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Squire Dayton war, während sich das übrige Volk zerstreute, mit Porrel und einem Teil seiner Verbündeten zurückgeblieben und stand, die Arme fest verschlungen, mitten auf dem breiten Platze, der Mrs. Breidelfords Haus von dem Gefängnis trennte. Er wußte recht gut, daß sich jetzt – vielleicht heute noch – nicht allein sein Schicksal, sondern auch das aller übrigen entscheiden mußte, und tollkühne Pläne waren es, die für den Augenblick sein Hirn durchkreuzten. Sollte er hier der Gefahr ausgesetzt bleiben, verraten und vielleicht einmal überrascht und gefangen zu werden? Sein Blick schweifte wild über die wogenden Menschenmassen hin. Oder sollte er sich, der Macht, die er jetzt um sich versammelt sah, vertrauend, im letzten entscheidenden Streiche den Feinden entgegenwerfen? Noch war ihm Zeit gegeben, das, was er an Schätzen angehäuft hatte, in Sicherheit zu bringen; der nächste Augenblick vernichtete vielleicht schon alle Hoffnungen und Pläne.
Porrel, der eben erst von Sinkville eingetroffene Verbündete, mochte wohl ahnen, was in seiner Seele vorging. Er schritt langsam auf ihn zu, blieb wenige Sekunden dicht neben ihm stehen und flüsterte dann, indem er ganz vorsichtig seine Schulter berührte:
»Nun, Sir, beschließt rasch, was Ihr tun wollt; unsere Augenblicke sind gezählt.«
»Wißt Ihr?« fragte Dayton und schaute zu ihm auf.
»Ich weiß alles«, entgegnete mürrisch der Fremde. »Sander, der Euch oben im ›Grauen Bären‹ sehnsüchtig erwartete, hat mir wenigstens das Wichtigste mitgeteilt.«
»Wo ist Simrow?« fragte der Squire rasch. – »Habt Ihr nichts von ihm gesehen?«
»Die Pest über den Burschen!« rief der Advokat. »Ich habe ihm nie getraut!«
Dayton sah ihm überrascht und mißtrauisch ins Auge.
»Wahrscheinlich spielte er ein falsches Spiel«, fuhr Porrel fort, ohne den Blick zu beachten; »soviel ist gewiß, er hatte sich, als der alte Benwick kaum begraben war, bedeutender Kapitalien gegen seinen Auftrag bemächtigt und wollte damit fliehen. – Ein paar Georgier setzten ihm nach, holten ihn ein und – schossen ihn glücklicherweise gleich nieder.«
»Und das Testament?« fragte Dayton mit fest zusammengebissenen Zähnen.
»Man soll allerlei darüber munkeln«, grollte der Sinkviller; »ich glaube, es wird das beste sein, wenn wir uns nicht weiter um die Sache bemühen.«
»Sind denn alle Teufel heute auf einmal losgelassen?« rief der Richter; mit dem Fuße stampfend. »Mord und Tod! Es ist ja fast. als ob uns das Schicksal selbst zum letzten entscheidenden Schritt treiben wollte.«
»Verzögert den wenigstens so lange wie möglich«, warnte Porrel; »denn wenn der mißlingt, sind wir natürlich verloren, weil es eben der letzte war.«
»Seid außer Sorge«, entgegnete finster der Richter, »wir haben bisher zu trefflich gebaut, um uns jetzt, Wahnsinnigen gleich, das Sparrwerk selber über den Häuptern zusammenzureißen. Ich habe einen Plan entworfen, der uns nicht allein Freiheit, sondern auch Rache sichert. Vor allen Dingen müssen wir aber die Unseren, die sich noch oben im ›Grauen Bären‹ aufhalten, in Sicherheit bringen. Wohl ahne ich, wer der Rasende war, der am Tage der Entscheidung durch einen solchen Mord uns alle der größten