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Das Leben ist doch sehr abwechslungsreich,« dachte Fritz und sah der Igelfamilie nach. Da kam Albine durch die flirrende Mittagsluft. Sie tat, als sei die Begegnung zufällig. Aber sie hatte ihn gesucht. »Wenn es Ihnen recht ist,« sagte sie, »so fliegen wir einmal auf die Höhe der kleinen Kiefer. Man hat dort eine schöne Aussicht, und es ist auch immer etwas los.«
Fritz war gleich dabei. Sie wirbelten sich empor in die Luft, spielten Haschen auf dem Weg und stürzten sich wieder herunter. Einmal fielen sie in fröhlichem Necken sogar in den Sand. Darüber erschrak eine kleine Blume, die in der Nähe stand, so sehr, daß sie weit hinausschnellte. Sie breitete zwei grüne Blättchen aus. Dazwischen kam die schöne blaue Blüte zum Vorschein. Die sah aus wie ein Vergißmeinnicht, das nun dahinwirbelte.
Fritz war über dies neue Wunder beglückt.
»Es ist kein Vergißmeinnicht,« sagte Albine lachend. »Es ist ein Sandkäfer.«
Fritz konnte das gar nicht glauben. Weil sie die Stelle beobachtet hatten, an der sich der Käfer niedergelassen, flatterten sie hin; denn Fritz wollte sich die Sache durchaus ansehen. Aber so oft sie in seine Nähe kamen, breitete das fixe Ding wieder die grünen Blättchen aus und schwirrte davon. Es war reizend und für Fritzen ein ungeheueres Vergnügen. Zwanzigmal trieb der Käfer das gleiche Spiel. Dann war er müde geworden und konnte sich auf dem Wege nur noch ruckweise vorwärtsstoßen.
»Sie sind ein lustiger Kauz,« sagte Fritz, »blühen Sie doch wieder mal auf – das sieht so nett aus!«
»Sie sind wohl betrunken?« fragte der Sandkäfer. »Erst nennen Sie mich einen Kauz, und dann soll ich aufblühen! Betrunken oder – ein Dichter!« setzte der Kleine lachend hinzu. Trotz der starken Aufregung, die er hinter sich hatte, war er sehr gemütlich.
»Jawohl, ein Dichter,« sagte Fritz. Das gefiel ihm. Er fühlte sich dadurch geehrt.
»Na, so sehen Sie auch aus!« lachte der Sandkäfer. »Ihnen hängt der Himmel wohl immer voller Geigen, was?«
»Ihnen nicht?« fragte Fritz erstaunt. Von allen Seiten strömten die köstlichsten Düfte heran. Aus jeder Gasse, aus jedem Zelte erklang ein liebliches Spiel …
»Es wird zutreffen, was man von ihm sagt: er ist ein Blumenherz mit goldenen Flügeln!« berichtete Albine dem Sandkäfer. »Sie als Bergmann und Arbeiter in den Sandbrüchen können sich wohl nicht recht in sein beschwingtes Dasein versetzen. Er anerkennt nur die Freude!«
Der Sandkäfer schüttelte den Kopf. »Das ist in der Tat schwer einzusehen,« sagte er. »Wir Cicindelen sind dagegen ein sehr irdisches Geschlecht. Wenn man immer in Sand und Alltag wühlt, neigt man zu einer etwas nüchterneren und wohl auch solideren Lebensauffassung.«
»Das können Sie halten, wie Sie wollen,« sagte Fritz.
»Und ich wünsche, daß es Ihnen gut bekommt! Reichtümer werden Sie dabei nicht sammeln.« Er wendete sich einer kleinen Öffnung in der Erde zu und rief hinein: »Nun, wie geht's dir, mein Schnuckelchen?«
»Wohnt Ihre Frau in diesem Hause?« fragte Fritz.
»Nein, meine Tochter – siebenundvierzig Zentimeter tief!«
Fritz hatte wieder einmal Ursache, sich zu wundern. Er wußte nun, warum vorhin vom Bergmann die Rede gewesen war. »Den Schacht habe ich nämlich selbst gegraben,« erklärte der Sandkäfer. »Meine Frau ist von der Eidechse gefressen worden.«
In diesem Augenblick bewegte sich etwas aus dem Loch hervor. Es waren lauter Kleider von Insekten. Die schob die Larve des Sandkäfers vor sich her, indem sie emporstieg. »Sie ißt nur, was in diesen Kleidern gesteckt hat!« erklärte der Bergmann. »Man hat seine liebe Not von allem Anfang an mit dem Leben! Denken Sie etwa, die Insekten kommen in Heerscharen vor unsere Haustür, damit wir sie verschlingen können?«
Fritz war erschrocken von der Häßlichkeit des Wesens, das da herausstieg. »Das ist Ihre Tochter?« fragte er. »Sie hat ja eine hohe Schulter und ein schiefes Kreuz!«
»Ah, sie gefällt Ihnen nicht? Das gibt sich alles!« sagte die Cicindele lachend. Verdrossenheit oder Verstimmungen gab es am Sommerhang – im Gegensatz zu den menschlichen Siedlungen – überhaupt nicht. Selbst Leute im Banne des Alltags, wie der grüne Sandarbeiter, nahmen das Leben zuletzt doch auf die leichte Schulter.
