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Das war im Gotteslehen ein banger Abend. Immer wieder löschte der Regen das Feuer, das sie beim Hagtor zu unterhalten suchten. Als sie Pech auf die Scheite gossen und über der Feuerstätte ein Balkendach errichteten, konnten sie die Flamme lebend erhalten. Dann trugen die Männer zusammen, was an Waffen zu finden war. Das taten sie in aller Stille, denn Jutta saß noch spinnend in der Herdstube und sollte die Gefahr nicht ahnen, die dem Hause drohte. Die Blinde war leicht zu täuschen. Sie war an diesem Abend nicht so achtsam wie sonst auf alle Geräusche im Haus. Nur als die Helgard kam, um Jutta in ihre Kammer zu führen, fragte sie: »Warum kommt der Vater mit den Leuten nit in die Stub? Ich hör, wie der Regen rauscht. Warum bleiben sie draußen?«
»Der Sturm hat an den Ställen die Dächer aufgerissen. Das müssen die Mannsleut bessern. Das Vieh will trockene Liegestatt.«
Während in Juttas dunkler Kammer ein träumendes Herz die Sonne und den Maien sah, stieg draußen in Sturm und Regen der Gotteslechner zum Lugaus in den Gipfel der Ulme hinauf. Der alte Baum erzitterte. Unter dem Druck des Sturmes stöhnten die mächtigen Äste, und der Lugaus mit seinem Holzgeländer schaukelte gleich einer Wiege. So dunkel die Nacht auch war und so dicht die Schleier des Regens den Baum umwehten, dennoch konnte Greimold tief im Tal einen roten Schimmer erkennen wie den Schein einer Feuerstätte. Es war der Lichtschein des großen Rosettenfensters am Kapitelsaal. »Du guter Bub! Ich fürcht, du wirst um meinetwillen ein hartes Stündl haben.« Er schien nicht zu fühlen, daß seine Kleider von Nässe troffen. Immer spähte er nach dem roten Schein im Tal. Dann stieg er mit schwerem Seufzer die steile Treppe hinunter.
»Hast du was gesehen?« fragte der Steinhauser.
»Licht im Kapitelsaal.«
»Solang sie noch raiten, haben wir Ruh. Und schau den Regen an! Heut kommen sie nimmer. Die haben's gern, wenn ihnen die Gurgel naß ist. Ihren heiligen Hintern haben sie lieber trocken.«
»Vorsicht, die zuviel tut, ist besser als Fürwurf, der hinter dem Schaden lauft. Von den Sennbuben der jüngste und die Ruglind sollen am Tor das Feuer hüten. Das Mädel hört wie ein Fuchs. Die Mannsleut ruf mir in die Tenn, daß wir reden. In der Herdstube geht's nit. Man tät das Kind wecken. Geh derweil! Ich möcht nur schnell hineinschauen, ob sie schlaft.«
Greimold trat ins Haus und tauschte im Flur das triefende Wams gegen ein anderes. In der Stube war's dunkel. Der Schein erlöschender Kohlen, der den Herd umschimmerte, beleuchtete schwach die Kunkel, an welcher Jutta gesponnen hatte, und die Zwerggestalten der Alraunen, die an die Herdwand genagelt waren, um das Haus vor Feuersgefahr und Blitzschlag zu behüten.
In die Kohlen blasend, entzündete Greimold einen dürren Span. Lautlos trat er in die Kammer seines Kindes. Das war ein kleiner Raum, erfüllt von milder Wärme, die aus der gemauerten Herdwand der großen Stube strahlte. Die anderen Wände waren braunes Gebälk; der Lehmboden mit Juttas blumigen Strohgeflechten überbreitet. Diese wunderlich geformten Blumen schienen zu duften. Oder kam dieser Wohlgeruch von den dürren Kräutern, die überall in den Fugen des Gebälkes staken? Das ganze Gerät der kleinen Kammer bestand aus einer Truhe und einer Holzbank, die neben dem sorgsam geordneten Gewand der Schlummernden einen zinnernen Becher trug und dicht bei ihrem Lager stand. Das war mit einer aus schwarzen Lammfellen genähten Decke belegt; linde Felle, in weißes Leinen eingeschlagen, verhüllten den im Schlaf ruhenden Leib. Wohlig lag das Köpfchen, ein wenig zur Seite geneigt, in die krause Wolle versunken, umringelt vom Goldgelock der Haare. Ein Lächeln umspielte den roten Kindermund, und die schmalen Wangen waren überhaucht von der Wärme des Schlafes. Leise hob sich unter dem weißen Linnen die junge Brust bei jedem Atemzug. Von den nackten Armen war der eine gestreckt, so daß die Hand auf der Holzbank ruhte – als hätte Jutta träumend nach dem Becher greifen wollen, in dem die verdorrte Blume des Jägers in frischem Wasser stand.
Die weiße Zenta hatte sich erhoben. Als der Bauer zum Lager trat, stellte sich die Hündin auf und legte die Pfoten auf den Saum des Bettes.
Sorge in den Augen, beugte sich Greimold zu seinem schlummernden Kind und machte über der Schlafenden das Zeichen des Kreuzes. Sie schien die Nähe eines Lebenden zu fühlen, atmete tief und bewegte leis die Lippen. »Irmi!«
Greimold nickte. »Allweil, wenn ich sie gekreuzet hab im Schlaf, ist ihr Wörtl ›Vater‹ gewesen.« Seufzend löschte er den Span, und während die weiße Hündin wieder ihre Ruhstatt bei der Herdwand suchte, schlich er aus der Kammer.
