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Zweites Kapitel

Granås ist der Name eines alten Herrenhofes, der hoch auf einem in Laubwald eingebetteten Hügel in der südöstlichen Ecke des Sees sein dunkles Dach über dem Wettern erhebt. Es ist ein großer Bau, so groß, daß er fast unförmlich wirkt. Er ist aus Stein und in drei Stockwerken aufgeführt; und da das oberste Stockwerk lange unbewohnt gestanden hatte, trug zu der Zeit, in der diese Erzählung spielt, das ganze Haus ein düstres und unheimliches Gepräge, als säßen unter dem Dachrand lauter leere, blinde Augenhöhlen, durch die kein Licht mehr dringen konnte. Dieser Eindruck wurde noch dadurch verstärkt, daß die Fenster vor Alter ganz dunkel geworden waren, so daß die Scheiben in allen Farben des Regenbogens schillerten, wenn man sich den Glanz von Regenbogenfarben auf dunklen, alten, von Spinnweb überzogenen Fenstern denken kann. Wir werden später erzählen, wie es kam, daß die oberste Wohnung so lange schon geschlossen stand.

Jedenfalls – geschlossen war sie, und wenn die Dienstboten in den Dachboden hinauf mußten, so gingen sie nur mit heimlichem Gruseln an den verrammelten Türen mit den alten rostigen Schlössern und leeren Schlüssellöchern vorüber. Dumpf hallten die Schritte auf den abgetretenen Steinen der Korridore und Treppen wieder. Allein ging keiner gern hinauf. Und wenn einer allein gehen mußte, so beschleunigte er heimlich seine Schritte, verfolgt von all dem geheimnisvollen Klopfen, Krachen, Windgestöhn und den sonstigen Geräuschen, die aus den leeren Zimmern drangen.

Während der letzten zwei Jahre hatte auch das zweite Stockwerk leer gestanden. Aber vor der langen Reihe hoher, leerer Fenstern waren weiße Rollgardinen herabgelassen, die niemals aufgezogen wurden und die Sonne und Kälte gegilbt hatten. Der alte Herrenhof hatte dadurch fast das Aussehen eines verlassenen Riesenhauses. Viele nannten es auch ein Gespensterhaus. Es sah wie etwas Sterbendes aus, wie es so dalag – in der Frühlingsonne, in der kühlen Herbstluft oder mit Schnee über dem weiten Hofplatz, auf dem nur langsam schmale Pfade ausgetreten wurden, weil der Schneepflug selten zur Anwendung kam und der Hausherr selbst sich lieber einschneien ließ, als daß er den Befehl zum Schaufeln gab. Der ganze Hof erschien wie sterbend, weil das Haus mit den geschlossenen Wohnungen so riesengroß war. Nur das unterste Stockwerk sah bewohnt aus, und an einem der Fenster links von der Haupttreppe konnte man manchmal einen einsamen, hochgewachsenen alten Mann stundenlang auf den vernachlässigten Rasen hinausstarren sehen, in den der Sockel der alten Sonnenuhr ganz eingesunken war, so daß die Ziffertafel schräg und der Zeiger rechtwinklig nach oben stand. Verfallen sah der ganze Hofplatz aus mit seinen Haufen von altem Laub, abgebrochenen Zweigen, Pferdemist und unbestimmbarem Kehricht, der überall herumlag. Ueber den Bewurf des Hauses liefen breite, sich phantastisch ineinanderschlingende Risse, die sich wie ein verräterisches Netz über die verwitterte graue Fassade erstreckten. Da und dort hatte sich ein Fenstersims gelöst und war herabgefallen, ein gähnendes Loch in der Fläche der Fassade hinterlassend, und im Mittelstock waren ein paar Fensterscheiben zerbrochen, so daß man von außen die herabgelassenen Gardinen im Winde schwanken sah. Über dem ganzen alten Bau mit seiner imposanten Form und dem schön geformten Dach mit Giebelkrönung und einer drachenförmigen Wetterfahne aus handgeschmiedetem Eisen ruhte ein Schweigen, in dem alle die Sagen und Gerüchte, die in der Umgegend über das geheimnisvolle alte Nest im Umlauf waren, üppig wucherten.

Verfallen war auch der Garten, in dem das Moos hoch an den Stämmen der alten Obstbäume emporwucherte, die Wege waren voll Unkraut, als wollten sie demnächst ganz zuwachsen, und die Beerensträucher mit ihren langen dünnen Zweigen schossen unbehindert in die Höhe. Ungepflegt und unbeschnitten wuchs auch die gewaltige Hagedornhecke, die den ganzen Garten umschloß, über die ausgeschnittenen Öffnungen, die in den Park hinausführten, waren Zweige und Schößlinge gewachsen, so daß man sie mit Gewalt auseinanderzerren mußte, um durchzukommen, und es sah aus, als wäre der ganze Garten umgeben von einer einzigen großen, undurchdringlichen Mauer von Dorn und Grün. Drinnen wuchsen Blumen, Obstbäume und Beerensträucher wild, und in den hohlen, vermorschten Stämmen nisteten die scheusten Vögel.

So war Granås geworden, seitdem die Baronin gestorben und der alte Baron einsam zurückgeblieben war. Zuerst war der Baron Olthov durchs ganze Haus, von Zimmer zu Zimmer gewandert, wie ein krankes Tier, das keine Ruhe findet in seiner stummen Qual. Andre hatten für ihn handeln müssen, und für die Beerdigung hatte er keinen Finger gerührt. Leise vor sich hinsprechend, wanderte er umher. Wenn jemand in seine Nähe kam, ging er in ein andres Zimmer. Ganze Nächte hindurch brannte er Licht, und der Nachtwächter, der um das große stumme Haus herumging, sah, wie das Licht von Fenster zu Fenster flackerte. Vom zweiten Stockwerk schimmerte es herab. Dort waren die Prachtzimmer, von denen sagenhafte Geschichten in der Gegend umgingen, und die nur wenige von den Dienstboten und Untergebenen je gesehen hatten. Dort oben hatte die kleine Baronin gewohnt, und ganz hinten, in dem großen Schlafzimmer, dessen Fenster schwarz verhangen waren, war sie aufgebahrt gewesen. Aber das war lange, lange her.

Der Baron war damals schon alt gewesen; von seinen jetzigen Untergebenen kannte ihn überhaupt eigentlich keiner. Lang und hager, wie im Traum, wanderte er in seinen Zimmern umher. Das Gesicht mit dem buschigen rotblonden Schnurrbart war schlaff und die Augen wie erstorben. Als der Sohn zur Beerdigung aus der Schule kam, war es, als sehe der Vater ihn ebensowenig wie die andern. Konrad war damals noch ein Kind, das scheu und einsam durch das große Haus schlich, aus dem nun die Mutter weggestorben war. Er hatte niemand, mit dem er reden konnte. Wenn der Vierzehnjährige allein im Kinderzimmer saß, wo noch das Schaukelpferd und der Spielzeugschrank als Erinnerungen an glücklichere Zeit standen, sahen die Dienstboten ihn wohl schweigend und gedankenvoll stundenlang zum Fenster hinausstarren, nie aber weinen.

Erst als die Beerdigung vorbei und die Gäste nach dem großen, trübseligen Mittagessen vom Hof gefahren waren, schien der Baron wieder zum Leben zu erwachen. Er ging hinunter in die Küche und befahl, das große Service, Gläser, Silber, alles, was in den großen festverschlossenen Kästen aufbewahrt und nur an Festtagen in Gebrauch genommen wurde, sofort in die obere Wohnung zu schaffen und es dort ins Speisezimmer zu stellen. Nichts durfte abgewaschen und gereinigt werden. Wie es vom Tisch kam, sollte es hinaufgeschafft werden. Keine Einwendungen halfen. Der alte Baron ging selbst mit und paßte genau auf, daß alles an seinen Platz kam, wie er es befohlen hatte, daß nichts vergessen und sein Wille genau ausgeführt wurde. Erst als alles stand, wo er es wünschte, wurde er ruhiger. Dann befahl er allen, ihn allein zu lassen und zur Ruhe zu gehen. Allein wollte er seinen unausgesprochenen Willen vollziehen.

So ließen ihn denn die Dienstboten allein. Die alte Pendüle im Salon schlug schon zwölf; draußen auf dem Hof stieß der Nachtwächter in sein Horn, zum Zeichen, daß die Mitternachtstunde gekommen war.

Die ganze Wohnung war noch erleuchtet von feierlichen Kerzen; der Baron hatte nicht gestattet, sie auszulöschen. Als die Diener die Tür hinter ihrem Herrn zugemacht und ihn allein gelassen hatten, glaubten sie, er wolle wie in den vorhergehenden Nächten seine stumme Wanderung von Zimmer zu Zimmer fortsetzen. Unten im Küchenrevier flüsterte man sich zu, mit dem Baron stehe es schlimm, und es sei zu befürchten, er werde den Verstand verlieren.

Währenddem ging oben in der großen Wohnung der Baron von Fenster zu Fenster und sah genau nach, ob auch die weißen Leinenvorhänge überall herabgelassen waren. Darauf löschte er alle Kerzen und Lampen aus. Von Zimmer zu Zimmer schritt er so; als alles dunkel war, schloß er sorgfältig die Türen. In der Hand trug er eine kleine Blendlaterne. Als er die letzte Kerze ausgelöscht hatte, verriegelte er alle Türen, durch die die Wohnung mit dem Vestibül verbunden war, schloß sie darauf sorgfältig zu und zog sämtliche Schlüssel ab.