Gefahr aussetzte; doch dürfen wir die Kameraden nicht verderben lassen, und dorthin wird sich die bis jetzt nur mühsam gedämmte Rache des Volkes zuerst Bahn brechen. Eilt also schnell hinauf und schickt mir alle, die man hier in Helena nicht kennt, augenblicklich herunter; Sander aber und Thorby und – noch einige andere, die ich dort vermute, mögen gleich den oberhalb liegenden und für sie bestimmten kleinen ChickenthiefChickenthief oder Hühnerdieb ist auf dem Mississippi, besonders an der Louisianaküste, der Name kleiner, schmaler Segelboote, die, ihrer Leichtigkeit und Schnelle vertrauend, wohl früher manchmal die Hühnerhöfe der Pflanzer geplündert haben mögen, und davon ihren Namen bekamen. benutzen und so rasch wie möglich mit der Strömung unterhalb Helena antreiben.«
»Was aber, zum Donnerwetter, habt Ihr vor?« fragte Porrel ärgerlich. »Tut doch nicht so verdammt geheimnisvoll und schießt einmal los! Wie kann ich denn sonst wissen, wie ich zu handeln habe?«
»Die Sache soll für Euch alle gar kein Geheimnis mehr sein«, entgegnete ihm der Führer. »Wollten wir jetzt in offenem Ansturm das Dampfboot, das gerade an der Landung liegt; nehmen, so würde uns natürlich die ganze Bevölkerung von Helena nicht daran hindern können; ich selbst verstehe ein Dampfboot zu führen, und der ›Van Buren‹ ist auch schnell genug, um jeder Verfolgung zu spotten.«
»Nun, weshalb greifen wir denn da nicht zu?« meinte Porrel. – »Wo böte sich eine bessere Gelegenheit?«
»Wir selbst wären vielleicht imstande, uns zu retten«, fuhr Dayton, den Einwurf nicht beachtend, fort, »dürften es aber gar nicht wagen, an der Insel zu halten. Das Land wär augenblicklich in Aufruhr, und Ihr wißt recht gut, daß bei dem jetzigen Wasserstande fast keine Stunde vergeht, in dem nicht Dampfboote hier vorbeikommen, die wir dann augenblicklich auf den Fersen hätten. Nicht allein unsere ganze mühsam aufgespeicherte Beute wäre in dem Falle verloren, nein, auch unser Leben fast mehr als gefährdet; wir müssen daher sichergehen.«
»Aber wie wäre das möglich?« fragte Porrel gespannt.
»Einfach genug«, sagte der Richter. »Die Existenz der Insel ist den Farmern verraten; wie ein Lauffeuer fliegt jetzt die ihnen fast noch fabelhaft scheinende Mär von Mund zu Mund. Leugnen können wir es nicht mehr und ebensowenig den Sturm aufhalten, der sich noch heute dort hinunterwälzen wird. Ein einziges Mittel gibt es nur, den Todesstreich, der unserem Haupte droht, nicht allein abzuwenden, sondern auch auf die Stirn des Feindes zurückzuführen. In wenigen Stunden werden wir Hunderte von berittenen Waldleuten hier in der Stadt sehen; dieser Cotton hat das ganz Land gegen uns in Aufruhr gebracht, und offenen Kampf in Helena dürfen wir nur als letzte Rettung wagen. Sie werden jetzt ungesäumt gegen die Insel aufbrechen wollen; bleiben wir zurück, so erregen wir nicht allein Verdacht, sondern teilen auch zugleich unsere Kräfte. Also müssen wir vereint mit den Feinden sie scheinbar begleiten und unterstützen. Einen Boten habe ich vor etwa einer Viertelstunde schon abgeschickt, der die Insulaner von unserem Plane in Kenntnis setzt. Wir selbst aber und alle kampfesfähigen Männer des Countys ziehen mit dem United-States-Paketboot gegen die Insel. In etwa zwei Stunden landet es hier auf seiner Fahrt von Memphis nach Napoleon und muß mir als Richter zu einem Zwecke, wo es die Sicherheit des ganzen Staates gilt, zu Diensten stehen. Meine wackeren Backwoodsmen würden auch gar nicht anstehen, den Kapitän zu zwingen, sollte der wirklich geneigt sein, Schwierigkeiten zu machen.«
