Friedrich Gerstäcker
Das alte Haus
Friedrich Gerstäcker

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Kapitel 6.

So vergingen wieder mehrere Wochen, und der Proceß der Quetzlinberger'schen Erbschaft näherte sich seinem entscheidenden Termine. Advocat Hechner, der Bruder des Regierungs-Rathes, war dabei der Bevollmächtigte des jungen Herrn Schierling – des angeblichen Erben und Nachkommen jenes bestrittenen Adoptivsohnes des alten Herrn Quetzlinberger, und dieser hatte seinen Anwalt ersucht, ihm für die Dauer seines Aufenthaltes in Hellburg ein Privat-Logis, wo möglich in der Nähe des bestrittenen Hauses, auszumachen, da er das Leben im Wirthshause nicht liebe und so viel als möglich vermeide. Advocat Hechner hatte hierauf seinen Bruder, der mit dem muthmaßlichen Erben des alten Hauses überhaupt in freundliche Beziehung zu kommen wünschte, dazu vermocht, den jungen Gast auf einige Zeit bei sich einzuquartieren und ihm den Aufenthalt indeß, schon des Bruders wegen, so angenehm als möglich zu machen.

Der Regierungs-Rath erklärte sich auch dazu in aller Unschuld und in dem schlichten Glauben bereit, daß es bei ihm weiter keine großen Umstände machen und sogar eine freundliche Abwechslung in sein stilles Hauswesen bringen würde. Außerdem wurde er dann gleich selber mit dem jungen Schierling, der überdies weite Reisen gemacht haben sollte, näher bekannt, und wer wußte, ob er dann das Nachbarhaus, was ja schon seit so langen Jahren sein Wunsch gewesen, nicht doch noch unter billigen Bedingungen an sich bringen konnte?

Außer seinen bewohnten Stuben hatte er in seiner Etage zwei allerliebste und jetzt unbenutzte Fremdenstübchen, und dem augenblicklichen Einzuge des willkommenen Gastes stand also gar nichts im Wege.

Darin hatte er sich aber doch geirrt. Die Frau Regierungs-Räthin, als ordnungsliebende Hausfrau, war nämlich keineswegs gewillt, den »vornehmen und ehrenvollen Besuch« so ohne Weiteres in ihr »verwohntes und durch den Winter unscheinbar gewordenes Haus« einziehen zu lassen, ohne wenigstens vorher Alles zu thun, was in ihren Kräften stand, die Wohnung wieder »menschlich und anständig« herzurichten. Darunter verstand sie vor allen Dingen ein gründliches Scheuern und Reinmachen des ganzen Hauses, von der Flur unten an bis unter das Dach hinauf, mit den dazu gehörigen frischen Gardinen und Ueberzügen – neues Bewerfen und Malen der Küche und Treppe wie der Hausflur natürlich eingerechnet; ja, sie gab sogar nicht undeutlich zu verstehen, daß das Fremdenstübchen selber einer neuen Tapete so nothwendig wie nur irgend was bedürfe, wie denn ein Teppich zu solch kalter unfreundlicher Winterszeit jedenfalls hineingelegt werden müsse.

Der Regierungs-Rath erschrak, als er die Folgen überblickte, die sein leichtsinniges Versprechen über ihn heraufbeschworen, und suchte jetzt wenigstens bei der kalten nebeligen Witterung das Scheuern und Reinmachen eben nur auf die beiden betreffenden Zimmer zu beschränken, in welche ihr junger Gast einquartiert werden sollte. Frauen lassen sich aber, bei irgend genügender Entschuldigung, selten die Gelegenheit entgehen, eine stille, friedliche Familien-Wohnung zeitweilig unter Wasser zu setzen, und die Frau Regierungs-Räthin machte denn auch keine Ausnahme von der Regel.

So fest und hartnäckig bestand sie darauf, ihr Logis endlich einmal in Ordnung zu bringen – eine Drohung, die sechs volle Tage zur Ausführung brauchte – daß ihr Gatte zuletzt jede weitere Einsprache in Verzweiflung aufgab. Ja, er räumte seiner Frau sogar vollkommen das Feld, um diesem entsetzlichen Zustande selber zu entgehen, und setzte sich auf die Post, einige Geschäfte, die ihn nach der Residenz riefen, in dieser Zeit abzumachen. Selbst sein Studirzimmer mußte er auf Gnade und Ungnade übergeben, und trotz der verschlossenen Bücherschränke wußte er recht gut, daß indessen des Schlossers krummbärtige Dietriche rücksichtslos angewandt werden würden, sie zu öffnen. Jedes im Hause befindliche Bret, wo es sich auch befand, mußte gescheuert werden.

Selbst das Versiegeln half hiergegen nichts, das er sogar in früheren glücklichen Jahren der Täuschung einmal versucht. Die Frau Regierungs-Räthin hatte allerdings in einer instinctartigen, halb unbewußten Scheu das Siegel nicht zu verletzen gewagt, aber – die Rücken aus den Schränken herausnehmen lassen und die Bücher nachher auf die feuchten, abgescheuerten Breter sämmtlich verkehrt wieder hinaufgestellt. Wie nun der Regierungs-Rath – er war damals noch Assessor – zurückkehrte und mit selbstzufriedenem Blicke das Siegel löste, bekam er bald den Tod vor Schrecken, als ihm aus seinen Schränken heraus in buntem, entsetzlichem Gemisch die gelben, grünen, blauen, rothen und marmorirten Schnitte der Bände ordentlich unheimlich entgegenstarrten. Nach solcher Erfahrung gab er natürlich jeden Vertheidigungs-Versuch vollständig auf.

