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Endlich, im Gasthause zur Post, erfuhr ich, daß eine halbe Stunde von Berchtesgaden entfernt, gegen Salzburg hin, ein altes Weiblein wohne, das sich auf die Heilung blessierter Tiere verstünde. Ich wollte gleich zu dieser weisen Frau, kannte aber den Weg nicht und hätt mich im Dunkel der Nacht sehr übel verlaufen können. Doch niemand wollte mich führen, kein Wagen wollte fahren. Ein Kutscher sagte: »Wann's Tag is, fahr i um fünf Markln aussi, bei der Nacht net um hundert.«
Diese weise Frau hieß die ›Freimännin‹ und war die Enkelin des letzten fürstpröpstlichen Henkers von Berchtesgaden. Alle Nachkommen dieses letzten Freimanns waren gestorben oder ausgewandert; nur diese Enkelin war noch übrig und hauste einsam auf dem ehemaligen Schindanger, durch den Aberglauben vom Leben der übrigen Menschen abgezäunt, von allen Leuten scheu gemieden, im Ruf einer ›Solchenen‹, vor der man sich hüten muß.
Da war nichts zu wollen. Wir mußten den geduldigen, klaglosen Luxerl auf den Morgen vertrösten und verbrachten die Nacht damit, dem vor Fieber scheuernden Tierchen kalte Umschläge zu machen. Luxerl blieb auch jetzt noch immer komisch. Wenn er zwischen dem Wechsel der Umschläge auf dem Rücken lag, schnitt er so drollige Grimassen, machte mit den aufwärts gestreckten Beinchen so unwahrscheinliche Zuckbewegungen und knickte das leisbewegte Schwänzlein zu so wunderlichen geometrischen Figuren, daß wir bei aller Sorge um das kleine Kerlchen immer wieder lachen mußten.
Als der Morgen graute, saß ich im Einspänner mit dem Luxerl auf meinem Schoß.
Nach halbstündiger Fahrt hielt der Wagen auf der Straße, neben einem von Erlenzeilen und Stauden bewachsenen Bachtal. Der Kutscher deutete mit der Peitsche über die Wiesen hinunter. »Da drunt steht 's Freimannshäusl. Einifoahrn tu i net.«
Mit dem Luxerl auf den Armen lief ich zum Bach hinunter, fand eine kleine morsche Brücke, einen mit Gras bewachsenen Weg, einen mannshohen Plankenzaun, über den man nicht hinübersehen konnte – und durch ein Pförtlein, das in alten, schwergeschmiedeten Angeln knarrte, kam ich zu einem hübsch mit rötlichem Sand bestreuten Pfad. Eine gemähte Wiese, ein kleiner, braun verwitterter Holzstall, der nach Ziegen roch, ein Gemüsegarten mit vielen Blumen – und unter Obstbäumen, deren Aste sich vom Gewicht der Früchte zu biegen begannen, stand das winzige Haus, das, nach der Verschränkung des Gebälks zu schließen, aus dem Ende des siebzehnten Jahrhunderts stammen mußte. Der Platz vor dem Haus war sorgsam gepflegt. Überall Blumen. Und ein Immenstand mit schwärmenden Bienen.
Ich öffnete die Haustür, sah einen kleinen, mit allerlei Gerümpel vollgepfropften Vorraum, sah die offene Tür eines engen Stübchens und einen Winkel, der als Küche wunderlich eingerichtet war.
Beim Herd, auf dem ein Feuerchen von dürrem Reisig brannte, stand die Freimannsenkelin, ein gebeugtes, etwas buckliges Weiblein, klein, sehr bunt gekleidet, nicht altmodisch, aber auch nicht so, wie die Leute zu Berchtesgaden sich trugen.
Eine Vision von zweihändigen Schwertern, von Ketten und Daumschrauben, von Strickschlingen, Blutgeruch und verzerrten Gesichtern huschte mir durch das Gehirn.
Die Freimännin kam schnell auf mich zu, als möchte sie mich über die Hausschwelle zurückdrängen. Sie mußte schon über Fünfzig sein, war aber noch nicht grau, sondern hatte tiefschwarzes Haar, das wuschelig herumhing um das derbknochige, runzelreiche Altjungferngesicht. In den grauen, mißtrauischen Augen war die müde Klugheit eines einsamen Lebens, und der breite, häßliche Mund schien versteinert zu einem spöttischen Lächeln. Diese Gemiedene brauchte nicht zu reden. Auch ihr Schweigen erzählte. Ich hörte eine Geschichte von Dingen, die man schwer erträgt.
Ohne eine Frage zu stellen, nahm sie den Luxerl von meinen Armen, und neben der Haustür, die sie zugezogen hatte, setzte sie sich mit ihm auf eine sonnige Bank hin. Geschickt und vorsichtig begann sie den Patienten zu untersuchen. Ihre Finger berührten ihn so zart, wie eine Mutter das leidende Kindchen behandelt, das sie liebt. Luxerl, geduldig auf dem Rücken liegend, rnit schlappen Beinchen, betrachtete aufmerksam das Gesicht des alten Weibleins und schnupperte gegen den roten Brustlatz hin.
Nach einer Weile sagte die Freimännin mit einer harten Stimme: »Nach drei Wochen kann man 's Hundl wieder abholen.«
In Freude fragte ich: »Glauben Sie, das Hundl wird wieder?«
Sie nickte, nahm den Luxerl achtsam in ihre Schürze und verschwand durch die Haustür. Drinnen klirrte ein großer Riegel.
Ich blieb noch stehen und besah mir den stillen Platz. Zwanzig Jahre später sind mir die Gedanken dieser fünf beschaulichen Minuten zu Bildern für den ›Mann im Salz‹ geworden. –
Meine Frau und ich und unser kleines Mädel, wir konnten den Ablauf der drei Kurwochen kaum erwarten.
Einen Tag, bevor die festgesetzte Frist zu Ende ging –, an einem wundervoll milden Vormittag im September –, fuhr ich zur Freimännin hinaus. Das Laub der Ulmen und Ahornbäume begann sich schon gelblich zu tönen, die Farbe der Berge war wie Samt, die höchsten Gipfel waren zart beschneit, glitzernde Fäden flogen in der Luft, und der Himmel hatte ein Blau von geheimnisvoller Tiefe.
Wieder blieb der Einspänner auf der Straße stehen und wollte nicht ›einifoahrn‹.
Als ich zu dem winzigen Häuschen kam, sah ich die Freimännin irn Schatten eines welkenden Apfelbaumes sitzen, der auf einem kleinen Hügel stand. In ihrem Schoße hatte sie den Luxerl liegen, von dessen Leib sie langsam einen schmalen, langen Leinwandstreifen herunterwickelte.