Porrel nickte lächelnd mit dem Kopfe. »So dampfen wir rasch zur Insel hinunter«, fuhr Dayton, schon in der Begeisterung des Kampfes, freudig fort. »Dort ordne ich die Scharen; die Unseren unter die Farmer gemischt und in ihrem Rücken, bis wir das Fort in Sicht haben, hinter dem die Freunde lauernd des Zeichens harren. Langes Zögern dulden die Hinterwäldler nicht, in ihrem tollen Mute werden sie blind darauf losstürmen wollen. Dann aber brechen die Insulaner von allen Seiten hervor; wir fallen den überraschten Gegnern in die Flanke, und sehen sie sich in dem dichten Unterholz unserer Verhaue von denen angegriffen, die sie bis dahin als die Ihrigen betrachtet hatten, werden sie nicht einmal mehr wissen, gegen wen sie sich verteidigen, wen sie bekämpfen sollen. Haben wir dann gesiegt, und der Sieg muß unter diesen Umständen ein ganz leichter sein, dann schaffen wir unsere Schätze auf das dort liegende – auf unser Dampfboot, und fort fliegen wir mit wehender Flagge durch den Atchafalaya in den Golf von Mexiko.«
»Der Plan ist vortrefflich!« rief Porrel. »Die hitzköpfigen Hinterwäldler gehen unbedingt in die Falle; aber – weshalb haltet Ihr da noch Cook und den andern Bootsmann gefangen? Das wird böses Blut machen.«
»Sie hätten mir durch ihre Hitze den ganzen Plan verdorben«, sagte Dayton. »Eilt nur jetzt hinauf zum ›Grauen Bären‹, daß wir die Unseren früh genug zurückziehen, und nachher bleibt uns immer noch Zeit, die Gefangenen zu befreien, wenn das überhaupt nötig ist. Vielleicht sind wir sogar imstande aufzubrechen, ehe sie alle hier eintreffen; desto leichtere Arbeit haben wir dann. Auf jeden Fall müssen wir versuchen, einen von ihnen, den jungen James Lively, hierher zu bekommen, ehe er uns die ganze wilde Schar auf den Hals hetzt, und – vielleicht auch mehr sieht, als gerade nötig ist. – Er liegt in dem kleinen, dem ›Grauen Bären‹ fast gegenüber befindlichen Kieferndickicht versteckt, um von dort aus das ihm verdächtige Haus zu beobachten. Bringt ihn womöglich im guten mit her; geht aber das nicht – ei, dann auch mit Gewalt. Es ist derselbe, dessen Messer in dem Hause der Ermordeten gefunden wurde.«
»Gut!« sagte Porrel und rieb sich freudig die Hände. »Vortrefflich, da gibt's doch endlich einmal ein ordentliches Dreinschlagen, wo man nicht mehr süß und freundlich zu sein braucht. Tod und Teufel, das Leben hatte ich satt! – Nun weiß man doch, woran man ist, und braucht nicht mehr in steter Angst und Not zu leben. Also Good bye, meinen Auftrag richte ich aus, sorgt Ihr nur auch dafür, daß wir, wenn das Memphis-Paketboot kommt, die Unseren alle beisammen haben.« Rasch eilte er die Straße hinab, wo er bald ein paar seiner Freunde zu sich rief und mit ihnen um die Ecke der seitlich abzweigenden Gasse verschwand.
Der Squire schritt indessen langsam und sinnend der eigenen Wohnung zu.