Als er an die Tenne kam, an deren Tor eine Pechfackel brannte, waren die anderen schon versammelt: der Steinhauser, der Altsenn und die Buben. Sie saßen auf Hafergarben und hatten auch für den Hauswirt einen Platz gerichtet. »Leut«, sagte der Gotteslechner, »jeder weiß, was geschehen ist. Was weiter kommt, weiß keiner von uns. Kann sein, daß sie ein Einsehen im Kloster haben. Und alles ist gut. Kann sein, sie wollen's mit Gewalt durchsetzen und mich hörig machen. Da wehr ich mich.«
»Hast recht, Hauswirt!« fiel der Altsenn ein. »Unrecht muß keiner leiden, solang er Faust hat. Reichen die deinigen nit, so hast du die unsrigen. Wir stehen zu dir, ob Freud im Haus ist oder ob die Not ans Hagtor pumpert. Bist uns allzeit ein guter Hauswirt gewesen. Wie der Herr ist, müssen die Knecht sein.«
»Vergelt's Gott!« Greimold nickte dem Alten und den Buben zu. »Aber du, Steinhauser? Meine Hirten sind ledige Leut. Du hast ein junges Weib in der Stub und harrest in Freud auf junges Leben im Haus.«
»In Freud! Da hast du recht! Es fehlt nimmer weit. Ich hab fleißig dazugetan, und meinem Weib ist übel bei Tag und Nacht, als hätt sie Speck auf grüne Birnen gegessen.« Der Steinhauser lachte, und die Hirten lachten mit. »Wird's ein Bub, so muß er Greimold heißen. Taufen ihn die im Kloster nit, weil Händel sind zwischen uns und ihnen, so tauf ich ihn selber. Und du? Gelt, du hebst ihn? Schlag ein!« Sie schüttelten sich die Hände. »Jetzt red, Bauer! Wie teilen wir uns ein zur Wach und zur Arbeit?«
Als sie alles abgeredet hatten, sagte der Gotteslechner: »Die erste Wach bis zum Morgen nimm ich selber. Legt euch schlafen, Leut! Kommen sie, so weck ich mit dem Alphorn. Aber ich denk, solang grob Wetter ist, sind wir sicher. Geht morgen das Schaffen und Schanzen an, so laßt vor dem Kind kein Eisen klirren und redet kein unvorsichtiges Wörtl. Tut sie eine Frag, so muß halt jeder suchen nach einer freundlichen Lug. Ihr ist alles Wahrheit, weil sie das Widerspiel nit kennt. Jetzt gute Ruh, Gesindleut!«
Greimold ging zum Hagtor. Der Steinhauser ging mit und sagte: »Sieben Mannsleut sind wir. Das sind vierzehn Fäust. Und du könntest noch mehr haben. Viele weiß ich, die dir dankbar sind um deiner Guttaten willen. Und viele sind unzufrieden und in Verdruß wider die Klosterleut. Die möchten wohl ihre Sach an die deinig hängen.«
Der Gotteslechner schüttelte den Kopf. »Ich will dem Kloster keinen Unfried schüren. Das tät mich ins Unrecht setzen, und ich könnte nimmer zuschlagen, wenn's gilt. Meine Not soll keinem Fremden an den Kittel greifen. Wir unter uns sind Leut genug. Und einen weiß ich, auf den ich rechnen kann.«
»Frag nit! Wenn's ernst wird, kommt er.«
Greimold trat zum Feuer, das beim Hagtor brannte. Der Geißhirt ließ sich unter Dach schicken. Ruglind sagte: »Ich bleib. Du, Hauswirt, mußt sinnen. Mich laß die Scheiter tragen und das Pech schütten.«
So wachten die beiden bis zum Morgen. Bei Anbruch der Dämmerung schlug der westliche Sturm in kalten Nordwind um. Über Hof und Dächer mischten sich wässerige Flocken in den Regen. Der Abend brachte scharfen Frost, und bevor es nach einer windstillen Nacht wieder Morgen wurde, waren die Berge und der Wald verschwunden, und alle Lüfte waren weiß von dicht und ruhig fallendem Schnee.
Als Greimold, der am Morgen die Wache gehalten, in die Herdstube trat, die Kleider von gefrorenem Schnee bedeckt, ließ Jutta, die mit ihrem Strohgeflecht neben dem Feuer saß, die Hände ruhen. »Vater? Sind alle Gesindleut fortgegangen? Weil ich sie nimmer schreiten hör im Hof.«
»Es ist Winter worden, und die Eisblumen sind gewachsen. Die decken allen Boden linder als Maiengras.«
Es huschte wie sinnender Kummer über das Gesicht der Blinden. »Vater? Darf ich nit ein lützel hinaus und die Eisblumen schauen?« Er legte den Arm um die Blinde und führte sie vor das Haus. Die weiße Zenta trabte vor den beiden her. »Wie lind das unter den Füßen ist!« Jutta hob das Gesicht und streckte die Hände. Da konnte sie den Fall der Flocken spüren. »Als tät mich ein Kindl anrühren, das kühle Fingerlein hat!«
Bellend tollte die Hündin in den Schnee hinaus, und mit ihrem weißen Fell verschwand sie völlig im Gestöber.
Greimold winkte den Männern zu, die in der Nähe des Hages schwere Felssteine aus einem Hügel brachen. Sie ließen die Werkzeuge ruhen und standen schweigend.
