sie waren nun alle verheiratet, außer George, der sich völlig dem Turf und dem Iseeum-Club widmete; Francie, die ihrer musikalischen Ausbildung in einem Konservatorium in der Kings Road oblag und immer noch ihre Verehrer zum Tanzen einlud; Euphemia, die zu Haus lebte und sich über Nicholas beklagte, und dann den beiden ›Siamesen‹, Giles und Jesse Hayman. Die dritte Generation war nicht sehr zahlreich – der junge Jolyon hatte drei Kinder, Winifred Dartie vier, der junge Nicholas schon sechs, der junge Roger eins, Marian Tweetyman eins, St. John Hayman zwei. Aber an den übrigen der sechzehn Verheirateten – Soames, Rachel und Cicely aus James' Familie; Eustace und Thomas, den Söhnen Rogers; Ernest, Archibald und Florence, den Kindern Nicholas', Augustus und Annabel Spender aus der Familie Hayman – gingen die Jahre unfruchtbar vorüber.

Von den zehn alten Forsytes waren also einundzwanzig junge geboren, aber die einundzwanzig jungen Forsytes hatten bis jetzt nur siebzehn Nachkommen, und es war unwahrscheinlich, daß in Zukunft noch etwas von Belang zu erwarten war. Ein Statistiker würde bemerken, daß das Geburtenverhältnis sich dem Verhältnis der Geldverzinsung anpaßte. Der Großvater Forsyte, Anfang des neunzehnten Jahrhunderts, hatte für das seine zehn Prozent bekommen, daher zehn Kinder. Jene zehn, außer vier von ihnen, die nicht geheiratet hatten, und Juley, deren Gatte, Septimus Small, natürlich sehr bald gestorben war, hatten durchschnittlich vier, fünf Prozent für das ihre erhalten und demgemäß produziert. Die einundzwanzig, die von ihnen abstammten, erhielten jetzt nur ihre drei Prozent von den Konsols, denen ihre Väter meist eine Bestimmung beigefügt hatten, um die Erbschaftssteuer zu vermeiden, und sechs von ihnen hatten zusammen siebzehn Kinder oder eben gerade zwei und fünfsechstel pro Stamm.

Es waren auch noch andere Gründe für diese geringe Leistung vorhanden. Mangel an Zutrauen zu ihrer Erwerbskraft, der sehr natürlich scheint, wo ein genügender Unterhalt garantiert ist, im Verein mit dem Bewußtsein, daß ihre Väter nicht starben, machte sie vorsichtig. Hatte man Kinder und kein großes Einkommen, so mußte der Standard des Geschmacks und Komforts notwendig heruntergehen. Was für zwei genügte, genügt nicht für vier usw. – es war besser zu warten und zu sehen was Vater hat. Übrigens war es angenehm, ungehindert Ferien genießen zu können. Anstatt Kinder zu besitzen, zogen sie es, der wachsenden Tendenz des sogenannten ›fin de siècle‹ gemäß, lieber vor, ausschließlich sich selbst zu leben. Auf diese Weise liefen sie wenig Gefahr und konnten sich's leisten, einen Motorwagen zu halten. Eustace besaß in der Tat bereits einen, aber er war fürchterlich durchgerüttelt worden und hatte dabei einen seiner Augenzähne ausgebrochen, so daß es besser war zu warten, bis sie ein wenig sicherer waren. Inzwischen aber keine Kinder mehr! Selbst der junge Nicholas lief sich die Hörner ab und hatte drei Jahre lang keinen Zuwachs zu seinen sechsen.

