Friedrich Gerstäcker
Das alte Haus
Friedrich Gerstäcker

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Kapitel 3.

Marie schlief die ganze Nacht ununterbrochen, aber nicht so sanft und ruhig fort, wie nach der ersten erschlaffenden Wirkung des Aethers. Sie träumte lebhaft, sprach oft einzelne unzusammenhängende Worte, lachte einige Mal und faßte auch wohl krampfhaft und wie ängstlich der Mutter Hand, die nicht von ihrer Seite wich. Nichts desto weniger stand die Sonne schon am Himmel, als sie endlich erwachte, oder vielmehr die Augen öffnete, und halb träumend noch umherschaute.

Kurz vorher hatte der Hausarzt das Zimmer wieder betreten und hielt jetzt ihre linke Hand, den Gang des Pulses zu fühlen, während ihre Rechte in der der Mutter ruhte.

»Mutter,« flüsterte das Kind endlich leise, »liebe Mutter!«

»Ja, mein Kind, ich bin bei Dir,« sagte diese, sie an sich drückend und küssend. »Ich gehe nicht fort von Dir. Halte Dich nur ruhig, und Du wirst bald wieder vollkommen wohl sein.«

»Und darf ich dann auch wieder einmal zum Herrn Quetzlinberger und zu Gundelrebe hinüber, liebe Mutter?« fragte Marie.

Die arme Frau seufzte recht tief auf, denn was das Kind aus seinem Traume sprach, klang ihr gar zu unheimlich.

»Besinne Dich doch nur, Mariechen,« bat sie endlich mit zärtlicher Stimme; »Du hast ja das Alles nur, von dem Aether betäubt, geträumt, und bist ja die ganze Zeit nicht hier aus der Stube, nicht aus dem Lehnstuhl hinaus gekommen.«

»Nicht?« sagte Marie, rasch und erstaunt zu ihr aufschauend, »und ich wäre nicht nebenan in dem alten Hause gewesen?«

»Mit keinem Fuße, Kind.«

»Aber die Thür stand doch offen.«

»Welche Thür?«

»Nun, die an der Treppe, an der Gundelrebe schon so oft geklopft hat, wenn ich oder jemand Anderes vorüber ging.«

»Gundelrebe? wer um Gottes willen ist Gundelrebe?« fragte die Mutter, der die Thränen in die Augen traten.

»Gundelrebe? ei, das ist ja der Neffe des alten Herrn Quetzlinberger, der die feine schmale Narbe über der Stirn hat.«

Der Arzt hatte indessen noch immer ihre Hand gehalten; den Puls aber vollkommen frei von Fieber fühlend, sagte er freundlich:

»Du bist gestern nicht aus der Stube gekommen, liebes Kind, und wie Dir Deine Mutter sagt, ist sie nicht von Deiner Seite gewichen; das darfst Du glauben. Wenn Du also wirklich fortgewesen wärest, müßte sie Dich doch gleich vermißt haben, nicht wahr? Ueberdies möchte es Dir auch schwer geworden sein, in das alte Haus hinein zu kommen.«

»Aber ich bin nun doch einmal drüben gewesen und habe es mit meinen eigenen Augen gesehen,« sagte tief erröthend das Kind. Es fiel ihm jetzt wieder ein, was ihr der alte Herr Quetzlinberger gesagt hatte, daß es ihr Niemand glauben würde, und wie er dann fast erstickt war von heftigem Husten. Sie deckte dabei ihre bleiche Stirn mit beiden, fast durchsichtig dünnen Händchen und hielt eine ganze Zeit lang die Augen geschlossen.