Es läßt sich denken, wie gemüthlich es in dem sonst so stillen Hause des Regierungs-Rathes die Woche herging; kein Stuhl stand mehr auf seinem alten Platze, kein Tisch, kein Schrank. Die Fenster waren ausgehoben, die Thüren geöffnet, eine unbestimmte Anzahl von alten Frauen, mit einem fatalen Seifengeruch, zogen ein und aus; das ganze Gebäude dampfte von heißem Wasser, und selbst Marie, die sonst mit derlei Arbeiten gern von der etwas ängstlichen Mutter verschont wurde, hatte, sobald Treppen und Stuben nur aus dem Gröbsten gewaschen waren, alle Hände voll zu thun bekommen. Neue Gardinen mußten aufgesteckt, die Ueberzüge von Fensterkissen und Sophapolstern gewechselt werden, und hier und da fand das kritische Auge der Hausfrau doch noch einzelne Stellen, die von den nachlässigen Dienstboten beim Reinigen übersehen oder absichtlich flüchtig übergangen waren. Die Leute konnten nun einmal nichts ordentlich machen, wenn man ihnen nicht fortwährend und ununterbrochen auf den Dienst paßte!

Der feuchte, dunstige Geruch, der auf dem Hause die letzten Tage wie ein ungesunder trüber Nebel gelegen, hatte sich übrigens durch häufige Wachholderbeer-Räucherungen ziemlich verloren, oder war wenigstens lange nicht mehr so auffällig, als der jetzt von seiner Reise zurückgekehrte Regierungs-Rath hartnäckig behaupten wollte. Auch die Zimmer des erwarteten Gastes, des jungen Herrn Schierling, standen blank und sauber, wie aus der Schachtel genommen, und waren auch schon seit zwei Tagen tüchtig geheizt worden. Wer konnte wissen, wie verwöhnt der junge Herr bei ihnen eintraf, und die Wohnung sollte er denn doch wenigstens durchwärmt finden! Gegen das Bett, das wie ein wahrer, von schneeweißem Linnen überzogener Federberg seiner wartete, ließ sich außerdem nichts einwenden.

Marie hatte sich die letzte Woche besonders wohl und kräftig gefühlt. Die Erzählung des wunderlichen Schwiebus war ihr allerdings in den nächsten Tagen nicht von der Seele gewichen, und die Bilder, die er vor ihrem lebendigen Geiste heraufbeschworen, die Gedanken, die seine tolle Phantasie wieder in dem Herzen des ohnedies reizbaren Mädchens erweckt hatten, füllten sie, sie mochte sich dagegen sträuben, so viel sie wollte, wieder auf eine kurze Zeit mit all den früheren, wie sie geglaubt, schon längst besiegten und vergessenen Schauern. Das rege Leben aber jetzt im Hause, die viele auf sie einstürmende Arbeit, ließen ihr keine Zeit, weiter darüber nachzugrübeln, und wenn sie jetzt an jenen Abend zurückdachte, schüttelte sie nur noch manchmal still vor sich hinlächelnd den Kopf, daß es Menschen gab, die in ihrem Gehirn solche tolle, wunderliche Sachen ausbrüteten.

Und wie ernsthaft hatte der Famulus das Alles erzählt, gerade als ob er es selber glaube, und sie – wie ein kleines Kind – hatte sich davor gefürchtet.

So standen die Sachen, als am 28. Februar, Morgens um zehn Uhr, plötzlich ein fröhliches, hellklingendes Posthorn sein jubelndes: »So leben wir, so leben wir, so leben wir alle Tage!« durch die noch verhältnißmäßig stillen Straßen der Stadt schmetterte. Der arme Postillon blies das vielleicht in schmerzlicher Ironie auf sein monotones Leben vom Bock nieder, aber die Bewohner von Hellburg, die rasch an die Fenster fuhren, nahmen es für baare Münze und sahen durch die gefrorenen Scheiben, wie eine leichte Extrapost-Chaise, von ein Paar flüchtigen Rappen gezogen, über das etwas holprige Pflaster die Straße niederrasselte. An der Wohnung des Regierungs-Rathes donnerte sie übrigens vorüber und hielt jetzt, unter dem Zusammenlauf einiger Straßenjungen, wie mehrerer alten Frauen und jungen Mädchen, dicht vor der Thür des »alten Hauses«, von dessen stillen und öden Fenstern die schmetternden rufenden Töne des Horns gar wild und unheimlich zurückklangen.

Ein junger Mann, der einen kleinen Lederkoffer in der Hand trug, sprang zu gleicher Zeit mit einem Satz aus dem Wagen und an die Thür, deren Klopfer er ergriff und ihn fest und mit allen Kräften drei Mal auf die verrostete Metallplatte niederschlagen ließ. – Hei, wie das schallte und dröhnte in den alten verlassenen Räumen! Der Fremde aber bog sich zur Thür nieder, an die er das Ohr preßte, und schien selber erstaunt, als er den wunderlichen, unheimlichen Tönen da drinnen lauschte.