Der gemeinsame Niedergang der Forsytes jedoch, oder vielmehr ihre Zersplitterung, für die alles dies symptomatisch war, hatte nicht soviel Fortschritte gemacht, um ein erneutes Zusammenfinden zu verhindern, als Roger im Jahre 1899 starb. Es war ein herrlicher Sommer gewesen, und nach einer Erholungsreise ins Ausland und an die See waren sie alle wieder in London, als Roger, originell wie gewöhnlich, plötzlich in seinem eigenen Hause in Princes' Gardens verschied. Bei Timothy flüsterte man sich betrübt zu, daß er immer exzentrisch in Bezug auf seine Verdauung gewesen – hatte er zum Beispiel nicht ›Deutschen Hammel‹ allem andern vorgezogen?

Aber mochte dem sein wie ihm wolle, sein Begräbnis in Highgate war vollkommen gewesen, und beinah mechanisch war Soames danach zu seinem Oheim Timothy in der Bayswater Road gekommen. ›Die lieben Alten,‹ – Tante Hester und Tante Juley – würden sicher gern etwas darüber hören. Sein Vater – James – hatte sich mit seinen achtundachtzig Jahren den Anstrengungen des Begräbnisses nicht gewachsen gefühlt, und Timothy war natürlich nicht mitgegangen, so daß Nicholas als einziger Bruder zugegen gewesen war. Es hatte sich aber doch eine ganz stattliche Versammlung eingefunden, und es würde die Tanten Hester und Juley sicherlich aufheitern alles darüber zu erfahren. Der freundliche Gedanke war nicht ohne Beimischung des unwiderstehlichen Verlangens aus allem was man hat, Nutzen zu ziehen, ein Zug, der für Forsytes und sicher für die gesunden Elemente jeder Nation besonders charakteristisch ist. In dieser Gewohnheit Familienangelegenheiten bei Timothy in der Bayswater Road zu besprechen, trat Soames in die Fußstapfen seines Vaters, der wenigstens einmal in der Woche seine Schwester bei Timothy zu besuchen gepflogen und es nur aufgegeben hatte, als es ihm zu sechsundachtzig Jahren an Kraft fehlte und er nicht ohne Emily ausgehen konnte. Mit ihr hinzugehen hatte keinen Zweck, denn wer konnte in Gegenwart seiner Frau wirklich mit jemand reden? Wie James in alten Tagen fand Soames Zeit, fast jeden Samstag hinzugehen und in dem kleinen Wohnzimmer zu sitzen, zu dessen Ausschmückung er an Weihnachtsfesttagen mit einer Menge Porzellan, das nicht ganz der Güte seines eigenen entsprach, und mindestens zwei zweifelhaften Barbizon-Bildern beigetragen hatte. Er selbst hatte damit außerordentlichen Erfolg gehabt, sich aber vor einigen Jahren mehr den Maris, Israels und Mauve zugewandt und hoffte davon noch größeren. In dem Hause an der Themse in der Nähe von Mapledurham, das er jetzt bewohnte, hatte er eine Gemäldesammlung, wunderbar gut gehängt und beleuchtet, die nur wenigen Londoner Kunsthändlern unbekannt war. Sie diente auch als Anziehungspunkt bei den Sonntagsnachmittagsgesellschaften, die seine Schwestern, Rachel und Winifred, gelegentlich für ihn arrangierten. Obwohl er beim Vorzeigen seiner Schätze sehr einsilbig war, verfehlte seine unerschütterliche Sicherheit doch nie ihren Eindruck auf seine Gäste auszuüben, die wußten, daß sein Ruf sich nicht nur auf seinen ästhetischen Geschmack gründete, sondern auf seine Fähigkeit, die künftigen Marktwerte vorauszusehen. Wenn er zu Timothy ging, hatte er fast immer von einem Triumph über einen Kunsthändler zu berichten, und er liebte die stolzen Freudenausbrüche, mit denen die Tanten es begrüßten. An diesem Nachmittag jedoch, wo er in seinem guten schwarzen Anzug – nicht ganz schwarz – denn ein Onkel war doch eben nur ein Onkel, und er verabscheute aus tiefster Seele jede übertriebene Entfaltung von Gefühl – von Rogers Begräbnis kam, war er lebhaft mit Dingen ganz anderer Art beschäftigt. In einen Sessel zurückgelehnt, starrte er über seine Nase hinweg auffallend schweigsam auf die himmelblauen Wände mit den vielen goldenen Rahmen. Sein eigentümliches Forsytegesicht – ein langes konkaves Gesicht mit Kiefern, die von Fleisch entblößt, übertrieben gewirkt hatten, zeigte sich an diesem Nachmittag, vielleicht weil er einer Beerdigung beigewohnt hatte, von seiner vorteilhaftesten Seite. Er fühlte stärker denn je, daß Timothy hoffnungslos verschroben und die Tanten schrecklich altmodische Seelen waren. Das einzige Thema, worüber er zu reden wünschte – seine Stellung als Nichtgeschiedener – war undiskutierbar. Und doch beschäftigte ihn der Gedanke daran dermaßen, daß alles andere ihn gleichgültig ließ. Das war erst seit dem Frühling so, wo ein neues Gefühl sich entwickelt hatte und ihn zu etwas trieb, das, wie er wohl wußte, etwas Törichtes für einen Forsyte von fünfundvierzig war. Immer stärker war es ihm kürzlich zum Bewußtsein gekommen, daß er ›Erfolg‹ hatte. Sein Vermögen, das schon beträchtlich war, als er das Haus in Robin Hill bauen ließ, durch das seine Ehe mit Irene schließlich Schiffbruch gelitten, war in den einsamen zwölf Jahren, wo er sich so wenig mit andern Dingen beschäftigt hatte, überraschend angewachsen. Er war heute wohl seine hunderttausend Pfund wert und hatte niemand, dem er es hinterlassen konnte – kein rechtes Ziel, um fortzusetzen, was ihm Religion war. Auch wenn er seine Bemühungen einschränkte, Geld brachte Geld, und er fühlte, daß er hundertfünfzigtausend haben würde, ehe er sich's versah. Soames hatte immer einen stark ausgeprägten Sinn für Familie und Nachkommenschaft gehabt, doch nur im geheimen, da es fruchtlos und vergeblich gewesen; jetzt auf der ›Höhe seines Lebens‹ jedoch war er aufs neue erwacht und seit kurzem durch den Reiz der unbestrittenen Schönheit eines jungen Mädchens zielbewußt und verdichtet, förmlich zu einer fixen Idee geworden.