Unten von der Treppe schallte indessen Hämmern und Pochen herauf, und nachdem Marie kurze Zeit dem fremdartigen Geräusch, auf das sie erst nach und nach aufmerksam wurde, gelauscht hatte, fragte sie leise:

»Was ist das, Mama?«

»Das ist die häßliche Thür,« erwiderte die Mutter, indem sie liebkosend das Haar von der Stirn der Kranken strich, »die häßliche Thür, die uns schon so viel Aerger, Noth und Sorge gemacht hat, und die der Rath der Stadt endlich auf Deines Vaters ernste und entschiedene Vorstellungen zumauern läßt.«

»Die Thür ist offen?« rief aber Marie schnell; »siehst Du, Mama, daß ich recht gehabt und nicht gelogen habe?«

»Aber Du hörst ja, daß sie erst heute Morgen geöffnet wurde!« rief die Mutter – »die Leute haben erst vor kaum einer halben Stunde damit begonnen.«

»Und darf ich einmal hineingehen in den Gang?« fragte schüchtern Marie.

»Gott bewahre!« rief da rasch der Arzt, »wir müssen jede solche unnöthige und thörichte Aufregung streng vermeiden, und man soll um Gottes Willen nicht mit solch albernen Geschichten spielen und Mißbrauch treiben. In die alte unnütze Thür kommt jetzt, wie mir die Leute unten sagten, eine vier Fuß dicke Mauer, und das wird dem verrückten Mädchenschnack hier im Hause endlich einmal ein Ziel setzen. Der Herr Regierungs-Rath hätte das schon lange betreiben sollen.«

»Eine vier Fuß dicke Mauer!« seufzte Marie leise vor sich hin, »aber du lieber Gott, da kann ja . . .« Sie hielt plötzlich ein und blickte still und erröthend vor sich nieder, als ob sie sich scheue, das auszusprechen, was sie gerade überdacht.

»Was, mein liebes Kind – was kann? – was meinst Du?« fragte sie die Mutter.

Marie barg das Köpfchen an ihrer Brust, schüttelte es aber dabei und sagte leise:

»Nichts, nichts, liebe Mutter – der Traum will mir noch immer nicht aus dem Sinn – er war gar zu lebhaft und . . . und das Hämmern und Klopfen da unten thut mir weh. Müssen sie denn solch eine dicke Mauer in die Thür setzen?«

»Gewiß, Marie,« beruhigte sie die Mutter. »Es ist der Leute wegen, damit das tolle Gerede endlich einmal aufhört.«

Ein eigener Gedanke schien aus des Kindes Augen zu blitzen, und zu dem Doctor rasch und mißtrauisch aufschauend, sagte sie:

»Aber weßhalb vier Fuß dick, Doctor? Wenn wirklich Niemand dahinter klopft und hindurch will, wäre doch die eiserne Thür allein genug gewesen – und wenn . . .«

»Und wenn – Marie?« fragte die Mutter, dem Doctor dabei einen ängstlichen Blick zuwerfend.

»Und wenn nun doch Gundelrebe,« fuhr das Mädchen, sich ein Herz fassend, fort, »wenn nun doch Gundelrebe in dem dunklen Gange säße, wäre es da nicht traurig, ihm jede Hoffnung abzuschneiden, je heraus zu kommen, und müßte er dann nicht in Jammer und Einsamkeit da drinnen vergehen?«

»Papperlapapp!« lachte der Doctor, »quäle Dich nur jetzt nicht mit solch albernen Ideen! Die dicke Mauer wird nicht aus Furcht vorgesetzt, daß irgend Jemand von innen heraus brechen könnte, sondern nur um das Gesinde zu beruhigen und die Thür selber zu entfernen. Wenn die erst einmal fort ist und solch ein Haufen Backsteine dasteht, werden auch die Furchtsamsten Muth bekommen und nicht mehr an Geister denken. Säße aber wirklich Dein Gundelrebe dahinter, so könnte er zu irgend einem Fenster oder Kellerloch oder oben zum Dach deßhalb noch immer mit Bequemlichkeit herauskommen. Die Fenster sind ja doch nicht zugemauert, und selbst ein gewöhnlicher Mensch könnte von innen herauskommen, wie viel mehr denn ein Geist! Mach' Dir also darüber ja keine unnützen Sorgen, Marie; schlafe jetzt hübsch und halte Dich ein Paar Tage ruhig, bis sich die Schmerzen im Zahnfleisch und die Folgen des Aethers verloren haben. Sobald Du dann neue Kräfte gesammelt hast, werden Dir auch die traurigen und überspannten Gedanken vergehen, und Du wirst wieder unser munteres braves Mariechen sein, wie in früherer Zeit.«

Marie war seinen Worten mit der gespanntesten Aufmerksamkeit gefolgt, und als er die Fenster und Kellerlöcher erwähnte, nickte sie ihm leise und lächelnd zu. Dann sank sie wieder, die Augen schließend, auf ihr Kissen zurück.