Jutta schmiegte sich an den Vater. »Stehen sie schon hoch, die Eisblumen?«
»Spannenhoch.«
»Meinst du, sie wachsen noch höher?«
»Ja, Kindl, das hoff ich.«
»Aber nit so hoch, daß sie den Weg versperren?«
Greimold fragte lächelnd: »Was für einen Weg?«
»Den vom Jägerhaus zum Gotteslehen.«
»Nein, Kind, den sperren die Eisblumen nit, und täten sie haushoch wachsen!« Während er die Blinde zurückführte ins Haus, blies er die Schneeflocken aus ihrem Haargeringel.
Drüben beim Steinbruch nahmen die Männer die Arbeit wieder auf. Einen Felsblock um den andern wälzten sie aus der verschneiten Erde hervor, die Bausteine für eine feste Mauer, die sie innerhalb des Hages rings um Haus und Ställe errichten wollten. Schon am folgenden Abend mußten sie wegen des starken Schneefalles die Arbeit einstellen.
In dichtem Gestöber fielen die Flocken, Tag und Nacht, eine ganze Woche lang. Als sich der Himmel wieder klärte, lag der Schnee halbmannshoch, eine weite, weiße, undurchdringliche Mauer, die das Gotteslehen schützend umzog und jeden Weg verschloß, der vom Tal zu den Bergen führte.
»Jetzt laßt euch die Ruhzeit schmecken!« sagte der Gotteslechner zu seinem Gesind. »Bleibt der Winter so streng, wie er anhebt, so sind wir sicher bis zum Frühjahr.«
Am Abend, als Greimold nach der Mahlzeit noch mit den Hirten um den Herd saß, kam die Helgard aus Juttas Kammer gelaufen. »Hauswirt, komm! Und schau, was das Kindl hat! Ein Zährl ums ander rinnt ihr übers Gesicht. Und das weißt du doch, das Weinen tut ihren Augen weh!«
Erschrocken eilte Greimold in die Kammer. Jutta stand im Lichtschein einer Wachskerze, die in eisernem Ring an der Mauer brannte. Zwischen den zitternden Fingern hielt sie einen dürr gewordenen Halm. Ihre nassen Augen waren weit geöffnet, als möchte sie das Sehen erzwingen, »Kindl? Was hast du?«
»Schau nur, Vater! Sein Knöspl ist abgefallen, und das Hälml ist dürr. Jetzt kann's nimmer blühen.«
Er streichelte Juttas Haar, nahm ihr den dürren Halm aus den Händen und sagte ruhig: »Sein Blüml wird blühen. Mir kannst du's glauben. Du verlangst, was wider die Natur ist. Die Sommerblumen müssen schlafen im Grund, solang die Eisblumen wachen.«
Sie nickte.
»Du mußt dich gedulden, bis im Land wieder Maien ist. Das Knöspl ist freilich abgefallen. Aber der Halm hat noch ein Würzl.«
Sie wollte fühlen.
Da sagte er hastig: »Laß mir den Halm! Ich grab ihn unter dem Eisblumenbeet in guten Boden. Im Maien blüht dein Blüml. Gelt, jetzt tu dich nimmer kümmern drum?«
Sie lächelte. Das war nicht ihr stilles, ruhiges Lächeln wie sonst. Es war Glaube in diesem Lächeln, aber auch Verlangen und Sehnsucht.
Greimold ging aus der Kammer. Draußen in der Stube ließ er den dürren Halm in die Flamme fallen. Schweigend saß er und hörte nicht, wenn die Sennen eine Frage an ihn richteten. Als sie die Stube verließen, um ihre Ruh zu suchen, ging er mit ihnen und trat ins Freie.
Klare, kalte Winternacht war um das Haus gelagert. Heftig flimmerten die Sterne, und ein matter Widerschein ihres Lichtes funkelte in den Schneekristallen. In der Stille ein dumpfer, langgezogener Laut. Das ferne Geheul eines hungernden Wolfes. Und jetzt ein Klingen im Tal, hell und hastig: Im Stifte läuteten sie das silberne Zügenglöckl. Da mußte von den Chorherren einer im Sterben liegen.
Dem alten Dietmar Scharsach rann das Leben aus der müden Seele.
In der Kapitelnacht hatten sie den Greis in einer Fensternische des Korridors gefunden, Gesicht und Hände mit vertrocknetem Blut bedeckt. In der Krankenzelle antwortete er auf keine Frage und zerfiel von einem Tag zum andern. Der Medikus sagte: »Ratio profecta a rerum natura. Er ist in einem Alter, in dem man kein Nasenbluten mehr verträgt.«
So lag er eine Woche. Am ersten schönen Tag, als das Schneegestöber versiegte, ging es mit ihm zu Ende. Gegen Abend erwachte er noch einmal aus seinen Fieberträumen. Da wollten sie ihm die heilige Zehrung reichen. Er wehrte sich gegen den Trost der Kirche wie ein eigensinniges Kind sich sträubt gegen bittere Arznei. »Mich hungert nimmer. Ich will den Propst. Den Propst!« Man holte Herrn Friedrich aus dem Refektorium, wo die Chorherren bei der abendlichen Mahlzeit versammelt waren. Als der Propst die Tür der Krankenstube öffnete, klang hinter ihm der heitere Lärm der Schmausenden mit dem Geklapper der zinnernen Schüsseln und in der Zelle vor ihm die Stimme des Sterbenden, dem der Medikus die Hände festzuhalten suchte: »Laß mich, du! Ich will zu meinem Buben.«
»Denke deines Gottes, Dietmar!« mahnte Herr Pabo, der Kaplan, der mit dem Ziborium neben dem Bette stand. »Bekenne deine Sünden!«
»Ich bin kein Heiliger. Ich bin ein Vater und will meinen Buben haben.« Der Kranke fiel zurück auf die Kissen. Schwer atmend bewegte er noch immer die Lippen mit unverständlichem Lallen.