Am folgenden Tag verkündete er der Dienerschaft, daß von nun ab nur noch die unterste Wohnung des großen Hauses bewohnt werden würde. Am gleichen Tage noch fuhr der Kutscher den jungen Baron Konrad nach der Schule in Jönköping zurück.

Von diesem Tag an begann der Verfall des alten Herrensitzes Granås. Von diesem Tag an ging der Baron wie ein Schatten in seinem eignen Haus herum. Das Gut ließ er verkommen, die Leute mußten für sich selber sorgen, der Garten wuchs zu, und in die abgeschlossenen Zimmer ließ er keine Menschenseele; ebensowenig betrat er selber sie.

Über acht Jahre hatte der Baron Olthov jetzt so gelebt, und die einzige, die überhaupt noch mit ihm reden konnte, war Mamsell Kristin. Daß sie es konnte, und daß er auf sie hörte, kam daher, daß sie noch zwei Jahre vor dem Tode der seligen Baronin ins Haus gekommen war, und daß die Verstorbene ihr blind vertraut hatte. »Gut, daß du Mamsell Kristin hast, wenn ich einmal fort bin,« hatte die Baronin gesagt, und auf diese Worte, die sie mehr als einmal gehört hatte, gründete Mamsell Kristin die Herrschaft, die sie mehr und mehr sowohl im Haus als in allem, was die Gutsangelegenheiten betraf, ausübte.

Mamsell Kristin war eine kleine korpulente Dame mit einer Gesichtsfarbe, die ins Braunrote ging, sei es nun, weil sie einmal Gesichtsrose gehabt, oder weil allzu scharfe Kälte ihr die natürliche Farbe geraubt hatte. Still und behende glitt sie durch die Tür, wenn sie ab und zu einmal die Zimmer betrat, die der alte Olthov immer abgeschlossen hielt, um darin sich selbst und seinen Kummer zu verbergen. Lebhaft und aufmerksam blickten ihre kleinen scharfen Augen unter der schwarzen Bänderhaube hervor. Und bescheiden, mit leiser Stimme sprach sie mit dem Gebieter über die Angelegenheiten des Hauses oder – was auch nicht selten vorkam – über ihre eignen Angelegenheiten. Sie wählte ihre Worte gut und sagte nie mehr, als notwendig war. Wenn die Unterredung zu Ende war, glitt sie wieder hinaus zu ihrer Arbeit, still und behend, wie sie gekommen. Draußen in der Küche geschah es freilich nicht selten, daß ihre Stimme recht vernehmlich klang, und mehr als einmal legten eine geschwollene Backe oder die rotgeweinten Augen irgendeines der Dienstboten beredtes Zeugnis dafür ab, daß Mamsell Kristin hier ihren Willen ebenso energisch durchzusetzen verstand, wie sie ihn unterzuordnen wußte, sobald sie dem Hausherrn unter die Augen trat.

Mamsell Kristin war vor allem eine sparsame Person, die es verstand, aufs Kleine zu achten und aufzupassen, daß nichts im Hause umkam, und daß kein Überfluß sich etwa einnistete. In der Umgegend hieß es ganz allgemein, wer auf Granås diene, müsse darauf vorbereitet sein, den Schmachtriemen vor und nach dem Essen straffer zu schnallen; und so gut war alles weggeschlossen und überwacht, daß sogar die Köchin scharf achtgeben mußte, wenn es ihr hier und da glücken sollte, für eigne Rechnung einmal etwas extra zu ergattern. Sparsamkeit war auch die Eigenschaft, die der Baron Olthov mehr als jede andre zu schätzen wußte. Denn diese Eigenschaft war bei ihm zur Leidenschaft geworden, so stark und uneingeschränkt, daß manche sie Verrücktheit, wieder andre Laster nannten.

Welches von beiden das Richtigere war, war schwer zu sagen. Jedenfalls aber ging der Besitzer von Granås in der ganzen Umgegend nur unter dem Namen der »geizige Baron«. Daß er so hieß, war kein Wunder. Wunderbar war, wie er so geworden war. Aber es hieß, daß sich in seinem Mannesalter ganz plötzlich eine Charakterveränderung bei ihm vollzogen habe, die den beliebten, gastfreien und lebenslustigen Mann in ganz kurzer Zeit in den seltsamen Einsiedler verwandelte, den jetzt die ganze Umgegend mit einem Gemisch von Furcht und Spott betrachtete. In früheren Jahren nämlich war Granås immer ganz überfüllt von Gästen gewesen; das oberste Stockwerk, das sich niemand von der Dienerschaft anders als geschlossen denken konnte, setzte sich ganz und gar aus Gastzimmern zusammen, die nur selten leer standen. Verwandte und Freunde aus nah und fern wohnten da monatelang, und unter all den Menschen, die diese Gastfreiheit genossen, lebten der Baron und seine Frau wie zwei große Kinder, beglückt über die Freude, die ihr Reichtum über alle, die mit ihnen und mit ihrem Glück in Berührung kamen, ausgoß. In dem Kreise, der sich auf diese Weise gebildet hatte, nannte man die junge Hausfrau nur die »kleine Baronin«. Selbst bei den Untergebenen und der Dienerschaft hieß sie so; und wo man ihren Namen nannte, begegnete man einem freundlichen Lächeln. Sie hatte den Namen einst erhalten, als sie, an einem Julitag, zur Zeit der Heuernte, zum erstenmal mit ihrem Mann unter den Girlanden von Ahornblättern durchfuhr, die sich zwischen den beiden Eschen vor der Einfahrt von Granås spannten. Wie sie da an der Seite ihres hochgewachsenen Gatten saß, sah sie ganz aus wie ein kleines Kind, und ganz von selbst trat auf aller Lippen das Wort: die »kleine Baronin«. Sie war auch ein Kind gewesen, damals – kaum siebzehn Jahre. Und ein Kind blieb sie ihr ganzes Leben lang. Ihre Gestalt war zart und klein, ihr Gesicht blieb immer gleich kindlich und unschuldig. Es veränderte sich auch kaum mit den Jahren, nur daß die Wangen ein bißchen blasser wurden und in die Augen, die einst alle so unschuldsvoll und fröhlich angeblickt hatten, ein Ausdruck des Staunens und der angstvollen Verwirrung kam, als könne sie nicht verstehen und nicht lernen, wie die Welt eigentlich wäre.

Freilich konnte sie das nicht, und ebensowenig vermochte der Baron diese Kunst zu erlernen. Ein Zufall war es gewiß nicht gewesen, der ihn und die kleine Baronin zueinandergeführt hatte. Offen und freundliebend führte er sein Leben, ohne einen andern Gedanken, als daß das Leben stets das tägliche Fest der Freude und Freundschaft bleiben möchte, zu dem er und seine Frau alle die luden, die die Zimmer im obersten Stock des Herrenhauses bewohnten. Was es war, das schließlich eine so plötzliche und durchgreifende Veränderung im Leben dieser beiden Menschen hervorrief, das wußte niemand. Aber man flüsterte sich zu, der Baron habe einige Jahre nach seiner Heirat schwere Verluste gehabt, und es hieß ferner, die Verluste rührten davon her, daß er in seiner Freundschaft allzu vertrauensselig gewesen sei, und daß der Freund, dem er am meisten vertraute, sich seine Schwachheit zunutze gemacht und ihn betrogen habe.

Derartiges geschieht ja oft, und es gibt nur wenige, die nicht selbst Ähnliches erlebt und sich wieder davon erholt haben. Der Baron erholte sich nicht wieder. Vermutlich, weil er sein Herz allzu fest an die Menschen gehängt hatte, die er seine Freunde nannte. Als er anfing, zu merken, daß er einsam war, verdunkelte sich ihm die ganze Welt, und er selbst verwandelte sich. So nach und nach blieb von den Besuchern, die sonst nach Granås zu kommen pflegten, einer um den andern aus. Die paar, die sich noch einfanden, verweilten nicht lange und kamen ungern wieder. Schließlich waren der Baron und die kleine Baronin allein auf dem großen Gut, und eines schönen Tags ließ die Baronin in den leeren Gastzimmern zwei Treppen hoch die Gardinen abnehmen. Der Baron folgte ihr und verschloß und verriegelte die Türen. Die Schlüssel zog er ab und hängte sie in den kleinen Schlüsselschrank, der auf der Chiffonniere in seinem innern Zimmer stand.

Von diesem Tag an nannte man den Herrn auf Granås den »geizigen Baron«. Von diesem Tag an war seine Tür der Welt verschlossen. Pferde und Wagen wurden verkauft; der Diener, der so alt war wie der selige Baron, der Vater des jetzigen Herrn, ward verabschiedet; der Gärtner wurde durch einen gewöhnlichen Knecht ersetzt und der alte Inspektor von einem Vorknecht. Alles auf dem Hofe war nur noch auf Düsterkeit, Unlust und Sorge gestimmt. Es ging, wie es immer geht, wenn der Gedanke an das Geld alles erfüllt. Das Geld oder vielmehr der Mangel an Geld schwang das Zepter auf Granås; und keiner bekämpfte diesen Mangel durch frische Arbeit. An ihre Stelle trat der Harm. Der Harm, der in vertragenen Kleidern geht, schlechtes Essen ißt, ängstlich am Kleinen spart und das Leben schwer und bitter macht.