Die Kranke schien übrigens mit diesem Gespräch eine Art von Krisis überstanden zu haben. Sie schlief fast den ganzen Tag vollkommen ruhig, wachte gegen Abend auf und genoß etwas, und verbrachte dann eine eben so ruhige Nacht, ohne ein einziges Mal mehr das alte Haus, den Herrn Quetzlinberger oder Gundelrebe zu erwähnen. Die Mutter kam übrigens in der Zeit gar nicht von ihrem Bette, und schlief selbst die Nacht auf dem Sopha neben ihr.

Die nächsten Tage fühlte sich Marie viel kräftiger und wieder ziemlich wohl, und da sich die Eltern jede Mühe gaben, sie zu zerstreuen und aufzuheitern, so wurden die Bilder jenes Abends, die ihr mit so merkwürdiger Schärfe vor der Seele gestanden, schwächer und schwächer. Ihre Umrisse verloren erst an Klarheit, und mit anderen Träumen, die sie später geträumt, verschwamm das Ganze endlich zu einem wohl immer noch wunderlichen, aber doch wirren Bilde, dessen einzelne Gestalten sie schon nicht mehr so genau abzuscheiden vermochte, und die deßhalb auch bald ihre Macht über sie verloren.

Die Thür war indessen, ohne den Gang weiter zu untersuchen, unter Aufsicht der Behörde fest vermauert worden. Der Regierungs-Rath ließ dann die Stelle mit Kalk bewerfen und die ganze Treppe frisch malen, so daß auch die letzte Spur des hier früher befindlich gewesenen Einganges verschwand. Nach einigen Wochen sprach auch im ganzen Hause kein Mensch mehr davon. Nur Marie ging im Anfang noch mit einiger Angst, mit einem eigenen, schwer zu beschreibenden Gefühle daran vorüber. Aber auch das verlor sich bald, und der Arzt empfahl ihren Eltern jetzt Luftveränderung und Scenenwechsel für die Tochter, um die rasch vorwärts schreitende Genesung zu beschleunigen und zu sichern.

Dem Regierungs-Rathe war das selbst erwünscht, Urlaub zu einer kleinen Reise zu bekommen, und er benutzte den erhaltenen, mit seiner Familie auf kurze Zeit ein Seebad zu besuchen. Auf Norderney, von dem kühlen Salzwasser gekräftigt, gesundete das junge Mädchen auch von Tag zu Tag, und als sie Ende August wieder nach Hellburg zurückkehrten, war die letzte Spur der Krankheit verschwunden. Selbst ein früheres Leiden, oder vielmehr eine Schwäche, die ihren Grund vielleicht ebenfalls mit in der zu großen Reizbarkeit ihrer Nerven fand, hatte sich fast ganz dabei verloren. Ihre Träume hatten nämlich in der letzten Zeit einen so hohen Grad von Lebendigkeit erreicht gehabt, daß sie im Schlafe sogar, ohne es zu wissen, aufstand und in der Stube umherging. Es war, wenn auch keine wirkliche Mondsucht, doch ein geringerer Grad derselben und hatte die Mutter schon mehrmals sehr geängstigt.

