Arthur Graf Gobineau
Asiatische Novellen
Arthur Graf Gobineau

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Der große Zauberer

Derwisch Bagher erzählte eines Tages die folgende Geschichte, nach dem Zeugnisse Abdy-Khans, welcher sie selbst von Lutfullah-Hindy gehört hatte, der sie von Riza-Bey aus Kirmanschah hatte, und dies sind alle ganz bekannte Leute, deren Wahrheitsliebe über jedem Verdacht steht.

Vor wenigen Jahren lebte zu Damghan ein junger Mann mit Namen Mirza-Kassem. Er war ein vortrefflicher Muselmann. Seit kurzem verheiratet, vertrug er sich gut mit seiner reizenden Frau. Er trank weder Wein noch Branntwein, so daß die Nachbarschaft aus der Gegend, wo er wohnte, niemals Lärmen zu hören bekam; beiläufig bemerkt, ein Umstand, welcher bei Völkern, die vom Lichte des Islam erleuchtet sind, gewöhnlicher sein sollte; aber Gott ordnet die Dinge an, wie es ihm gefällt! Mirza-Kassem prahlte in keiner Weise mit Luxus und übertriebenem Aufwand; er verzehrte auf eine durchaus schickliche Weise eine Rente aus den Erträgen zweier Dörfer und das Einkommen aus einer ziemlich beträchtlichen Geldsumme, die er ehrbaren Kaufleuten anvertraut hatte. Er betrieb kein Gewerbe; und da er keinen Ehrgeiz besaß und nicht danach frug, ein berühmter Mann zu werden, so hatte er es standhaft abgelehnt, in Dienst zu treten. Nicht als ob sein bekannter guter Charakter ihm nicht zu wiederholten Malen die verführerischsten Anträge eingebracht hätte.

Indem er nun so darauf verzichtet hatte, Premierminister zu werden, und ein Mann sich doch beschäftigen muß, hatte er eine gewisse Liebhaberei für geistige Dinge in sich erwachen gefühlt. In seiner Jugend, nachdem er die Schule verlassen, hatte er Theologie studiert, in dem schönen neuen Kaschaner Kolleg, wo er unter prächtigem Laubwerk die gelehrten Vorlesungen von Professoren, die nicht ohne Verdienst waren, gehört und in seinen Heften genug verschiedene Meinungen der besten Ausleger der Heiligen Schrift eingesammelt hatte. Auch die Jurisprudenz hatte ihn einen Augenblick angezogen; aber diese verschiedenen Kenntnisse, so ehrwürdig sie ihm auch erscheinen mochten, sprachen doch nicht sonderlich zu seiner Einbildungskraft; so daß er, nachdem er an Fragen wie diese hier: existiert der Imam Mehdy in der Welt mit oder ohne Selbstbewußtsein? nur mäßig sich vergnügt, allmählich sich von diesen Wonnen der Betrachtung zurückgezogen hatte und in einen ziemlich traurigen Müßiggang zu verfallen drohte, als der Zufall ihn mit einem Manne in Verbindung brachte, welcher einen entscheidenden Einfluß auf ihn ausübte.

Es war an einem Abend in Ramazan. Unglücklicherweise halten die Gläubigen selten ganz streng das in dieser geheiligten Zeit vom Gesetze gebotene Fasten ein. Indessen gibt es – man muß das auch zugeben – fast niemand, der nicht Wert darauf legte, in dem Rufe zu stehen, als täte er's, und so wird wenigstens der Schein gewahrt. So sind es denn gerade die gewissenlosen Menschen, welche zur gewöhnlichen Frühstücksstunde ganz gemächlich in einem Winkel ihr Reisgericht verzehrt haben, die, wenn der Abend kommt, am eifrigsten über den Hunger, der sie nicht plagt, über die Schwäche, die sie nicht befällt, Klage führen und mit dem flehentlichsten Geschrei den Sonnenuntergang herbeirufen. Man muß Gott und seinem Propheten danken, daß einem in der heiligen Festzeit dies erbauliche Schauspiel in allen Städten Irans im Überflusse verschafft wird.

Eines Abends also saßen Mirza-Kassem und ein Dutzend seiner Freunde mit untergeschlagenen Beinen am Stadttor vor dem Korbe eines Melonenhändlers und warteten auf den Augenblick, wo die Sonnenscheibe, die sich bereits dem äußersten Rande des Horizontes näherte, ihnen das Vergnügen machen würde zu verschwinden. Zum mindesten die Hälfte dieser pünktlichen und gewissenhaften Leute, deren blühendes Gesicht nicht von harter Lebensweise kündete, hielten den Kalian wohl angezündet in der Hand und warteten nur auf das Versinken des Gestirns in der beginnenden Dämmerung, um die Spitze des Rohres in den Mund zu schieben und sich in ein Gewölk von Dampf zu hüllen.

– So geh doch hinab! geh doch hinab! brummte der dicke Ghulam-Ali mit mürrischem Tone, indem er das geliebte Gerät um eines Zolles Breite an seine Lippen drückte; geh doch hinab, Sonne, Hundesproß, und dein Vater soll brennen, um des Leidens willen, das du uns verlängerst!