Wie der Hof, so verfiel auch der Baron während dieser Zeit. Seine Kleider waren schäbig, sein Weißzeug schmutzig, der Bart überwucherte ungepflegt sein feines Gesicht, in dem die einst so freundlichen Augen mit stechendem Glanz funkelten. Er wurde böse und hart, gleichgültig gegen Unrecht, Not und Unglück, sein Beutel war so fest verschlossen wie sein Herz, und wer sich bei ihm beklagte, ward mit harten Worten abgewiesen. Er tat selbst nicht das geringste, um die Verhältnisse auf dem Gut zu bessern. Aber wenn die Leute am wenigsten daran dachten, tauchte sein großer Hut hinter den steinernen Mauern um die Äcker, beim Holzhauen im Wald oder zur Erntezeit in der Scheune auf. Schweigsam, hastig kam und ging er, grüßte nicht, sah sich bloß mit scharfen, stechenden Blicken um und verschwand wieder, eilig und stumm, wie er gekommen war. In der gleichen Weise schwang er das Zepter in Viehhof und Stall, in Schuppen und Magazin. Es gab Tage, an denen er von frühmorgens bis spät abends auf seinem Gut umherstreifte, rastlos, ruhelos, sich kaum Zeit zum Essen gönnend. Die Leute sagten dann: »Heut gespenstert der geizige Baron wieder.« Er hatte wirklich etwas Gespenstisches. Wie ein unseliger Geist wanderte er von Ort zu Ort und durchforschte alles, was er sein nannte, als fürchte er, es könne nicht alles am rechten Platze sein, es könne irgend etwas, was ihm gehörte, umkommen. Die Leute merkten wohl, daß er Angst hatte, Angst, es könne irgend etwas verderben. Und sie spotteten über den reichen Mann, der solche Furcht hatte vor dem Armwerden. Was er verloren hatte, war ja nichts im Verhältnis zu dem, was ihm noch blieb, das wußten alle. Es war nur sein eignes krankes Gemüt, das ihm mit Armut drohte.

Andre Tage wieder saß der »geizige Baron« in müßiger Schlaffheit in seinem Zimmer oder ging mit kurzen, langsamen Schritten auf dem abgenutzten Läufer hin und her, während seine Lippen sich unablässig bewegten, als zähle er die gelben und roten Streifen des Teppichs unter ihrer Lage von Schmutz, die die Jahre darüber gebreitet hatten.

Er gönnte sich kaum das tägliche Brot. Das Schlechteste, was aufzutreiben war, war ihm gut genug; und wenn ihm das Essen zu üppig oder zu kostspielig schien, ließ er die Köchin kommen und schrie sie an, sie ruiniere ihn und bringe ihn an den Bettelstab. Schließlich ging er selber in die Küche und vergewisserte sich, daß man für ihn kein andres Essen kochte als für die Knechte, und daß auch dies nicht zu reichlich oder zu gut ausfiel.

Für alle Welt hatte es den Anschein, als hasse der Baron alle Menschen; und es wandten sich auch alle, mit denen er in Berührung kam, von ihm ab. Sie haßten ihn nicht gerade, aber sie betrachteten ihn mit dem Gemisch von Furcht und Mitleid, das das Volk dem Gottgezeichneten zollt, dem Mann, der auf seinem Gewissen eine heimliche Sünde tragen muß, da doch das Unglück ihn so schwer beugt, da Gott ihn so hat werden lassen. Der »geizige Baron« war für sie kaum der Gebieter. Er war ein Unglück, das ihnen auferlegt war, so wie ihm das seine.

Vor allem aber war der »geizige Baron« sich selbst ein Unglück. Mit jedem Tag ward er mißtrauischer, gehässiger, härter. Als ihm sein Kind geboren wurde, weinte er, weil er nun einen Mund mehr zu sättigen hatte; und die einzige, die davon nichts merkte, war die kleine Baronin. Es war ein Spätling, dieser Sohn, der in der Taufe den Namen Konrad erhielt, und glücklich war wohl nicht einmal die Mutter über die Geburt dieses Kindes. Mit unverstehenden Kinderaugen war sie der Veränderung im Wesen ihres Mannes gefolgt; sie fühlte bloß, wie unglücklich der Mann war, dem sie ihr Herz geschenkt hatte, und wie unfähig sie selbst, ihm den Trost zu spenden, dessen er bedurfte; sie liebte ihn viel zu blind, um zu sehen, daß er bis in die Wurzeln seines Herzens verändert und von allen Seiten gemieden war. Aber daß er sogar seinem Kind gegenüber gleichgültig blieb, das sah die kleine Baronin. Und darum weinte sie manche Träne; denn, wenn sie auch ein Kind war – Mutter war sie trotzdem. Sie grämte sich freilich hauptsächlich darüber, weil sie dadurch noch deutlicher sah, wie tief die Nacht war, die sich auf das Gemüt ihres Mannes gesenkt hatte. »Er ist so unglücklich, daß er sich nicht einmal mehr über etwas freuen kann.« Weiter gingen die Gedanken der kleinen Frau nicht. Und unter der häßlichen Maske, mit der die Verzweiflung über das Dasein das Antlitz und die ganze Persönlichkeit des Mannes bedeckt hatte, ahnte sie bis zu ihrem Tod die Männlichkeit, Schönheit und Güte, die dereinst ihr Herz gewonnen und es gelehrt hatten, fürs ganze Leben zu lieben.

Aber während der innere Mensch im Baron gleichsam zusammenschrumpfte und unsichtbar ward für aller Augen außer für die der Liebe, während er selbst sich in die häßliche Larve wandelte, die unter dem Namen der »geizige Baron« ging, schwand die kleine Baronin zusehends dahin. Alle, die sie früher gekannt hatten, fanden, daß sie tatsächlich noch kleiner wurde. Es war fast, als ob ihr Körper sich verflüchtige, sie selbst verblasse, zusammenschrumpfe vor all dem Häßlichen, das täglich ihren unverstehenden Augen begegnete. Zuletzt blickten diese wunderbaren großen Augen in einer fast furchteinflößenden Schönheit aus einem kleinen wachsbleichen Antlitz mit schmerzlich geschlossenem Kindermund. Niemand wußte, woran sie litt; ein Doktor kam selten ins Haus. Und wenn er kam, schüttelte er bloß den Kopf und wußte keinen Rat. Eines Morgens war die kleine Baronin zu müde zum Aufstehen. Zwei Jahre lang lag sie zu Bett; als sie endlich starb, erlosch sie wie ein Licht, das im Leuchter heruntergebrannt ist und nichts hinterläßt als einen verkohlten Docht.

Mittlerweile war Konrad, ihr Sohn, groß geworden, hatte erst einen Hauslehrer erhalten und war dann auf die Schule gekommen. Die kleine Baronin hatte in all der Zeit von dem Mann, der gegen alle so hart war, kein Wort gehört, was nicht Liebe gewesen wäre. Bis zum letzten Augenblick hatte sie noch ein Lächeln für ihn. Und der »geizige Baron« war in ihren letzten Stunden zu ihr gewesen wie noch zu keinem Menschen auf der Welt – so, wie sie sein Bild im Herzen trug aus der ersten Zeit ihrer Liebe.

Das Leben hatte ihn verwandelt, hatte die verkehrte Seite nach außen gezerrt und sein Herz ausgetrocknet. Aber die Liebe zu seinem Weibe blieb. Zu ihr war er stets gut und sanft, sie betete er an als den einzigen Menschen auf Erden, für den er noch ein menschliches Gefühl hegte, ja, so sehr liebte er sie, daß er bei ihr sogar seinen Geiz vergaß. Alles Beste, was er nur auftreiben konnte, sollte sie haben. In alles, was schön und kostbar war, sollte sie sich kleiden. Goldenen Schmuck, Perlen und edle Steine sollte sie tragen. Das Beste in Küche und Keller sollte für sie aufgetischt werden. Während der »geizige Baron« sich mit der Kost der Knechte begnügte, saß die »kleine Baronin« an seiner Seite und aß Delikatessen. Alle Prunkzimmer waren für sie durchwärmt und erleuchtet, während die Zimmer des Barons im Erdgeschoß nur notdürftig geheizt wurden. So ängstlich er war, er selber könne zuviel verbrauchen, so ängstlich war er auch, sie könne zu kurz kommen. Einwendungen duldete er überhaupt nicht. Barsch, unerschütterlich setzte er hier, wie in allem, seinen Willen durch, und als die kleine Baronin schließlich das Bett hüten mußte und Mamsell Kristin ins Haus kam, wurde der Kampf zwischen dem Geiz und dem Drang, seiner Frau immerwährend zu geben, stärker als je. Der »geizige Baron« knauserte noch mehr als bisher an sich und allen andern und wurde noch erfinderischer in der Herbeischaffung aller möglicher Dinge, die seiner Frau Freude machen konnten. Jedes Kind konnte sehen, wie er litt, wenn er die Banknoten aus der abgenutzten Brieftasche mit der Stahlklammer nahm. Und doch gab er, gab, ohne zu rechnen. Den Dienstboten gegenüber wurde er immer schärfer. Und in seinen Zimmern ging er auf und ab und rang die langen hagern Hände vor lauter Angst über das Geld, das ihm so zwischen den Fingern zerrann.