»Wer war der Knabe, der da eben das Haus verließ?« fragte Squire Dayton, als er in seine Tür trat und nach einem jungen Burschen zurücksah, der jetzt flüchtigen Laufes die Straße hinabeilte. »Was wollte er, und von woher kommt er?«
»Gott weiß es, Massa«, sagte Nancy, die ihrem Herrn zugleich einen eben für ihn eingetroffenen Brief überreichte. – »Noch gar nicht so lange ist es her, da kam er herein, – ging zu Missus hinauf, blieb ein paar Augenblicke oben und wäre dann beinahe die Treppe wieder heruntergefallen. Unten setzte er sich auf die Stufen hin und weinte, als ob ihm das Herz brechen wollte. Weil ich mich vor ihm fürchtete, schickte ich den neuen Nigger zu ihm, den Massa gestern mitgebracht hat. Von dem wollte er aber gar nichts wissen, steckte den Kopf fest unter die Arme – er schämte sich wahrscheinlich, weil er weinte – und rührte und regte sich nicht. Erst als Bolivar wieder fort war, stand er auf, drückte sich den Hut fast bis in die Augen hinein und verließ rasch das Haus, – keine zwei Minuten, ehe Massa kam.«
»Sind die Damen oben?« fragte der Squire jetzt, ohne des fremden Burschen weiter zu gedenken.
»Miß Adele ist zu Mr. Smart gegangen«, erwiderte Nancy; »Missus ist aber oben. Soll ich –«
»Laß nur«, sagte der Squire und stieg langsam die Stufen hinauf; »sollte jemand kommen und nach mir fragen so mag er hier im Zimmer warten. – Ich bin gleich wieder unten.«
Der Friedensrichter Helenas, der blutige Piratenhäuptling des Mississippi, betrat das Gemach seines braven, unschuldigen Weibes, das keine Ahnung hatte, welche Verbrechen die Brust barg, die ihr Liebe vorgelogen und ihr reines Herz an sich zu fesseln gewußt hatte.
Das Zimmer war leer. – Hedwig saß während Adeles Abwesenheit oben am Bett der armen Marie. Dayton aber blieb an der Tür stehen und ließ die Augen sinnend in dem kleinen, friedlichen Raum umherschweifen, wo er alles, alles besaß, was ihn zum Glücklichsten der Menschen hätte machen können, alles, was das Herz eines braven, rechtlichen Mannes mit Stolz erfüllen mußte. Aber der Ehrgeiz hatte die scharfen, giftigen Krallen in seine von wilden Leidenschaften durchwühlte Brust gehauen, kalte Berechnung allein leitete seine Handlungen, und das Heiligste opferte er rücksichtslos dem eigenen Ich. Wohl gibt es Tausende wie ihn, Menschen mit eisernem Herzen, die ebenso kalt und entsetzlich in das Leben hineingreifen und alles andere rücksichtslos unter die Füße treten, wenn sie nur für sich jede Lust, jede Befriedigung ihrer Wünsche erlangen können; aber der kecke, tollkühne Mut fehlt ihnen, den der Piratenhäuptling in so entsetzlichem Maße besaß. Sie strecken die spitzigen, behandschuhten Finger vorsichtig aus, daß sie nirgends anstoßen, und nur dann, wenn sie sich vollkommen unbeachtet wissen, zeigen sie sich in ihrer wahren Gestalt. Und die Welt ehrt sie; das Gesetz schützt sie; denn es ist ihm gegen sie ja nichts bekannt geworden. Dennoch fluchen ihnen zahllose Unglückliche, die sie elend gemacht haben; die Verwünschungen der Witwen und Waisen heften sich an ihre Sohlen, und Schätze und Reichtümer, in verzweiflungsvoller Stunde an fromme Stiftungen hinausgeschleudert, können nicht die feige Angst der letzten Augenblicke betäuben.
Anders war es mit dem Führer jener gesetzlosen Schar; seine Rechnung mit dieser Welt hatte er abgeschlossen und ruhig und fest sein Fazit gezogen. Er scheute weder den Tod, noch achtete er das Leben. Deshalb aber war er gerade so entsetzlich, so fürchterlich gewesen; denn die Gesetze der Menschen konnten ihn nicht mehr schrecken, Glaube und Schwur an das Heiligste ihn nicht mehr binden. Fest und bestimmt ging er seine verbrecherische Bahn, und wie auf dem Brett die Schachfiguren, so stellte und benutzte er die Menschen zu seinen Zwecken und Plänen, – nur dann um sie besorgt, wenn ihr Verlust ihm selber schaden konnte.
