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Die Betsy Crow hatte noch nicht viel Ladung ein und lag deshalb verhältnismäßig hoch aus dem Wasser. George fand dabei die Strömung der Flut viel stärker, als er erwartet hatte, und ziemlich stark leuchtete dazu das Meer, wie er schon von oben an den Stellen, wo das Wasser erregt wurde – wenn z. B. die Ruder eines Bootes hineinschlugen – bemerken konnte. Schwamm er also jetzt gleich vom Schiffe ab, so mußte er die Aufmerksamkeit ein oder des anderen der an Deck befindlichen Leute erregen, und war dann selbstverständlich der Gefahr ausgesetzt, wieder eingefangen zu werden. Das beste war also, sich unmittelbar am Fahrzeug hin mit der Strömung hinabtreiben zu lassen und nur noch den Kopf über Wasser zu halten. Das ging auch rascher, als er selbst geglaubt, denn die Flut setzte außerordentlich stark ein, und nur erst jetzt, als er frei vom Schiff kam, ließ er sich langsam untersinken und trieb nun unter Wasser fort, solange er möglicherweise den Atem anhalten konnte. Jetzt aber konnte es nichts weiter helfen, Luft mußte er wieder haben, und nur noch immer vorsichtig und langsam ausgreifend hob er sich an die Oberfläche, aber so, daß er auf den Rücken zu liegen kam und nur noch das Gesicht frei hatte, und fing erst an ordentlich auszustreichen, als er die volle Überzeugung gewann, daß er vom Schiff aus nicht mehr zu erkennen war.
An Bord der Betsy Crow blieb indessen alles ruhig – man konnte ihn auch nicht sogleich vermißt haben, und war es dabei denkbar, daß ein Mann es wagen würde, aus solcher Entfernung schwimmend das Land zu erreichen? Übrigens mußte er jetzt auch die anderen Schiffe vermeiden, denn von wo aus er auch entdeckt wäre, durfte er sich fest darauf verlassen, daß man ein Boot nach ihm abgeschickt hätte: die Kapitäne stehen da einander bei. Er wurde dann entweder an Bord gehalten oder an die Polizei am Land abgeliefert – eines so schlimm wie das andere, wo er nicht imstande war, auch nur den geringsten Beweis zu liefern, wie nichtswürdig und ungesetzlich man an ihm gehandelt.
Aber wie weit lag das Land vor ihm, das er von Bord aus so nah geglaubt! – doch zum Glück trug ihn die Flut, selbst wenn er sich manchmal auf den Rücken legte, um auszuruhen, näher und näher hinan, und jetzt hatte er auch die letzten Schiffe passiert, die dort ankerten, und sah einen langen dunkeln Verbau vor sich – eines der Holzwerfte, die vor dem Hafen aufgebaut sind.
An Haifische dachte er gar nicht mehr, und in je seichteres Wasser er kam, desto weniger hatte er auch von ihnen zu fürchten; aber nicht wagen durfte er, an einem der ausgebauten Werfte zu landen. Möglicherweise traf er ja dort Polizei, und das mußte er vermeiden, denn unrettbar hätten sie ihn über Nacht in Gewahrsam gehalten, und daß er dann von seinem Schiff noch vor Tagesanbruch reklamiert wurde, darauf konnte er sich verlassen. Er hielt deshalb mehr rechts hinüber, wo die Lichter aus der Stadt seltener herüber leuchteten. Aber wie schwer ihm das Schwimmen jetzt schon wurde! Seine Kleider hatten sich lange voll Wasser gesogen, und wenn er das auch anfangs nicht gefühlt, je mehr seine Kräfte nachließen, desto schwerer schien die Last zu werden, die er trug, und schon zerflossen die aus den Häusern herüberflimmernden Lichter zu tausend und tausend farbigen Sternen, die durch ihr Herüber- und Hinüberzucken seinen Kopf wirbeln machten. Dabei fing ihn an zu frieren; die Zähne schlugen ihm im Munde zusammen; er sah kaum mehr, wohin er schwamm, und hielt sich nur noch oben über Wasser, während ihn die Flut dem Land entgegentrieb. Zuletzt vermochte er auch das nicht mehr – »Jenny!