»Hole den Linhart Scharsach!« befahl Herr Friedrich dem Medikus. »Der Vogt soll ihn aus der Haft entlassen.« Zu Pabo sagte er: »Gedulde dich mit deinem heiligen Trost! Ich will dich rufen lassen, wenn der Kranke ruhiger wird. Die Beichte kannst du ihm erlassen. Das ist kein Sünder. Der letzte Gedanke seines Lebens ist väterliche Liebe. Gott, von dem wir predigen, daß er unser aller Vater ist, wird ihm gnädig sein.« Er setzte sich zu dem Kranken auf das Lager.
Der schwere Dunst des Räucherwerkes, das sie in die Glut des Kohlenbeckens geworfen hatten, erfüllte beklemmend die Zelle. Die Wachslampe beleuchtete das Lager und den sterbenden Greis. In Erbarmen betrachtete Herr Friedrich das Gesicht des Kranken. Es war abgezehrt bis auf Haut und Knochen, das Fieber hatte die welken Lippen mit weißem Schorf bedeckt, und auf Nase und Wange sah man noch die gelblichen Male des Faustschlages. Dietmars Augen blickten irr und glänzend. Fieberträume schienen um seine erlöschende Seele zu gaukeln. Er begann zu reden, in abgerissenen Worten. Manchmal wurde seine zittrige Stimme zu kreischendem Lallen, und dann schlug er mit den Armen um sich. Es schien, als stritte er im Fieberwahn gegen Feinde, die ihn hart bedrängten. Jetzt sah er ein brennendes Dach und wollte löschen, retten. Nun fing er in Schmerz ein Klagen an, als hätte er das Haupt seines erschlagenen Weibes in den Armen, als lägen die blutigen Leichen seiner Töchter vor ihm. Die Züge entstellt, mit verglasten Augen stemmte er sich von den Kissen auf und schrie: »Mein Bub? Wo ist mein Bub?« – »Dein Sohn wird kommen, Dietmar!«
Der Kranke schien den Propst nicht zu erkennen, doch seine Worte mußte er verstanden haben; er ließ sich zurückfallen, lag ruhig und konnte lächeln. Wieder begann er im Fieber zu reden, flüsternd, in zusammenhängenden Worten, wie ein Gesunder spricht. Versunkenes Glück schien auferstanden in seiner Seele. Er redete wie einer, der von siegreicher Fehde heimkehrt zu den Seinen. Frühling ist's. Über den grünen Bäumen der blaue Himmel. Da ruht er mit seinem Weib im Gärtlein der Burg und plaudert, während drei schmucke Mädchen, seine Töchter, singend auf der Mauer sitzen. Sie haben rosige Wangen, tragen lichte Gewänder, und von den Blumen, die sie fanden, windet sich jede ihr Kränzl. »Wo ist der Bub? Ei, schau nur, wie er reitet auf seinem Stecken! So komm doch her zu deinem Vater! Warum bleibst du so weit von mir?« Suchend tastete der Kranke, fand die Hand des Propstes, hielt sie fest an seinem Herzen und streichelte sie. »Du kleiner Reiter, komm, ich laß dich reiten auf deines Vaters Knie. Besseres Rößl gibt's nit in der Welt. Hei, hopsa, hopsa! Müller, Müller, Säcklein, den Esel schlägt das Stecklein, das Rößl aber, hopsahei –«
Schritte klangen im Korridor. Mit dem Medikus trat Linhart Scharsach in die Zelle. Sein Gewand war verwüstet, struppig standen ihm die Haare über der Stirn, und sein Gesicht war dunkel gerötet. Zögernd trat er an das Lager, sah den Sterbenden an, und so stand er wortlos, den Stiernacken gebeugt, die Hände übereinandergelegt.
Der Fiebernde sah und hörte nicht. Er redete immerzu: »Schau, Mutter, wie der Bub schon reiten kann! Der reitet einmal zum Glück hinauf und wird was Rechtes im Leben. Gelt, mein Bürschl? Wenn du ein richtiges Rößl hast, ein lebendiges, wohin willst du reiten?« Immer schwieg er ein Weilchen, wie um der Antwort des Knaben zu lauschen. »So weit? Du Närrle! Kaiser werden?« Der Fiebernde kicherte vor sich hin. »Nein, Bürschl, da mußt du klüger wählen! Tätest du Kaiser werden, was hättest du? Ein Leben in kaltem Gold und heißen Sorgen. Wo er geht und steht, da schreien sie: ›Herr! Mächtiger Herr!‹ Und ducken die Köpf. Sie geben ihm Ehr nur ins Gesicht und speien ihm rücklings auf den Mantel. Jeder Kleine will größer sein, jeder möcht ihn ziehen nach seinem Willen, und die tausend, die ihren Knecht aus ihm machen, wachsen ihm über den Kopf. Tut er das Böse, so fluchen ihm die Guten, tut er das Rechte, so stehen die Bösen wider ihn auf und binden ihm Hand und Fuß. Nein, lieber Bub! So ein großer und reicher Herr ist ein armer kleiner Mann. Such dir was Besseres aus!«
Es ging dem jungen Scharsach übers Gesicht, als wäre eine Erinnerung in ihm wach geworden. Näher zum Lager tretend, streckte er die Hand. »Vater?«