Und jetzt, als er so dastand und wilde Szenen des Bluts und Entsetzens vor seinem inneren Auge vorüberglitten, schweiften seine Blicke, im Anfang fast unbewußt, über den kleinen freundlichen Raum hin, der ihn umschlossen hielt. Mehr und mehr aber hafteten sie an den einzelnen Gegenständen; die Gegenwart erzwang sich den Eintritt in sein Herz, und zum ersten Male vielleicht seit langer Zeit durchzuckte ihn ein Gedanke an das, was er sein könnte, an das, was er war. Hier – hier wohnten Liebe und Treue; hier schlug ein Herz für ihn, das ihm mit freudigem Lächeln in Not und Elend gefolgt wäre; hier atmete ein Wesen, das nur in ihm seine Seligkeit kannte. Und er –?
Die Sonne schien warm und freundlich in das trauliche Gemach; sie hatte die finsteren Nebelschatten überwunden und spielte jetzt in funkelnder Luft mit den Staubkörnchen, die der Schritt des finsteren Mannes aufgeregt hatte, legte sich über die bunten Farben des Teppichs hin, dem sie noch weit höheren Glanz verlieh, und drang wie ein neugieriges Kind in alle Winkel und Ecken. Dort aber, an dem einen Fenster, wo sich ihre Strahlen erst sanft und leise durch blühende Myrten- und Rosenstöcke stahlen, die Orangenblüte küßten und die sanfte Vanille und einen purpurnen Schein um die blauroten Glocken der prachtvollen Fuchsie zogen, da ruhten sie auch noch um so friedlicher und lieber auf dem freundlichen Plätzchen der Herrin vom Hause: auf dem weichgepolsterten Stuhl und dem kleinen zierlichen Mahagoni-Nähtisch, auf den Strick- und Arbeitskörbchen und dem kleinen eingespannten Stickrahmen. Selbst nach der zierlichen Fußbank blinzelte ein etwas gar zu geschäftiger Strahl hinab, und von Blumen und grünem Laub umgeben, auf dem noch die klaren Perlen des Frühtaues blitzten und funkelten, lag ein Zauber über dem Ganzen, der nicht beschrieben, der nur gefühlt und empfunden werden konnte. Und in diesem Kreise häuslicher Glückseligkeit und Ruhe stand die dunkle, ernste Gestalt des Mannes, der ihn zum Paradies hätte schaffen können, wie der vernichtende, starre Todesengel, die Faust schon zum letzten fürchterlichen Schlage erhoben. Sein Auge aber, das immer wilder und ängstlicher den Raum überflog, haftete endlich fast unwillkürlich an dem Bild seines Weibes, das neben dem seinen dort drüben hing. Das waren die sanften Engelszüge des holden Angesichts, die mit freundlichem Lächeln zu ihm herüberblickten; das war das treue, dunkle Auge, das ihm damals Liebe – Liebe, wie sie nur das Weib gewähren kann, geschworen, und ihren Schwur nie – noch nicht durch Gedanken oder Wort gebrochen hatte. –
Und er?
Starr und regungslos stand er dort, seine Hände hatten sich krampfhaft geballt, und alles um ihn her schien sich plötzlich im tollen, wirren Kreise mit ihm zu drehen. Da rang sich das Herz noch einmal frei, einmal noch tauchte es auf aus Sünde und Verbrechen; die Zeit kehrte vor sein inneres Auge zurück, wo er zuerst die holde, züchtige Jungfrau gesehen und um sie geworben hatte. Was hatte er ihr damals gelobt, welche Schwüre hatte er der hold Errötenden in das Ohr geflüstert! Und jetzt – jetzt? War er nicht hierhergekommen, um diesen Raum auf immer zu meiden? War er nicht hierhergekommen, um die zu verlassen, die kein Glück weiter kannte als das, was sie an seiner Seite, in seiner Liebe fand? Wollte er nicht mit roher Hand das Band zerreißen, das in dem Herzen seiner Gattin die festen, unzerreißbaren Wurzeln geschlagen hatte? Der Gedanke an alles, was sie ihm bisher gewesen, so lange und gewaltsam zurückgehalten, stürmte da mit ganzer vernichtender Kraft auf ihn ein.
