Ludwig Ganghofer
Der Besondere
Ludwig Ganghofer

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10

Graue Dämmerung füllte schon die Stube des Pfrointnerhauses. Auf dem braunen großen Ledersofa lag Zäzil ausgestreckt. Ihr Kopf war in ein geblümtes Kissen versunken, ihre Haare waren gelöst, und ihre Hände ruhten in den Händen der alten Pfrointnerin, die vor dem Sofa auf einem niederen Schemel saß. Feine Röte war über Zäzils Wangen gehaucht, und mit zerstreutem Lächeln lauschte das Mädchen auf die sprudelnden Worte der Mutter, die lachend und weinend von allem Schreck erzählte, den sie durchlebt hatte, seit die Nachricht vom Sturz der Lawine ins Dorf gedrungen war.

Da öffnete sich die Tür, und der Pfrointner betrat die Stube. Zäzil richtete sich halb empor und nickte dem Vater zu.

»No also, du Frauenzimmer, du verruckts, wie is dir denn jetzt?« fragte der Alte mit Lachen.

»Besser, Vater, ich dank dir schön! Aber was ich fragen will: Is der Martl schon herunt?«

»Natürlich! Hab ihm grad guten Abend gsagt am Zaun!«

Zäzil ließ sich zurücksinken in das Kissen. Und als der Pfrointner zur Fensternische ging, um seine Pfeife zu holen, rief sie ihn mit leiser Stimme.

»Vater?«

Er kam, und zärtlich strich er mit der schwieligen Hand über Zäzils Stirn und Haare. »Was willst, mein Käferl?«

»Sag, Vater . . . möchtest mir ein rechten Gfallen tun?«

»Aber gwiß! Und wenn verlangst, daß ich meine schönste Kuh am Schwanz zum Dachfenster aussihängen soll . . . heut tu ich dir alles z'lieb!«

Die Pfrointnerin kicherte vergnügt; Zäzil aber faßte die Hand des Vaters und drückte sie an ihre glühende Wange. »Eine Botschaft hätt ich sagen z'lassen . . . ja . . . dem Martl. Und mir is, als könnt ich kein Ruh net finden in der Nacht, eh' ich's net vom Herzen hab, was ich ihm sagen muß! Weißt es noch, Vater . . . am Samstagabend . . . was ich dir gsagt hab? Mir tät's noch allweil gfallen daheim . . . und gar net pressieren tät's mir . . . ich könnt schon warten auf ein Bsondern!«

»Jetzt aber«, fiel der Pfrointner, in dem eine Ahnung aufzudämmern schien, mit kreuzfideler Stimme ein, »jetzt aber, scheint's mir, jetzt pressiert's dir gwaltig!«

»Ja, Vater!« lachte Zäzil unter Tränen, während die Pfrointnerin vor Freude die Hände über dem grauen Schopf zusammenschlug. »Denn in der Hütten unter der Lahn, da hab ich ihn ja gfunden, mein Bsondern! Und soll ich dir sagen, wie er heißt? Gar net weit brauchst laufen, wann mit ihm reden willst. Und schau, da tätst mir halt ein rechten Gfallen, wann ihm sagen möchtest: Ich laß ihn bitten, daß er mir den Samstagabend nimmer nachtragt . . . und . . . und wenn's ihn net verdrießen tät und wenn's ihm lieb und recht wär, so möcht er halt denselbigen Gang ein zweitsmal machen!«

»Brav! Recht hast! Auf der Stell geh ich nüber! Hast es ghört, Alte . . . das is halt mein Tochter!« Der Pfrointner packte seinen Hut, stülpte ihn über die Haare und schoß zur Tür hinaus, als hätte er Sorge, daß Zäzil ihren Auftrag widerrufen könnte.

Jetzt kam das Zünglein der Pfrointnerin in Bewegung. Auf die zwanzig Fragen aber, die sie in einem Atem heraushaspelte, schüttelte Zäzil nur immer den Kopf.

»Ich kann net reden, Mutterl, ich kann net! Nur grad das einzig kann ich sagen: Den Martl mag ich, den Martl und sonst kein andern! So viel lieb is er mir, daß ich's gar net sagen kann!« Und schluchzend deckte sie das Gesicht mit beiden Händen.

Die Pfrointnerin war vor Freude völlig wirr im Kopfe. Sie trippelte planlos in der Stube umher, und als sie sich anschickte, die Hängelampe über dem Tisch zu entzünden, verbrannte sie ein Päckchen Streichhölzer, bis sie auf den Gedanken kam, daß man, um den Docht anzünden zu können, doch wohl den Glaszylinder abnehmen müsse. Und als nun die Lampenflamme ihren traulichen Schein durch die Stube warf, suchte die Pfrointnerin ihr altes Plätzchen wieder auf und plauschte darauf los wie ein Mühlwerk, das bei Hochwasser ins Klappern kommt.

Plötzlich hob Zäzil den Kopf und stammelte: »Der Vater kommt!«

Die Pfrointnerin lauschte: »Na . . . ich hör noch nix!«

Zäzil aber hatte sich nicht getäuscht. Eine kurze Weile noch, dann klapperten schwere Tritte über das Hofpflaster. Nun öffnete sich die Tür, und Zäzil erschrak, als sie das mißvergnügte Gesicht des Vaters sah.

