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Viertes Kapitel

Konrad Olthov kam überhaupt nicht mehr an Åkerup vorbei.

Auf dem Hinausweg war er so gereist, weil er es für notwendig hielt, die Bahn zu vermeiden und mit Pferden zu fahren. Er bildete sich in seiner Jugend und Unerfahrenheit ein, weil er seinen Vater über den Zweck seiner Reise belogen hätte, so wäre dieser imstande, durch irgend jemand seinen Aufenthaltsort auszukundschaften und ihn am Verlassen des Landes zu hindern. Von Dänemark aus hatte er dann nach Hause geschrieben, hatte seine Adresse angegeben und ohne weitere Worte, ohne sich die väterliche Verzeihung zu erbitten, das Ziel seiner Reise eingestanden. Ein Brief von Mamsell Kristin veranlaßte ihn schließlich, seine Rückkehr zu beschleunigen. Nach Empfang dieses Schreibens hatte Konrad es sehr eilig. Darum reiste er diesmal mit der Eisenbahn von Malmö, die damals schon gebaut war. Mamsell Kristin hatte ihm mitgeteilt, daß sein Vater im Sterben lag. Und Konrad reiste darum Tag und Nacht, denn der Brief war, als er ihn empfing, schon nicht mehr ganz neuen Datums.

Auf Granås war in der kurzen Zeit, seit Konrad fort war, mancherlei vorgefallen. Das Verhältnis zwischen dem »geizigen Baron« und seiner Umgebung war mit jedem Tag übler geworden. Der alte Vorknecht, der auf dem Gut geboren war und im gleichen Alter stand wie der Herr, sah jedesmal, sooft er die Treppe des Herrenhauses herunterstieg, bekümmerter und sorgenvoller aus; die Zimmer des Herrn blieben verschlossen, er war gar nicht vorgelassen worden. Mamsell Kristin schwebte wie ein Geist in dem Teil des großen Hauses umher, der bis jetzt noch nicht abgeschlossen war. Die kleinen runden Augen blickten ganz starr, und die Muskeln in dem roten Gesicht, das nie die Farbe wechselte, waren ebenso straff und hart wie die Linien um ihren zusammengepreßten Mund. Schon oft war sie draußen in den Wohnungen der Tagelöhner und bei den Knechten in der Gesindestube gewesen und hatte ein gutes Wort eingelegt für Herr und Hof, um offenen Feindseligkeiten vorzubeugen. Trotzdem hatte sie nicht verhindern können, daß sich eines Tags eine Schar von Männern und Weibern auf dem Hof versammelte und mit lauter Stimme mit dem Herrn zu reden begehrte. Streiks waren damals noch nicht an der Tagesordnung wie heute. Die Arbeitermassen waren sich damals ihrer Menschenrechte und ihrer Macht noch nicht so bewußt wie in späterer Zeit. Es mußten ganz besondere, aller Ordnung und Gerechtigkeit spottende Mißstände sein, die sie zum Äußersten zwingen konnten. Aber die Mißstände auf Granås waren tatsächlich so schreiend, daß alle Bande der Gemeinschaft sich zu lösen begannen. Der Respekt vor der Herrschaft schwand und mit ihm der Gehorsam. Die Untergebenen von Granås glichen einem Regiment Soldaten, die ihren Befehlshaber verloren haben und nicht länger imstande sind, ohne Sold zu dienen. Außer sich vor Verzweiflung drangen sie so eines Tags auf den Hof ihres Herrn und schrien laut nach Gerechtigkeit und Brot. Es war ein Haufe bleicher, halbverhungerter Menschen in zerlumpten Kleidern. Murrend forderten sie bessere Nahrung und Geld, um wenigstens die Bedürfnisse der allernächsten Tage befriedigen zu können. Irgendwelche neue Forderungen stellten diese Vorkämpfer der Streikmacher späterer Zeiten nicht. Sie verlangten bloß, daß die alten, seit Menschengedenken bestehenden erfüllt würden. Die Weiber klagten laut, die Häuser stürzten ihnen über dem Kopf zusammen, das ausgeteilte Getreide sei zu leicht, die Kartoffeln wässerig, und ihre kleinen Kinder müßten verhungern, weil die Kühe aus Mangel an Futter keine Milch mehr gäben. Die Männer verlangten, der junge Baron Konrad solle nach Hause kommen. Unter dem geizigen Baron würden sie nicht länger dienen. Der geizige Baron solle überhaupt fort. Sonst würden sie ihm das Dach über dem Kopfe anzünden, wie man Wölfe und Füchse aus ihrem Bau räucherte!