Die »kleine Baronin« starb, ohne irgend etwas von dem, was allen andern in die Augen sprang, begriffen zu haben. Sie starb glücklich, weil sie ihr Leben lang geliebt worden war. Der letzte Kampf mit dem Geiz, den der Baron um ihretwillen auszufechten hatte, galt den Ausgaben für die Beerdigung, die glänzend begangen wurde. Als sie vorbei war, schloß er auch das Stockwerk ab, in dem die »kleine Baronin« gelebt hatte und gestorben war. Das oberste, das noch von den Erinnerungen aus ihrer glücklichen Jugendzeit widerhallte, stand längst leer. Jetzt lebte nur noch das Erdgeschoß in dem großen stillen Haus. Da wohnte der »geizige Baron« einsam in seinen drei Zimmern. Da nahm er täglich seine knappen Mahlzeiten ein. Und da versank er tiefer und tiefer in ein Grübeln über entschwundenes Glück und Bangen vor noch größerem Unglück, das auf ihn wartete.

Auf der andern Seite des großen Vorzimmers war die Küchenregion. Dort herrschte mit jedem Jahr unumschränkter Mamsell Kristin.

 

So lebt der alte Baron, taub für alles, was um ihn vorgeht, Jahr um Jahr; und mittlerweile wächst sein Sohn heran und wird ein Jüngling, der schon zum Mann zu reifen beginnt. Konrad wird Student, ohne daß dies Ereignis ihm das Leben im Vaterhaus freudiger gestaltet. Und als er eines Tags von Upsala heimkehrt, erklärt ihm der Vater, jetzt sei es Zeit für ihn, mit dem Studium abzuschließen. Was er brauche, um dereinst sein Gut zu verwalten, könne er daheim beim Vorknecht ebensogut lernen.

Der Grund war natürlich der, daß der junge Baron seinen Vater Geld gekostet hatte, und daß der Vater nichts mehr für seine Erziehung ausgeben wollte. Konrad nahm, soweit es sich beurteilen ließ, die Sache ruhig hin. Er stellte die Bücher in den Schrank, verbrachte seine Tage mit Besuchen auf den Nachbargütern, streifte mit der Büchse über der Schulter in den großen Wäldern umher oder lag im Boot auf dem See und fischte oder schoß Wasservögel. Konrad Olthov gehörte zu den Menschen, die nie ohne Beschäftigung sein können. Tätigkeit – das war die Seele seines Daseins; darum lief er auch auf Granås umher, als gehöre er gar nicht dahin.

Als der junge Olthov so ein paar Monate lang daheim gewesen war, geschah etwas Merkwürdiges: der »geizige Baron« fing an zu merken, daß er einen Sohn hatte. Wie dies Gefühl durch die harte Rinde hatte dringen können, die um die Seele des Unglücklichen gewachsen war, ist schwer zu sagen. Vielleicht war es eine gewisse Ähnlichkeit mit der verstorbenen Baronin, die mit dem Heranwachsen des Sohnes sichtbarer wurde und das schlummernde Vatergefühl weckte. Jedenfalls fing der Alte, der so lange gleichgültig dahingelebt hatte, plötzlich an, dem Sohn eine Art Zärtlichkeit zu erweisen; und zu allem, was Konrad eine lange traurige Kindheit durch erlebt hatte, kam diese neuerwachte Vaterliebe als etwas Fremdes und Abstoßendes, das nur neuen Zwang auferlegte, ohne ihm Freude zu schenken.

Seine ganze Kindheit und frühste Jugend hindurch war Konrad gewöhnt gewesen, daß niemand sich um ihn kümmerte. Das hatte in seinem Wesen frühzeitig eine Herbheit und Härte gezeitigt, die jedoch nur auf der Oberfläche lagen. Innerlich war der Jüngling weich und warmherzig, und in unbewachten Augenblicken leuchtete diese Wärme auch unverkennbar aus den ungewöhnlich großen, dunklen Augen, die er von der Mutter geerbt hatte. Doch wirkten in seinem frischen, großzügigen Gesicht mit den vollen Lippen und dem etwas spöttischen Zug diese Augen ganz anders als bei der Mutter in ihrem blassen, kleinen Gesicht, über dem schon der Schatten des Todes ruhte, lange, ehe der Befreier kam. Für gewöhnlich machte Konrad den Eindruck eines frischen, lebenstüchtigen jungen Mannes von etwas kantigem Wesen und einer Schüchternheit, die seine jugendliche Lebhaftigkeit zügelte. Ruhig, praktisch und unternehmungslustig, wie er war, fand er sich immer mit dem Leben zurecht; und an die Gleichgültigkeit des Vaters hatte er sich gewöhnt als an etwas, das nun einmal nicht zu ändern war. Schon als ganz kleines Kind war Konrad der geborene Realist gewesen. Was er nicht verstand, hielt er sich am liebsten vom Leibe. Darum war es ihm auch am wohlsten draußen; und eben weil er sich selten auf etwas einließ, was über seine Kräfte ging, konnte er auch kühn und waghalsig genug sein, wenn es einmal galt. Störrische Pferde zähmte er rasch durch seine Ruhe und Kaltblütigkeit, und mehr als einmal legte sein Boot mit triefenden Segeln an, wenn seine sichere Hand es aus dem Aufruhr der launischen Wogen des Wettern gerettet hatte.

Am wenigsten daheim fühlte er sich im Vaterhaus. Das stumme Schattenleben der Mutter war ihm fremd, und des Vaters Zustand erweckte in dem Jüngling ein Gemisch von Widerwillen und Verachtung, über das er nicht Herr zu werden vermochte. Aber die Familienbande jener Zeit waren zu stark, als daß Konrad nicht doch mit all der geheimnisvollen Macht, die über dem Verstandesmäßigen steht, an seine Heimat gebunden gewesen wäre. Er ging umher wie eine Art wacher Beobachter, der selbst dem lebendigen Leben angehörte und mit klarem Blick sah, wie das Vaterhaus mehr und mehr in eine Welt der Schatten glitt, die er mit dem leisen Lächeln des Gesunden betrachtete. Frühzeitig reif wurde er dabei und stark und gewöhnt, sich auf sich selbst zu verlassen. Ein seltsameres Jugendleben läßt sich nicht leicht denken.

Daß er dereinst derjenige sein würde, der Granås aus dem Verfall wieder aufrichten mußte, das ward ihm schon frühzeitig klar. Aber jung und sorglos, wie er war, dachte er kaum an die Zukunft, die seiner wartete. Nur als die Mutter starb, senkte sich der Schatten des Einsamkeitsgefühls über seine Seele. Sie hatte doch in seinem Herzen den ersten Platz eingenommen; und als der frühreife vierzehnjährige Knabe am Totenbett der Mutter saß, ging es ihm mit seltsamer Stärke auf, daß er jetzt mutterlos war und allein in der Welt. Konrad betrauerte seine Mutter auch lange. Aber als er nach der Beerdigung zur Schule zurückgeschickt wurde, freute er sich doch, fortzukommen. Draußen war alles leichter und heller für ihn. Er war jung, das Leben lockte, und ihn verlangte danach, es zu erproben.

Als des Vaters Gebot ihn zwang, die Universität zu verlassen, da trauerte Konrad Olthov eigentlich weder dem Kameradenleben noch den Studien nach, die er so plötzlich abbrechen mußte. Er hatte sich in der Stadt der Gelehrsamkeit nie heimisch gefühlt, das Studentenleben lockte ihn nicht und die Welt der Bücher noch weniger. Viele von den jungen Männern, die da ihrem Vergnügen nachgingen, für etwas, was sie ihre Zukunft nannten, arbeiteten und sich zu Beamten entwickelten, waren ihm sympathisch; aber im Grunde waren sie ihm doch alle fremd. Ihre Zukunft war nicht die seine. Wenn Konrad sich seine Zukunft ausdachte, war sie allerdings ziemlich nebelhaft. Aber jedenfalls war sie nicht an die verwickelten Verhältnisse des Gesellschafts- und Staatslebens gebunden.

Dazu war auch Konrad Olthovs ganzes Wesen viel zu einfach, seine Natur viel zu kraftvoll, aus einem Guß und freudig. Einen Menschen aber gab es, an den der junge Mann sein Herz gehängt hatte. Und das war Thora.