Das war durch das stärkende Seebad, die Luftveränderung und überhaupt die durchaus gekräftigte Natur des Kindes jetzt ebenfalls überwunden worden, und die fixen Ideen aus der früheren Zeit, mit dem Einfluß, den der Traum auf sie gehabt, schienen sich ganz verloren zu haben. Wie sie bei der Rückkehr die Treppe im Hause wieder hinaufstieg, blieb sie sogar an der vermauerten Thür lachend stehen, klopfte daran und rief Gundelrebe bei Namen. Die Mutter, die noch immer nicht ohne Unruhe der damals qualvoll durchlebten Stunden gedachte, wollte sie daran hindern und bat sie, die alten Träume nicht muthwillig wieder zu erwecken. Marie schüttelte aber lächelnd den Kopf und meinte, Mütterchen dürfe sich nicht mehr davor fürchten; sie sei jetzt wieder gesund und doch auch verständiger geworden, und habe die alten thörichten Träume lange vergessen.

Und das war wirklich der Fall. Jahr nach Jahr verging, und das alte Nachbarhaus wäre kaum mehr erwähnt worden, hätte der ewig dauernde Proceß die Aufmerksamkeit der Stadt nicht gewaltsam darauf festgehalten. Alles in der Welt nimmt jedoch zuletzt einmal ein Ende, und selbst dieser Proceß schien sich dem seinigen zu nähern. Die verschiedenen Parteien der jetzt noch lebenden Erben hatten es nämlich endlich doch satt bekommen, mit dem, was ihnen Nutzen bringen konnte, wenn sie sich darüber einigten, eine Anzahl von Advocaten und Beamten zu ernähren, und zeigten sich einer Übereinkunft geneigt.

Verwickelt genug war die Geschichte. Der alte selige Herr Quetzlinberger hatte einen einzigen Sohn gehabt, der also auch nach seinem Tode Universalerbe geworden wäre. Wunderbarer Weise, wie die alten Acten sagten, war dieser aber mehrere Jahre vor des alten Herrn Tode eines Morgens spurlos verschwunden gewesen, und man hatte trotz aller Nachforschung der Gerichte nie herausbekommen können, was aus ihm geworden.

Der alte Mann schien sich das aber entsetzlich zu Herzen genommen zu haben und schloß sich vollkommen von der Welt ab. Nur eine Haushälterin von gesetztem Alter besorgte ihm die Wirtschaft und hielt das Haus in Ordnung, das von da an kein fremder Fuß mehr betreten durfte. Wenn dann auch böse Zungen nicht müßig waren, gehässige Gerüchte darüber zu verbreiten, gelangte das entweder nicht zu den Ohren des alten Herrn, oder er bekümmerte sich auch nicht darum. Diese Gerüchte fanden allerdings neue Nahrung, als die Nachbarn des alten Herrn einen Knaben bei ihm am Fenster sahen, von dem es bald hieß, daß er ein Neffe, bald, daß er ein Adoptivsohn sei.

Die guten Frauen von Hellburg gaben sich damals die größte Mühe, Näheres über die Abstammung des Knaben zu erfahren, doch umsonst. Nicht einmal auf die Straße herunter durfte der Kleine; ja, so selten zeigte er sich selbst am Fenster, daß nur erst Wenige ihn dort gesehen hatten und Viele sogar noch seine Existenz bezweifelten. Da fuhr eines Tages eine Kutsche vor, in welche die Haushälterin mit dem Knaben stieg und zum Thore hinausrasselte; – Niemand wußte, wohin. Der alte Herr Quetzlinberger lag damals, wie mündliche Uebertragung in Hellburg lautete, im Fenster und sah ihnen nach, bis sie um die Ecke der nächsten Straße verschwunden waren. Dann machte er das Fenster zu, zog die Gardinen vor – wie sie noch bis auf den heutigen Tag hingen – und ließ sich nicht mehr sehen.

Drei Tage lang blieb das Haus verschlossen und die Nachbarn vergingen fast vor Neugierde, ob die alte Haushälterin zurückkäme, oder sich der Doctor eine »neue« nähme. Der alte Herr schien aber weder das Eine noch das Andere zu beabsichtigen. Thüren und Fenster blieben verschlossen; aus den Schornsteinen stieg kein Rauch auf; alles Klopfen an der Thür, als man doch ernstlich besorgt wurde, blieb unbeantwortet, und wie die Gerichte endlich, kraft ihres Amtes, sich gewaltsamen Eintritt in das dunkle Heiligthum erzwangen, lag der alte Herr Quetzlinberger in seinem gelbseidenen Schlafrock im Bette und war todt.