Der Pfrointner warf seinen Hut in eine Fensternische und schalt: »So einer! Is das ein Dickschädel! Da hört sich doch alles auf! Na, na, was sich in zwei Tag net alles ändern kann! Mein Madl is die Gscheite worden . . . und jetzt spielt der ander den Überspannten. Er kann's net glauben, daß du ihn gern hast, sagt er. Nachtragen tät er dir nix, sagt er, aber er möcht eine Bäuerin, die ihn nimmt aus Lieb, sagt er, und net eine, die ihn gestern zur Tür aussischickt und heut wieder ja sagt . . . aus übertriebener Dankbarkeit! Und gar net verdient hätt er's um dich, daß er ein solchen Dank verlangen könnt, sagt er . . . das bißl Aushalten in der Hütten, meint er, das wär ja gar net der Rede wert! Zugredt hab ich ihm wie eim bockbeinigen Lampl . . . aber der wann einmal sein Köpfl aufsetzt, nacher reißt's ihm Gott Vater nimmer runter. Da soll ja doch gleich ein heiligs Donnerwetter dreinschlagen . . . in so eine Narretei!« Jetzt stockte dem Pfrointner der zornige Redefluß, und er machte zwei recht verdutzte Augen, als er das Mädel gewahrte, das mit ruhigem Lachen zu ihm aufblickte.

»Geh Vater, mußt dich net ärgern . . . und Mutterl, sei so gut, wo hast denn meine Schuh?«

»Jesus, Madl«, stotterte die Pfrointnerin, »du wirst doch net . . .«

»Aber gwiß! Und weißt, Vater, was ich mir denk? Du hast halt an der Botschaft 's Beste vergessen!«

»Wär net übel!« lachte der Pfrointner.

»Ja! Zum richtigen Reden, da hätt ich dir halt mein Herz mitgeben müssen, wie's schlagt in mir. Und die ganze Zeit schon hab ich mir denkt, es wär doch besser, wenn ich gleich selber reden tät mit'm Martl!«

»Recht hast! Herrgott! Was gibt's auf der Welt für gscheite Frauenzimmer! Und mach weiter, Alte, die Schuh gib her! Und tummel dich, Madl! Und red ihm nur fest ins Gwissen, dem bockbeinigen Nickl!«

Mit zitternden Händen knotete Zäzil die gelösten Haare im Nacken zusammen, dann schlüpfte sie in die Schuhe, schlug ein Tuch, das die Mutter ihr reichte, um die Schultern und eilte davon.

Tiefe Dämmerung lag schon über dem weiten Tal. Nur die schneebedeckten Kuppen der Berge waren noch von rötlichem Licht umflossen.

Als Zäzil den dunklen Garten durchschritt, spähte sie empor zu jener Berghöhe, auf der das Almfeld ihres Vaters gelegen war. Deutlich sah sie die Felsgewände ragen, und deutlich unterschied sie die graue, schneelose Gasse, die über der Stelle, wo die verschüttete Hütte stehen mußte, vom Grat der Felsen über die Wand sich niederzog. Ein leiser Schauer rieselte um ihre Schultern, und hurtig eilte sie weiter.

Jetzt bog sie um die Ecke des Bründlhauses. In der Stube brannte die Lampe, und Zäzil sah durchs Fenster den jungen Bauern im Herrgottswinkel sitzen. Er hielt die Arme über dem Tisch gekreuzt und das Gesicht in ihnen vergraben.

Leisen Schrittes betrat sie den Flur und öffnete sacht die Türe. Martl hörte sie nicht kommen. Eine Weile stand sie schweigend, dann rief sie schüchtern seinen Namen.

Erschrocken fuhr er auf, stieß sich hinter dem Tisch hervor und starrte sie an mit erblaßtem Gesichte.

»Du? . . . Zäzil?«

»Ja, Martl, ich! Und sei net harb, daß ich kommen bin. Lang halt ich dich net auf. Die Botschaft, die ich dir sagen hab lassen durch mein Vater, die kennst ja. Und mein Vater hat mir auch dein Antwort bracht. Und schau, da muß ich dir noch ein Vergeltsgott sagen, weil du mich für gar so ein dankbares Madl haltst. Es is ebbes Schöns um ein dankbaren Menschen, ja, und drum is mir's völlig arg, daß ich dein guten Glauben von mir net gelten lassen kann. Ich bin halt so viel aufrichtig, weißt! Und ich bin dir gar net dankbar! Ah, bewahr! Fallt mir gar net ein! Weswegen denn auch? Weil in der Hütten droben dein Leben eingsetzt hast für's meine? Das hast ja müssen, weil ein braver Mensch bist, ein ganz Bsonderer . . . und weil mich gern hast!«