Lange stand die lärmende Schar so auf dem Hof. Ins Haus konnte keiner. Das schwere Eichentor war verschlossen und verrammelt; nur hinter den Küchenfenstern sah man ängstliche Weibergesichter zu den dunklen Scheiben herausstarren. Weit in der Runde hörte man das Schreien und Drohen der Aufrührer. Erst nach langen Stunden, als der Schultheiß endlich erschien, verstummte es. Drei Wagen fuhren plötzlich ein, der Schultheiß selbst in der Dienstmütze, einen derben Knotenstock in der Hand, ein paar Gendarmen und Büttel.

Mamsell Kristin hatte sie geholt. Als sie sah, was bevorstand, warf sie ihren Radmantel über, stülpte den Hut auf den Kopf und schlich sich auf Umwegen nach dem Stall. Und als ihr dort niemand helfen wollte, schirrte sie selber die schwarze Rosa an, spannte sie vors Kabriolett und fuhr, so schnell das Pferd nur laufen konnte, zum Schultheißenhof.

Der Schultheiß las den Versammelten nicht erst lange das Gesetz gegen die Aufständischen vor. Er packte ohne weitere Umstände zwei der Rädelsführer, die einzigen, die ihm zu trotzen wagten, legte ihnen Handschellen an und führte sie ab. Die Gesetze damaliger Zeit waren streng, und das harte Recht, das Geduld und Unterwerfung weit über die Grenzen der Menschlichkeit hinaus gebot, brach jeden Widerstand. Die Herzen voller Haß, zerstreuten sich die Ankläger nach allen Seiten hin und kehrten, noch mutloser als zuvor, in ihre armseligen Hütten zurück. Aber in den Taglöhnerwohnungen, in der Gesindestube, in den kleinen, halb verfallenen Katen, die in den riesigen Waldungen des Besitzes verstreut lagen, wuchs und wuchs dieser versteckte Haß, und ein Wächter machte von da ab Tag und Nacht die Runde auf Granås.

Der »geizige Baron« hielt sich wie gewöhnlich in seinen drei abgesperrten Zimmern auf, die er seit der Abreise seines Sohnes überhaupt nicht mehr verließ. Sein Verstand umdüsterte sich mehr und mehr. Von dem Auftritt, der, wenn ein einziger zündender Funke unter die Menge gefallen wäre, ihn an Leib und Leben hätte bedrohen können, hatte er überhaupt keine Ahnung. Fühllos gegen seine ganze Umgebung saß er meist in dem großen Lehnsessel unter dem Pfeifenbrett und grübelte darüber nach, daß alle ihn bestehlen wollten, daß er als Bettler sterben müsse und daß sein einziger Sohn ihn verlassen habe. Nicht ein einziges Mal während des ganzen stürmischen Auftritts erhob er sich, um auch nur wenigstens zum Fenster hinauszusehen.

Seit Konrad fort war, redete er nicht mehr, wie früher fast immer, von seiner verstorbenen Frau. Statt dessen hatte er ein Kinderporträt des Jungen hervorgesucht und hatte es so am Fenster aufgestellt, daß er es von dem alten Läufer aus, der ganz abgetreten und voller Löcher und Fetzen war, stets sehen konnte. So stapfte er auf und ab wie sonst und blickte nur jedesmal das Porträt an, sooft er daran vorüberkam. Wenn er müde war, blieb er am Fenster stehen und sah die ganze Zeit das Porträt an. Konrad war noch ganz klein gewesen, als es gemacht worden war, ein Bübchen mit gescheiteltem Haar und frommem Ausdruck. In der Hand hielt er ein hölzernes Pferd, das damals sein Lieblingsspielzeug war.