Nicht so rasch wie sie hatte Konrad die Erinnerung an die Sommertage, da er auf Moheda zu Besuch gewesen war, vergessen. So frei und so glücklich hatte er sich dort gefühlt wie noch nie in seinem ganzen Leben. In dem einfachen Haus hatte er zum erstenmal in seinem Leben eine Familie kennen gelernt; und was das sagen will, hatte der Jüngling bis zu diesem Tage nicht geahnt. Hier hatte er gelernt, was er bei den Eltern nie gekonnt hatte: frei und offen über alles sprechen; und hatte die wunderbare Erfahrung gemacht, daß auch ältere Leute auf ihn hörten und sich freuten, wenn er da war. Frau Dorthas runzliges Gesicht strahlte immer, wenn der schöne Jüngling zur Tür hereintrat, und sogar der Rittmeister freute sich der wachsenden Männlichkeit seines Wesens, erzählte dem jungen Mann seine besten Geschichten und rühmte seine Tüchtigkeit in allen Leibesübungen. Die Jugend bedarf des Lobs der Alten, und Konrad hatte bisher gar nicht daran gedacht, daß irgendwer ihn loben und daß es einem so wohl tun könnte. Die Wärme, die von dieser Anerkennung ausstrahlte, gab ihm ein Heimatgefühl und lehrte ihn immer sicherer auf eignen Füßen stehen. Und wenn er in seinem wirklichen Elternhaus war, so hatte er immer Heimweh nach dem alten Moheda.

Vor allem aber war es doch Thora, die ihn immer wieder dorthin zog. Seine größte Freude war, wenn er in ihrer Nähe sein und ihre Stimme hören durfte. Mit Thora durch Wald und Feld streifen, sich mit ihr allein fühlen, das war das höchste Glück, das er sich denken konnte. Manchmal sprach er gar nichts, sondern ging bloß stumm neben ihr her und freute sich ihrer Nähe. Daß er dem siebzehnjährigen Mädchen seine Liebe erklären könnte, das kam ihm, dem kaum Zwanzigjährigen, gar nicht in den Sinn. Beim bloßen Gedanken daran, daß er vor den Vater treten und von Heiraten sprechen sollte, mußte er über sich selber lachen. Und sich heimlich mit ihr zu verloben, das wagte er nicht.

Er lebte wie in einem Traum, ob nun er und Thora zusammen waren, oder ob er einsam auf dem verfallenen Hof daheim lebte und vom Vater bewacht wurde. Weil er selbst das Leben so natürlich nahm, meinte er, Thora müsse auch alles verstehen, seine eindringliche und beharrliche Aufmerksamkeit, die Freude, die sie ihm schenkte, den ganzen Jubel, womit ihr Sein seine Seele füllte. Manchmal konnte er in ihrer Nähe ganz verzagt werden. Wenn der Wald sich um sie beide schloß oder die weite Fläche des Wettern vor ihnen blinkte, fragte sich Konrad manchmal, wie Thora nur so unbefangen und leicht plaudern konnte, und weshalb die Beklemmung, die er selbst empfand, sich ihr gar nicht mitteilte. Aber er bewunderte sie gerade darum um so mehr. Als echter Verliebter träumte er, seine Liebe werde erwidert, und es gab für ihn kein größeres Glück, als wenn Thora vor einer Lichtung im Wald oder einer Bucht am See schweigend stehenblieb und alle Schönheit der Natur sich in ihrem wechselnden Antlitz widerspiegelte. Dann konnte Konrad sie so recht nach Herzenslust ansehen. Und freudetrunken, stumm genoß er ihre Schönheit, während seine Augen in den sonnigen Glückstränen der Jugend schwammen. In solchen Augenblicken konnte er sich einbilden, Thora merke und verstehe alles, und der lichte Ausdruck ihres Antlitzes rühre davon, daß sie sich seiner Liebe freue und sie teile. Wie im Rausch stieg ihm dann das Blut zu Kopf. Er hörte ein Singen in der Luft, und Zukunftsträume tanzten zu den Klängen ...

Zwei Jahre lang träumte Konrad den Traum, geliebt zu sein. Als die Nachricht von Thoras Verlobung ihn traf, wollte er erst gar nicht glauben, daß es wahr sei. Thora zu schreiben und sie selber zu fragen, das wagte er nicht. Wie konnte er einem jungen Mädchen wie Thora schreiben! Er wußte ja, seine Briefe waren trocken und nichtssagend – immer war es ihm unmöglich gewesen, sich brieflich auszudrücken. Und sonst hatte er niemand, an den er hätte schreiben können. So lebte er in Upsala, wo die Nachricht als ein Gerücht zu ihm gedrungen war, bis zum Frühling in einem seltsam schwankenden Zustand von Unruhe und Hoffnung. Als er nach Hause kam, erfuhr er, daß das Gerücht immer noch gehe, und als ihm schließlich die Wahrheit klar wurde, fühlte er sich betrogen, und die Zukunft, die er sich erträumt hatte, fiel in Trümmer. Zum erstenmal senkte sich über seine jungen Augen der schwere Schleier, der das Leben seiner wahren Farbe beraubt.

Konrad besuchte Moheda nicht mehr, ehe Thora verheiratet und abgereist war. Als er endlich hinfuhr, war der erste Schmerz etwas verwunden, und Konrad wunderte sich nur, während er allein zwischen den beiden Alten saß, daß er sich auf einmal so viel älter vorkam als vorher.

Ein Jahr später fand die Unterredung statt, in der der Rittmeister mit dem jungen Mann über den eben ausgebrochenen Krieg und Schwedens Pflicht, den Brüdern in der Not beizustehen, sprach. Und Konrad saß nach diesem Gespräch lange noch wach droben in der kleinen Gaststube, wo er so manche Nacht geschlafen hatte in Tagen, die unwiederbringlich dahin waren.

 

Das geschah im Anfang des Winters 1864. Ein Gerücht um das andre durchlief Schweden, überall wartete man auf Nachrichten vom Kriegsschauplatz, und in aller Herzen bebte die Frage, wie Dänemarks Geschick sich gestalten werde. Alles war erregt durch die Nähe des Krieges und das Bewußtsein, daß nächstes Mal das Unglück das eigne Vaterland treffen konnte.

Gleich einer schweren Gewitterstimmung schleicht das Gerücht vom Krieg und seinen Schrecken über ein Land. Der Krieg ist das, was uns allen der schrecklichste der Schrecken deucht, nur zu vergleichen mit der Pest, von der die Sage so Fürchterliches zu erzählen weiß. Schon das bloße Bewußtsein, daß irgendwo in einem fernen Winkel der Erde Menschen kaltblütig einander morden und Krüppel mit zerschmetterten Gliedmaßen auf den Tod wie auf eine Erlösung harren, ist etwas, was der verfeinerte Mensch unsrer Tage kaum mit dem Gedanken zu fassen vermag. Und nichts zeugt lauter von der Unvereinbarkeit der Kriegsgreuel mit dem Seelenleben des entwickelten Menschen als die Berichte von den vielen, die beim Anblick eines modernen Schlachtenblutbades vom Wahnsinn ergriffen wurden.

Allerdings waren die Schrecken der damaligen Kriege minder haarsträubend als die der Gegenwart. Aber wir täuschen uns, wenn wir glauben, daß unsre Vorfahren die Greuel der unseligen Ereignisse, von denen Zeitungen und mündliche Erzählungen berichteten, nicht ebenso lebhaft empfunden hätten wie wir. Der Unterschied war bloß, daß sie weniger kritisch waren. Sie durchschauten nicht alles so klar und so scharf wie wir. Sie waren auch vorsichtiger in ihrem Urteil. Der Krieg war ihnen nicht, wie uns, ein Verbrechen, sondern eine Schickung Gottes, die getragen sein wollte wie alles andre. Aber ihr Mitgefühl für die leidenden Brüder war darum nicht geringer als das unsre. Es waren ja auch im engeren Sinn als gewöhnlich unsre Brüder, die da litten. Damals war gerade die Zeit der Studentenversammlungen, der Königszusammenkünfte, des Skandinavismus. Gleich einer warmen Woge war über die freien Völker des Nordens das Bewußtsein gekommen, daß sie alle drei Zweige eines Stammes, daß sie eins waren und niemals etwas andres hätten sein dürfen. In Wort und Sang tat dies Gefühl sich kund, es ward weitergetragen, ward zum Gelübde, zum Schwur: keiner sollte allein stehen, wenn Not an Mann ging! Wie Brüder wollten die drei Völker einander beistehen, Rücken gegen Rücken wollten sie kämpfen, miteinander wollten sie stehen oder fallen.

Über ganz Schweden ging in jenen Tagen die mahnende Stimme: »Dänemark, unser Bruder, in Not! Auf zur Rettung! Wie es kam, daß der Ruf ungehört verhallte? Vielleicht verstehen wir Kinder und Enkel das besser als die, die noch inmitten der Ereignisse standen und sich von Scham daniedergebeugt fühlten, daß so die Schwüre der Studentenversammlungen, der Skaldensänge, der Zusammenkünfte zwischen den Monarchen des Nordens gebrochen wurden. Wir sehen jetzt, daß nur wenige damals die Worte der Versammlungen und der Könige überhaupt vernahmen. Das Volk stand außerhalb. Das Volk hatte weder Sang noch Schwüre vernommen. Das Volk wollte sein Blut nicht opfern, und darum siegte die Klugheit, die am Ratstische des Königs saß. Und vielleicht war es gut so. Eine Hilfe, wie Schweden sie damals hätte bieten können, hätte leicht der Untergang des ganzen Nordens werden können.