Und dieses Mädchen war Französin, die wahrscheinlich nicht den Kopf verlieren oder sich auf irgend ein illegitimes Verhältnis einlassen würde. Übrigens war Soames diesem Gedanken selbst abgeneigt. Er hatte während der langen Jahre unfreiwilligen Zölibats im geheimen von der unsaubern Seite des Geschlechts gekostet und immer mit Abscheu, denn er war anspruchsvoll, und der Sinn für Gesetz und Ordnung ihm angeboren. Er wollte keine Winkelliebschaft. Eine Heirat auf der Gesandtschaft in Paris, eine Reise von einigen Monaten und Annette konnte, losgelöst von einer Vergangenheit, die allerdings nicht allzu vornehm war, denn sie saß nur an der Kasse des Restaurants ihrer Mutter in Soho, mit ihm zurückkehren. Mit ihrem Geschmack und ihrem Selbstbewußtsein konnte er sie sehr chic als etwas ganz Neues nach ›Haus Zuflucht‹ in der Nähe von Mapledurham zurückbringen, wo sie herrschen sollte. An der Forsytebörse und unter seinen Freunden würde es heißen, er habe ein reizendes Mädchen auf seinen Reisen getroffen und es geheiratet. Daß seine Frau Französin war, würde ihr einen Schimmer von Romantik und einen gewissen Nimbus verleihen. Nein! Davor fürchtete er sich nicht im geringsten, ihn bedrückte nur diese verwünschte Lage, in der er sich befand, da er nicht geschieden war und – und die Frage, ob Annette ihn nehmen würde, eine Frage, die er nicht zu berühren wagte, bis er ihr eine klare und sogar blendende Zukunft bieten konnte. In dem Wohnzimmer seiner Tanten hörte er mit fast tauben Ohren auf ihre üblichen Fragen: Wie es seinem lieben Vater ginge? Er gehe natürlich nicht aus, wo das Wetter jetzt so kalt würde? Soames solle ihm doch sagen, daß Hester gekochte Stechpalmenblätter so vortrefflich gegen ihre Schmerzen in der Seite gefunden habe, ein Umschlag alle drei Stunden und roten Flanell darüber. Und ob ihm ein Gläschen von ihren besten eingemachten Pflaumen schmecken würde – sie wären so köstlich in diesem Jahr und hätten eine so wunderbare Wirkung. Oh! Und dann die Darties – hatte Soames denn gehört, daß die liebe Winifred eine höchst qualvolle Zeit mit Montague durchmachte? Timothy meinte, daß sie wirklich eines Schutzes bedürfe. Es hieß – aber Soames dürfe es nicht als sicher annehmen – daß er einen Teil von Winifreds Schmuck einer schrecklichen Tänzerin geschenkt habe. Es wäre ein so böses Beispiel für den lieben Val, wo er eben zur Universität sollte. Hatte er noch nichts davon gehört? Aber er müsse gleich seine Schwester aufsuchen und nach dem Rechten sehen! Und glaube er, daß diese Buren wirklich Widerstand leisten würden? Timothy sei in großer Unruhe deswegen. Konsols ständen so hoch, und er hätte solch eine Menge Geld darin. Ob Soames glaube, daß sie fallen würden, wenn es Krieg gäbe? Soames nickte. Aber er würde doch bald vorüber sein. Für Timothy wäre es sehr schlimm, wenn es nicht der Fall sein sollte. Und Soames' Vater würde es natürlich sehr nahe gehen in seinem Alter. Glücklicherweise sei dem lieben Roger diese schreckliche Aufregung erspart geblieben. Und Tante Juley wischte mit einem kleinen Taschentuch die große Träne fort, die versuchte über die permanenten Schmollfalten ihrer jetzt völlig welken linken Wange zu rollen; sie dachte an den lieben Roger mit seinen originellen Einfällen und daran, wie er sie mit Nadeln zu stechen pflegte, als sie noch klein waren. Tante Hester in ihrem Bemühen, Unangenehmes zu vermeiden, fiel hier ein: Ob Soames glaube, daß sie Mr. Chamberlain gleich zum Premierminister machen würden. Er würde alles so schnell in Ordnung bringen. Sie hätte gern gesehen, daß man den alten Krüger nach St. Helena schickte. Sie erinnerte sich so deutlich der Nachricht von Napoleons Tod und welche Erleichterung es für seinen Großvater gewesen war. Sie und Juley natürlich – »Wir trugen damals noch Höschen, mein Lieber« – verstanden nicht viel davon.