« hauchte er und das Wasser gurgelte in seinem Munde – er raffte seine letzten Kräfte zusammen – er mußte ja das Land schon fast erreicht haben, aber er fühlte, wie er mehr und mehr sank. – Schon konnte er den Kopf nicht mehr über Wasser halten und nur noch manchmal, indem er sich gewaltsam emporschnellte, Atem schöpfen. – Jetzt ließ auch das nach, und mit dem Gedanken »Vorbei – alles vorbei –« wollte er sich eben seinem Schicksal überlassen, als er etwas Hartes unter den Füßen fühlte. Das Bewußtsein war ihm fast geschwunden, aber instinktartig raffte er sich noch einmal empor – das Harte trug ihn – er stand aufrecht, und wie er den Kopf hob, fühlte er, daß er atmen konnte. Wie neue Lebenskraft zuckte ihm das durch die Adern – seine über das äußerste angespannten Sehnen konnten ruhen – seine Lungen füllten sich wieder mit Luft, und wie er jetzt, von der Flut dabei geschoben, vorwärts schritt, erkannte er auch aus kaum dreißig Schritte Entfernung das feste dunkle Land, den sandigen Strand, dem er entgegeneilte. Aber auch dort standen noch einzelne Häuser, und wieder bog er noch mehr rechts ab, in das Dunkel hinein. Er fühlte, wie er aus dem Wasser trat, daß ihm die Kleider so schwer wie Blei am Leibe hingen – mit den zitternden Knien vermochte er kaum das Gewicht zu tragen, aber er wußte auch, daß die Flut noch mehr steigen würde – fort von der drängte er, bis er niedere, abgebröckelte Lehmbänke erreichte, die den Fuß der Küstenkette zu bilden schienen. – Aber jetzt konnte er auch nicht mehr weiter – mechanisch bewegte er wohl noch wenige Schritte die Füße vorwärts, um so weiten Raum als möglich von dem Meer zu gewinnen – seine Kräfte waren erschöpft und ohnmächtig brach er, wo er stand, zusammen.
Wie viele Stunden er so gelegen, wußte er nicht, aber der Frost in den nassen Kleidern und der kühlen Nachtluft brachte ihn wieder zu sich selber, und durch die Ruhe gestärkt, wie mit der Erinnerung an das Vergangene, ja dem Bewußtsein der Gefahr, in der er sich selbst noch hier befand, sprang er empor. Am Strand durfte er nicht bleiben, er zog sich mehr in die Hügel hinein, und erst dort suchte er sich in etwas von dem in seinen Kleidern steckenden Wasser zu befreien. Er warf sie ab, rang sie alle sorgfältig aus, zog dann die Schuhe, die er sich an Bord in den Gürtel geschoben, an und eilte nun ohne weiteres und ohne Ziel, als nur von der See fortzukommen, in das innere Land hinein.
Insofern hatte er jetzt ein leidliches Marschieren, als der Mond aufgegangen war und er bald einen Fahrweg traf, der in nordöstlicher Richtung von der Stadt abzulaufen schien. Diesem folgte er, bis der Tag im Osten graute, dann hielt er sich aber auch dort nicht mehr für sicher und schlug sich wieder links vom Wege ab in die Hügel, bis er endlich gegen Mittag eine einzelne Estancia antraf und etwas zu essen bekommen konnte, denn der Körper verlangte endlich sein Recht. Ein Chilene wohnte dort, dem er sich aber nicht verständlich machen konnte. Deutsch hatte er wohl etwas in der Schule in Neuyork gelernt, aber mit dem Spanischen wollte es nicht gehen. Daß er aber etwas zu essen verlangte, machte er den Leuten doch begreiflich, und wie herzlich und gastlich nahmen sie ihn auf. Besonders mundete ihm dabei und stärkte ihn der vortreffliche Wein des Landes, und als er beim Abschied in die Tasche griff und durch Zeichen frug, was er schuldig sei, wurden die Leute ordentlich böse, daß ein Fremder ihnen eine Mahlzeit bezahlen wolle. Sie nötigten ihn auch, noch bei ihnen zu bleiben und wenigstens den Tag da zu verbringen, um am andern Morgen seinen Weg fortzusetzen; aber es litt ihn nicht länger. Er wagte nicht einmal, in dem Hause den Weg nach Concepcion zu erfragen, aus Furcht, daß man ihm nachforschen und dann folgen könne, und bog, wie er sich nur aus Sicht des Hauses befand, vom Wege ab, um ganz unbelästigt die einmal nach Norden zu genommene Richtung beizubehalten.
So wanderte er zwei Tage, bis er die Gewißheit auf einer deutschen Estancia bekam, daß er den Hafen von Concepcion schon umgangen habe, und dort, wo er sich nach allen Verhältnissen genau erkundigen konnte und außer Verkehr mit der übrigen Welt war, faßte er seinen nächsten Plan.