Einen halben Tag waren hierauf die Gerichte damit beschäftigt, ein Testament unter den vorhandenen Papieren des Dahingeschiedenen zu entdecken. Sie fanden nichts Derartiges, und nur im Schreibtische einen Zettel, nach dem sein Neffe Konrad G. Schierling, im Falle sein verschwundener Sohn nicht wieder aufgefunden würde, zu seinem Universalerben eingesetzt werden solle.

Der alte Herr wurde hierauf begraben, das Haus versiegelt, und der Proceß um die Hinterlassenschaft, da sich die übrigen Erben einem so unvollständigen Testamente nicht fügen wollten und für die Ansprüche des verschollenen Sohnes ein Fremder auftrat, begann. Advocaten und Erben starben – der Proceß lebte fort, ja, schien mit den Jahren, je schwieriger es wurde, ihn zu sichten, nur immer neue Kraft zu gewinnen.

Zu dem alten Hause gehörte dabei noch ein sehr bedeutendes Areal von Bauplätzen und Ackerland in der unmittelbaren Nähe der Stadt. Einem alten Uebereinkommen nach war dieses durch das Gericht selber alljährlich verpachtet worden, um aus dessen Ertrag eben so regelmäßig die fortlaufenden Proceßkosten zu bezahlen. Diese hatten dadurch vollständige Sicherheit erhalten, und mehrere Geschlechter von Juristen lebenslängliche Renten daraus bezogen, bis eine vernünftigere Generation von Erben sich einem Vergleiche geneigt zeigte.

Außer dem bestrittenen Universal-Erben, dem jungen Schierling, erhob die Hauptansprüche ein Doctor Hetzelhofer, der eine von dem jungen Quetzlinberger selbst ausgestellte Verschreibung besaß, worin ihm, oder vielmehr seinem Vorfahren, sämmtliche Ansprüche desselben übertragen wurden. Woher er sie erhalten, blieb ziemlich ungewiß. Doctor Hetzelhofer aber behauptete, sein Großvater habe dem damals noch jungen Manne wichtige Dienste geleistet, der junge Quetzlinberger selber sei aber später auf einer heimlich unternommenen Seereise verunglückt.

In sein Interesse hatte er dabei einen anderen weitläufigen Verwandten des alten Herrn Quetzlinberger, der auch dessen Namen trug und ein sehr geschickter Advocat war, gezogen – vielleicht hauptsächlich mit des Namens wegen. So bildeten die Herren Hetzelhofer und Quetzlinberger gegen Schierling oder dessen Erben, mit einem größeren Anhang weitläufiger Verwandter, die beiden Hauptparteien des Processes.

Um aber die Sache an Ort und Stelle besser betreiben zu können, war Doctor Hetzelhofer, der Enkel des Doctor Hetzelhofer, welcher die ersten Ansprüche erhoben hatte, nach Hellburg selbst, und zwar dem »alten Hause« gerade gegenüber, in die nämliche Wohnung eingezogen, in der Mariens Großeltern in früheren Jahren gewohnt hatten. Durch Briefe, die er mitbrachte, war er dabei ebenfalls an Regierungs-Rath Hechner empfohlen und mit diesem bekannt geworden, und wenn auch der Regierungs-Rath selber keine große Freude an dem etwas abstoßenden, verschlossenen Manne fand, lernte doch die indeß herangewachsene Marie die ihr an Jahren allerdings überlegene Schwester des Doctors kennen und lieb gewinnen, und war von da an oft in des Doctors Hause.

Helene, wie des Doctors Schwester hieß, mochte zwei- oder dreiunddreißig Jahre alt sein und führte, von einer alten Dienstmagd unterstützt, welche die gröberen Arbeiten verrichtete, ihrem Bruder die Wirthschaft. Sie war dabei ernst und häuslich, und vielleicht von einem mehr schwärmerischen als prosaischen Charakter, gegen dessen Uebertreibung sie aber schon ihre Jahre wie ihre Ruhe schützten. Dennoch war es das vielleicht gewesen, was Marien besonders zu ihr hingezogen hatte.