Da stand dann der alte Baron, der die ganze Welt vergessen hatte, und redete unverständliche Worte mit seinem Jungen, als ob dieser ihn hätte hören können. Für den Alten war Konrad auch heute noch das kleine Bübchen auf dem Porträt, und er bildete sich ein, der Kleine sei davongesprungen, und niemand hole ihn zurück. Mamsell Kristin war die einzige, die ihm half. Mamsell Kristin wußte, wo der Kleine war. Und sie hatte versprochen, er würde zurückkommen, Papa würde ihn bald wiedersehen.

Als aber die Tage vergingen und Konrad nicht kam, da wurde der Baron schließlich ungeduldig. Tagsüber wagte er sich nicht aus dem Haus. Er fürchtete sich vor all den Menschen, die ihm etwas zuleide tun und ihn berauben wollten. Aber nachts schlich er sich hinaus. Da ging er in den Garten und durch die Öffnung in der zugewachsenen Hecke hinaus in den Park. Der Nachtwächter, der um das alte Haus die Runde machte, hörte ihn oft, wie er in langen Zwischenräumen »Konrad! Konrad!« rief. Und einmal nachts hörte Mamsell Kristin, wie er die alte Steintreppe hinanstieg, die er seit der Beerdigung der »kleinen Baronin« nicht mehr betreten hatte. Oben zerrte und rüttelte er an den Schlössern, bis die Türen aufgingen und er in die Wohnung gelangte. Und wie vor Jahren wanderte er jetzt einsam da droben herum. Vom Hof aus, wo die Eulen, die das Licht anlockte, umherflogen, sah man im Dunkel der Nacht den Schein seiner Laterne über Sträucher und Bäume fallen. Durch alle Zimmer ging er so, und als er die Tür wieder abgeschlossen hatte und die Treppe herunterkam, redete er laut mit sich selber. »Ich glaubte, der Junge sei oben,« sagte er. »Aber dort ist er auch nicht.«

Ein paar Tage nach dieser Nacht lag der alte Baron zu Bett. Er sollte es nicht mehr verlassen. Und als der Mai schon fast vorüber war und der Sommer vor der Tür stand, starb er eines Nachts. Der Frühlingswind wehte mild über den verfallenen Garten, am sternenlosen Himmel stand bleich die Mondsichel. Mamsell Kristin schlief im Lehnstuhl neben dem Bett und wachte auf, als die Atemzüge stillstanden.

Was dann in dem alten Haus geschah, wußte niemand so recht. Mamsell Kristin nahm sämtliche Schlüssel in Verwahrung, indem sie erklärte, alles müsse abgeschlossen bleiben wie bisher, bis Konrad heimkomme.

Der »geizige Baron« lag in der schmalen Holzbettstelle im innern Zimmer; und als nun auch die Fenster des Erdgeschosses in dem hohen zweistöckigen Haus mit weißen Laken verhängt waren, sah es aus, als habe das ganze alte Gebäude die Augen geschlossen und sei mit seinem Herrn gestorben. Schmal und dünn lag dieser auf seinem letzten Lager, die lange Nase hob sich spitz über dem weißen Schnurrbart, und Mamsell Kristin wachte im äußern Zimmer oder schlummerte auch ein Weilchen auf dem alten schwarzen Roßhaarsofa.