– O! Hassan! o! Hussein! heilige Imams! Ich schwöre, daß die Sonne bereits seit einer guten Stunde verschwunden ist, rief Kuli-Ali, der Tuchmacher, kläglich; ich weiß nicht, was wir für Blinde sind, daß wir nicht sehen, daß es Nacht ist!

Wenn es Nacht gewesen wäre, wie dieser gute Muselmann versicherte, so war es noch reichlich hell genug, um das zu merken. Aber sein Wink hatte keinen Erfolg.

Mirza-Kassem seinerseits war geduldig und sagte nichts. Nur betrachtete er mit einigem Wohlgefallen zwei harte Eier, welche vor ihm lagen, als plötzlich die Geschütze von der Citadelle sich vernehmen ließen. Nunmehr war es offiziell, daß die Sonne verschwunden war; alle Kalians fingen daher zugleich an zu dampfen, die Bude mit Melonen, harten Eiern und Gurken wurde augenblicklich geplündert; während dieser Zeit füllten die Teeverkäufer ihre Gläser mit dem kochend heißen Getränk; die Menge bemächtigte sich derselben mit Ungestüm; die Gläser wurden leer und wieder gefüllt, es wurde gesungen, geschrien, gelacht, man drängte sich, man stieß sich herum, es war ein gar lustiges Treiben.

Da befand sich zwei Schritte entfernt von Mirza-Kassem ein großer Derwisch, eckig wie ein Stein, schwarz wie ein Maulwurf, von tausend Sonnen verbrannt, bekleidet nur mit einem Beinkleide von blauer Baumwolle, das Haupt bloß, darauf ein Wald zerzauster schwarzer Haare, flammenden Auges, wild, hart und streng anzusehen. Er trug über der Schulter eine messingene Stange, die in ein Schlangengeflecht auslief; zur Seite hing ihm die Kokosnuß, Kuskul genannt, herab, welche seiner Brüderschaft eigentümlich war. Dieser Mann hatte, selbst für einen Derwisch, ein so seltsames Aussehen, daß Mirza-Kassems Blick sich unwillkürlich auf ihn heftete und nicht davon abwenden konnte. Der Fremde wiederum betrachtete den, der ihn so starr ansah.

– Heil über Euch, sagte er zu ihm mit sanfter, wohlklingender Stimme, wie man sie bei einem solchen Wesen ganz und gar nicht erwartete.

– Auch Euch Heil und Segen! antwortete ihm Mirza-Kassem höflich.

– Ich bin, fuhr der Derwisch fort, wie Eure Exzellenz sehen kann, ein elender Bettler, weniger als ein Schatten, dem Dienste Gottes und der Imams geweiht. Ich komme eben in dieser Stadt an, und wenn Ihr mich diese Nacht auf Eurer Terrasse, in Eurem Stalle, oder wo Ihr wollt, beherbergen könnt, so werde ich Euch dankbar dafür sein.

– Zuviel Ehre, antwortete Mirza-Kassem, daß Ihr mir solche Gunst erweist! Habt die Gewogenheit, Eurem Sklaven zu folgen, er wird Euch den Weg zeigen.

Der Derwisch führte die Hand an die Stirn zum Zeichen der Einwilligung und ging mit seinem Führer von dannen. Sie durchschritten zusammen mehrere gewundene Straßen, in denen die Hunde des Bazars bereits anfingen sich zu versammeln; die wenigen noch offen gebliebenen Läden wurden geschlossen; farbige Laternen leuchteten an den Türen einer Anzahl alter Häuser, während die Wächter des Viertels mit den Gevatterinnen plauderten, welche damit beschäftigt waren, in dem inmitten der Straße fließenden Bache ihre Leinwand zu waschen, wobei sie den Beinen der etwas zerstreut Vorübergehenden die peinlichsten Überraschungen bereiteten. Der Weg der beiden neuen Freunde war jedoch nicht allzulang; denn nach Verlauf von ungefähr einer Viertelstunde machte Mirza-Kassem halt vor einer kleinen Spitzbogentür in einer Steinwand; er hob den Klopfer von verzinntem Eisen, klopfte dreimal an, und nachdem ein Negersklave geöffnet hatte, führte er den Derwisch ins Haus und hieß ihn auf eine sehr herzliche Weise willkommen.

Er ließ ihn den kleinen Hof von ungefähr zehn Fuß ins Geviert durchschreiten, welcher mit großen Ziegelplatten belegt, und in dessen Mitte ein Bassin war. Die Ziegel, mit dem dieses bekleidet, waren im schönsten Azurblau glasiert, und ein gar frisches Wasser war eine Lust zu sehen. Rosenstöcke, über und über voll hochroter Blüten, standen ringsumher. Nachdem sie einige Stufen hinaufgestiegen, befand sich der Derwisch in einem Saale von mäßiger Größe, welcher nach der Seite der Rosenstöcke offen war; die Wände waren gefällig rot und blau bemalt, mit goldener und silberner Beblümung; chinesische Vasen voller Hyazinthen und Anemonen standen in den Ecken; ein schöner kurdischer Teppich bedeckte den Boden, Kissen von weißem, rotgestreiftem Kattun das etwas niedrige Sofa, das man Takhteh nennt, und auf welchem Mirza-Kassem seinen Gast einlud, sich niederzulassen.