Albine aber mahnte zum Aufbruch; denn um diese Mittagsstunde war es am Ziel ihres Ausflugs am schönsten. Sie empfahlen sich und flogen beim Takte der Streichmusik zur Kiefer. Das war ein verirrtes Bäumlein. Es trug die Spuren der Stürme von sieben Wintern, die es hier überstanden hatte.
Die Heide blühte ringsherum – früher als irgendwo im Lande. Der Baum hob sich daraus empor wie aus einem roten Kranze. Aus jeder ihrer Ähren blühten die bunten Blumen der Luft: Pfauenaugen, kleine Bläulinge, Füchse, große Schwalbenschwänze, Perlmutterfalter! Gleißende Goldkäfer saßen ganz still beim Glase Blumensaft. Ein Karpfenschwänzchen pfeilte dazwischen herum und nahm gar nicht erst Platz, wenn es ein Schöpplein genehmigte. Es stand dabei in der Luft, wie eine Blume auf ihrem Stengel, und schoß seine lange Zunge in den rosigen Becher.
»Guten Tag, Kameraden!« rief Fritz begeistert. Und schon stieg ihm zu Ehren das Gaudeamus. Es war herrlich! Alle Stimmen, vom hellsten Sopran bis zum männlichen Basse, fanden sich in berauschendem Vollklang zusammen.
»Denken Sie mal an,« sagte Albine. »Sie sind erst drei Stunden alt – und was haben Sie alles schon erlebt!«
»Bravo! Bravo!« schrie Fritz. »Bitte noch eins!« Er hatte gar nicht nötig, die Sänger aufzufordern. Denn schon stimmten sie an: »Freut euch des Lebens!«
Sogar Frau Karoline, die am Stamme der Föhre schlief, wackelte vor Vergnügen mit den Flügeln. Sie war die Witwe Karls des Dicken, eines Kiefernspinners, und pflegte erst bei einbrechender Dunkelheit auszugehen.
Fritz, dessen dichterische Lebensauffassung von Minute zu Minute wuchs, verwickelte sie gleich in ein Gespräch. »Sagen Sie mal, verehrteste Frau, wegen Ihrer Vorliebe für die Nacht haben Sie sich wohl die Halbmonde auf den Flügeln zugelegt?«
Karoline guckte ihn mit einem denkwürdigen Blick an. »Wär' diese Frage nicht verflixt gescheit, man wär' versucht, sie herzlich dumm zu nennen!« brummelte sie vor sich hin. Aber es klang nicht unfreundlich. Doch dauerte es eine Weile, ehe sie sich ihm zuwandte. »Lieber Freund,« sagte sie, »ich trage den Mond mit mir herum – und Sie die Sonne.«
»Siehste,« sagte Albine und lachte, »sie ist nicht so dumm, wie sie aussieht!«
»Sind Sie schon lange verwitwet, Sie Arme?«
»Ich liebe so sentimentale Fragen nicht,« erklärte Karoline. »Den Kiefernspinner hat die Fledermaus gefressen. Ich komme ganz gut allein durch. Aber jetzt lassen Sie mich wieder träumen. Es gibt nichts Schöneres als diesen Sommertraum, den man mit wachen Sinnen genießt.«
Fritz konnte so philosophische Worte noch nicht recht durchdenken. Aber er hatte auch keine Zeit dazu; denn Albine stellte ihn den Töchtern und Söhnen von Frau Karolinen vor. Das waren fingerlange Raupen in grauer und brauner Seide mit strahlenblauem Samteinsatz. Schön, sehr schön!
Und dann war ein braunes Gehäuse an einem Kiefernzweige – ganz aus Filz, aber gegen die Einflüsse der Witterung so gehärtet, daß es sich wie Holz anfühlte. Darin wohnten die Puppen des Kiefernspinners. »So ein Haus baut sich jede von uns,« sagte eine der schönen Raupen.