»Fort! Laß mich in Ruh!« Der Kranke wehrte in weinerlichem Ärger mit dem Arm. »Haben sie noch Durst, meintwegen, gib ihnen noch zu trinken! Aber gieß ihnen Wasser in den Wein! Besser ein nüchterner Feind im Haus als ein rauschiger Knecht! Schon gut! Tu, was du magst! Mich laß in Ruh bei Weib und Kind!« Der Fiebernde streckte sich in Behagen. »So Bürschl, jetzt red! Was willst du werden? Ein Bischof? Hör doch, Mutter, was der Bub da werden will! Ein Bischof! O du Närrle, du! Ein Bischof ist ein trauriger Mann. Und ist er lustig, so ist er ein schlechter.«
Da lachte der junge Scharsach rauh und heiser. »Das geht nicht auf Euch, Herr Friedrich, obwohl Ihr von den lustigen einer seid. Das ist nur Fieber. Das zeigt ihm vergangene Zeit. Solch Red hat er einmal getan, wie ich noch ein Bub gewesen. Das geht nicht auf Euch.«
»Schweig!« In den Augen des Propstes funkelte der Zorn. »Das geht auf mich und auf uns alle.«
Ohne zu hören, hatte der Fiebernde mit leiser Stimme weitergesprochen. »Schau deinen Vater an und deine Mutter, Bub! Und denk: Ein Pfaff hat weder Weib noch Kind. Dem fehlt das Beste der Welt. Drum hat er kein Herz, kein Leben. Möcht er's haben, so muß ihm nutzlos die Seel verbrennen. Und hat er's missen gelernt, so ist ihm das Herz wie mageres Heu geworden, das nimmer duftet. Wie soll so einer die Lieb des Himmels fassen, wenn ihm die Lieb auf Erden fehlt? Komm, Mutter, lehn dich an mich!« Der Kranke tastete mit den kraftlosen Händen. »Kommt, ihr Geißlen, ihr weißen! Laßt eure Lieder schweigen ein Weil! Kommt her mit euren Blumen! Das müßt ihr hören, was er werden soll, mein Bub. Ein starker Mann und ein guter Mensch! Das soll er werden. Herr und Kaiser in seinem Haus. Ein seliger Erdensohn in seines Weibes Lieb. Ein lachender Vater von guten Kindern. Das ist von allem das Beste. Und dauert über Schmerzen und Tod hinaus. In allem anderen steckt halbe Freud, die andere Hälft daran ist Menschenweh und Grausen. Hausglück und Herdfreud hat ein Gütiger uns kriechenden Würmern gegeben als ewigen Erdentrost, als heiliges Gotteslehen. Komm, Bub! Nimm Mutter und Vater um den Hals! Was tust du dich sträuben, du Närrle?« Der Kranke hob die dürren Arme; kraftlos fielen sie nieder. »Bub!« Seine Stimme war ein würgendes Stöhnen. »Was tust du mir? So komm doch zu deinem Vater!«
Mühsam richtete er sich aus den Kissen auf, und den zärtlichen Wahn seiner Fieberträume zerriß die Erkenntnis der Wirklichkeit. Mit entsetzten Augen starrte er das Gesicht des Propstes an und erkannte seinen Sohn. »Linhart!« Das klang wie ein Schrei der Verzweiflung. »Mein lieber Bub! So komm doch!«
Linhart Scharsach stand wie ein Klotz.
»Ich tu nit zürnen. Es hat nit weh getan. So komm doch, Bub!« Der Greis wollte die Hände strecken. Da fiel er zurück, ein heftiges Zittern lief über seine Glieder, und aus dem Mundwinkel sickerte ein roter Tropfen über Kinn und Hals.
Der Medikus beugte sich über den Kranken und betrachtete ihn. Dann richtete er sich schweigend auf.
»Geh«, sagte Herr Friedrich mit erloschener Stimme, »hole den Kaplan!«
Der Propst und Linhart Scharsach blieben mit dem Sterbenden allein.
»Linhart! Dein Vater stirbt.«
»Daß ich einen Vater kenne, ist wider meinen Eid. Ich weiß nur von einem Chorherren Dietmar Scharsach. Der stirbt. Ich kann's nicht ändern. Sterben muß jeder einmal.«
»Hast du kein anderes Wort? Siehst du das Mal nicht, das deine Faust auf seine Wange zeichnete?«
Linhart Scharsach gab keine Antwort. Nun war es still in der Zelle. Das Röcheln des Sterbenden war verstummt, seine Brust schien keinen Atem mehr zu haben. Leise knisterten die Kohlen, aus deren Glut ein dünner Rauchfaden zur Decke stieg. Dem jungen Scharsach tropften die Schweißperlen über das rot gedunsene Gesicht. Er sagte plötzlich: »Muß ich noch bleiben?«
»Nein. Geh!«
»Wieder in Haft?«
»Geh, wohin du willst.«
Linhart Scharsach ging aus der Zelle und ließ die Tür offen, weil der Medikus mit dem Kaplan erschien. Herr Pabo trat an das Sterbebett. »Der Kranke ist willig, deinen Trost zu empfangen«, sagte Herr Friedrich mit hartem Lächeln, »sieh nur, er hält schon den Mund geöffnet.« Murmelnd sprach der Kaplan das segnende Gebet und schob dem Greis die letzte Speise auf die Zunge. Die offenen Lippen schlossen sich nicht. Herr Dietmar Scharsach war eine Leiche.
Den Propst mit einem Zornblick streifend, verließ der Kaplan die Zelle.
