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In meiner Freude mußte ich schreien: »Luxerl! Luxerl!« Beim Klang meiner Stimme fing der kleine Kerl zu winseln und zu zappeln an, entwand sich den zwei alten Händen, die ihn halten wollten, machte einen Sprung, überschlug sich, kollerte über den grünen Hügel herunter, wickelte sich dabei selber aus der langen Leinwandbinde heraus und kam unter schrillem Gebell und schwänzelnd auf mich zugesprungen, mit einem schwärzlichen Pechstreif um den Leib herum.
Wahrhaftig, der kleine Kerl war völlig geheilt! Und ich mußte gleich wieder lachen über ihn.
Gern hätte ich über diese Wunderkur und auch sonst noch über mancherlei Dinge mit der Freimännin geschwatzt. Doch das Weiblein schien sich in der Einsamkeit des Redens entwöhnt zu haben. Ein paar leere Worte; sonst nickte sie nur oder schüttelte den Kopf. Und dennoch glaubte ich zu merken, daß sie fröhlicher wäre als vor drei Wochen. Hatte der kleine rote Komiker auch dieser Einsamen ein bißchen Heiterkeit in das müde Leben geschwänzelt?
Ich gab ihr die Hand. »Was bin ich schuldig, Frau?«
Gleichgültig sagte sie: »Wieviel S' halt mögen.« »Ach, nein, sagen Sie doch, ich mödite Ihnen nidit zu wenig geben.«
»No also, vier Markln halt.«
Das war mir zu wenig. Ich gab ihr ein Goldstück. Damals waren zwanzig Mark für mich eine Sache, die mir Kopfzerbrechen und schlaflose Nächte verursachen konnte. Aber der Luxerl war mir's wert.
Die Frau betrachtete verwundert das Goldstück, lächelte ein bißchen, während sie die Münze irgendwo an ihrem bunten Mieder versteckte, und sah mich rnit unverhehlter Geringschätzung von oben bis unten an.
Der Luxerl rannte wie verrückt in dem kleinen Hof herum, schnappte nach den Bienen und biß in die Gräser.
Das Gesicht der Freimännin wurde wieder so ernst und müde, wie es vor drei Wochen gewesen. Sich niederbeugend, ließ sie einen leisen Lockruf hören. Und der Luxerl, der noch nie einem Menschen gehorcht hatte, kam herangeschwänzelt wie ein folgsames Lämmchen.
Die Einsame nahm ihn mit beiden Händen, hob ihn zu ihrem Gesicht hinauf und schmiegte die runzlige Wange an seinen roten Kopf. So stand sie eine Weile unbeweglich. Dann stellte sie den Luxerl wieder auf den Boden hin, gab ihm einen Klaps, ging zum Haus hinüber und verschwand durch die niedere Tür. Drinnen klirrte der Riegel.
Luxerl kratzte an der Schwelle und bellte sehr aufgeregt.
Aus freien Stücken wäre er nicht mit mir gegangen. Ich mußte ihn auf den Arm nehmen.
Als ich über den hübsch mit rötlichem Sand bestreuten Pfad davonging, krabbelte er zu meiner Schulter hinauf, streckte sich immer länger, guckte nach dem winzigen Haus und fing zu winseln an.
Am Königssee wurde Luxerls Genesung mit Jubel gefeiert. Doch eine Woche mußte vergehen, bevor er sich gründlich zu Hause fühlte, die Frelmännin vergessen hatte und wieder ganz der unbewußte Komiker wurde. Und einen Monat brauchten wir, bis wir ihm die schwarzen Reste des Pechverbandes völlig aus den roten Haaren herausgezupft hatten.
Sein unheimlich schreitendes Schicksal verzögerte den mörderischen Schritt. Der Verkehr am Königssee begann abzuflauen, und mit dem nahen Winter wurden die Metzgerwägelchen und die schweren Landauer immer seltener.
Ende November kehrten wir heim nach Wien, und Luxerl wurde da der Liebling aller Menschen, die in unser Haus kamen. Wenn wir Gäste hatten, brauchten wir zu ihrer Belustigung kein Schrammelquartett, keinen Kunstpfeifer und keine Volkssänger zu engagieren. Luxerl genügte. Er sorgte nach dem Souper für allgemeine Heiterkeit. Auf die einfachste Weise. Wir setzten uns in einem großen, dichtgeschlossenen Kreis auf den Smyrnateppich meiner Arbeitsstube. Luxerl kam in die Mitte. Erst guckte er drollig, machte possierliche Sprünge, spielte den ›trockenen Schleicher‹, manchmal auch den feuchten, und plötzlich begann er wie verrückt im Ring herumzurasen, überschlug sich, raste weiter, und immer, immer, immer so zu – es war so wahnsinnig komisch, daß wir uns schüttelten vor Lachen.
Aber das ist so, nach den Gipfeln kommen die Abstürze.
Mit dieser roten Heiterkeit war es plötzlich aus. Ein paar Tage vor Weihnachten.
Da hatte die Köchin den Luxerl wieder einmal – zu spät – auf die Straße geführt. Es war überflüssig, aber man tat es doch. Aus Prinzip der Pädagogik.
Und da kam das Mädel heulend in die Wohnung gelaufen: »Jesus Mariand, den Luxerl haben s' überfahren.«
»Lebt er noch?«
Das Mädel schüttelte den Kopf wie die wortkarge Freimännin.
Im ersten ratlosen Schreck telephonierten wir um die Freiwillige Rettungsgesellschaft.
Sie war sehr beleidigt.
Fremde Menschen begruben den Luxerl. Ich weiß nicht, wer. Ich weiß nicht, wo. Sein vorgesetztes Schicksal hatte sich erfüllt. Und das unberechenbare Fatum verband sich bei dieser Mordtat – da ein Komiker doch nicht traurig sterben darf – mit einem überraschenden Witz des Lebens. Das elegante Vehikel, das den unerschrockenen Haltrufer stumm gemacht hatte, gehörte dem ›Herrn Hofrat‹, jenem berühmten Gynäkologen, der zu Wien zwischen 1860 und 1890 vielen Tausenden von Kindern mit seiner zarten Hand den Eintritt in das helle Leben erleichterte.
Meinen Luxerl hat dieser segensreiche Lebenshelfer hinausbefördert in den dunklen Tod. Aber – das muß man zugestehen – auf möglichst schmerzlose Weise.