Vor der Hausthür des Regierungs-Rathes Hechner war es indessen aber auch lebendig geworden. Die beiden Dienstmädchen, die hinunter gesprungen waren, das Gepäck des erwarteten Fremden in Empfang zu nehmen, standen mit etwas erstaunten Gesichtern auf der Schwelle und winkten dem, ihnen freundlich zunickenden Postillon, umzukehren und bei ihnen vorzufahren. Der Regierungs-Rath selber aber, in Schlafrock und Pantoffeln, wie er aus seiner par terre liegenden Studirstube aufgesprungen, drängte sich jetzt zwischen ihnen durch und rief lachend dem jungen Fremden zu:

»Hieher, mein junger Freund – Hieher, wenn ich bitten darf. Sie sind in der Thür irre und dürften dort lange pochen und klingeln, ehe Jemand in dem Hause Sie hören würde.«

»Hehehe!« lachten zu gleicher Zeit ein Paar theilnehmende Straßenjungen, »der hat am alten Hause gepocht; dem wird's die Nacht gut gehen!«

Der junge Fremde, der sich rasch nach dem Ruf umschaute, warf nur noch einen Blick zu den dicht verhängten öden Fenstern hinauf und eilte dann, während der Postillon ebenfalls umlenkte, mit raschen Schritten auf den Regierungs-Rath zu, der ihm beide Hände entgegenstreckte und ihn auf das Herzlichste begrüßte.

»Hieher, mein junger Freund,« wiederholte er dabei, »hier ist das rechte Quartier: Nr. 96, wie Sie hier über der Thür als Bestätigung lesen können. Nun aber kommen Sie rasch hinauf, wo Sie eine Tasse heißen Kaffee und die Frauen finden. Hier unten ist überdies eine abominable Kälte.«

»Mein bester Herr Regierungs-Rath . . .«

»Bitte, um Gottes Willen keine Complimente jetzt – da, Rieke, nimm dem Herrn einmal den kleinen Koffer ab, und das andere Gepäck stellt nur indessen hier unten zu mir in die Stube. Der Hausmann mag es nachher mit hinauftragen helfen. Lieber Himmel, mein bester Herr Schierling, Sie müssen ja halb erfroren sein! Wo sind denn Ihre anderen Sachen?«

»Ich habe nichts weiter bei mir, bester Herr Regierungs-Rath,« lachte der junge Mann – »hier, liebes Kind – der Koffer enthält Alles.«

»Weiter keinen Koffer? – keinen Reisesack?« rief der Regierungs-Rath erstaunt, denn er hatte für seine drei Tage Abwesenheit nach der Residenz siebenunddreißig Pfund Ueberfracht gehabt. »Sie wollen doch nicht heute schon wieder fort?«

»Sie werden mich noch satt bekommen,« lächelte der junge Mann, »auf den Monat März richten Sie sich nur ein.«

»Nun denn, Ihre Hutschachtel wenigstens; Stock, Regenschirm, Pelz . . .«

»Nichts dergleichen,« lautete die Antwort, und die Mädchen fingen indessen selber an, mit einander zu kichern. »Der kleine Koffer hier ist Alles, was ich bei mir führe, und wenn ich dem Schwager da erst ein Trinkgeld gegeben, denn er hat mich gefahren, als ob wir geflogen wären, stehe ich ganz zu Ihren Diensten.«

Das war rasch geschehen, und der Postillon mußte auch mit dem Geschenk sehr zufrieden sein, denn er blies sein schönstes Lied, als er mit dem leeren Wagen nach dem Postgebäude hinüberrasselte. Der junge Herr Schierling wartete aber indessen auf keine weitere Einladung und flog, immer drei Stufen auf einmal nehmend, in raschen Sprüngen die Treppe hinauf, daß ihm der etwas schwerfällige Regierungs-Rath kaum zu folgen vermochte.

»Eile mit Weile, mein junger Freund!« rief ihm dieser nach; »wenn Sie erst einmal in meine Jahre kommen, werden Sie wohl auch jede Stufe einzeln nehmen, wie es der Baumeister bei der ersten Anlage beabsichtigte. Nun sehen Sie – lieber Himmel, ich bin ganz außer Athem – jetzt müssen Sie doch warten, bis ich nachkomme. Aber Sie sind auch wohl ordentlich durchgefroren und werden sich nach der warmen Stube sehnen.«

Der junge Fremde hatte auf dem Treppenabsatz, auf dem sich die zugemauerte Thür befand, auf den Regierungs-Rath gewartet, und rief jetzt lachend:

»Ich? – nein, ich bin Kälte gewohnt und befinde mich nie wohler, als im Winter. In den heißen Sommer-Monaten gehe ich fast immer nach dem hohen Norden hinauf.«

»Na, da danke ich,« sagte der Regierungs-Rath, »da reisen Sie ja mit den Schneegänsen. Aber jetzt sind wir gleich oben – so, mein lieber Herr – hier treten Sie ein, wenn ich bitten darf, und seien Sie uns herzlich willkommen in unserem Hause.«

Seinen Gast dabei an der Hand ergreifend, führte er ihn in das Wohnzimmer, wo ihn die Frau Regierungs-Räthin eben so herzlich und gastfrei empfing.

»Aber wo ist Marie?« fragte der Regierungs-Rath, sich nach der Tochter umsehend, »sie war doch noch den Augenblick im Zimmer.«

»Marie muß das Frühstück besorgen,« entschuldigte sie die Mutter, »der Herr Schierling sind uns doch etwas schneller gefahren, als wir eigentlich geglaubt. Die Wege sind aber freilich jetzt gut und hart gefroren, da laufen die Pferde rasch darüber hin, und die Wagen rollen von selber hinterdrein.«

»Und die Masse Gepäck, die der Herr Schierling mitgebracht hat,« lachte der Regierungs-Rath, der noch immer nicht über den kleinen Koffer wegkommen konnte. »Mich wundert's nur, wie die zwei Rappen im Stande waren, es zu schleppen. Es ist erstaunlich!«