Sie war ein tapferes und resolutes Frauenzimmer, Mamsell Kristin; nichts lag ihr ferner als Furcht vor dem Übernatürlichen. Ebenso ruhig, wie sie seit Jahren durch das Haus gegangen war, saß sie auch im Sterbezimmer, und der »geizige Baron« jagte ihr jetzt, nun er kalt und starr dalag, gerade so wenig Schreck ein wie vorher, als er noch lebte und sich keiner außer ihr an ihn getraut hatte. Aber Mamsell Kristin brauchte auch alle Kaltblütigkeit, über die sie verfügte. Unter dem Küchenpersonal herrschte nach dem Tode des Herrn das geheime Grauen, das sich oft einschleicht, wenn ein Mensch gestorben ist, in dessen Leben nicht alles war, wie es sein soll. Granås war ja überhaupt ein Ort, von dem man sagte, es sei da nicht geheuer. Das wußten alle. Und wenn an Winterabenden die Talglichter mit langen Dochten brannten, da erzählten sich die Mädchen im Flüsterton die mannigfaltigsten Geschichten. Wie es in dem alten Haus, oben unter dem Dach und unten in den vielen verschlossenen Zimmern, rasselte und raschelte und wisperte und ächzte und jammerte – wer hatte das nicht schon vernommen! Die leeren Wohnungen standen so lange verschlossen – wer konnte wissen, was sie versteckten! Ob die »kleine Baronin« droben spukte – nun ja, man wußte es nicht sicher. Aber woher kamen dann die trippelnden Schritte, die schon so viele gehört hatten, obgleich die Böden, wie in allen alten Häusern damaliger Zeit, dick und fest waren? Woher kamen die Töne wie von einem spröden, welken Gesang, die man in stürmischen Winternächten vernahm? Mußte da nicht jemand sein, der nicht hinauskonnte, jemand, der wachte und wartete, bis er einst erlöst wurde und das alte Haus, das von fremden Stimmen widerhallte, verlassen durfte? Immerwährend tuschelten sich die Leute solche Geschichten zu, und in der ganzen Umgegend waren diese Gerüchte verbreitet. Ganz schlimm waren sie, seit der »geizige Baron« gestorben war. Die Mägde verrammelten ihre Kammern mit Schloß und Riegel. Bibeln und Gesangbücher lagen überall umher, damit sie im Notfall gleich bei der Hand waren, und wer jetzt bei Nacht irgend etwas sah, hütete sich ängstlich, davon zu sprechen. Mit bleichen Gesichtern gingen die Leute tagsüber umher und warteten auf die Nacht.

Am schlimmsten war es in der zweiten Nacht. Da trippelte es auf den Treppen, pfiff unter den Dielen, und ein seltsamer Tiergestank verbreitete sich über das ganze Haus. Mitten in der Nacht schlug jemand gegen das Fenster. Drinnen herrschte Totenstille. Niemand wagte zu antworten. Draußen rief eine Stimme: »Macht auf! Es ist der Nachtwächter!« Man ließ ihn herein, und unter Flüchen und Bibelsprüchen erklärte der Mann, er fürchte sich, allein draußen herumzulaufen. Vom Regen, der herniederströmte, ganz durchnäßt, saß der alte Graubart neben der Tür in der Mägdekammer, während sich aus allen Betten ängstliche Blicke auf ihn richteten. Der Nachtwächter wußte, was es war, was sie alle gehört hatten. Im durchsichtigen Zwielicht der Juninacht hatte er gesehen, wie eine Menge Mäuse zu den Kellerfenstern heraussprang, die große Treppe herunterhuschte, ja, sogar an der grauen Fassadenmauer herabkletterte. Ganz deutlich hatte er es gesehen. Aber darum wollte er doch keineswegs dafür einstehen, daß das, was er gesehen hatte, auch wirklich war, was es schien, nämlich richtige Mäuse. Wer hatte je gehört, daß Mäuse so in ganzen Scharen flohen? Es gab viel ärgere Dinge als Mäuse; und in einem Haus, in dem allerlei Kobolds- und Teufelsspuk sein Wesen trieb, konnte man nie wissen, in welcher Gestalt sich der Greuel offenbarte.