Dieser machte die Umstände, welche die Lebensart verlangt. Er verbat sich soviel Ehre, indem er seine Unwürdigkeit anführte.

– Ich bin, wiederholte er mehrere Male mit Bescheidenheit, nur ein höchst elender Derwisch, ein Hund, weniger als Staub in Eurer Exzellenz Augen. Wie sollte ich die Dreistigkeit besitzen, in solchem Grade dero Güte zu mißbrauchen?

So sprach der Derwisch; aber doch lag auf seinem ganzen Wesen ein Gepräge von Vornehmheit, kurz gesagt, von so augenscheinlicher Würde, daß der ehrliche Mirza-Kassem eingeschüchtert wurde und sich frug, ob er einen solchen Mann nicht untertänig um Verzeihung bitten müsse, daß er die Kühnheit gehabt, ihn mit sich nach Hause zu nehmen. Innerlich sprach er zu sich: was ist das für ein Derwisch? Er sieht aus wie ein König, und scheint mehr dazu angetan, ein Kriegsheer zu befehligen, als auf der Landstraße umherzuirren!

Indessen hatte der Derwisch Platz genommen. Der kleine Negersklave brachte den Tee; aber der Derwisch wollte nur die Hälfte eines Glases Wasser trinken. Der Kalian wurde gleichfalls gereicht; der Derwisch dankte, indem er anführte, daß seine Grundsätze ihm den Genuß von etwas derart überflüssigem nicht erlaubten, so daß Mirza-Kassem, welcher gerne einige wohlduftende Dampfwolken eingesogen hätte, sich für verpflichtet hielt, den Glaubenseifer des heiligen Mannes zu loben und das verführerische Werkzeug mit der Versicherung zurückzuschicken, daß er seinerseits ebenfalls nicht die Gewohnheit habe, sich desselben zu bedienen. War dies wahr, war es nicht wahr? Gott weiß genau, wie es darum steht! Amen.

Darauf nahm der Derwisch das Wort und drückte sich folgendermaßen aus: Eure Exzellenz geruht mich mit vieler Gnade zu überhäufen; ich muß Ihr sagen, wer ich bin. Das Königreich Dekan, von welchem Ihr sicher habt reden hören, ist eines der mächtigsten Reiche Indiens; es hat mich zur Welt kommen sehen. Ich bin einige Jahre lang der Günstling und Minister des Herrschers gewesen. Damit ist Euch genugsam gesagt, daß es mir an keinem der nutzlosen Dinge des Lebens gefehlt hat, ich weiß aus eigener Erfahrung, welchen Verdruß ein reichbesetzter Harem einbringen kann; ich kenne alle Widerwärtigkeiten des Reichtums; ich habe Edelsteine schillern sehen, als daß ich nicht lange Zeit den Hang hätte besitzen sollen, solche zu betrachten, und die Gunst des Fürsten anlangend, so gibt es über diesen Gegenstand keine einzige Beobachtung der Philosophen, deren Wahrheit und Wert ich nicht besser als die meisten unter ihnen zu schätzen wüßte. Denkt Euch, wie hoch ich sie anschlage!

Ich verblieb also in einer so falschen Stellung nicht lange Jahre, und ich zog mich zurück, um mich einzig dem Studium hinzugeben. Das Ergebnis meiner Arbeiten hat mich dahin geführt, auch diesen Beruf als zu beschwerlich und zu viele unwürdige Zerstreuungen im Gefolge führend aufzugeben. Ich habe alles verlassen. Allein lebend und hinfort zufrieden mit meinem Kuskul und meinem blauen Baumwollenbeinkleide, glaube ich Euch eine große Wahrheit aussprechen zu können, die Ihr nicht glauben werdet, die aber gleichwohl darum nicht weniger das ist, was sie ist. Dieser arme Teufel, der nichts hat, und der vor Euch steht, besitzt die Welt!

Indem er diese Worte aussprach, sah der Derwisch Mirza-Kassem ins Gesicht, und mit einem solchen Ausdruck von Hoheit und Gewalt, daß dieser ganz betreten davon war; er hatte kaum die Zeit, die durch die Umstände angezeigten Worte auszusprechen: Gott sei gepriesen! Ihm sei Lob und Dank dafür!

– Nein! fuhr der Derwisch fort, und seine ganze Person nahm mehr und mehr einen ehrfurchtgebietenden, einen Herrscherausdruck an; nein, mein Sohn, Ihr glaubt mir nicht! Die Macht kündigt sich in Euren Augen durch ein großes Gepränge an; man kann nicht damit bekleidet sein, wenn man nicht in prächtigen Seiden-, Samt-, Kaschmir-, silber- und goldgestickten Gazegewändern auf einem Rosse herankommt, dessen Geschirr mit Perlen und Smaragden besäet ist, umringt von einem unermeßlichen Gefolge bewaffneter Diener, deren Ungestüm und keckes Gebaren die Würde ihres Gebieters zu erkennen geben. Ihr denkt über diesen Punkt wie alle Welt. Aber Ihr seid gut gegen mich gewesen; ohne mich zu kennen, ohne irgendwie zu vermuten, wer ich bin, habt Ihr mich aufgenommen und behandelt wie einen König. Ich werde Euch meine Dankbarkeit dafür beweisen, indem ich Euch von einer falschen Denkungsart befreie, welche den Geist eines Mannes wie Ihr nicht länger herabwürdigen darf. So wisset denn, daß dies und das, was dem großen Haufen unmöglich, für mich einfach und leicht auszuführen ist. Ich will Euch unmittelbar einen Beweis dafür geben. Nehmt meine Hand und haltet meine Finger so, daß Ihr das Schlagen der Pulsader fühlt; was sagt Ihr dazu?