»Das seh' ich nicht ein!« rief seine Frau, die ihrem Gaste da glaubte beistehen zu müssen und die Ironie für baare Münze nahm. »Wenn Du reisest, nimmst Du auch viele Sachen mit. Wenn der Mensch seine Bequemlichkeit haben will, und die will der Mensch haben, so versteht es sich wohl von selbst . . .«

»Aber er hat gar nichts mit,« lachte der Regierungsrath laut heraus, »nicht viel mehr wenigstens, als ich in meinen Hut packen könnte. Ohne Mantel, nur mit dem leichten, dünnen Ueberzieher an, saß er im Wagen.«

»Es ist erstaunlich,« sagte die Frau Regierungs-Räthin, die Hände zusammenschlagend, »da müssen Sie ja halb erfroren sein. Lieber Gott! Ihre Hand war auch so kalt wie Eis. Aber da kommt Marie, und nun wird auch das Frühstück nicht lange mehr auf sich warten lassen. »Meine Tochter Marie, mein bester Herr Schierling . . . .«

»Mein Fräulein,« sagte der junge Mann mit einer verbindlichen Verbeugung, »es freut mich herzlich, Sie begrüßen zu können. Ich muß nur von vorn herein bedauern, Ihnen, wie mir scheint, so viel Unruhe in Ihrer Häuslichkeit verursacht zu haben.«

Marie wurde blutroth und stammelte einige verlegene Worte, während ihr Blick wie festgebannt auf den Zügen des jungen Fremden haftete.

»Aber ich bitte Sie, mein lieber Herr Schierling,« fiel ihm hier die Regierungs-Räthin in's Wort, »wie können Sie nur glauben, daß Sie uns Unruhe gemacht? Als wenn Sie mit zur Familie gehörten, haben wir's angenommen, und die Zimmer, die Sie bewohnen, haben schon das ganze Jahr fix und fertig gestanden. Nicht wahr, Hechner?«

»Nicht die mindeste Unruhe, bester Herr Schierling,« sagte, so gewissermaßen gewaltsam zum Zeugen aufgerufen, der Regierungs-Rath, aber doch nicht ohne einen leisen, kaum unterdrückten Seufzer, denn er mußte unwillkürlich an die gezwungene Reise in die Residenz denken – »nicht die mindeste Unruhe. Das geht hier Alles so im alten Geleise fort, und unser einziger Wunsch ist nur, daß Sie sich hier bei uns auch gerade wie zu Hause fühlen und nicht die geringsten Umstände machen. Aber jetzt zum Frühstück! Da drinnen, sehe ich, ist schon Alles aufgetragen, und da wollen wir Ihnen nicht länger die nöthige Erholung vorenthalten.«

Der junge Herr Schierling bot sehr artig der Frau Regierungs-Räthin den Arm und führte sie, während ihr Mann selber in seine Stube schlüpfte, um den Schlafrock mit einem anständigem Kleidungsstücke zu vertauschen, zum Frühstücks-Tisch. Marie aber wankte wie in einem Traume zur Thür hinaus und in ihr eigenes Zimmer, welches sie hinter sich abschloß und wo sie auf ihr eigenes kleines Sopha sank, um erst wieder zur Besinnung zu kommen und sich zu fassen. Der Fremde wie die eigenen Eltern durften um keinen Preis ahnen, wie sie erschrocken war und was in ihr vorging.

Träumte sie denn oder wachte sie? Der Kopf wirbelte ihr plötzlich, und sie wußte nicht, was sie davon denken, was sie sagen sollte. Das war ja Gundelrebe – dieser junge Herr Schierling – Gundelrebe so wahr und leibhaftig, wie sie ihn je gesehen, je mit ihm gesprochen. Nur um so viele Jahre älter, denn natürlich mußte er in der Zeit aufgeschossen und männlicher geworden sein. Und kannte er sie denn nicht wieder? Er hatte eine so höfliche, so kalte Verbeugung gegen sie gemacht. – Sie barg die Stirn in den Händen und mußte sich wirklich erst einige Minuten sammeln, ihre Gedanken auf den einen Punct zu bringen und dort zu halten.

Gundelrebe! – dieselben dunklen Augen und Brauen, dasselbe lange schwarze Haar – die weiße Hautfarbe und selbst – wenn die erste Ueberraschung sie nicht getäuscht – sogar die schmale blaue Narbe an dem linken Schlaf. Aber wo kam er her? was wollte er hier mit unter den Erben des alten Hauses, und war vielleicht der alte Herr Quetzlinberger . . .? – Wie mit Fieberfrost überlief es sie jetzt bei dem Gedanken an jene Nacht, deren Traumbilder wirklich anfingen in's Leben zu treten, und gewaltsam mußte sie die Gedanken in ihr Herz zurückbannen, daß sie nicht wieder mit erneuter Stärke um sich griffen.

»Marie, Marie!« rief es in dem Augenblick über den Gang herüber. Es war der Mutter Stimme, und sie durfte sich nicht länger dem Gaste, der vielleicht mit dem Frühstück auf sie wartete, entziehen. Nur die Haare strich sie sich glatt und suchte vor dem Spiegel so rasch als möglich jede Spur der gehabten Aufregung zu vertilgen. Mit diesem ersten Sieg über sich selbst kehrte aber auch ruhigere Besinnung zurück, und sie schalt sich selber jetzt ein thörichtes Kind, dem ersten Eindruck solche Macht über sich gegeben zu haben. Konnte das nicht überhaupt blos eine flüchtige Aehnlichkeit mit ihrer Traumgestalt sein – oder hatte sie nicht etwa diesen jungen Mann als Knaben früher irgendwo einmal gesehen, und war er ihr dann nicht danach, unter dem fremden Namen, in der wunderlichen Umgebung im Traume erschienen?