Soames nahm eine Tasse Tee, die sie ihm anbot, trank sie rasch aus und aß drei jener Makronen, die eine Spezialität des Hauses waren. Sein leises, bleiches, überlegenes Lächeln hatte sich ein klein wenig vertieft. Wirklich, seine Familie blieb hoffnungslos provinziell, sie mochten noch soviel von London ihr eigen nennen. In diesen Tagen, wo alles über Hals und Kopf ging, stach ihr Provinzialismus noch mehr hervor als sonst. Der alte Nicholas war immer noch Anhänger des Freihandels und Mitglied jenes antediluvianischen Heims des Liberalismus, des Remove-Klubs – obgleich die übrigen Mitglieder sicherlich jetzt fast alle Konservative waren, sonst hätte er nicht dazu gehören können; und Timothy, sagten sie, trage noch eine Nachtmütze. Tante Juley begann wieder. Der liebe Soames sehe so gut aus, kaum einen Tag älter als damals beim Tode von Tante Ann, wo sie alle zusammen dort waren, der liebe Jolyon, die liebe Swithin und der gute Roger. Sie hielt inne und fing die Träne auf, die die Schmollfalten ihrer rechten Wange erklommen hatte. Hörte er – hörte er jemals etwas von Irene? Tante Hester wollte offenbar weiteres verhüten. Wirklich, Juley sagte immer solche Dinge! Das Lächeln auf Soames' Gesicht erlosch und er stellte seine Tasse fort. Hier wurde seine Angelegenheit zur Sprache gebracht, und trotz seines Verlangens, sich darüber auszulassen, vermochte er die Gelegenheit nicht auszunutzen.