– Die Pulsader, antwortete Mirza-Kassem ein wenig verwundert, schlägt so regelmäßig, wie sie soll.

– Wartet, versetzte der Derwisch, indem er das Haupt neigte, und mit leiserer Stimme, wie wenn er alle seine Kräfte auf sein Vorhaben konzentrierte; wartet, und der Puls wird nach und nach aufhören zu schlagen.

– Was sagt Ihr da? rief Mirza-Kassem im äußersten Erstaunen. Das kann kein Mensch machen.

– Und doch mache ich's, antwortete der Derwisch mit einem Lächeln.

Und in der Tat, der Puls wurde allmählich langsamer, wurde dann so schwach, daß Mirza-Kassems Finger Mühe hatte, ihn wiederzufinden, und stand endlich ganz still. Mirza-Kassem war betroffen.

– Wenn Ihr es befehlt, sagte der Derwisch, soll die Bewegung wieder anheben.

– So laßt sie wieder anheben!

Es vergingen einige Sekunden, und die Pulsbewegung zuckte wieder auf, kam in Takt und nahm nach und nach ihren natürlichen Umfang wieder an. Mirza-Kassem sah den Derwisch an und war geteilt zwischen Empfindungen, welche bald etwas von Bewunderung und bald von Schrecken hatten.

– Ich habe Euch gezeigt, sagte der seltsame Mann, welcher ihn so im Banne hielt, was ich über mich selbst vermag. Laßt eine Kohlenpfanne bringen.

Mirza-Kassem gab dem kleinen Neger den Befehl, das, was der Derwisch wünschte, herbeizuschaffen, und ein Becken, bis zum Rande mit gut angeglühten Kohlen gefüllt, wurde vor den Mann hingestellt, welcher sich seiner für den so wunderbaren Beweis seiner unbegrenzten Gewalt über die Elemente bedienen wollte. Die Beweislegung fand in der Tat statt. Der Derwisch schien sich nachdrücklich zu sammeln; sein Mund schloß sich so fest, daß seine Lippen aneinander gewachsen schienen; seine Augen versanken noch tiefer in ihre Höhlen; Schweißtropfen perlten auf seiner Stirn, seine Wangen zogen sich und wurden von der Glut bleifarben; plötzlich streckte er den Arm aus, wie wenn eine Feder losgeschnellt wäre, und legte ihn just mitten auf die Kohlen, in welche er seine geschlossene Faust hineinversenkte; Mirza-Kassem stieß einen Schreckensschrei aus; aber der Wundertäter lächelte und behielt seine runzelige Hand mitten im Feuer. Zwei oder drei Minuten vergingen; er zog seine Hand zurück, zeigte sie seinem Wirte, und dieser sah, daß weder Brandflecken noch Wunde daran war.

– Das ist nicht alles, sagte der Derwisch. Ihr wißt, was ich vermag, um meinen Leib zu bändigen und die Elemente meinen Launen, mögen sie auch noch so sehr ihrer Natur zuwider sein, gehorsam zu machen; merkt jetzt auf, was ich über den Menschen vermag; ich sage, über alle Menschen, ich sage, über die gesamte Menschheit!

Er sprach diese Worte mit einem verächtlichen Ausdruck, der so sehr einer Schmähung glich, daß Mirza-Kassem mehr und mehr dadurch beunruhigt wurde. Aber der Derwisch beachtete es nicht und sagte zu ihm: laßt mir ein Stück Blei oder Eisen reichen.

Ein Dutzend Flintenkugeln wurde gebracht; er legte sie auf die Kohlen, und sie begannen bald zu schmelzen, zumal er das Feuer mit seinem Atem in Gang brachte. Sodann nahm er aus dem schwarzen, baumwollenen Gürtel, welcher sein Beinkleid hielt, eine kleine Zinnbüchse, in der Mirza-Kassem rotes Pulver gewahrte. Der Derwisch nahm eine Fingerspitze voll daraus und warf sie auf das Blei; wenige Augenblicke waren verflossen, da neigte er sich und sagte mit ruhiger Stimme: es ist geschehen.

Er legte auf das Sofa vor Mirza-Kassem einen blaßgelben Barren hin, welchen dieser alsobald für Gold erkannte.

– Und das ist's, rief der Derwisch mit triumphierender Miene, was ich über die Menschen vermag! Ist's genug? Bedarf ich des Glanzes, der Pracht, der Üppigkeit, des Übermutes? Und Ihr, mein Sohn, lernt hinfort verstehen, daß die Macht nicht in dem liegt, was sich zur Schau stellt, sondern einzig in der Gewalt starker Geister, was das gemeine Volk nicht glaubt!