Marie, die indessen ihr siebenzehntes Jahr erreicht, schien ihren Körper in der raschen Entwickelung eher gekräftigt und die frühere Reizbarkeit und Erregtheit der Nerven fast ganz abgeschüttelt zu haben. Nichts desto weniger war ihr noch immer eine gewisse Vorliebe für das Uebernatürliche, ein Hang zu einer leisen Schwärmerei geblieben, der jedoch mit ihren früheren Träumen und Ideen in keiner Verbindung mehr stand. Das alte Haus und was es enthielt, hatte keinen Antheil mehr an jenem unbekannten Etwas, das ihre Brust manchmal erfüllte, und die Bilder jener Zeit waren theils vergessen, theils so in den Hintergrund gedrängt, um mehr als einen gelegentlichen Gedanken daran zu beanspruchen.

Die stille, sinnige Helene war ihr, mit diesem Gefühl, diesem halb unbewußten Drang im Herzen, deßhalb auch vor allen Anderen eine liebe Gesellschafterin geworden. In der Jugend schließt sich ja das Herz so gern an ein gleich fühlendes an, und noch nicht getäuscht, sucht und findet es leicht, was ihm fehlt, in dem Nachbarherzen. Die Welt liegt da noch im rosigen Licht der aufgehenden Sonne frei und offen vor uns, und kein Falsch in der eigenen Brust, keinen Gedanken, der das Licht zu scheuen brauchte, suchen und finden wir auch nichts Anderes in denen, die Schicksal oder Zufall in unseren Pfad geworfen. So glücklich, wie wir dabei selbst uns fühlen, so glücklich scheint uns Alles um uns her, im Wiederglanz unseres eigenen reinen Herzens – aber die Zeit gießt Gift in den krystallenen Becher. Tropfen nach Tropfen läßt sie langsam hineinfallen in die demantene Fluth – Tropfen nach Tropfen, die sich erst halten und zusammendrängen in sich selbst, und nur die einzelnen trüben Strahlen, wenn auch im Anfange noch so fein und kaum erkennbar, hinüber senden über die Oberfläche. Mehr und mehr aber breiten sie sich aus; finsterer und trüber füllen sie den Raum, und so rein und treu die klare Fluth sonst auch jedes Bild zurück gab, das sich mit liebendem Auge darüber bog, so finster und abgeschlossen wahrt es dann den eigenen schmerzlichen Schatz: das trübe Gift von Mißtrauen und getäuschter Hoffnung. Wohl drängt und treibt es uns noch immer mit der gleichen Kraft, das gleiche Herz zu suchen, das uns fehlt, und dem wir uns, wenn wir es fänden, vielleicht mit noch größerer, innigerer Liebe anschließen würden als früher, weil wir ja eben den Werth eines solchen Glückes erst in späteren Jahren recht eingesehen und kennen gelernt haben. Aber – wir können uns nicht mehr entschließen, die eigene Brust zu öffnen – wir trauen selbst der Offenheit des Anderen nicht. Scheu und trübe schleichen wir vorüber, das Schicksal scheltend, das uns allein und freundlos in die Welt stieß, und vergessen doch ganz dabei, daß wir allein es sind, die, wie der Drachen das unterirdische Gold, neidisch unser eigenes Herz bewachen und Jeden mit giftigem Hauche zurückweisen, dessen treue Hand den Schatz für uns heben möchte.