»Hedwig – Hedwig!« stöhnte er.
Da vernahm er auf der Treppe leichte Schritte. – Sie war es selbst, und kräftig zwang er den Schmerz hinein in sein altes Bett. – Die Züge nahmen wieder ihren starren Ernst an, nur die Augen lagen noch hohl und glanzlos in ihren Höhlen, und seine Wangen waren bleich und gefurcht.
»Georg!« rief die junge, schöne Frau, als sie in die Tür trat und freudig erstaunt den ferngeglaubten Gatten erkannte. »Georg, Gott sei gedankt, daß du wieder bei mir bist! Ach, Georg, ich kann dir gar nicht sagen, wie beengt mir das Herz war, als du heute fortgingst.«
»Närrisches Kind«, sagte der Squire, und ein mattes Lächeln zuckte um seine Lippen, »mußt dir nicht unnötige Sorge um mich machen; es gibt Leid genug in der Welt; – wir sollten es nicht bei den Haaren herbeiziehen.«
»Tue ich denn das?« flüsterte Hedwig bittend. – »Sieh nur einmal, Georg, sieh nur, wie bleich und angegriffen du aussiehst! – Habe ich da nicht Ursache, besorgt zu sein?«
Sie zog.ihn mit leiser Hand vor den breiten Spiegel, der zwischen den beiden Fenstern befestigt war, und Daytons Blick fiel auf das Glas; rasch aber wandte er sich ab; – sein eigenes Antlitz neben dem ihren, der Gegensatz war zu fürchterlich. Da waren rasche Hufschläge auf der Straße zu hören. Mrs. Dayton wandte sich unwillkürlich dorthin, und beide riefen im gleichen Moment überrascht aus: »Adele!«
Und wahrhaftig hatten sie Ursache, erstaunt zu sein; denn auf schnaubendem Rappen, das Köpfchen gegen den scharfen Luftzug niedergebogen, den Sonnenbonnet mit der Linken haltend, während sie mit der Rechten die Zügel des feurigen Tieres regierte, flog Adele in sausendem Galopp vorbei, und kaum war der Ruf ihren Lippen entflohen, so verschwand auch schon die wilde Reiterin um die nächste, dem oberen Teil des Flußufers zuführende Ecke.
»Nun sieh einer das tolle Mädchen an!« sagte endlich Mrs. Dayton, während der Squire im ersten Augenblick einen raschen, fast unwillkürlichen Schritt nach der Tür getan hatte, als ob er sie zurückhalten wollte, jetzt aber wieder langsam zum Fenster trat. »Kein Pferd ist ihr zu wild und unbändig, sie muß es besteigen. Was sie nur wieder vorhaben mag? Sie wird es so lange treiben, bis sie einmal wirklich Schaden nimmt.«
Der Richter blickte sinnend der Richtung nach, welche die Reiterin genommen hatte. Was wollte Adele dort? Weshalb trieb sie ihr Pferd zu so wilder, entsetzlicher Eile an? War etwas vorgefallen, das ihn selbst bedrohte?