– Ach! mein Vater, antwortete Mirza-Kassem mit vor Aufregung zitternder Stimme, es genügt noch nicht einmal, daß die Geister stark sind, um so hohe Vorrechte zu genießen; sie müssen verstanden haben, sie zu ersinnen und sich ihrer zu bemächtigen. Sie bedürfen des Wissens!

– Und mehr als das, erwiderte der Derwisch. Sie bedürfen der Entsagung, der Kasteiung, der gänzlichen Unterwerfung des Körpers unter den Geist, und der vollkommenen Reinheit des Herzens, und dies sind keine Verdienste, welche sich ohne Mühe und Arbeit erlangen lassen. Aber genug von diesem Gegenstande!

– Nein! o nein! rief Kassem, und heftete das vor Verlangen brennende Auge auf seinen Gast; nein! Da ich das Glück habe, Euch so zu Füßen zu sitzen, so entzieht mir nicht so schnell Eure Unterweisung! Verschließet nicht den Quell, aus dem Ihr mich einen Schluck habt tun lassen! Sprecht, mein Vater! Belehrt mich! Unterrichtet mich! Ich will erfahren, was es zu tun gilt! Ich will es tun! Ich mag dies unnütze, nichtssagende Dasein, das bisher das meine gewesen ist, nicht länger dahinschleppen in der Welt.

Kassem war von der gefährlichsten der Begierden: der nach dem Wissen erfaßt worden; seine schlummernden Triebe wurden wach und sollten ihm nicht einen Augenblick mehr Ruhe lassen. Da begann der Derwisch mit leiser Stimme zu ihm zu reden. Er offenbarte ihm ohne Zweifel gar seltsame Dinge. Die Gesichtszüge seines Zuhörers wurden verstört. Sie machten in jeder Minute die verschiedensten Ausdrucksformen durch und erlitten die jähesten Veränderungen. Bald drückten sie eine Bewunderung ohne Grenzen, fast einen Zustand der Verzückung aus. Es schien, wenn man diese in Tränen gebadeten Augen, diesen Blick sah, wie er sich in etwas Geheimes und Unerreichbares verlor, als wolle Kassem vergehen, bemeistert von der hehrsten und fesselndsten der Offenbarungen. Plötzlich trat der Schreck an die Stelle der Freude; Kassems Züge dehnten sich, sein Mund öffnete sich ein wenig, sein Blick wurde starr. Er schien fürchterliche Abgründe zu gewahren, über die er sich hinüberbeugte auf die Gefahr, das Gleichgewicht zu verlieren und in die Tiefe hinabzurollen. So verging die ganze Nacht, indem er den Reden zuhörte, welche so furchtbare Umwälzungen in seinem Inneren hervorbrachten und seine Gedanken so verwirrten. Endlich bleichte das Morgenlicht die Gipfel der Terrasse, und der Derwisch, welcher ihn mehrmals vergeblich aufgefordert hatte, ein wenig Ruhe aufzusuchen, bestand diesmal nachdrücklicher darauf und schwur, er würde nicht mehr reden und nichts weiter offenbaren.

Kassem war erschöpft, außer Atem; er gehorchte; der Derwisch war allein im Saale und streckte sich auf das Sofa, während er bekümmert und wankenden Schrittes durch die engen Flurgänge von dannen ging, einige Stufen hinab und dann wieder hinaufstieg und, nachdem er einen Türvorhang in die Höhe gehoben, ins Enderun eintrat. Der Neger schlief auf einer Strohmatte im ersten Zimmer, wo der graue Schimmer der Morgenröte schwach gegen das rötliche rauchende Licht einer kleinen irdenen Lampe ankämpfte, welche die Gegenstände ihres Bereiches noch färbte, während das übrige in eine fast schwarze Finsternis versenkt blieb. Von da aus betrat der junge Mann das Gemach, wo seine Frau friedlich in ihrem großen Bette schlief, das mit massenhaften, in der Weise des schottischen Tartan hochrot, grün und gelb gewürfelten Seidenstoffen bedeckt, hier und da das Laken von seinem grauen Kattun durchscheinen ließ, auf welchem Blumen in verschiedener Färbung aufgedruckt waren. Die Kissen in großer Zahl, in jeder Gestalt und Größe, die einen dreieckig, die anderen viereckig, andere rund, sanken unter dem Haupte der Schläferin ein, stützten ihre Arme oder lagen aufs Geratewohl durcheinander.

Kassem betrachtete einen Augenblick die hübsche Amyneh und stieß einen Seufzer aus. Dann setzte er sich düster und sorgenvoll in eine Ecke des Zimmers und blieb dort, ohne sich zu rühren.