Fort mit den tollen Gedanken, die der alte häßliche Schwiebus nur erst recht wieder aufgerührt und erregt hat! Es war jetzt heller, lichter Sonnenschein, und dabei getraute sie sich schon jedem etwaigen Spuk getrost in's Auge zu schauen. Nur die erste Ueberraschung hatte sie bewältigt; mit den gesammelten Gedanken war sie aber auch wieder vollkommen ruhig und besonnen geworden, und nahm sich jetzt vor, ganz mit kaltem Blute die beiden Gestalten, jenes Traumbild aus früherer Zeit und den jetzigen lebendigen Herrn Schierling, sorgfältig mit einander zu vergleichen, wo sich dann ihre überspannte Idee bald in Nichts auflösen mußte. Nachher war sie aber auch fest entschlossen, ihrem jungen Gaste den Traum selber zu erzählen und mit ihm herzlich über die Aehnlichkeit zu lachen.

»Marie, Marie!«

»Ja doch« – was die Mutter für Eile hatte! – und mit flüchtigen Schritten eilte sie vorn in's Frühstücks-Zimmer, um die Ihrigen nicht länger auf sich warten zu lassen und noch ungeduldiger zu machen. – – –

Und es war doch Gundelrebe. Mit Gewalt mußte sie ihr Auge fortzwingen von der Gestalt, die wie aus dem Rahmen ihrer Erinnerung heraus getreten schien. Vor ihr – sie mochte sagen, was sie wollte – stand Gundelrebe; nur größer und älter war er geworden, aber dieselben dunklen Augen glühten ihr entgegen wie in jener Zeit – die langen dunklen Haare beschatteten noch immer die weiße Stirn, und an dem feinen, fast durchsichtigen Schlaf – heilige Mutter Gottes! die Knie zitterten ihr in jähem Schrecken, und sie fühlte, wie bleich sie wurde – lief auch die feine blaue Narbe quer von der Stirn nieder dem Ohre zu.

»Aber, Mariechen, wo hast Du denn nur die Gedanken?« rief ihr die Mutter in diesem Augenblicke zu. »Hier der Herr Schierling hat schon seinen Kaffee in der Tasse wieder kalt werden lassen, aus purer Höflichkeit für Dich. Er wollte absolut nicht eher trinken, als bis wir Alle beisammen wären.«

»Sie dürfen uns nicht immer davon laufen, mein Fräulein,« sagte der junge Fremde jetzt mit einem bittenden Blick auf das Mädchen, »es schmeckt mir sonst nicht halb so gut.«

»Nicht immer davon laufen« – die Worte klangen ihr wie ein leiser Vorwurf aus früherer Zeit entgegen, und sie wußte kaum, was sie that, als sie sich neben den räthselhaften Fremden niedersetzte.

Dieser aber langte jetzt tüchtig und ganz unbefangen zu, und erzählte so lebendig allerdings, aber auch so gleichgültig über irgend eine Vergangenheit, von seiner Reise auf der Post und seinem letzten Aufenthalt in Berlin, daß auch Marie zuletzt, als sie sich nicht mehr beobachtet wußte, zuversichtlicher wurde. An dem Gespräch freilich vermochte sie noch immer keinen Theil zu nehmen, aber sie konnte sich doch wenigstens sammeln und fing an ruhiger um sich zu schauen.

Ueber Tisch warf sie nun auch manchmal, sobald das unbemerkt geschehen konnte, den Blick nach ihrem Nachbar hinüber. – Es war doch am Ende nicht Gundelrebe; der Mund schien ihr bei dem Fremden kleiner und anders geschnitten, die Nase selbst hatte der im Traume gesehene Knabe nicht so gerade und regelmäßig gehabt, und in dem Auge lag ebenfalls etwas Fremdes, das sie nicht kannte und fest überzeugt war, in Gundelrebe's Auge nicht gefunden zu haben. Dessen Blick hatte damals frei, offen, ja herzlich auf ihr gehaftet, während der junge Schierling etwas Keckes und Verstecktes darin nun und nimmer verläugnen konnte, ja, wie es ihr fast vorkam, auch gar nicht verläugnen mochte. Nur die Narbe – der schmale blaue, kaum bemerkbare Streifen über die Stirn – das ließ sich nicht wegläugnen, und welch ein wunderbares Zusammentreffen hätte das sein müssen, das einem fremden Menschen mit der Aehnlichkeit die Narbe gab und ihn zugleich als Miterben des alten Hauses auftreten ließ! Es war doch wahrhaftig Gundelrebe, und wieder tanzten vor ihrem inneren Auge die geisterhaften wunderlichen Gestalten jener Nacht.

Das Frühstück ging so rasch vorüber, sie wußte selbst kaum, wie. Gleich danach wurde der junge Fremde aber schon durch ihren Oheim abgeholt und durch die Erbschafts-Vergleichung vollkommen in Anspruch genommen. Um eilf Uhr schickte er sogar der Frau Regierungs-Räthin einen Boten, ja nicht mit dem Essen auf ihn zu warten, da er heute, durch dringende Geschäfte abgehalten, unmöglich zu Tisch kommen könne.