In Concepcion gab es, wie ihm die Deutschen sagten, keinen amerikanischen Konsul, der wohnte in Valparaiso. Dorthin ging aber allmonatlich ein Dampfer ab, und auch kleine Segelschiffe boten oft Gelegenheit, dorthin zu gelangen. Der Dampfer langte hier jedesmal Ende des Monats an und war in etwa zehn Tagen fällig; er gehörte auch einer englischen Kompagnie – also einmal erst an Bord, brauchte er nicht zu fürchten, daß er einem amerikanischen Walfischfänger ausgeliefert wurde. Hatte er aber Valparaiso erreicht, so befand er sich unter dem Schutz seines Konsuls dort so sicher wie in Neuyork. Von da an nahm ihn der gewöhnliche Dampfer dann rasch nach Panama, und jeden Tag fast fand er von Aspinwall aus Gelegenheit, nach einem oder dem anderen Hafen der Vereinigten Staaten seinen Weg fortzusetzen.
George hätte sich nun hier die Zeit, die noch an der Abfahrt des Dampfers fehlte, wohl und behaglich fühlen können, denn Verrat brauchte er von da ab nicht zu fürchten und in dem Hause selber war er wie ein Sohn, nicht wie ein Fremder aufgenommen, aber bleich und in sich gekehrt schlich er umher, und wie die Ahnung eines nahenden Unheils hielt ein tiefer Trübsinn sein Herz in Banden. Er aß fast gar nichts, sprach nur, wenn er gefragt wurde, und glich eher einem eben erst von schwerer Krankheit erstandenen, als aus schmachvoller Gefangenschaft geretteten und freien Menschen. Und trotzdem hatten ihn alle lieb, denn in seinen jugendlichen, offenen, wenn auch jetzt schmerzbewegten Zügen lag etwas Grundehrliches, Edles, und gar so gut begegneten die großen, dunklen Augen jedem Blicke dessen, mit dem er gerade sprach.
Die Frauen im Hause – die Frau des Farmers und dessen beide erwachsenen Töchter – hatten dabei ganz besonders Partei für ihn genommen, denn daß ihn ein geheimer Liebeskummer drücke, darüber waren sie schon lange miteinander einig. Wie gern auch hätten sie des näheren darüber erfahren und ihm dann geraten und ihn getröstet, aber alle teilnehmenden Worte oder Anspielungen prallten wirkungslos an ihm ab. George blieb verschlossen und in sich gekehrt, und die Wehmut, die auf seinem Antlitze lag, blieb dieselbe. Nur mit den kleineren Kindern im Hause unterhielt er sich gern, trug das jüngste sogar oft im Garten umher, suchte mit ihm Blumen im Wald und war dabei so freundlich mit allen.
So lieb hatten sie ihn dabei gewonnen, daß der weibliche Teil der Familie, wie die Kinder, fast in Tränen zerflossen, als der Tag der Abreise endlich heranrückte. An Bezahlung für das Genossene war ebenfalls wieder kein Gedanke – wie er nur so etwas fragen konnte – und als er sich endlich ihre Adresse aufschrieb, meinte die eine Tochter, sie brauchten seinen Namen gar nicht niederzuschreiben – sie würden ihn immer im Gedächtnis behalten.
In Concepcion, das nur etwa drei Stunden entfernt lag, traf er auch eben zur rechten Zeit ein, denn wie er dort anlangte, kam schon der erwartete Dampfer von Süden her in Sicht. Er behielt etwa noch eine Stunde in der kleinen Stadt, um einige notwendige Einkäufe zu machen – etwas Wäsche hatte er sich schon in einem der unterwegs getroffenen Läden erstanden, und da er sich seinen Bart abrasiert und einen andern Hut gekauft hatte, brauchte er auch nicht zu fürchten, von jemandem erkannt zu werden, selbst wenn der Kapitän der Betsy Crow sogar bis hierher Leute beordert hätte, um auf ihn zu fahnden.
Übrigens ging er außerdem gleich in die Kajüte, wo man ihn in keinem Fall gesucht haben würde, und erst als der Dampfer, der sich nur etwa zwei Stunden in Concepcion aufhielt, wieder unterwegs war, suchte er den Purser oder Sekretär des Bootes auf, um diesem seinen Brillantring als Pfand für die in Valparaiso zu zahlende Passage in Versatz zu geben – war ihm doch nicht mehr Geld genug dafür übrig geblieben.
Jetzt erst fühlte er sich wirklich gerettet und jeder noch bis dahin möglichen Verfolgung enthoben. Er war frei wie der Vogel in der Luft – aber trotzdem kam kein Lächeln auf seine Lippen. Sein ganzer Jugendmut – so wacker er bis dahin gegen Schicksal und Gefahren angekämpft, schien gebrochen, und selbst als sie nach ziemlich rascher und glücklicher Fahrt Valparaiso endlich erreichten, verließ er allein, ohne mit irgend jemand an Bord verkehrt zu haben, in einem der kleinen Boote den Dampfer und schritt dann, von einem der ihm begegnenden zahlreichen Fremden das beste Hotel erfragend, in die Stadt hinein.