Zähneklappernd vor Entsetzen lagen die Mägde in ihren Betten. Aber mitten drin erschien plötzlich Mamsell Kristin in der Nachtjacke, die Kerze in der Hand. Sie schalt den Mann kräftig aus und wollte ihn wieder hinausjagen. Er jedoch blieb unerschüttert und antwortete bloß: »Mit Verlaub, Mamsell – aber hinaus geh' ich heut' nacht nicht mehr!« Darauf nahm er seinen Bericht wieder auf und änderte ihn nur dahin um, daß die Mäuse vor den Gespenstern geflohen seien. Vor wem sonst sollten sie fliehen? War etwa da droben jemand, der sie störte? Mit eignen Augen hatte er sie gesehen, große und kleine. Durch das Loch unter der Haustür waren sie gehuscht und mit einem Satz die große Treppe hinuntergeschossen.

Der Nachtwächter ließ sich nicht vertreiben, und Mamsell Kristin nahm ihn, trotz heftigen Protestierens, mit sich hinaus in die Küche. In der Mägdekammer durfte er nicht bleiben. Unter Ausbrüchen der lebhaftesten Verachtung für seine und aller Menschen Dummheit ließ sie ihn zornig vor der Küchenbank stehen, auf der er schließlich, sein Nachtwächterhorn neben sich, verlegen und beschämt Platz nahm. Mamsell Kristin aber ging zurück in das äußere Zimmer des Barons und ließ, wie seither, die Tür zum Sterbezimmer weit offen stehen.

Sie setzte sich an den Schreibtisch, in den Sessel des Barons, und legte die alte Bibel aufgeschlagen vor sich hin. Schlafen konnte sie ja doch nicht so bald, und sie brauchte etwas zum Lesen, was sie beruhigte. Aber während sie dasaß, hörte auch sie, wie es vor der Tür fortwährend trippelte und trappelte, huschte und wisperte. Resolut erhob sie sich und leuchtete in das große Vestibül hinaus. Da erblickte auch sie die Mäuse, die von den oberen Stockwerken, den Gastzimmern und den Zimmern der »kleinen Baronin«, die der Baron vor vielen Jahren abgeschlossen hatte, herabkamen. »Also hat der verflixte Kerl doch recht gesehen!« murmelte sie. Da sie aber nicht zu den Frauenzimmern gehörte, die schreien, wenn sie eine Maus sehen, schlug sie die Tür wieder zu und las weiter. Sie hatte den Propheten Jeremias aufgeschlagen. Seine Strafpredigten paßten gerade in dies Haus, in dem so viel Unrecht verübt worden war, viel, von dem die Leute wußten, und noch mehr, was Mamsell Kristin für sich behielt.

Da hörte sie auf einmal ein Geräusch, das sogar ihr unerschrockenes Gemüt für eine gute Weile der Fassung beraubte. Es kam von oben. Direkt über ihrem Kopf hörte sie es. Es klang wie ein Prasseln und Krachen. Sie hatte das Gefühl, als erbebe das Zimmer, in dem sie saß. Die Vorhänge bewegten sich wie bei einem Luftzug. Das Getöse dauerte fort, nahm neue Formen an. Irgend etwas zerbrach, barst, sprang in Stücke. Der Fußboden schwankte wie bei einem Erdbeben. Einen Augenblick war wieder alles still, und man vernahm deutlich das Geräusch des Sommerregens, der sachte gegen die Scheiben schlug. Plötzlich ward die Luft von einem Donnern erfüllt, als ob das ganze Haus zusammenstürzen wolle. Von oben kam es. Mamsell Kristin sah ganz deutlich, wie die Decke über ihrem Kopf sich bog und der Bronzekronleuchter über dem Schreibtisch hin und her schaukelte. Das Getöse währte eine ganze Weile. Es krachte von einer Ecke des Hauses zur andern, als ob der Donner direkt auf dem Boden über ihrem Kopf dahinrollte. Zuletzt ein schmetternder Laut, als klopften Massen von Arbeitern droben Steine. Dann war alles still.