Wie eine gewaltige einsame Woge, die das Meer an den Strand geschleudert hat, langsam zurücksinkt und nichts hinterläßt als totes Wasser, so sank in Schweden damals die kriegerische Stimmung, die so laut nach ernster Tat, nach Heilighaltung der geschworenen Eide gerufen hatte. Es wurde still im Land; aber nicht so still, daß nicht Dänemarks Unglück in der Brust gar vieler ein Echo geweckt hätte, wenn auch nicht in der Brust aller. Daß man beim besten Willen Dänemark nicht gegen den übermächtigen preußischen Adler beispringen konnte, der ihm die Krallen ins Fleisch geschlagen hatte und mit dem Schnabel schon nach seinem Herzen ausholte, das sahen die meisten ein. Sie verzichteten also und begnügten sich damit, dem Brudervolk ihre Teilnahme zu zeigen. Aber sogar unter denen, die verzichteten, gärte noch da und dort die Kampflust. Sie redeten dann gehässige Worte gegen die Regierung, die dem König die Hände gebunden und ihn gezwungen hatte, sein Wort zu brechen. Die Königstreue war damals noch stärker als jetzt. Und darum kam es vielen als eine Schmach vor, von einem Reichsrat regiert zu werden statt von dem König. Man sprach davon, daß des Königs Wille des Volkes Wille sei, daß die beiden eins seien. Die Wogen des Zornes gingen hoch.

Weiter jedoch als zu Zorn und Worten kam es, soviel man weiß, im allgemeinen nicht. Aber aus ganz Schweden strömten Liebesgaben in das leidende dänische Heer. Man sammelte Geld für die Witwen und Waisen der Gefallenen. Man schickte den Soldaten im Feld Kleidungsstücke und Eßwaren. Rings auf den Gütern im ganzen Land saßen die Frauen, soweit es ihre Zeit erlaubte, und strickten Strümpfe, die dann zur Weiterbeförderung an die dänische Armeeverwaltung oder an irgendwelche dänischen Freunde gesandt wurden. Zur Weihnachtszeit ruhten Stickrahmen und Tapisseriemuster; dafür ward um so eifriger gestrickt. Die Nacht vor der Bescherung, in der es sonst so heiter zuging, in der jung und alt sich mit allerlei Heimlichkeiten versteckte, war heuer die düsterste des ganzen Jahres. Man ordnete zwar die Geschenke, verpackte und versiegelte wie sonst. Aber die Geschenke waren für die dänischen Soldaten, und statt von Weihnachtsmärchen und lustigen Anekdoten sprach man in dieser Nacht nur von all den Tausenden von dänischen Familien, in denen die Väter, die Gatten, die Brüder fehlten, und versuchte, sich einen Weihnachtsabend im Feld vorzustellen. Vielleicht wurde gerade jetzt eine Schlacht geschlagen. Vielleicht mordeten da draußen die Menschen einander, während in der Christmesse das »Friede auf Erden!« gesungen ward! Kälte, Gefahren, Entbehrungen – alles suchte man sich auszumalen. Alles lebte man mit. Und zitternde Hände verpackten die Mengen von Scharpie, die die fleißigen Finger zur Linderung der von Kugel und Schwert geschlagenen Wunden gezupft hatten.

Schwedens Politik war von der Überzeugung bestimmt worden, daß die Übermacht des Feindes zu groß sei. Aber im Volk lebte trotzdem die starke Hoffnung, der Krieg werde für Dänemark glücklich enden. Noch flammte hell und stark der Glaube an die alte nordische Kraft. Eingewiegt durch einen langjährigen Frieden, hatte man vergessen, was ein moderner Krieg tatsächlich bedeutete, und lebte sich in einen Fabeltraum, in die Märchenhoffnung auf einen Sieg Dänemarks hinein. Als dann die Nachricht kam, die Dänen hätten ohne einen Schwertstreich Dannevirke geräumt, traf es sie wie ein gewaltiger Schlag, der die hochgespannten Erwartungen jäh zertrümmerte. Dunkel senkte sich auf die Gemüter, und Trauer und Niedergeschlagenheit waren aufrichtig und allgemein.

Es lag in dieser Gemütsstimmung auch etwas wie eine unbestimmte Warnung vor einer düstern Zukunft, die allen drohte. Die kleine Nation ahnte mit Furcht und Beben, daß die Gefahr dereinst ihr selber drohen werde. Zum erstenmal sahen die Menschen aus allernächster Nähe, wie die Zeiten sich geändert hatten, wie wenig im modernen Krieg die Persönlichkeit bedeutet, wie ganz neue, unberechenbare Mächte in der Politik die Hauptrolle spielten. Der dänische Heldenmut genügte nicht mehr, um den modernen Schnellfeuergewehren Trotz zu bieten. Kalt, unheimlich und für damalige Begriffe unfaßbar stieg am Horizont gleich einer mit Elektrizität geladenen Wolke eine ganz neue Gefahr auf, so nah, daß wir die Blitze zucken sahen.

Schwerlich waren wohl je in unsern Tagen die Menschen auf all den großen Herrensitzen und kleinen Höfen, die wie Bildungsoasen in Schweden zerstreut liegen, so aufgeregt, als sie es damals waren. Die Zeitungen kamen nicht so oft. Auf Åkerup, dem Gut des Disponenten Bruce, erschien die Eilpost dreimal in der Woche. Dazwischendurch erfuhr man nichts Neues. Auch hier herrschte, wie auf den andern Gütern, große Unruhe und lebhaftes Interesse. Man war ja auch dem Kriegsbrand hier näher als in den nördlicheren Teilen des Landes.

Es schien fast, als bringe der Krieg mit seinen Ereignissen, die wie eine unmittelbar drohende Gefahr in der Luft lagen, Johan Bruce und seine Frau einander gewissermaßen näher. Die Spannung zwischen ihnen ließ nach, und das gemeinsame Mitgefühl für Dänemarks Unglück vereinte sie. Der Brief, den Thora von der Mutter erhalten, hatte auch seine Wirkung getan. Thora hatte die darin ausgesprochenen Ermahnungen ganz so ruhig und ernst aufgenommen, wie die Mutter sie gemeint hatte, und da ihr der Gehorsam gegen ihren Mann eine selbstverständliche Pflicht und sein Wille tatsächlich ihr Gesetz war, wurde es ihr auch nicht schwer, sich vor ihm zu beugen. Sie fühlte sich erleichtert, als sie zu bemerken glaubte, daß die Anfälle von Düsterkeit und Grübelei, die sie vor allem deshalb fürchtete, weil sie sich als deren Urheber fühlte, bei ihrem Mann immer seltener wurden. Und wenn sie jetzt zu dem hohen Bergrücken hinüberschaute, der so ernst und streng das Tal durchschnitt, so ertappte sie sich oft selber auf dem Gedanken, er sei doch nicht immer so ganz und gar düster, wie er ihr zuerst erschienen war. Ein bißchen Bangen jagte er ihr freilich noch immer ein, und an die weite Fläche des Wettern mit den Waldriesen, die bis zum Strand hinabwuchsen, durfte sie noch immer gar nicht denken. Denn dann flammte das Heimweh auf in ihr und machte ihr die Seele krank. Aber alles in allem wurde das Leben ihr doch leichter jetzt, und sie sah der Zukunft mutiger entgegen als früher.

Eines Tages im Februar trat Bruce zu seiner Frau ins Zimmer. Er sah ernster aus als sonst, und auf seiner Stirn lag eine tiefe Falte, was bei ihm noch mehr als bei andern auf schwere Gedanken deutete. In der Hand hielt er die Zeitung, und indem er sich neben Thora niederließ, sagte er: »Mit Dänemark ist es zu Ende!« Er holte tief Atem und fügte dann noch hinzu: »Für diesmal wenigstens.« Darauf berichtete er mit seiner vollen, tiefen Stimme, die von unterdrückter Erregung bebte, von der Räumung Dannevirkes und dem Rückzug der dänischen Armee nach Norden. »Die Dänen wagen keine Schlacht mehr,« schloß er. »Das Ende wird sein, daß sie sich in ihren Bau eingraben wie die Tiere im Wald.«

Bruce hatte bisher nicht viel über den Krieg gesprochen, und Thora hatte darum manchmal gedacht, die Vorkommnisse berührten ihn im allgemeinen nur wenig. Sie glaubte, er denke hauptsächlich an die Gefahr für Schweden, weniger an Dänemarks Not, seine Teilnahme sei also ganz andrer Art als die ihre. Jetzt aber brach sein eigentliches Empfinden durch.

Als Thora ihn so sah, erregt, von Mitleid ganz überwältigt, schoß ihr die Röte in die Wangen. Den Respekt überwindend, der sie sonst immer daran hinderte, zärtlich gegen ihren Mann zu sein, legte sie ihre Hand auf die seine und blickte ihm warm in die Augen.

Da ereignete sich etwas, was Thora nie mehr vergessen sollte, und was ihre Gedanken noch lange beschäftigte. Bruce sah ihr fest in die Augen, und während seine eignen Blicke sich verschleierten, sagte er mit heiserer Stimme: »Du hast mich also doch ein bißchen lieb?«

Thora zog sich erschreckt zurück. In ihrem Gesicht zuckte es. Ihren Mann liebhaben? Was mußte denn das für eine Frau sein, die ihren Mann nicht liebte? Einen derartigen Gedanken zu denken hatte sie überhaupt nie gewagt. Er war ihr so neu, erfüllte sie mit einer so seltsamen Mischung von Unruhe und Furcht – es fröstelte sie, und doch pochte in ihren Adern das Blut, daß ihr ganz heiß ward.