»Dayton!« rief seine Frau, die sich jetzt gegen ihn umwandte. –
»Du siehst totenbleich aus; fehlt dir etwas?«
»Mir?« sagte der Squire und bog sich mit einem krankhaft gezwungenen Lächeln zu ihr nieder. »Mir? Was soll mir fehlen, du wunderliches Kind? Nur den Kopf habe ich voll von all dem Lärm und Treiben dieser guten Stadt. – Mir wird dieses wilde, ruhelose Leben nachgerade verhaßt.«
»Ach, Georg!« flüsterte die junge Frau und schmiegte sich leise an den Gatten an. »Wie oft ist es lange, lange Nächte hindurch, die du fern von mir weilen mußtest, mein heißer, inniger Wunsch gewesen, daß du dieses Leben wirklich verlassen möchtest. Sieh, du bist hier geachtet und geehrt, bist der Erste in dieser Stadt, und ich kann begreifen, daß der Ehrgeiz einen Teil an dem Herzen des Mannes haben muß, wie er dem des Weibes fremd sein sollte; aber deine Gesundheit leidet, deine Kräfte reiben sich auf; Ärger und mühevolle Arbeiten und Pflichten rauben dir jede Ruhe und halten nächtelang den Schlaf von deinen Augen. Ach, wenn du dich losreißen könntest von all diesem Schaffen und Treiben, wenn dir das Herz deines Weibes genügte, das nur durch dich, nur in dir seine Seligkeit findet!« Sie barg das Haupt an seiner Brust, und viele Sekunden lang hielt er sie fest, fest umschlungen; aber ein anderes, wunderbares Gefühl überkam ihn. Seine Züge verloren das Finstere und Starre; seine Blicke hafteten sinnend mit einem neuen, belebenden Glanze auf dem liebend an ihn geschmiegten Haupte seines Weibes; seine Hand, die ihre schlanke Gestalt umschloß, zitterte, und bunte, freudige Bilder waren es, die plötzlich in seiner Seele vorüberglitten. Dort in weiter Ferne, auf einsam gelegener, meerumtoster Insel, unter Palmen und Blütenhainen erstand eine Hütte. Milde Lüfte fachelten seine Wangen; an seiner Seite ruhte sein treues Weib, und der Ozean wälzte sich zwischen ihm und seinen Verbrechen; die mächtige Flut wusch und tilgte die Vergangenheit. Und die Gegenwart? Ein Eden erstand ihm in jedem neuen sonnigen Tage. Noch war es Zeit, – noch war der letzte entscheidende Schritt nicht geschehen, noch hatte ihn das Verderben nicht ganz in die ehernen Arme geschlossen.
Er bog sich nieder zu ihr: seine Lippen preßten sich fest und innig an ihre reine Stirn, und dort – ha! War das eine Träne die dem Auge des finsteren Mannes einen so herrlichen Glanz verlieh? War es eine Träne der Reue, die ihn noch durch den Kuß der Peri mit dem Himmel verband?
»Hedwig!« flüsterte er, und sein Arm zog sie inniger an sich. Da läutete draußen die erste Glocke des ›Van Buren‹. – Das Boot rüstete sich zur Abfahrt. – In kaum einer Viertelstunde verließ es den Landungsplatz. In wenigen Tagen konnte er in Louisville sein, und floh er von dort aus unter fremdem Namen nach irgendeinem der östlichen Hafenplätze, so war es unmöglich, ihn zu verfolgen. – Der nächste Monat schon sah ihn frei, auf offenem Meere; Tod und Verderben lagen hinter ihm; – er war gerettet!
»Hedwig«, flüsterte er, und die Erregung dieser neuen, mächtigen Gefühle drohte fast, ihn zu ersticken; seine Lippen zitterten, als sie die flüsternden Worte sprachen. – »Hedwig, ich bin deiner unwert, ein Sünder bin ich, den du reiner Engel zu dir emporziehen solltest; – aber ich muß fort – fort von hier, oder ich bin verloren, – für immer und ewig verloren. Doch jetzt, jetzt ist es noch Zeit, – noch ist Rettung möglich. – Hörst du den Laut jener Glocke? Nur Minuten noch, und das stolze Boot, das sie trägt, braust in gewaltiger Kraft dem Norden zu. Jetzt – jetzt ist es mir noch möglich, mich loszureißen von allem, was mich bindet; – in der nächsten Stunde wäre es vielleicht zu spät. – Willst du mich retten, Hedwig, retten vor mir selbst und aus diesem Gewirr, das mich zu erdrücken droht?«
»Du willst fort, Georg?« rief sein Weib und blickte erstaunt zu ihm empor. »Wir wollen alles verlassen, ohne Abschied hier von allen scheiden, die uns lieben?«
»Alles, – alles mußt du verlassen, wenn du mich liebst, wenn du mich retten willst«, drängte ihr Gatte; »an deinen Lippen hängt jetzt mein Geschick; Tod oder Leben bindet sich an ihren Spruch. – Hedwig, du ahnst nicht, wie glücklich, – wie elend du mich mit wenigen Worten machen kannst.«
»Und Adele?« fragte Mrs. Dayton, schon halb besiegt.