»Vielleicht!« entgegnete Albine. »Vielleicht, mein Junge!« Dabei hob sie den rechten Fühler: »Wenn es der Schlupfwespe Else gefällt!«
»Ah, da bist du ja, mein Goldherz!« rief plötzlich eine kecke Stimme. Es war Else, die sich auch hier schon eingefunden hatte. Sie führte Fritzen gleich zu einem ihrer Opfer. Das bot einen traurigen Anblick. Es war eine Kiefernspinnerraupe, die sah aus wie ein Spielplatz für kleine Mädchen. Die waren alle aus den Eiern Elses gekrochen und die große Raupe lag im Sterben.
Da marschierte ein Gewappneter in herrlichem goldgrünem Panzer aus dem Heidekraut, gerade auf den Stamm der Kiefer zu. Fritz war hingerissen von dem Glanze seiner Rüstung; denn er funkelte wie ein wandelnder Edelstein oder wie eine Blume, die aus Himmelsglanz und Erdengrün gewoben war.
»Lieber Fritz, seien Sie vorsichtig!« mahnte Albine. »So schön er ist, so grausam ist er. Er hat eine wichtige Aufgabe: er muß für das Gleichgewicht in der Natur sorgen.«
Das war wieder einmal ein tiefsinniges Wort, und dazu nicht von der nötigen Klarheit; denn es gab wohl mancherlei Gleichgewichte.
»Wie meinen Sie das?« fragte Fritz.
»Es ist doch ganz einfach,« antwortete Albine. »Es sind viel zu viel Kiefernspinnerraupen an diesem kleinen Baume. Bald würden ihrer so viele sein wie Nadeln …«
Fritz konnte sich nun schon denken, was sie meinte. Er, der von allem Neuen und Schönen gefesselt wurde, ließ die Vorsicht ganz außer acht.
»Lieber Freund,« mahnte Albine, »Sie sind leichtsinnig! Kommen Sie, wir setzen uns an einen Eckplatz.« Damit leitete sie ihn auf die äußerste Spitze eines Astes. Fritz hatte das Bedürfnis, ihr auf den Vorwurf des Leichtsinns etwas zu entgegnen. »Sie sind eine Dame,« sagte er, »und reden einem Manne gegenüber von Leichtsinn? Sie meinen wohl Mut, meine Gnädige? Der Leichtsinn des weiblichen Geschlechts …«
»… liegt auf ganz anderem Gebiete!« unterbrach ihn Albine.
Inzwischen war der Ritter am Stamm emporgestiegen und marschierte auf dem Ast entlang, an dessen Ende die beiden Platz genommen hatten. Deshalb flogen sie ein Stockwerk höher. Da kam ihnen Karoline mit zitternden Flügeln entgegen; denn unten saßen mindestens zwölf der schönen Raupen bei Tisch. Else war unter ihnen und erwartete den blitzenden Gast.
»Sie sind eine schmucke und sehr auffällige Erscheinung,« rief Fritz zu ihm herab, »Sie sind der Löwe des Tages.«
»Löwe ist gut!« lachte der Puppenräuber.
»Haben Sie hier Geschäfte?« fragte Fritz.
»Ich pflege im Krug zum roten Kranze zu Mittag zu speisen. Sie werden das gleich sehen!«
»Ah, guten Tag, Herr Puppenräuber!« rief Else. Sie tat, als hätte sie ihn gar nicht kommen hören, wiewohl ihn seine Rüstung bei jedem Schritte verriet. Denn Panzer und Sporen klangen, daß es für alle, auf die er es nicht gerade abgesehen hatte, eine Lust war. »Diese Raupe würde ich Ihnen nicht empfehlen,« sagte Else, »die habe ich mir vor drei Tagen schon etwas näher betrachtet.« Sie hatte Sorge um ihre Nachkommen, und der Käfer, im Panzerrock verstand sie. »Ha, ha,« lachte er, »Sie meinen, die hat Trichinen!«
»Ganz recht,« antwortete Else. Sie bedauerte, daß ihr das nicht selbst und nicht früher eingefallen war. Der Puppenräuber berührte eine zweite mit den Fühlern. Die verhielt sich ganz ruhig.
»Trichinen!« rief Else. Eine gesunde, an die er nun gelangte, gab sich sofort einen mächtigen Ruck und traf den Käfer. Der kniff sie mit seiner Zange. Sie wehrte sich mit ganzer Kraft. »Geben Sie sich keine Mühe,« sagte er lachend, »Sie sind zu meinem Mittagsmahle ausersehen …«
»Da muß ich auch dabei sein,« rief die Raupe, »passen Sie auf, ich schleudere Sie in die Luft, daß Ihnen Hören und Sehen vergeht!«
Auf den Gewappneten blieb diese mutige Rede nicht ohne Eindruck. »Sie sind eine sehr energische und gesunde Person – solche sind mir die liebsten. Das hilft Ihnen aber nichts. Haben Sie noch etwas zu bestellen, so besorgen Sie es gleich – Ihre Uhr ist abgelaufen.«
Damit stürzte er sich auf sie, und es kam zu einem heftigen Kampfe. Die Raupe schnellte mit ihrem Reiter auf dem Aste herum, daß der oft nahe daran war, aus dem Sattel zu kommen. Jedennoch: er hatte ihr seine Zange so tief ins Genick geschlagen und hatte einen so kraftvollen Schenkelschluß, daß an Befreiung nicht zu denken war. Sie hielt sich nun noch mit dem letzten Beinpaar an dem dünnen Ast. Aber der Schmerz seines Bisses war so furchtbar, daß sie auch dieses öffnete. Dann stürzte sie mit ihrem Peiniger hinab in den Sand.