Bruce sah die Erregung seiner Frau und deutete sie nach seinem Wunsch. »Es ist freilich nicht so leicht, es mir recht zu machen,« sagte er. »Ich bin nun einmal herb und kurz angebunden und stoße die meisten Menschen ab. Eigensinnig bin ich auch, und man muß sich meinem Willen fügen. Aber Wärme brauche ich deshalb doch auch.« Die Stimme drohte ihm zu versagen. Er erhob sich, schritt ein paarmal im Zimmer auf und ab, wandte sich dann wieder um und sagte in ruhigerem Ton: »Wir sprachen ja doch vom Krieg. Ich weiß gar nicht, wie wir auf dies hier gekommen sind.« Er sah verlegen aus, und seine Worte klangen, als wünsche er, seine Frau möchte das eben Gesagte vergessen. Darauf fuhr er fort: »Weißt du, daß in diesen Tagen eine Menge schwedische Freiwillige nach Dänemark hinüberfahren?«

»Nein,« antwortete Thora. Sie hörte kaum auf das, was ihr Mann sagte, so ganz stand sie noch unter dem Eindruck des Gefühlsausbruches, dessen Zeuge sie eben gewesen war.

Bruce fuhr fort: »Es ist gerade, als ob das Unglück Dänemarks die Lust zum Helfen verdoppelt hätte. Vorhin, als ich an der Kirche vorbeiritt, begegnete ich zwei Herren im Wagen, die mich nach dem Wege fragten. Es waren Offiziere. Sie wollten nach Helsingborg und von da hinüber nach Dänemark.« Bruce hielt einen Augenblick inne, als sei ihm plötzlich ein neuer Gedanke gekommen. »Sie wollen in dänische Dienste,« fuhr er fort. »Der eine von ihnen hat Frau und Kind daheim. Kannst du das verstehen?«

Thora antwortete: »Ja, gewiß. Wenn man fühlt, daß man muß ...«

Bruce sah neugierig aus; ein leises Lächeln erschien auf seinen Lippen: »Könntest du immer das tun, was du glaubst, du müßtest?«

Thora dachte eine Weile nach. »Ich glaube,« sagte sie einfach. Und die braungrauen Augen unter dem gescheitelten Haar leuchteten auf. Dann fügte sie hastig hinzu: »Aber ich bin ja eine Frau. Ich könnte ja doch nicht in den Krieg ziehen.«

»Ich könnte es, wenn ich allein wäre,« sagte Bruce kurz.

Thora fragte sich, weshalb sie keine Dankbarkeit empfand bei diesen Worten des Mannes. Sie mußte sich doch eigentlich darüber freuen, daß er sie nicht verlassen wollte. Aber es war ihr unmöglich, es so zu empfinden. Im Gegenteil: die Worte berührten sie fast unangenehm, als offenbarten sie einen Mangel, von dessen Vorhandensein sie bisher keine Ahnung gehabt hatte. Sie hatte jedoch nicht lange Zeit, darüber nachzudenken. Bruce fuhr in seinem Bericht über die beiden Offiziere fort, erzählte, wie sie hießen, und was sie zusammen gesprochen hatten, die ganze kleine Szene, die sich auf der Landstraße zwischen ihm und diesen unbekannten Männern abgespielt hatte.

»Als wir auseinandergingen,« schloß er, »schüttelten wir uns die Hände – fast wie Freunde. Es ist ganz merkwürdig, wie solch ein Gefühl, wie jetzt zum Beispiel das für Dänemark, die Menschen einander näherbringt. Wie würde das erst sein, wenn es das Wohl oder Wehe des eignen Landes gälte! Als sie um die Ecke am Kirchhof verschwanden, hielt ich noch immer mit dem Fuchs und schwenkte den Hut – lange, nachdem sie schon nicht mehr zu sehen waren.«

Bruce schwieg. Dann schob sich seine Unterlippe unter dem Schnurrbart vor, er beugte sich zu seiner Frau hinüber und fuhr gutmütig lächelnd fort: »Ich muß eben weiter der Bauer bleiben, der ich nun einmal bin. Übrigens werden noch mehr hier vorbeikommen. Die Offiziere sprachen von einigen, die auf der Poststation auf Pferde warten. Unter andern nannten sie auch einen Namen, den ich schon gehört habe. Konrad Olthov, glaub' ich – war es nicht so? Ist er nicht aus deiner Gegend?«

»Doch,« erwiderte Thora. »Er wohnt drei Meilen südlich von uns.« Eine Flut von Erinnerungen stieg in ihr auf. Sie sah die Heimat, Vater, Mutter, Brüder. Sommer war es ringsumher. Vor ihren Augen tanzte das Funkeln des weiten, leichtbewegten Wassers. Sie sah den weißen, flachen Sandstrand, von dem die Möwen gegen den Tannenwald aufstiegen. Lebhaft, heiter fragte sie: »Zieht er in den Krieg? Er ist ja noch ein Junge!«

»Kennst du ihn?« fragte Bruce. Sein Gesicht zeigte wieder den gewöhnlichen Ausdruck vorsichtig prüfenden Nachdenkens.

»Ja,« erwiderte Thora hastig. »Er war oft bei uns im Haus. Mein Bruder und er waren Freunde.«

Das war alles, was über die Sache gesprochen wurde. Aber Thora war froh, als Bruce eine Weile später ins Kontor abgerufen wurde und sie allein ließ.

 

Mit der Nachricht von Konrad Olthovs Reise war in Thoras Seele die Unruhe aufs neue erwacht. Konrad Olthov würde vorüberfahren – den Weg, den sie so gut kannte – durch den dünnen Birkenwald mit den Wacholderbüschen darunter, über das offene Feld, wo im Regen und im Sonnenschein die Krähen krächzten, durch den niedern Tannenwald, der der Hecke um das schlafende Märchenschloß glich, in den kein Pfad führte und kein Strahl der Sonne drang. Daß er sie aufsuchen werde, erwartete sie nicht, nicht einmal, daß sie ihn vorüberfahren sehen werde. Sie hatte nur das Gefühl, daß der Weg zur Heimat, die sie verlassen hatte, auf einmal kürzer und gerader geworden sei. Ihr schien, als sei alles, was ihr so lieb war, ihr plötzlich nähergerückt.

Dann beunruhigte es sie auch, daß sie an ihrem Mann etwas Neues erlebt hatte, etwas, das ihr viel zu denken gab. In seinem Blick hatte etwas wie Sehnsucht gelegen, eine Bitte um etwas, das sie ihm geben sollte, eine Forderung, die sie erschreckte, weil sie wußte, sie konnte sie nicht erfüllen. Und statt sich dadurch ihrem Mann gegenüber freier und sicherer zu fühlen, wurde sie im Gegenteil noch scheuer und zurückhaltender und fühlte sich noch fremder als zuvor.

In diesen Tagen erhob sich vom Meer der Nordwest. Das Meer lag fern, aber seine strenge Herrschaft erstreckte sich weit über das Flachland, das offen und ohne Schutz dalag. Schwere Wolken kamen im Gefolge des Windes. Die Februarsonne, die schon angefangen hatte, durch den Winternebel zu schimmern, hüllte sich wieder in dichtes Grau, und aus den Wolkenmassen wälzte sich der Schnee nieder. Er trieb in weißen Wehen über das offene Feld vor dem Hof, fegte in Wirbeln um die gewaltigen ächzenden Buchen des Bergrückens, deckte Erde, Bäume, Wiesen und Äcker. Die kleinen Höfe auf der Ebene oder am Waldrand hüllten sich in reines Weiß, und die Wege waren von schweren Räderspuren und tiefen Hufeisenlöchern durchfurcht. Durch das Schneetreiben klangen ab und zu die Schellen vereinzelter Schlitten.

Schon zwei Tage lang hatte es geschneit. Immer noch pfiff der gleiche heftige Sturm in den alten Linden auf dem Hof. Über der Veranda lag eine mächtige Schneewehe, die sich an Tür und Fenstern hoch auftürmte und das große Zimmer drinnen noch dunkler machte, als es für gewöhnlich war. Am dritten Tag trat Bruce in Pelz und hohen Stiefeln ins Zimmer, um von seiner Frau Abschied zu nehmen. Er wollte in die Kirchenratsversammlung; vor der Treppe hielt schon der Schlitten.

Mit der Pelzmütze in der Hand stand Bruce vor seiner Frau. Als er ihrem Blick begegnete, glitt es wie ein Schatten über sein Gesicht. In seinen eignen Augen lag eine stumme Frage, die Thora mit Unruhe erfüllte. Dieselbe Frage, die er vor ein paar Tagen ausgesprochen hatte, las sie da wieder. Und sie wußte nichts darauf zu antworten, neigte sich bloß zu ihm und ließ sich zum Abschied küssen. Als Bruce sich umwandte und durch das Wohnzimmer hinausging, war seine Stirn umwölkt.