Lange stand Herr Friedrich und betrachtete schweigend den Entschlafenen. Er wollte ihm die Augen zudrücken. Als er das kalte Gesicht berührte, zog er erschrocken die Hand zurück. »Schließ ihm die Lider!« befahl er dem Medikus und ging in Hast davon. Draußen schüttelte ihn das Grauen des Todes, den er gesehen und gefühlt. Wie ein Fliehender eilte er an der langen Mauer hin. Immer hörte er noch die Stimme des Fiebernden. Und hörte dazu den Klang einer anderen Stimme, die vor Tagen in verschlossener Stube zu ihm gesprochen: »Es könnte sein, Herr Friedrich, daß es von allem Glauben der beste ist, an Menschen zu glauben – von allem Glück das reinste, zu leben und zu sterben für Menschen, die man liebt.«
Der Weg des Propstes ging an einer Treppe vorüber, die hinunter zu den Kellern führte. Herr Friedrich starrte in das Dunkel dort unten, spähte scheu nach allen Türen des Korridors, nahm hastig eine der kleinen Wachslampen von der Wand und stieg über die Treppe hinunter. Er kam durch finstere Gänge und durch Gewölbe, in deren Luft sich Modergeruch mit dem Duft des lagernden Weines mischte. Da leuchtete ihm ein roter Flackerschein entgegen, und als er um eine Ecke des Kellerganges bog, sah er ein Feuer brennen. Die flammenden Scheite lagen dicht bei einer Mauer, an der sich eine frisch gemörtelte Stelle erkennen ließ. In Mannshöhe, gleich einem versperrten Guckloch war an der Mauer ein eisernes Türlein zu sehen, mit schwerem Hängeschloß versichert. Bruder Eligius, der Schlächter, hockte neben dem Feuer auf der Erde. Steif erhob er sich, als er den Fürsten sah, der in zorniger Erregung fragte: »Wer befahl dir, dieses Feuer zu schüren?«
»Um die Marter des Unglücklichen zu mehren?«
»Das weiß ich nit. Daß ich es tun muß, ist die ander Hälft meiner Straf. Meine Kälber sind aus dem Stall gebrochen. Drum haben sie mich in den Block gelegt. Jetzt muß ich hier wachen die ganzen Nacht.« Eligius spähte durch den Kellergang und dämpfte die Stimme. »Ich schür nur ein lindes Feuer. Nit mehr, als daß sich die Wand ein lützel wärmet. Das muß ihm Wohltat sein. Der Winterfrost geht hart durch alle Mauern.«
»Nur ein lindes Feuer? Wurde dir anderes befohlen?«
»Ich weiß nit«, erwiderte der Bruder scheu, »ich mach es halt, wie ich den Auftrag verstanden hab.«
Schweigend stand Herr Friedrich und starrte die Mauer an. Dann fragte er leis: »Hörst du ihn klagen?«
Eligius schüttelte den Kopf. »Allweil ist's still da drinnen. Nur gestern am Abend, wie der Bruder Küchenwart durch das eiserne Türl die Schüssel hineingeschoben hat, da hab ich in der Mauer ein Lachen gehört. Das ist mir durch die Seel gegangen wie ein Messer.«
»Ein Lachen?« Der Propst bewegte die Schultern, wie von Frost geschüttelt. Plötzlich raffte er eines von den Scheiten auf und schlug mit dem Holz an die Mauer. »Immhof!« Keine Antwort. »Immhof!« Wieder schlug der Propst mit dem Scheit an die Steine. »Lebst du noch?« Kein Laut in der Mauer. Herr Friedrich warf das Holz zu Boden preßte seine Wange an die Steine und schrie: »Die Angst eines Freundes ruft. Wenn du noch lebst, gib Antwort aus deiner Nacht!«
Da quoll es aus der Mauer, kaum noch verständlich: »Nacht ist, wo ihr seid. Bei mir ist Licht und Sonne. Bei mir ist Mai.« Die Stimme erlosch wie das Gemurmel eines Träumenden.
»Das ist Irrsinn!« stammelte Herr Friedrich; sein Gesicht war weiß. »Eligius! Guter Bruder, sei barmherzig! Zerschlage das Feuer! Ende die Qual dieses Ärmsten, laß ihn erfrieren! Sterben ist Wohltat für ihn.« Als Eligius diesem Wort gehorchen und das Feuer löschen wollte, umklammerte Herr Friedrich seinen Arm und riß ihn zurück. »Nein! Sei barmherzig und halte die Mauern warm! Erfrieren, langsam erstarren, das muß ein entsetzliches Sterben sein.«
»Was soll ich tun, Herr?«
»Ich weiß nicht. Tu, was dir befohlen ist!« Mit den Händen über den Ohren, eilte der Propst davon, gejagt vom Grauen dieses Ortes. Er hatte die Leuchte vergessen und verirrte sich in den finsteren Gewölben. Er wollte rufen und brachte keinen Laut aus der Kehle. Abergläubische Furcht befiel ihn. Während er sich mit der einen Hand an den feuchten Mauern hintastete, bekreuzte er mit der anderen das Gesicht. Endlich leitete ihn ein matter Schein. Er kam zur Treppe. Keuchend sprang er die Stufen hinauf.
Als er den Korridor erreichte, hörte er die Stimmen der Brüder, die bei der Leiche des alten Scharsach die Gebete sprachen. Er eilte weiter und erreichte in Schweiß gebadet seine Stube. Kein Schlummer kam über seine Augen, die ganze lange Nacht. Es mußten alle Kerzen brennen. Frierend saß er in seinem Lehnstuhl und schaukelte bis zum Morgen den weißen Falken.
Der Winter blieb so streng, wie er begonnen hatte. Blauer Himmel mit glitzerndem Frost. Dann wieder Sturm. Und neuer Schnee fiel über den alten.
Still vergingen im Gotteslehen die weißen Tage, einer wie der andere.