Fritz konnte alles vortrefflich beobachten. Der Sieger zermalmte sie mit seinen Kiefern zu einem Brei, aus dem noch das warme Leben wehte, und verschlang sie. Danach stieg er von neuem auf den Baum und erwählte sich ein zweites Opfer.
Fritz war weichen Gemüts. Er war von dem ritterlichen Kampfe zwar hingerissen, aber die Grausamkeit und Kaltblütigkeit, die der Puppenräuber bewies, entsprachen seiner anderen Art gar nicht.
»Liebe Freundin,« sagte er zu Albinen, »ich finde, das Leben hat nicht nur Lichtseiten. Ich als lyrischer Dichter muß es wohl auch von dieser Seite betrachten; aber ich werde mir die Erfahrungen zunutze machen und derartige blutige Spiele wenigstens nicht aufsuchen.«
»Sie sind ein guter und warmherziger Gesell,« sagte Karoline mit zitternder Stimme. »Auch ich kann das nicht länger mit ansehen. Heute nacht wende ich mich einer ruhigeren Gegend zu. Dieser Krug zum roten Kranze war für mich sowieso nur ein Notbehelf.« Er hatte just am Wege gelegen, und träge, wie sie war, hatte sie ihn nicht nur als Einkehrhaus benützt. »Wissen Sie, mein Ideal ist ein Kiefernbestand im Alter von siebzig bis achtzig Jahren. Dort lebt unsereiner ein würdiges und behagliches Dasein …« Sie dachte freilich daran: es war heute Vollmond, und die Fledermäuse machten ihren großen Sommerausflug. Davon erzählte sie weinerlich. Sie war sonst nicht sentimental. Aber das erkannte sie auch: auf dieser verirrten Kiefer lebte sie sich hart an den Grenzen eines verfehlten Daseins dahin. – Jetzt machte sie sich leise davon, um ein schattiges Plätzchen am Stamme zu suchen.
»Es geht einem wie dem anderen,« sagte Albine, »das Leben ist nicht nur Spiel und Tanz, wie sich das die jungen Leute einbilden.«
»Fangen Sie nun auch noch an!« rief Fritz; denn er merkte, Albine zielte damit auf ihn. »Man muß es nur von der richtigen Seite anfassen, dann ist es sehr schön.« Er nippte an einem Harztropfen, der verführerisch in der Sonne funkelte. »Mir zu bitter!« sagte er. »Ich liebe süße berauschende Getränke, und ich liebe Tanz und Musik.«
Das war eine Mahnung für Albinen, mit ihm an einen anderen Platz zu gehen. Und sie mußte die Wahrnehmung der meisten Frauen machen, daß ein so luftiger Sommervogel zwar leicht zu fangen, aber um so schwerer zu halten sei. Und dabei war ihr Kleid geschmackvoll, apart und so tadellos, als habe es heute die Schneiderin gebracht. Sie wußte, wohin ihn das Herz drängte. »Ich glaube, Freund Fritz, Sie sind ein Abenteurer! So jung ich bin, so erfahren bin ich. Sie wissen, ich war schon einmal verheiratet, und ich könnte es nicht überstehen, wenn Sie durch ihre kecke Art das Schicksal meines Verstorbenen fänden. Man hat seine liebe Not mit euch Männern!«
Die Teilnahme, die sie für ihn zeigte, war nicht ohne Berechnung. Und eine so feinbesaitete Natur, wie die Fritzens, blieb natürlich von dieser Teilnahme auch nicht unberührt. Andererseits: Albine machte damit ein gewisses Besitzrecht geltend. Das ließ ihn aufhorchen. So sehr sie ihm gefiel – Heiratsabsichten hatte er durchaus nicht. Sie war eine hübsche kluge Frau. Aber das merkte sie denn doch: sein Sonnenherz ging in ihr nicht unter. Es drängte hinaus in die bunte Sommerlust. Und den Versuchungen, die seiner dort warteten, wollte sie ihn nicht ausgesetzt wissen.