So unglücklich nun aber auch die Frau Regierungs-Räthin über diesen Strich durch ihre Rechnung war, der sie mit einem sorgfältig hergerichteten Diner bis auf den Abend hinausschob, so zufrieden schien Marie damit. Vollständige Zeit bekam sie ja dadurch, sich von ihrer ersten Ueberraschung zu erholen, und mit der dadurch gewonnenen Ruhe konnte sie nicht umhin, das Thörichte einer so wild und bunt aufgebauten Idee, das Verfolgen eines bloßen inhaltlosen Traumes einzusehen.

Den besten Einfluß übte auch der stille lichte Tag auf sie aus. Der Nähe des unheimlichen Fremden enthoben, mit dem hellen, klaren Sonnenlicht, das in ihr Zimmer strömte, begann sie ruhig und kaltblütig zu überlegen und konnte zuletzt sogar lachen über ihre tolle Phantasie, die ihr da fast wieder einmal einen recht häßlichen und wunderlichen Streich gespielt. Waren nicht schon lange Jahre seit jenem Traume verflossen, und konnte sie überhaupt in der Erinnerung das Traumbild jenes Knaben, das ihr ja doch auch nur in flüchtigen Umrissen, in raschen, Schlag auf Schlag folgenden Scenen vorüber geschwebt, so genau bewahrt haben, um ihn jetzt noch wieder zu erkennen? War es dabei nicht möglich, daß es noch viele Menschen unter den Millionen des Erdballes gab, die dem ähnlich sahen? und konnte nicht gerade Einer von diesen zu ihnen kommen? Daß das gerade wegen des »alten Hauses« geschah, ja, daß er als der Erbe desselben auftrat, war, wie sie recht gern eingestehen wollte, ein Zufall – ein merkwürdiger Zufall, aber doch wahrhaftig noch immer kein Beweis einer wirklichen Thatsache, und an die mußte sie sich doch jetzt als vernünftiges, erwachsenes Mädchen einzig und allein halten.

Hin und her überlegte sie sich das, mit allen Gründen, die ihr der sonst gesunde Sinn nur bieten konnte, bis der Vater mit dem Fremden zurückkehrte. In der Zeit hatte sie sich aber auch wirklich so vollständig beruhigt und von der Thorheit solcher Ideen selbst überzeugt, daß sie dem jungen Manne sogar mit freundlichem Gruß entgegen zu gehen vermochte. Nur erst als seine Augen zum ersten Male lang und forschend auf ihr hafteten, trat ihr das Blut für einen Moment zum Herzen zurück. Es war aber auch wirklich nur ein Moment. Als sie bald darauf wieder im Familienzimmer um den großen Tisch saßen, von dem aus die breitmächtige Lampe ihr mildes Licht über das Zimmer warf, und das Feuer im Ofen so traulich flammte und knisterte, fand sie die Aehnlichkeit sogar nicht einmal mehr so auffallend. Je mehr sie sich dabei in den Gedanken ihres wunderlichen Irrthums hinein dachte, desto unbefangener, freier fühlte sie sich, und schloß sich bald nicht minder lebhaft als die Uebrigen der Unterhaltung an.

Der junge Schierling war übrigens eine höchst interessante Persönlichkeit und wohl im Stande, die Aufmerksamkeit der stillen, zurückgezogen lebenden Familie einer kleinen Provinzial-Stadt zu fesseln. Jung und von einnehmendem Aeußern, mit einem gewissen unbefangenen, sicheren Benehmen, wie es der längere Aufenthalt in einer großen Stadt wohl giebt, hatte er schon große Reisen gemacht, hatte viel gesehen und wußte – eine sehr wichtige Eigenschaft für das gesellige Leben – angenehm und unterhaltend davon zu erzählen.

Schon zwei Mal war er dabei – einfach um der Sonnenhitze zu entgehen, wie er versicherte – nach dem Nordpol hinauf gefahren und schien auf dem Wallfischfang und beim Robbenschlagen, oder beim Wallroß- und Eisbären-Schießen wie zu Hause. Schon seine Schiffs-Ausdrücke wurden zu eben so vielen angenehmen, unlösbaren Räthseln, und wenn er von den himmelhohen Eisbergen und schwimmenden Eisfeldern erzählte, auf denen die Wallrosse und Eisbären, die Robben und Eidergänse herumgingen wie in einer Menagerie, schlug die Frau Regierungs-Räthin ein über das andere Mal die Hände zusammen und meinte, es sei doch schön auf der Welt und herrlich für den, der so frank und frei draußen herumziehen und sich Gottes Wunder nach seiner Bequemlichkeit beschauen könne.

Das ganze Leben und Treiben jener fernen, wilden Zone bot übrigens Stoff genug zu höchst interessanten Betrachtungen. Die langen Salzwasser-Fahrten auf großen, allein vom Wind abhängenden Schiffen; die derben Matrosen, mit denen man es da fortwährend zu thun hatte, das Nordlicht jener Breiten, und der lange, nicht endende Tag, das Alles hatte einen unbeschreiblichen Reiz für die Landbewohner. Von der Mitternachts-Sonne, deren Pracht er mit glühenden Farben schilderte, mußte er wohl allein eine volle Stunde erzählen, und als er auf seine eigenen Lebensgefahren kam, wollte die Familie gar nicht mehr zu Bett.