Mit schwankender Stimme hatte sie begonnen, aber beim Anblick der hilflosen Verwirrung, die sie von Martls Zügen las, war ihr der Mut gewachsen. Einige Schritte trat sie näher und sprach mit zufriedenem Lächeln weiter: »Ja Martl, weil mich gern hast! Am Samstag hab ich dir deine kurzen Wörtln fürgworfen, jetzt aber weiß ich, daß man mit solche kurzen Wörtln mehr sagen kann als wie mit stundenlange Reden. Weißt es noch? Wie ich dich selbigsmal gfragt hab, weswegen denn grad auf mich verfallen bist, da hast mir gsagt: ›Weil mir halt die nächste bist . . . so und so!‹ Es hat mir gleich zum denken geben, dein ›so und so‹, und jetzt versteh ich's, wie's vermeint war. So . . .« sie deutete hinüber nach dem Pfrointnerhof, dann schaute sie mit leuchtenden Augen zu ihm auf, preßte die Hand auf ihre Brust und lächelte: »Und so!«

Der starke lange Mensch am Tisch zitterte an Händen und Füßen. Seine Lippen bewegten sich, aber aus seiner Kehle wollte kein Laut.

»Und was bei dir das einzige, kurze Wörtl wert is, in der Hütten droben hab ich's ausstudiert! Es ist dein Leben wert . . . und mehr noch, Martl, weit mehr noch! Unser Herrgott muß sich schier denkt haben: Dem einfältigen Frauenzimmer muß ich einmal zu merken geben, was der Unterschied is zwischen Bub und Mannsbild . . . und drum hat er mir dieselbigen Stunden in der Hütten gschickt und dich dazu. Was dich naufgführt hat in d' Hütten . . . schier mein' ich, daß ich mir's denken kann. Der Zufall is's am allerletzten gwesen. Wer's gsagt hat, weiß ich nimmer . . . leicht war's am End gar mein Herz, das mir gsagt hat: Es war ein ganz klein bißl Eifersucht dabei!«

»Na, Zäzil . . . na . . . laß dir sagen . . .«, stotterte Martl, auf dessen Zügen Röte und Blässe wechselten.

Zäzil aber sprach tapfer weiter. »Ja, Martl, ich will dir's einbstehen! Er hat mir gfallen. Drunt am See, wie er das Bübl rausgholt hat . . . da hat er mir in d' Augen gstochen. Aber ich hab ihn bloß gsehen am Tag und in der Sonn, und Nacht hat's werden müssen, daß mir d' Augen aufgangen sind . . . über ihn und über dich! No schau . . . und da könnt ich dir jetzt die schönsten Sachen sagen . . . könnt dir sagen, daß mir in dieselbigen paar Stunden fester einigwachsen bist ins Herz, als wie ein Baum in hundert Jahren einiwachst in sein Boden. Könnt dir sagen, daß ich so gern wie dich kein Menschen nimmer hab auf der ganzen Welt. Aber du hast ja meim Vater gsagt, daß meiner Lieb net glauben kannst. Hast ja gsagt, ich nimm dich aus lauter Dank! Ah, Gott bewahr! Ich hätt dich gnommen aus lauter Eigennutz, weil ich mir ein Bessern nimmer z'finden wüßt. Aber no . . . da is jetzt nix mehr z'reden drüber!«

»Zäzil . . . Jesses na . . . Madl«, stammelte Martl in überquellender Freude, »schau . . . ich weiß ja gar net, was ich sagen soll . . . alles dreht sich um mich rum . . .«

»Wart ein bißl . . . Grad eins noch muß ich dir sagen, nacher laß ich dir schon dein Ruh! . . . Ja! Nach derselbigen Wasserfahrt am See hat mir der ander mit Gwalt ein Bußl gnommen. Auf ein See aber, so mein' ich heut, und wenn er noch so wild tut, fahrt ein jeder aussi, wann ihn der Übermut plagt. Was ich aber von dir in der Hütten droben gsehen hab, unter der Lahn und in der finstern Gfahr, das, Martl, das macht dir so leicht kein zweiter nach! Drei Menschen hast am Leben ghalten! Und da soll ich dich net besser zahlen als wie den andern, der das kleine Bübl aus'm See aussizogen hat? Da müßt's ja gar kein Grechtigkeit nimmer geben auf der Welt. No schau . . . und weil ich halt gar so eine Grechte bin, drum steh ich da und frag dich: Magst eins haben, ein Bußl? Oder gleich drei auf einmal?«

Und verlockend hielt sie ihm den roten Schnabel hin.

Was er sagte, wußte er nicht; und sie verstand es noch weniger; es war ein Lallen und Jauchzen; aber mit den Armen wußte er schon besser zu reden als mit der Sprache. In stürmischem Jubel riß er Zäzil an seine Brust, umklammerte sie, daß ihr der Atem zu vergehen drohte, und überströmte ihr Gesicht mit Küssen.

Da ließ sich am Fenster ein klirrendes Pochen vernehmen, und erschrocken fuhren die beiden auseinander.

Durch die Scheiben guckte das vergnüglich grinsende Gesicht des Pfrointners.

Verlegen fuhr sich Martl in die Haare. Zäzil aber lachte: »Geh, Martl, es is bloß der Vater . . . vor dem brauchst dich net schenieren!«

Und wieder bot sie ihm den roten Mund.

 


 


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