War die Arbeit in den Ställen getan, dann saßen die Gesindleute beim Hauswirt in der Herdstube. Während sie in Gegenwart der Blinden fröhlich miteinander schwatzten, muntere Lieder sangen und lustige Märchen erzählten, banden sie die Speerklingen an die Schäfte, härteten am Feuer die Spannfedern für die Armbrusten, befiederten die Bolzen, machten die in der Hausschmiede gehämmerten Schwerter blank und benähten die ledernen Spenzer mit Eisenblech.
Jutta, die neben dem Herde saß, flocht ihre Blumen oder spann. Sie war wunderlich still geworden. Auf das Geplauder der Gesindleute schien sie nicht zu hören, schien auf kein Geräusch zu achten. Was in der Stube auch geschah, sie stellte nie eine Frage. Oft ließ sie durch Stunden die sonst so fleißigen Hände ruhen und blickte mit großen unbeweglichen Augen ins Leere. Oder sie streichelte unter leisem Lächeln immer die Stirn der weißen Hündin, die ihren Kopf im Schoß der Blinden hatte. Zenta durfte nicht von ihrer Seite weichen. Jutta wurde unruhig, wenn sie die Nähe des Tieres nicht fühlte. Immer rief sie gleich: »Weiße, wo bist du?« Kam Zenta gesprungen und schmiegte sich an die Blinde, dann fand auch Jutta ihr ruhiges Lächeln wieder. Das Tier war mehr für sie als nur ein treu ergebenes Geschöpf, es war für sie eine Freundin, mit der sie ein Geheimnis teilte, eine träumende Erinnerung.
So still sie auch geworden, die Freude am Lied war ihr geblieben. Kaum eine Stunde verging, in der sie nicht eines von ihren Liedern sang, am häufigsten das Maienlied.
Die Gesindleute schwatzten oft von dem Wandel, der über das Hauskind gekommen war. Und der Altsenn sagte einmal: »Ihr Herzl ist lebig worden. Ich mein, sie hat den Reinold gern.«
Die Helgard fuhr auf wie eine Natter. »Das ist gelogen!«
Einer der Jungsennen lachte dazu. »Dir möcht's taugen, wenn der Klosterstieglitz nach einer anderen ausschauen tät! Der schaut halt lieber nach einem weißen Gesicht! als nach Rosmucken.«Sommersprossen
Im Zorn hätte Helgard den Waschklöppel, den sie gerade in der Hand hielt, dem Spötter ins Gesicht geschlagen. Ruglind sprang dazwischen. »Wollt ihr euch die Köpf blutig schlagen? Im Streit um die Lieb? Ihr Narren! Lieb ist Elend und ist keinen Streich nit wert.«
Von diesem Tag an wurde Helgard eine andere gegen Jutta. Sie ließ wohl äußerlich in der Fürsorge, die sie der Blinden zu widmen hatte, nichts vermissen; doch alles tat sie verdrossen, wie etwas Erzwungenes. Und häufig redete sie in einem Ton, daß der Gotteslechner mahnen mußte: »So darfst du nit reden mit dem Kind! So greift man einen Besen an, aber nit ein Blüml.«
Mit wachsender Sorge sah Greimold den Wandel, der sich im Wesen seines Kindes vollzog. Hand in Hand mit dieser Sorge ging eine Freude. In Jutta war es immer wie ein dürstender Wunsch, dem Vater ihre Liebe zu zeigen. Sie streckte die Arme nach ihm, wenn sie seinen Schritt in der Nähe hörte. Lange hielt sie ihn oft umschlungen, hielt seine rauhe, bärtige Wange an ihr Gesicht gepreßt und streichelte ihm das Haar. Und Greimold empfand solche Zärtlichkeit wie einen Trost in seinem ruhelosen Kummer.
Niemals sprach sie von dem Jäger, auch dann nicht, wenn sie mit dem Vater allein war. Plauderte Greimold von ihm, dann schwieg sie und träumte mit großen Augen vor sich hin.
Nur zwei Fragen waren geblieben. Die stellte sie immer wieder.
»Vater? Stehen die Eisblumen noch allweil hoch?«
»Sie stehen hoch.«
»Dauert's noch lang, bis es lenzet?«
»Nimmer lang. Die Sonn tut bald jeden Weg wieder auf.«
Und die andere Frage:
»Vater? Weißt du den Ort noch, wo du sein Blüml vergraben hast?«
»Freilich, den find ich wieder, wenn die Eisblumen schwinden!«
Christzeit war schon vorüber. Der harte Winter wollte nicht linder werden.
Von Juttas Wangen war alle Farbe geschwunden, ihr Gesicht war schmal geworden. Ein Zug von Sehnsucht lag um den stillen Mund, und immer schimmerten die Augen, als wäre ihnen das Weinen nahe. Sie zitterte, so oft sie im Flur einen Schritt vernahm. Das konnte Greimold nicht länger mit ansehen. Eines Morgens, um die Lichtmeßzeit, machte er sich wegfertig. Beim Hagtor band er die Schneereifen unter seine Schuhe. Der Steinhauser fragte verwundert: »Wo willst du hin?«
»Hinunter zum Jägerhaus.«
»Da plagst du dich umsonst. Du kommst keine hundert Gäng.«
»Ich muß hinunter.«
Greimold begann den Weg. Über die Wiese bis zum nahen Waldsaum hinüber brauchte er länger als eine Stunde. Der Steinhauser rief ihm nach: »Kehr um, du kommst nit durch!«
Greimold kämpfte sich weiter. Hätte er nicht die Reifen an den Schuhen getragen, er wäre völlig im Schnee versunken.