Durch die Unvorsichtigkeit des Capitains waren sie nämlich auf der letzten Reise mit ihrem Schiff auf ein Eisfeld hinauf gejagt, und dann zwischen zwei riesige Schollen dermaßen hineingerathen und festgeklemmt worden, daß ihr Fahrzeug wie eine hohle Nuß von einander barst und die Mannschaft sich in Booten retten mußte. Die fortwährende Gefahr, in der sie dabei geschwebt, bis sie das feste Land wieder erreichen konnten, der Ueberfall dort von feindlichen Indianern, von denen sie entdeckt und gefangen genommen wurden, der kecke Muth der Mannschaft dabei, die unerschrocken dem Tode wohl hundert Mal in's Auge sah und alle Schwierigkeiten mit fast unglaublicher Ausdauer und Geduld besiegte – das Alles schilderte der junge Schierling so frisch und lebendig, so treu und warm nach dem Leben, daß es besonders auf die Sinne des jungen Mädchens einen unwiderstehlichen Reiz ausübte; ja, sie begleitete in Gedanken den jungen Fremden – der ihr nun doch einmal trotz allem Sträuben dagegen wie ein alter Bekannter vorkam, in all den Fährlichkeiten mit klopfendem Herzen und in fast athemlosem Schweigen.

Die Frau Regierungs-Räthin hatte dabei eine Bowle Glühwein gemacht, den sie vortrefflich zu bereiten verstand, und bis spät in die Nacht saßen sie so, erzählend, oder vielmehr zuhörend, denn der junge Schierling führte das unbestrittene Wort. Nur der Regierungs-Rath war durch die heutige ungewohnte Bewegung in der kalten Luft, die jetzige Zimmerwärme und drei oder vier Gläser seines Lieblingstrankes müde geworden und, trotz der lebendigen, spannenden Schilderung, mitten in einer sehr heiß geführten Wallfischjagd sanft eingeschlafen. Erst als sich der junge Schierling selber erhob und dadurch das Zeichen zum allgemeinen Aufbruch gab, wurde er wieder munter, richtete sich plötzlich rasch und steif empor und gab mit einigen unpassenden Worten seine völlige Beistimmung zu allen gemachten Propositionen. Er war jedenfalls im Geiste bei der morgenden Verhandlung gewesen.

Der junge Herr Schierling machte dazu eine so ernste und feierliche Verbeugung, daß die Frau Regierungs-Räthin in die größte Verlegenheit kam, und wirklich im ersten Augenblicke nicht wußte, ob es der Fremde selber so ernsthaft aufgenommen oder den aus jungem Schlaf Geweckten nur zum Besten haben wolle. Ihre Sorge um die Bequemlichkeit des ihr anvertrauten Gastes gewann aber rasch wieder die Oberhand. Die Lampe in seinem Zimmer war schon angezündet, ein anderes Licht wurde noch dem Mädchen gegeben, ihm voran hinauf zu leuchten, und mit der Versicherung, daß sein Schlafzimmer ordentlich durchwärmt und auch sonst alle Vorkehrungen getroffen wären, ihn das Eismeer mit seinen Schrecknissen, in Hellburg wenigstens, vergessen zu machen, wurden die Gute-Nacht-Wünsche auf das Herzlichste gewechselt.

Wenige Secunden später betrat der junge Fremde sein, schon mit jeder irdischen Bequemlichkeit ausgestattetes Schlafgemach, in dem Vorrichtungen getroffen waren, selbst einem Winter von Spitzbergen kühn die Stirn bieten zu können.

»Wenn er nur warm genug liegt!« sagte die Mutter, als sie noch vor Schlafengehen die zum anderen Morgen nöthigen Wirthschafts-Gegenstände herausgegeben hatte und jetzt ebenfalls Anstalt machte, ihr Lager zu suchen. – »Ich hätte große Lust, Marie, ihm noch ein Deckbett hinüber zu schicken. Wenn er's nicht haben will, kann er es ja auf die Füße legen. Die sind nie zu warm.«

»Aber, liebe Mutter, er hat einen ordentlichen Berg von Betten und könnte ersticken, wenn Du noch mehr darauf häuftest! Ueberdies scheint er gar nicht so frostig zu sein und ist doch sicher auch an ein kälteres Klima gewöhnt.«

»Nicht frostig?« sagte die Mutter, »seine Hand fühlt sich immer an wie Eis. Nun, auf Deine Verantwortung denn. Also Du glaubst, daß er genug Zudecke hat?«

»Uebrig genug.«

»Und das Zimmer ist ordentlich durchgewärmt?«

»Wie ein Backofen, Mütterchen.«

»Wenn er nur keine kalten Füße bekommt!«

»Aber, beste Mutter, Du hast ihm ja noch außerdem die große Wärmflasche, in eine dicke wollene Decke gewickelt, in's Bett setzen lassen. Wenn er die auspackt, kann er sich die ganze Nacht die Füße daran wärmen.«

Die Frau Regierungs-Räthin seufzte tief auf. Sie mußte sich allerdings für diese Nacht beruhigen, trotzdem war es ihr immer, als ob man den Fremden morgen früh halb erfroren in seinem Bette finden würde und sie sich nachher die bittersten Vorwürfe zu machen hätte. Glücklicher Weise war übrigens das Zimmer nur von innen zu heizen, sie hätte sonst sicherlich eines der Mädchen angestellt, die ganze Nacht draußen nachzulegen, und das Schlafgemach des jungen Mannes in steter Gluth gehalten. Das ging nun allerdings nicht an, und sie mußte dem Schicksal seinen Lauf lassen.

Die Familie zog sich jetzt in ihre verschiedenen Schlafstätten zurück, und das Haus lag bald in tiefer, ungestörter Ruhe.