Thora hatte, als ihr Mann ihr Adieu sagte, ein Gefühl der Erleichterung, das sie sich selber nicht erklären konnte. Sie begleitete ihn bis an die Treppe und stand da in Sturm und Schnee, während sie ihn fortfahren sah. Das Schneetreiben verschlang den Schlitten vor ihren Blicken, noch ehe er zum Gattertor heraus war. Wie eine Wolke von wirbelndem Weiß lag die Landschaft vor ihr. Aus dem Dunkel des Sturms tauchten ein paar einsame Gestalten auf und verschwanden hastig wieder. Über Thoras Gesicht und Kleid fegten hart die gefrorenen Schneekörner. Thora schloß die Haustür hinter sich und versuchte an ihre Arbeit zu gehen. Eine Unruhe, die sie in der letzten Zeit glaubte überwunden zu haben, beherrschte sie. Nichts, womit sie sich beschäftigte, schien ihr von irgendwelcher Wichtigkeit. Nichts war da, was gerade jetzt getan sein mußte. Langsam ging sie durch die lange Reihe von Zimmern, die im Schneetreiben noch dunkler waren als gewöhnlich. Im Kinderzimmer in seinem kleinen Bett schlief Hänschen. Die Hände auf der Decke, ruhig und ernsthaft, lag er da. Thora blieb stehen. Sie sah, wie das Kind dem Vater glich. Er schlägt nicht in meine Familie, dachte sie. Er ist ein Bruce. Gar nichts hat er von mir.

Ein Gefühl bitterer Verlassenheit, als wäre sie ganz einsam, unnütz und überflüssig, erfüllte sie. Ohne daß sie es wußte, begannen ihr die Tränen aus den Augen zu rollen, eine um die andre, still, langsam, wie wenn ein Kind weint, das seine Tränen gern verstecken möchte. Sie sah die Heimat, die sie nicht hatte vergessen können, sah sich selbst als vierzehnjähriges Mädchen mit dem Zopf auf dem Rücken, in derben Stiefeln und kurzen Röckchen, dachte daran, wie frei und froh sie sich damals immer gefühlt hatte; ihr war, als würde bei der bloßen Erinnerung die ganze Luft um sie her frühlingsfrisch, als höre sie Vogelzwitschern, als sähe sie junge wehende Birken. Plötzlich vernahm sie in ihrem Innern eine Stimme. Sie fuhr zusammen und horchte, während ihre Tränen ganz von selbst versiegten. Deutlich und klar hörte sie die Stimme. Es war die ihres Mannes. »So hast du mich also doch ein bißchen lieb?«

Thora sah ihres Mannes ernstes, vor Erregung bebendes Gesicht vor sich, so wie sie es vorhin beim Abschied gesehen hatte, und sie erschrak aufs neue, erschrak noch zehnmal mehr als jüngst bei der kurzen Unterredung vor ein paar Tagen. Sie wußte jetzt: Liebe war es, um die ihr Mann sie bat; und zum erstenmal stand sie ohne Antwort einer Forderung gegenüber, über die sie der Ernst des Lebens seither in Unwissenheit gelassen hatte. Wieder fragte sie sich: sollte es möglich sein, daß sie mit einem Mann verheiratet war, den sie nicht so liebte, wie eine Frau ihren Mann lieben muß? Unmöglich, unerhört erschien ihr das. Thora erinnerte sich, daß sie einst hatte von einer Frau erzählen hören, die ihren Mann gehaßt hatte. Sie hatte damals lange daran denken müssen. Aber nie hätte sie gewagt, jemand darüber zu befragen. So häßlich, unnatürlich und unheimlich kam ihr das vor. Verbrecher müssen es sein, bei denen so etwas vorkommt, hatte sie gedacht, Menschen, die anders sind als die andern. Und während sie daran dachte, begannen vor ihrem innern Auge die Bilder von Ehepaaren aufzutauchen, die sie kannte. Nicht nur Vater und Mutter und die verheirateten Geschwister, sondern Bilder von Fremden, die sie flüchtig oder auch öfters gesehen hatte. Sie sah den langen, hageren Pastor, der sie getraut hatte, und seine kleine vertrocknete Frau mit dem Kindermund und den freundlichen, kugelrunden Augen. Dann den Hüttenherrn von Berghammer, einen stattlichen Mann mit einem Schnurrbart unter der gebogenen Nase und blondem Backenbart auf den roten blühenden, wettergebräunten Wangen. Der dicke Schultheiß stieg in ihrer Erinnerung auf und mit ihm seine lange Frau mit der Brille auf der schmalen Nase. Andre tauchten empor, ein junger Leutnant, den sie einmal gesehen hatte, und seine Frau, eine Dame mit üppigem Busen und strahlendem Lächeln. Bauern und Kätner mit ihren Frauen, große und kleine, dicke und hagere, blonde und dunkle und grauhaarige, alles durcheinander. Und über ihnen allen glaubte Thora die Frage zu lesen, die Bruce neulich an sie gestellt hatte: Hast du mich also doch ein bißchen lieb?

Es lag etwas ganz Neues in diesem Gedankengang für Thora. Nie war ihr der Gedanke gekommen, daß die Ehe zwischen Menschen, die Ehen, die sie selbst gesehen hatte, mit denen sie selbst in Berührung gekommen war, Anlaß zu Zweifel und Fragen geben könnten. Denn der Zweifel – das war's, was sie beunruhigte.

Ein Zweifel? Woran? An allem, fand Thora. Und zugleich fand sie ihre eigne erregte Stimmung selbst grundlos und lächerlich und war froh, daß niemand sie in diesem Augenblick sah.

Es war kalt im Zimmer. Sie zog an dem breiten gestickten Glockenzug, und gleich darauf kam Malin, kräftig und ruhig wie immer, mit ihrem fest aufgesteckten Haar, das sich an den Schläfen straffte, und den hervorstehenden, ewig fragenden Augen.

Thora befahl ihr, Feuer zu machen; und als Malin mit den Buchenscheiten zurückkam und sie in dem offenen Kamin langsam zu einem gewaltigen Stoß schichtete, fragte die junge Frau plötzlich: »Ist es wahr, daß du zum Herbst heiraten willst?«

Sie glaubte sich zu entsinnen, daß sie es einmal gehört hatte, und fragte jetzt, ohne eigentlich etwas dabei zu denken, bloß um eine Weile eine andre Stimme neben ihrer eignen zu hören, einen Augenblick lang eine Art Ersatz für eine Unterhaltung zu finden.

Malin war in ihrer Weise ein Original. Wie weit sie über die Dreißig hinaus war, darüber sprach sie nie. Jedenfalls wußte außer ihr niemand mehr, wie lange sie schon auf dem Hof diente; und von Anfang an hatte sie ihre junge Herrin mit – wie diese meinte – mißbilligenden Augen betrachtet. Sie war stark wie ein Mann, und wenn schon sie jetzt Hausmädchen war, so scheute sie doch keine noch so schwere Feldarbeit und wußte mit Pferden umzugehen wie ein Stallknecht.

Jetzt blickte sie von dem Holzstoß auf, unter dem eine erste Flamme zu züngeln begann, und antwortete: »Ja, gnädige Frau, das stimmt. Zum Herbst muß ich dran glauben.«

Die Antwort mißfiel Thora. Doch ließ sie sich nichts anmerken, sondern fragte, in ihren eignen Gedanken befangen: »Und du hast ihn gern?«

Malin errötete, als läge in der Frage etwas Unpassendes, und entgegnete: »Ach ja, er ist der Schlimmste noch lange nicht.«

Und da weiter keine Frage erfolgte, ging sie stumm hinaus und ließ die junge Frau allein ...

Thora sitzt einsam vor dem großen Buchenholzfeuer, und etwas wie ein Erröten steigt langsam in ihre Wangen. Ist es der Schein der Flammen, die über das Holz hin flackern, steigen und sinken und ihr Licht über die Tagdämmerung des großen Raumes werfen, oder sind es ihre Wangen selber, die so brennen?

Thora weiß es nicht. Sie ahnt überhaupt nicht, wie sie aussieht und was mit ihr vorgeht. Sie sitzt ganz still in ihrem Winkel und vergißt ihre täglichen Pflichten, vergißt die Arbeit, an der es in dem geschäftigen Haushalt nie fehlt, vergißt ihr Kind und alles über ganz neuen, fremden Gedanken, die in ihr aufquellen, geweckt von einer Frage ihres Mannes, die sie bis jetzt überhaupt nicht verstanden hat. Der große Holzstoß brennt langsam herunter, ruhig, wie Buchenholz brennt, mit fester, zusammenhängender Glut und weißer Asche. Im Gluthaufen raucht noch einsam ein dicker Klotz, der nicht Feuer fangen will, sondern bloß langsam verkohlt. Gegen das Fenster prasselt der harte Schnee, den die ungleichen Windstöße an die Scheiben werfen. Der Sturm beginnt sich zu legen.

Da hört Thora vom Hof her das Geläut von Schlittenschellen. Und im Glauben, daß ihr Mann schon wieder nach Hause komme, und daß sie, ohne es zu merken, den ganzen Tag verträumt habe, fährt sie auf. Die Wangen brennen ihr noch von der Hitze des Feuers, die Augen sind matt, und in ihrem Gehirn saust es wie ein Echo des Wintersturms.

Es war aber nicht ihr Mann, der da kam. Es war ein andrer, und mit ihm kam ihr Schicksal.


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