Tante Juley fuhr ziemlich hastig fort:

»Sie sagen, Onkel Jolyon vermachte ihr die fünfzehn Tausend zuerst ganz und gar, dann aber natürlich habe er eingesehen, daß es nicht recht war und hinterließ ihr nur die Leibrente.«

›Hatte Soames das gehört?‹

Soames nickte.

»Dein Vater Jolyon ist jetzt Witwer. Er ist ihr Berater, du weißt das natürlich?«

Soames schüttelte den Kopf. Er wußte es, wollte aber kein Interesse dafür zeigen. Jolyon und er waren einander seit dem Todestage Bosinneys nicht begegnet.

»Er muß jetzt ein mittleres Alter erreicht haben,« fuhr Tante Juley nachdenklich fort. »Laß mich sehen, er wurde geboren, als dein lieber Vater in der Mount Street wohnte, lange bevor sie – im Dezember 47, gerade vor der Kommune – nach Stanhope Gate zogen. Er ist über fünfzig! Denke dir! Solch ein hübsches Kind und wir waren alle so stolz auf ihn; er war der erste von euch allen.« Tante Juley seufzte und eine Locke ihres nicht ganz eigenen Haares löste sich, sodaß Tante Hester ein leiser Schauer überlief. Soames erhob sich, er machte eine sonderbare Entdeckung an sich. Jene alte Wunde an seinem Stolz und seiner Selbstachtung hatte sich noch nicht geschlossen. Er war in dem Gedanken hergekommen, davon sprechen zu können, wünschte sogar von seiner unfreien Lage zu sprechen, und nun! – schreckte er bei der Berührung dieser Frage durch Tante Juley, deren Ungeschicklichkeit berühmt war, zurück.

Soames wollte doch nicht schon gehen!

Er lächelte ein wenig gereizt und sagte:

»Doch, lebt wohl. Grüßt Onkel Timothy!« Und nachdem er einen kalten Kuß auf ihre Stirnen gedrückt, deren Runzeln den Versuch zu machen schienen, sich an seine Lippen zu schmiegen, als sehnten sie sich weggeküßt zu werden, verließ er sie. Sie blickten ihm strahlend nach – der gute Soames, es war doch lieb von ihm, heute zu kommen, wo ihnen gar nicht wohl zumute war!

Mit einem stechenden Gefühl von Reue im Herzen ging Soames die Treppe hinunter, über der immer jener so angenehme Geruch von Kampfer und Portwein schwebte, der Geruch eines Hauses, wo Zugluft nicht erlaubt ist. Die armen lieben Alten – er hatte nicht unfreundlich sein wollen! Doch auf der Straße vergaß er sie augenblicklich, da ihn das Bild Annettens und der Gedanke an die verwünschten Schwierigkeiten, die ihn umgaben, wieder beschäftigte. Weshalb hatte er die Sache nicht durchgesetzt und eine Scheidung verlangt, als dieser elende Bosinney überfahren wurde und ein Überfluß von Beweisen vorhanden war! Und er begab sich zur Wohnung seiner Schwester Winifred Dartie in der Green Street, Mayfair.


 << zurück weiter >>