Marie freilich hatte noch keinen Tropfen jenes trüben Giftes eingesogen, und der blaue Himmel, der über ihrer Jugend lachte, spiegelte sich treu und friedlich in dem stillen, reinen Herzen der Jungfrau. Vor der älteren Freundin hatte sie dabei kein Geheimniß, und ihr schon lange all ihre kleinen unbedeutenden Sorgen und Erlebnisse mitgetheilt, wie Pläne gebaut für die Zukunft – Pläne, bunt, und leicht wie Kartenschlösser mit anscheinend breitem, mächtigem Grund, und doch eingeworfen durch einen Hauch. So wußte Helene auch schon Alles von dem »alten Hause,« was sie damals geträumt und mit sich herumgetragen, und wie das eine gar so schwere, entsetzliche Zeit für sie gewesen. Damals hatte sie ja geglaubt, sie gehöre gar nicht mehr dieser Erde an, sondern hinüber in die dunklen, verschlossenen Räume zu den fremden, unheimlichen Leuten. Ihr Kindesherz hatte sich mit der Sorge gequält, daß denen da drüben nur wieder wohl werden könne, wenn sie bei ihnen sei, ihnen die tödtliche Einsamkeit tragen zu helfen, und nur nach und nach habe sich das verloren, und es sei ihr besser und leichter geworden. Jetzt freilich lache sie über den tollen Traum.

Noch eine Person darf ich hier nicht unerwähnt lassen, die zu dem Hausstande, ja, eigentlich fast zur Familie des Doctors gehörte, wenn dieser auch den Mann mehr als Diener, wie Freund, und manchmal gütig, meist aber hart und abstoßend, ja, fast despotisch behandelte.

Es war dies der Famulus des Doctor Hetzelhofer, der hier jedenfalls eine nähere Beschreibung verdient.

Schwiebus, wie er kurzweg im Hause genannt wurde, war eine lange, magere Gestalt mit vorstehenden Backenknochen und tiefliegenden, aber lebendigen grauen Augen. Die dünnen, etwas röthlichen Haare hielt er sorgfältig von beiden Schläfen nach der Stirn hinauf gekämmt, den dort eben nicht mehr zu verdeckenden Mangel so viel als möglich wenigstens zu beschönigen, und sein Gesicht war in eine solche Unzahl kleiner, die Kreuz und Quer laufender Falten gelegt, daß man wirklich nicht daraus klug wurde, ob das Alter oder vielleicht eine blatterähnliche Krankheit solche Spuren in seine Haut gegraben. Je länger man ihn darauf ansah, desto verwirrter wurde man. Während daher die Einen den langen wunderlichen Burschen mit dem unbeholfenen Namen für einen noch jungen, vielleicht durch zu eifrige Studien aufgeriebenen Mann hielten, der unter des berühmten Doctors Leitung seine Kenntnisse vermehren wolle, schworen die Anderen, daß Glatze und Falten wirklich dem Alter angehörten. Diese hielten den Eigner derselben dann für einen hohen Fünfziger, ja, vielleicht Sechziger, der, von dem leichtfertigen Götterkind Fortuna übersehen, ein Menschenalter umsonst hinter ihrem Wagen hergekeucht war, und es jetzt endlich aufgegeben hatte, sie einzuholen.

Seine Hautfarbe, das fahle Gelb seiner Züge, schien diese letztere Ansicht auch besonders zu bestätigen und das Urtheil der Hellburger zu rechtfertigen, die bald darüber einig waren, daß er gerade so aussähe, als ob er schon einmal im Grabe gelegen hätte. So böse er selber aber wurde, und so sehr der Doctor Hetzelhofer darüber lachte, wenn in seiner Gegenwart eine solche Bemerkung laut wurde, ließ sich der Gedanke, wenn einmal gefaßt, doch nicht wieder los werden. Wer nur dem dürren, hageren Menschen in's Antlitz sah, dessen Augen dann nicht selten eine ordentlich grüne, gläserne Färbung annahmen, fühlte ein eigenes, unbestimmtes Grauen, über das er sich keine Rechenschaft geben konnte, und verschiedene alte, würdige Damen hätten eben so gern in der Gesellschaft des anerkannten Gott sei bei uns, als in der seinigen eine Stunde allein zubringen mögen. Bei einer solchen Persönlichkeit ist die böse Welt aber auch rasch mit einem Spitznamen fertig, und Schwiebus hieß bald in der ganzen Stadt »der todte Famulus.«