Er hielt den Goldbarren fest in seine Hand gepreßt und hatte ihn nicht losgelassen, seit der Inder ihn ihm übergeben hatte. Von Zeit zu Zeit blickte er ihn an, beschaute ihn, berauschte, begeisterte sich an diesem Anblick; es war der sinnfällige Beweis, daß alles, was ihm im Kopfe herumging, kein Traum, sondern ganze, sichere Wirklichkeit war. Er betrachtete diesen Goldbarren, und seine Augen schlossen sich, und mit einem Male, in einem Halbschlummer, schien es ihm, als ob das Stück Metall in seiner flachen Hand anschwölle und atmete, als ob es ein lebendes Wesen wäre. Er fuhr plötzlich vor Schreck aus dem Schlafe auf, in einem Zustande unbeschreiblicher Angst, betrachtete abermals dies Wunder, dessen Besitzer er geworben war, fand es unbeweglich, wie ein Stück Metall es sein muß, und von neuem seine Lider schließend, schlummerte er, dahingetragen in den Wirbel seiner Gedanken. Endlich blieb die Müdigkeit Siegerin über das Sinnen, und Kassem fiel in tiefen Schlaf.

Ein Kuß auf die Stirn weckte ihn. Er blickte auf. Amyneh kniete neben ihm, drückte ihn ans Herz und sagte zu ihm: bist du krank, mein Herz? Warum hast du dich heut Nacht nicht niedergelegt? O! Heilige Imams! Er ist krank! Was hast du, mein Leben? Willst du nicht zu deiner Sklavin reden?

Kassem sah, daß es heller Tag war, und, seiner Frau den Kuß zurückgebend, den er von ihr empfangen hatte, antwortete er ihr: Segen über dich! Gott sei Dank bin ich nicht krank!

– Gott sei Dank! rief Amyneh.

– Nein, ich bin nicht krank.

– Was hast du denn gestern Abend mit dem fremden Derwisch gemacht? Solltest du, gegen deine Gewohnheit, Branntwein getrunken und geröstete Melonenkerne gegessen haben, um dir mehr Durst zu machen?

– Gott bewahre mich davor! rief Kassem; nichts dergleichen hat's gegeben; wir haben nur bis sehr spät von seinen Reisen geplaudert . . . Wo ist er, mein Gast? Ich muß wieder zu ihm.

Und indem er so sprach, sprang Kassem auf die Beine; aber Amyneh fuhr fort: es ist schon lange heller Tag, und die Sonne war noch nicht aufgegangen, als Bulur, unser Neger, den Derwisch im Hofe neben dem Bassin niedergekauert gesehen hat; er sprach seine Gebete und vollzog die vorgeschriebenen Waschungen. Dann hat er in einer Kupferschale ein wenig Reis gekocht, auf den er eine Fingerspitze voll Salz geworfen; er hat ihn gegessen und ist gegangen.

– Wie, gegangen! rief Kassem bestürzt, wie, gegangen? Das ist nicht möglich! Er hatte mich noch tausend Dinge von der äußersten Wichtigkeit zu lehren! Es ist nicht möglich, daß er gegangen ist!

– Und doch ist er's, antwortete Amyneh, ein wenig erstaunt über die Aufregung ihres Gatten. Was hattest du denn mit diesem Manne zu schaffen?

Kassem antwortete nichts, und mit düsterer, gereizter, verschlossener Miene trat er aus dem Zimmer und verließ das Haus. Er hatte ohne Unterlaß den Goldbarren festgehalten. Er eilte geradeswegs zum Bazar und ging zu einem ihm bekannten Juwelier.

– Heil sei Euch, Meister Abdurrahman, sagte er zu ihm.

– Heil auch Euch, Mirza, erwiderte der Geschäftsmann.

– Tut mir einen Gefallen; sagt mir, was dieses Metall wert ist.

Meister Abdurrahman setzte seine ungeheure Brille auf die Nase, betrachtete den Barren, brachte ihn unter das Probiergerät und antwortete ruhig: es ist gutes, richtiges Gold, frei von jeder Legierung, nahezu hundert Tomans wert. Wenn Ihr es wünscht, will ich es genau wiegen und Euch den Preis mit Abzug einer ganz kleinen Vergütung einhändigen.

– Ich danke Euch, antwortete Kassem, aber für den Augenblick drängt mich nichts, mich von dem Ding zu trennen, ich werde aber seiner Zeit und gehörigen Orts meine Zuflucht zu Euch nehmen.

– Wenn es Euch gefallen wird, erwiderte der Kaufmann. Er grüßte Kassem, der Abschied nahm und sich entfernte.

Er ging durch die Bazare und streifte längs der Läden hin; aber die lustigen Anreden der Frauen, welche sich (man weiß das nur zu gut) unter dem Schleier alles erlauben, die Rufe und Begrüßungen seiner Bekannten, die groben Vermahnungen der Maultier- und Kameltreiber, daß er ihren Tieren Platz zu machen habe, welche sich in endlosen Reihen folgten, eins an des anderen Schwanz gebunden, und mit Ballen beladen, bei deren Berührung man für jedes seiner Glieder fürchten mußte, alles dies, das ihn für gewöhnlich unterhielt, belästigte ihn heute bis zum Zornigwerden. Er empfand das dringende Bedürfnis, allein zu sein, der Welt von Gedanken hingegeben, welche ihn tyrannisierten und ihn ohne Widerrede besitzen wollten. Er verließ die Stadt, und nachdem er einen Ort in der Wüste erreicht hatte, wo sich eine Gruppe großer verfallener Grabmäler erhob, trat er unter eine der zur Hälfte eingestürzten Kuppeln und begab sich in einen schattigen Winkel. Dort setzte er sich und überließ sich den ihn beherrschenden Gedanken, welche wie ein Schwärm Raubvögel über ihn herstürzten.