Am nächsten Morgen war der junge Herr Schierling schon vor Tag aufgestanden und hatte dem Mädchen, das er nach Waschwasser angerufen, da seines eingefroren schien, gesagt, er werde vor dem Kaffee noch einen kurzen Spaziergang machen. Der Regierungs-Rath indessen, der sich nicht so leicht aus seiner Ruhe bringen ließ und vor Allem kein Freund von frühem Aufstehen war, hörte, als er noch im Bette lag, ein ungewohntes Hin- und Herlaufen im Hause, lautes Reden und eine solche Menge Ausrufe des Staunens und Mitleidens, daß es ihn endlich nicht länger im Bette litt. Er sprang auf und fuhr in seine Kleider, um sich selber nach dem jedenfalls geschehenen Unglück zu erkundigen. Sonderbarer Weise hatte er eine dunkle Ahnung dabei, daß Jemand die Treppe hinunter gefallen wäre und den Hals gebrochen hätte, und ein leises Zittern flog ihm durch die Glieder, als er den Namen seines Gastes draußen auf dem Gange mehrere Male deutlich unterscheiden konnte.

Das ganze Haus war übrigens in der That in Aufregung, und er fand sämmtliche weibliche Bevölkerung seiner Etage vor der weit geöffneten Thür des jungen Schierling, vor der sie, trotz der dort herausströmenden Kälte, in eifriger Debatte verharrten.

»Was um Gottes Willen ist vorgefallen?« rief der Regierungs-Rath wirklich erschreckt aus. »Ist ihm etwas passirt? Mein Gott, warum spricht Niemand?!«

Wenn vorher Niemand, wenigstens nicht zu ihm, gesprochen, so suchten sie das jetzt Alle auf Ein Mal nachzuholen, und es dauerte eine geraume Zeit, bis er heraus bekam, um was es sich hier eigentlich handle. Vor allen Dingen mußten übrigens die Fenster des offenen Zimmers geschlossen werden, und der Regierungs-Rath wurde dann mit dem allerdings außergewöhnlichen Bericht seiner Ehehälfte überrascht. Dieser lautete, wie folgt:

Herr Schierling hatte sein Bett, einen wahren Himalaya von aufgethürmten daunenweichen, herrlichen Federn, gar nicht berührt. Die schneeige, unzerknitterte Leinwand der Ueberzüge sah ordentlich glasig in der schneidenden Kälte des Zimmers aus. Damit aber nicht zufrieden, schien er vor allen Dingen das Fenster geöffnet und die Wärmflasche aus der wollenen Decke genommen zu haben. In die Decke ganz allein eingewickelt, hatte er dann jedenfalls die Nacht bei offenen Fenstern und einer Temperatur zugebracht, in der das Wasser in Krügen und Flaschen fest und hart gefroren war und die letzteren auch gesprengt hatte. Das Stubenmädchen behauptete dabei, sie sei fest überzeugt, der entsetzliche junge Herr habe die warme wollene Decke auch noch erst eine Weile aus dem Fenster gehängt, ehe er sich hineingewickelt, und sie möchte nur wissen, ob er nicht im Sommer in einem Eiskeller schlafe.

Dabei lief er in der scharfen Morgenkälte, wo andere Menschen noch in ihren warmen Betten lagen, nur mit dem dünnen, unwattirten Ueberzieher bekleidet, spazieren. So ein Mensch war ihnen doch noch nicht vorgekommen!

Zum Frühstück fand sich der junge Schierling übrigens ganz frisch und munter ein – nur etwas bleich sah er aus. Die Hausfrau überhäufte ihn aber hier mit den zärtlichsten Vorwürfen, seines leichtsinnigen Betragens wegen. Den Tod hätte er ja können die Nacht haben vor Zug und Kälte, und in der spinnweb dünnen wollenen Decke, auf dem harten Sopha wäre ja eine Flasche Wasser zu Eis gefroren!

Ihr Gast lachte aber nur zu all den Vorstellungen und schob seinen längeren Aufenthalt am Nordpol als einzige Entschuldigung vor: Er sei dort so die Kälte gewohnt geworden, und sein Blut habe sich vielleicht dermaßen dort verdickt, daß er den Begriff Frost kaum noch kenne und in einem warmen Zimmer etwa dasselbe Gefühl empfinde, wie andere Menschen, die an einem kalten Wintertage in's Freie gingen. Nachts aber besonders sei er nicht im Stande, warm oder gar in Federn zu liegen, und er ersuche deßhalb auch seine freundliche Wirthin, ihm statt der vielen sonst prächtigen Betten nur eine einfache Matratze mit der wollenen Decke, in der er die Nacht vortrefflich geschlafen, zu seinem Lager zu gestatten. Uebrigens solle sie sich nicht die mindeste Sorge seinethalben machen; wenn er sich nicht vollkommen behaglich befände, würde er es ihr frei und offen sagen. Ihr das auch gleich an Ort und Stelle zu beweisen, bäte er sie noch einmal darum, sein Schlafzimmer Abends nicht wieder heizen zu lassen.

Die Frau Regierungs-Räthin schüttelte freilich den Kopf darüber; an der Sache selber ließ sich aber doch nichts weiter ändern, und da die Männer bald darauf durch die wichtigen Geschäfte dieses Tages abgezogen wurden, so ging die sorgsame Wirthin ohne Weiteres daran, das Bett, wie verlangt, herzurichten. Der ganze Federberg (ein einziges Deckbett ausgenommen, das er doch noch vielleicht bewogen werden konnte auf die Füße zu legen), wurde beseitigt, und nur eine Anzahl wollener Decken auf einem Stuhl zu Fuß des Bettes aufgestapelt, um dort zum Bedarf wenigstens bereit zu sein. Wollte ihr Gast dann absolut einen Eiszapfen aus sich machen, nun gut, so konnte sie es nicht ändern und hatte wenigstens ihre Schuldigkeit gethan.



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