»Bleibt hier. – Ihr mag das Haus gehören und alles, was wir zurücklassen. Ich habe genug für uns und führe dich dem Überflusse entgegen.«
»Aber jetzt, Georg? Wie soll ich alles packen und besorgen, was nur du lieber Gott, es ist ja gar nicht möglich, ich brauchte wenigstens acht Tage, ehe ich daran denken könnte.«
»Hedwig, willst du mir folgen?« rief der Mann, und seine Stimme, sein ganzer Körper zitterten vor wilder, innerer Bewegung. »Noch kannst du mich der Liebe, dem Leben erhalten. – Ja, Hedwig, mein Leben vielleicht hängt an dem Ausspruch deines Mundes, – meine und deine Seligkeit. Willst du mir folgen, oder mich mit dem Verderben im Herzen allein in die kalte Welt hinausstoßen?«
»Georg!« rief Mrs. Dayton erschreckt, und ihr Blick haftete angstvoll an dem des Geliebten. »Georg, um Gottes willen, was redest du da für Worte? Dich allein hinausstoßen? Heiliger Gott, wenn du mich lieb hast, sprich! – Was ist geschehen?«
»Ich muß fort«, flüsterte der Richter, und sein Blick wandte sich erschüttert von ihr ab; – »die fürchterlichste Gefahr schwebt über meinem Haupte. – Du, du allein kannst mich jetzt noch retten. – Willst du mir folgen, Hedwig!« –
»In den Tod, Georg! – Wohin du mich führst!« – rief sie aus und warf sich an seine Brust. »In Mangel und Elend! Nur nicht – nur nicht getrennt von dir!«
Lange Minuten hielten sie sich so fest umschlungen, dann richtete sich der Squire langsam auf und flüsterte, ihre Stirn noch leise mit einem Kuß berührend: »Dank, Geliebte, Dank, innigen Dank! – Aber jetzt eile dich auch, mein süßes Kind; das wenige, das du mitnehmen mußt, kann bald geordnet sein. Ich selbst schicke Bolivar voraus und lasse den Kapitän des ›Van Buren‹ bitten, noch einige Minuten auf uns zu warten. Cäsar und Nancy mögen inzwischen hinabtragen, was du ihnen gibst, und die nächste Stunde finde uns fern von hier, neuem Leben, neuer Freiheit entgegeneilend.«
Er trat jetzt rasch an seinen Sekretär, aus dem er mehrere fest versiegelte Briefe und Pakete nahm, die er in den nicht weit entfernten Kamin warf. – »So«, sagte er, »diese Papiere mag die Glut zerstören, und hiermit reiße ich mich von der Vergangenheit los. Diese Brieftasche bewahre du mir; sie enthält, was ich an eigenem Vermögen mein nennen kann. Jetzt muß ich dich für wenige Minuten verlassen; noch bleiben Anordnungen zu treffen, die ich nicht versäumen darf. Du aber, meine Liebe, rüste dich schnell und bald! In kurzer Zeit kehre ich zu dir zurück, um mich nie wieder von dir zu trennen.«
Noch einen Kuß drückte er auf ihre Lippen, schob sie dann leise von sich und verließ rasch das Zimmer, während Hedwig sich kaum einreden konnte, daß sie wache, und das Ganze sei nicht ein wilder, wirrer Traum gewesen. Dennoch packte sie die wenigen Gegenstände, die sie auf einer nur etwas ausgedehnten Reise brauchte, in einen kleinen Koffer, und dann schrieb sie mit tränenumdunkelten Augen den kurzen Abschiedsgruß an die Schwester. Mit ängstlich klopfendem Herzen harrte sie jetzt der Rückkehr des Gatten, um Helena und alles, was ihr sonst noch hier lieb geworden war, für immer zu verlassen.
Der fremde Neger verließ inzwischen, ein kleines wohlverschlossenes Mahagonikästchen unter dem Arm tragend, das Haus und schritt dem Dampfboote zu, auf dem die zweite Glocke das Signal zur baldigen Abfahrt läutete.