Es gibt in allen Straßen unserer Städte Irans Brunnen. Unsere Straßen sind eng und der Brunnen ist just in der Mitte. Niemals hat man daran gedacht, ihn, wie in den Städten Europas, mit einer Mauer zu umgeben, so daß er zu ebener Erde seine Öffnung hat, eine weit bequemere Einrichtung. Wenn er aus einer oder der anderen Ursache versiegt, so hält man sich nicht damit auf, ihn auszufüllen, was zuviel Zeit kosten und Mühe verursachen würde. Man bedeckt ihn mit zwei oder drei Dielen, und mit der Zeit häuft sich die Erde darauf an. Natürlich faulen die Bretter, ungeschickte Füße bringen sie zum Einstürzen, und überall anderwärts als in unserem Lande, würde irgendein Vorübergehender, ein Kind, ein Tier jeden Augenblick in die Lücke stürzen und sich in der Tiefe des Brunnens den Tod holen. Bei uns ist das selten, weil der allgütige und allbarmherzige Gott, welcher es uns erlassen hat, über viele Dinge nachzudenken, dafür Sorge trägt, uns die unangenehmen Folgen, die unser Vertrauen auf ihn haben könnte, zu ersparen. Dennoch kann man nicht darauf schwören, daß nicht zuweilen jemand in dem Abgrund verschwinde. Kassem hatte einen derartigen Abgrund in einem Winkel seines Gehirnes; er kannte ihn selbst nicht; er war hineingestürzt. Er arbeitete dort heftig hin und her und sollte nicht herauskommen.

Übrigens dachte er daran auch in keiner Weise. Gepackt, gebunden von dem, was sich seiner Einbildungskraft, seines Geistes, seines Herzens, seines Gemütes bemächtigt hatte und alle deren Kräfte bemeisterte, ließ er sich's gar nicht einfallen, ihm Widerstand zu leisten; und nicht allein ließ er alles mit sich geschehen, sondern er ließ sich mit Leidenschaft verzehren. Kurz, ein einziger Gedanke beherrschte ihn: zu wandeln, und entschlossen zu wandeln, auf der Bahn seines Propheten.

Was galt die Welt, inmitten deren er bis dahin gelebt hatte? Nichts, schlechterdings nichts; Schlamm war sie, physisch und moralisch Schlamm; mit einem Worte, nichts. Er wollte sich höher erheben und über diesem Weltall schweben, in das Geheimnis der Kräfte eindringen, welche allem Bewegung verleihen, sowohl dieser Welt, wie vielen anderen, größeren, stattlicheren, erhabeneren. Er wußte, daß die Ursubstanz gefunden, beherrscht, verwandelt werden konnte; der Inder tat das; er hielt den körperlichen Beweis davon in der Hand, er, Kassem; er wollte es auch tun! Er wußte, daß man alle bewegenden und schaffenden Kräfte, selbst die unbändigsten, selbst die höchsten, fassen, leiten könne; er wollte diese Macht; er wußte, daß man es fertig bringen könne, nicht mehr zu sterben. Freilich, kein Wesen stirbt! Aber er wußte, daß man das gegenwärtige Leben, unter der gegenwärtigen Hülle, behalten könne, ohne den Begriff der derzeitigen Individualität zu verlieren. Wohlan! das war es, was er erreichen wollte. Da, in einem Augenblicke namenloser Begeisterung, in dem Gedanken an das, was aus ihm, Kassem, werden würde, rief er aus: und ich, ich, wie ich da bin, habe ich denn solche Not, in die Sphäre einzugehen, darin ich hinfort wirken soll, daß ich dieses Stück Gold da in meiner Hand aufbewahre, just als hätte es in meinen Augen den Wert, den ich ihm gestern beilegte?

Er betrachtete es und warf es voll Verachtung in die Trümmer. Aber – und das beschäftigte ihn vorzüglich – alles gewinnt sich nur um einen Preis, der dem Werte dessen, was man aufsucht, angemessen ist. Das hatte er erwogen und fand doch die Bedingung sehr hart. Aber dennoch kämpfte er gegen die Leidenschaft, welche sich ihm in eine Pflicht verwandelt hatte, nicht an, und nachdem er selbst die letzten Gegenstimmen zum Schweigen gebracht hatte, erhob er sich, schlug den Weg nach seinem Hause ein, kehrte heim und erschien vor seiner Frau.

Diese erhob sich, um ihn zu empfangen und bewillkommnete ihn, wie gewöhnlich, mit der herzlichsten Fröhlichkeit. Als sie aber die düstere Miene und die gerunzelte Stirn ihres Mannes sah, ein Schauspiel, an das sie nicht gewöhnt war, da preßte sich ihr das Herz zusammen, und das arme Kind setzte sich schweigend ihm zur Seite.

– Amyneh, sagte Kassem, du weißt, ob ich dich liebe, und ob jemals eine größere Liebe zwei Seelen vereinigt hat. Ich für mein Teil glaube es nicht; die Liebe meines Herzens zu dem deinen ist ohnegleichen. Auch blutet dies Herz; es will seinen Genossen betrüben.