Im Walde sah er ein Rudel Hochwild stehen, an die dreißig Stück. Die Tiere staken bis an die Köpfe im Schnee. Angst und Lebensnot in den Augen, betrachteten sie den Menschen und ließen ihn auf wenige Schritte an sich vorüberwaten, ohne zu fliehen. Das Mitleid mit den hungernden Geschöpfen hielt den Gotteslechner fest. Er schlug mit seinem Schwert ein paar junge Espen nieder, damit das Wild die zarten Zweigspitzen äsen könnte. Diese Arbeit war bei der Mühsal seines Weges für ihn ein Rasten. Und er hatte sich kaum entfernt, da wateten die Tiere schon auf die gefällten Bäume zu.
Greimold mühte sich weiter durch den tiefen Schnee. Seine Kräfte versagten schon, und er hatte den Hag des Hilpot noch immer nicht erreicht. Als der Wald sich lichtete, fand er eine frisch durch den Schnee gewatete Gasse. Da mußte einer mit Reifen gegangen sein. Und Heu lag über die Schneedecke gestreut. Hatte Hilpot dem Wilde Futter in den Wald getragen? Dann konnte er nicht weit sein. Mit hallender Stimme rief Greimold den Namen des Jägers. Ganz nahe klang die Antwort. Sie trafen sich, und beide sahen aus, als trügen sie weiße Kleider; bis zu den Schultern waren sie dick mit Schnee behangen. »Gotteslechner? Du?« Hilpot war so erschöpft, daß er kaum zu sprechen vermochte. »Was hast du verloren im Schnee? Das muß ein kostbar Ding sein; das du suchen gehst. Die Zeit ist hart, da bleibt ein jeder gern in der warmen Stub.«
»Du bist doch auch unterwegs.«
»Tät ich daheim hocken, ich müßt kein Jäger sein. Mein Wild ist in Not. Ich sorg mich drum, daß ich Tag und Nacht nimmer Ruh hab.«
»Sorg um deine Hirschen? In mir, Hilpot, ist tiefere Sorg! Die treibt mich.«
»Wohin?«
»Zu dir.«
Scheu betrachtete Hilpot den Gotteslechner. »Was willst du?«
»Nach einem Jäger fragen. Ob er nit hauset bei dir? Ein junger ist's, und Irmi heißt er.«
»Ein Jäger, der Irmi heißt?« Kummer sprach aus dem wetterharten Gesicht des Alten. »Den suchst du umsonst unter meinem Dach.«
»Sag mir, wo ich ihn suchen muß!«
»Der hauset, ich weiß nit wo. Geh wieder heim! Und Gottes Gruß!« Hilpot wollte gehen.
»Jäger, du verhehlst mir was! Dein Schweigen ist wie ein Stein auf meiner Sorg. Der Bub ist mir beigestanden in übler Not und hat mir geholfen wider die Herrenleut.«
Hilpot nickte.
»Haben sie ihn gebüßt?«
Der Alte blickte in Unruh nach seinem Haus hinüber.
»Red, Jäger! Ich bin ihm gut, und ich weiß nit, was ich tät für ihn!«
»Tätest du alles, es möcht ihm nimmer helfen. Laß gut sein und frag nit weiter!«
»Jäger!«
Der Klang dieses Wortes schien dem Alten ins Herz zu reden. Er zögerte noch. Dann sagte er leis: »Gib mir die Hand, daß du schweigen willst! Ein paar Tage vor der Heiligen Nacht, da hab ich im Eisen einen Luchs gefangen. Selbigsmal hat der Schnee ein lützel getragen. So hab ich den Luchs hinuntergeliefert ins Stift. Ich hab den ganzen Tag gebraucht, hinunter und wieder heim. Ich hab's getan, weil ich selber in Sorg gewesen bin.«
»Um den Irmi?«
»Um den Jäger, der Irmi heißt. Drunten hab ich meinen Buben gefragt. Da hat er mir's zugewispert. Am letzten schönen Tag, wie auf dem Abend das Sturmwetter gekommen ist, haben sie zur Nacht Kapitel im Stift gehalten. Das hat dem Jäger gegolten, der Irmi heißt. Seit derselbigen Nacht hat ihn keiner im Kloster mehr gesehen. Das ist alles, was ich weiß. Mehr hat mir der Bub nit sagen mögen. Es ist genug. Den Jäger, der Irmi heißt, den sehen wir nimmer.« Greimold stand erschrocken.
Mit schwerem Seufzer nickte Hilpot: »Mir hat er viel gegolten. Hat er mich angeschaut, so ist mir's sonnig worden ums Herz. Das ist Sonn, die nimmer scheint.« Er hob das Gesicht. »Geh heim und schweig! Und Gottes Gruß deinem lieben Kind!« Er watete durch den Schnee davon, seinem Haus entgegen.
Der Gotteslechner stand an einem Baum gelehnt, bis an die Brust im Schnee. Langsam fuhr er mit dem Arm über sein Gesicht. Von dem Schnee, der den Ärmel umkrustete, blieben ihm schmelzende Stücke am Bart und an den Brauen hängen. In ratlosem Kummer blickte er durch den Wald hinauf zur Höhe, auf der sein Heimwesen lag, und wieder hinunter ins weiße Tal.
Er schüttelte den Schnee von seinem Körper. »Tu dich nit härmen, Kind! Ich lös ihn. Wenn er noch lebt, so lös ich ihn.«
Er begann zu waten, durch den Wald ins Tal hinunter, mit zäher Ausdauer den harten Weg erkämpfend, als wäre in seinen erschöpften Gliedern neue Kraft lebendig geworden.