Wunderlicher Weise war Schwiebus dabei in jeder anderen Beziehung der freundlichste, gemüthlichste und gefälligste Mensch von der Welt, der besonders gern mit Kindern umging, mit ihnen spielte, wo er sich nur eine Viertelstunde Zeit abgewinnen konnte, und diese bald an sich fesselte. Dabei besaß er ein merkwürdiges Talent, Geschichten, vorzüglich Gespenster-Geschichten, zu erzählen. Der Doctor hatte ihm das freilich streng untersagt, denn er machte die Kleinen oft so furchtsam, daß sie nicht mehr allein über die Straße gehen wollten; aber es gehörte nun einmal mit zu seinen Leidenschaften, denen er, wo das irgend anging, den Zügel schießen ließ. Die Kinder rissen sich deßhalb auch bald um seine Gesellschaft, trotz seinem sonst nichts weniger als einnehmenden Aeußeren, und wo es nur irgend anging, wurden Gespenster- und Geister-Geschichten, unter dem Siegel der strengsten Verschwiegenheit, von dem einen Theile so gern erzählt, wie von dem anderen gierig angehört.

Auch in kleinen mechanischen Arbeiten war er geschickt und erfahren. Er drehte Kreisel, die beim Spiel verschiedene Töne von sich gaben; schnitzte Männer, die sich von selbst überschlugen; machte Bälle, die, wenn man sie hoch in die Luft warf, zu kleinen Ballons wurden und davon flogen, und tausend andere derartige Dinge. Ganze Nächte mußte er zu solcher Arbeit verwenden, wo hätte er sonst die Zeit hergenommen! In seinem Zimmer brannte auch in der That fast jede Nacht hindurch Licht, und die Nachbarn, die von ihren Fenstern aus das seinige beobachten konnten, zerbrachen sich die Köpfe darüber, in welcher Zeit der »todte Famulus« eigentlich schlafe. Waren sie auch um zwei oder drei Uhr erst zu Bett gegangen, wo sie noch Licht in seinem Zimmer und den Schatten an den niedergelassenen Gardinen konnten herüber und hinüber gehen sehen, so war Schwiebus doch jedenfalls am nächsten Morgen schon vor ihnen wieder munter. Wenn sie gleich mit Tagesgrauen aufstanden, lag er sicher schon im geöffneten Fenster und rauchte seine Cigarre, oder unterhielt sich mit einem großen abgerichteten Raben, der in seinem Fenster einen geräumigen, aber offenen Bauer hatte – an Schlafen dachte er gar nicht.

Auch der Rabe gehörte mit zu der Person des »todten Famulus,« und die Leute im Hause versicherten, daß er das kluge Thier fast wie einen Menschen behandle und sich oft halbe Stunden lang mit ihm ordentlich unterhalte.

Solch ein Wesen war der Famulus Schwiebus, und es läßt sich denken, daß er dem kleinen Hellburg auf lange Zeit höchst interessanten Stoff zur Unterhaltung gab. Bier- wie Kaffee-Gesellschaften beschäftigten sich im Anfange wirklich nur mit ihm und dem Doctor, der durch einige fabelhafte Curen ebenfalls einen großen Ruf erlangt hatte. Es gab auch in der That bald nichts Natürliches wie Uebernatürliches mehr, das man den beiden Menschen nicht zugeschrieben hätte, und eine Zeit lang machten sogar ein Paar haarsträubende Geschichten die Runde, in welche die Fremden auf das Engste verwickelt waren. Nur erst als beide Charaktere so still und spießbürgerlich wie sie selber in ihrer Mitte fortlebten und sich keines von all den ausgesprengten Gerüchten bestätigte, erkaltete nach und nach die Neugierde der Nachbarn. Der Reiz der Neuheit war dem Ganzen überhaupt schon genommen, und noch ehe das erste Jahr ganz verflossen war, ließ man die Beiden still und ungehindert ihre Wege gehen. Man hatte sich an sie gewöhnt und sie gehörten mit zu Hellburg.



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