Mamsell Kristin hatte die Hände gegen die Tischplatte gestemmt und den Kopf lauschend vorgestreckt; jeder Muskel spannte sich. Als der Lärm verstummt war, ergriff sie mit fester Hand den Leuchter, ging ins innere Zimmer, in dem der Tote lag, und nahm über dem Tuch weg, das sein Gesicht bedeckte, den großen Schlüsselbund und die Laterne, die noch immer da hingen, wo der Tote zu seinen Lebzeiten sie hatte haben wollen. Keinen Augenblick verlor Mamsell Kristin die Geistesgegenwart. Sie hatte ihre guten Gründe, nicht zu wünschen, daß das alte Haus allzu genau untersucht wurde, ehe der Tote beerdigt war, und dieser Gedanke gab ihr Mut, alles zu wagen. Wenn das Begräbnis vorüber und der junge Baron wieder zurück war, würde sie ihm die Schlüssel übergeben und sich dann unverweilt fortbegeben, um die Ersparnisse in Sicherheit zu bringen, die sie trotz der gierigen, stets wachen Argusaugen hatte machen können. Wie, das war ihre Kunst und ihr Geheimnis.

Hatte sie bisher so viel gewagt, so wäre es schmachvoll gewesen, jetzt zu zögern. Deshalb stieg sie mutig die Treppe hinauf. Sie war froh, daß sie allein war. Eine Weile probierte sie die Schlüssel, ehe sie den richtigen fand. Als aber endlich die Tür aufging und sie mit der Laterne ins Zimmer leuchtete, da war Mamsell Kristin doch bestürzt. Der große Salon sah aus wie ein einziger Schutthaufen, überall lagen Splitter von Kristallkronleuchtern, Trümmer von Spiegeln, Möbeln, Hausgeräten, Zipfel von Decken und Draperien. Ein Chaos der Vernichtung begegnete dem Auge, wohin es blickte. Und als Mamsell Kristin in die Höhe sah, war die ganze Decke fort. Nackt grinsten die schweren Balken hernieder, und der ganze Raum war voll von Staub und Rauch, die von dem Schutthaufen aufstiegen.

Mamsell Kristin begriff im Augenblick, was geschehen war. Der Gipsbewurf der Decke war herabgestürzt und hatte alles zerschmettert. Es war, als hätte er all die Jahre, in denen nichts repariert, nachgesehen und hergerichtet worden war, nur zusammengehalten, um in dem Augenblick einzustürzen, in dem der Mann, dessen ganzes Leben innerhalb dieser leeren Wände zurückgeblieben war, das Donnern nicht mehr vernehmen konnte, mit dem sein Heiligtum in Trümmer fiel. Mamsell Kristin stand ganz still, die Laterne in der Hand, über das Zimmer und bis hinauf zur Decke fiel der unförmliche bewegliche Schatten ihrer dicken kleinen Gestalt, über ihre Füße hasteten die letzten erschrockenen Mäuse, die noch im Zimmer gewesen waren; sie merkte es nicht. Dann schloß sie sorgfältig die Tür hinter sich und ging mit kurzen, bedächtigen Altfrauenschrittchen die Treppe wieder hinunter und ins Zimmer des Barons zurück.

Die ganze Nacht war sie wach. Am Morgen ließ sie keinen Menschen in die verschlossenen Zimmer, wie sehr sie auch von den erschrockenen Dienstboten, die der Lärm aufgescheucht hatte, mit Fragen bestürmt wurde. Es habe niemand etwas darin zu schaffen, erklärte sie, ehe der junge Baron zurückkäme. Weiteren Bescheid gab sie keinem.

Konrad Olthov kehrte erst volle vierzehn Tage nach der Beerdigung in das Haus seiner Väter zurück. Es war ihm fast eine Erleichterung, daß alles vorüber war, und daß niemand ihn willkommen hieß. Es war auch so schwer genug. Neue Gedanken erwachten jetzt in ihm, er sah die ganze Welt mit andern Augen an, das ganze Leben, das jetzt für ihn anfing, war ihm neu und fremd. Abenteuer und Abenteurerlust lagen hinter ihm. Der Ernst des Lebens trat ihm daheim entgegen.


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