– Was hast du denn? was willst du? antwortete Amyneh, indem sie die Hand nahm, die ihr nicht hingehalten worden.

– Ich meine, daß jeder Mensch sein Los, sein Kismet, im Leben hat; dies Los ist ihm lange vor seiner Geburt bestimmt. Es ist fix und fertig, wenn er zur Welt kommt, und mag er damit einverstanden sein oder ihm widerstreben, er muß es annehmen, muß es ergreifen und sich darein schicken.

– Daran ist kein Zweifel, erwiderte Amyneh und sah dabei aus, als wäre sie ein wenig von sich eingenommen. Aber dein Los ist nicht so übel, und du hast keine Veranlassung, bei dem Gedanken daran so die Stirn zu runzeln. Dein Los bin ich, und du hast mir manchmal, mehr als einmal, ja sogar oft versichert, daß du kein anderes verlangtest.

Kassem konnte sich trotz seiner düsteren Stimmung eines Lächelns bei der Anmut der jungen Frau nicht erwehren; als diese das sah, lehnte sie sich vollends mit den Ellbogen auf ihres Mannes Kniee und suchte höchst zuversichtlich durch die Weise, mit der sie ihn ansah, ihm den Kopf zu verdrehen. Es war ihr dies oft geglückt; für diesmal mißlang es ihr.

– Amyneh, hub er wieder an, mein Los, mein Kismet ist, noch heute aufzubrechen und dich für immer zu verlassen!

– Für immer? Mich verlassen? Aufbrechen? Ich will nicht!

– Auch ich nicht, ich will nicht! Aber es ist mein Kismet, und dagegen ist nichts einzuwenden. Der Derwisch hat mir die Augen geöffnet. Ich habe gemerkt, zu was der Himmel mich beruft. Ich muß gehen.

– Wohin? . . . Mein Gott! Barmherziger Gott, ich werde toll werden!

Und die arme Amyneh rang die Hände, und zwei Tränenströme quollen aus ihren Augen hervor. Dann ergriff sie Kassems Arm und rief ihm zu: so rede doch! rede doch! Wohin willst du gehen?

– Ich will wieder zu dem Derwisch.

– Wo ist er?

– Er ist nach Khorassan aufgebrochen, er wird Meschhed, Herat und das Kabuler Land durchwandern; ich werde ihn spätestens in den Bergen von Bamyan wiederfinden.

– Was bedarfst du seiner?

– Ich bedarf seiner, er bedarf meiner. Ohnehin tue ich ja wohl besser, dir alles zu sagen.

– Zweifellos tust du besser, sage mir alles. Ach! mein Gott! mein Gott! ich werde toll! Sprich, Geliebter, mein Kind, mein Leben! Sprich!

Kassem, von Schmerz, Zärtlichkeit und Mitleid ergriffen, nahm Amynehs Hand, drückte sie und hielt sie in der seinigen, während er das Folgende erzählte: der Derwisch vermag alles, alles in der Welt! Er hat mir's diese Nacht bewiesen! Er vermag alles, bis auf ein einzig Ding, und das wird er ohne einen Gefährten niemals zustande bringen. Seit mehreren Jahren hat er diesen Gefährten gesucht. Er hat Persien, Arabistan, die Türkei durchzogen, um ihn zu finden; er ist auf der Suche nach ihm in Ägypten gewesen und hat sich sogar jenseits ins Land Magreb begeben, durch die Landstriche, welche die Ferynghys, Franken genannt, innehaben. Überall hat er nur Leute von beschränktem Geist oder zaghaftem Herzen gesehen. Die meisten hörten ihm mit Wohlgefallen zu, solange er ihnen von den Möglichkeiten, Gold zu machen, sprach; aber wenn er ihre Geister emporziehen wollte, dann gab's kein Mittel mehr! Die eifrigen wurden kalt. Der Derwisch verlor den Mut nicht. Er war gewiß, daß der Mann, der seinen Plänen not tat, in der Welt existiere; das Verfahren des Raml, die geworfenen und auf der Sandplatte zusammengestellten Augen hatten ihm durch unfehlbare Berechnungen diese Erkenntnis gebracht. Nur kannte er den Ort nicht, wo dieser Freund seines Herzens sich befand. Er wollte ihn eben in Turkestan suchen, als er gestern durch die Stadt gekommen ist. Er hat zu mir gesprochen, er hat mir sein Herz ganz und gar erschlossen. In dem meinigen hat es getagt. Auf mich kommt es an. Ich bin der Erkorene! Ich allein kann das Rätsel lösen. Wohlan denn! Ich bin bereit! Ich muß gehen! Ich gehe! Tot oder lebendig will ich dem Derwisch helfen, das letzte Geheimnis herauszubringen!

Kassem hatte mit einer solchen Begeisterung gesprochen, seine letzten Worte waren von einer so unerschütterlichen Überzeugung und Entschlossenheit durchdrungen, daß Amyneh das Haupt senkte. Aber es galt die Vernichtung ihres Glückes; sie blieb nicht lange die Besiegte, und hub nun auch ihrerseits mit fester Stimme an: aber ich?

– Du! du! was soll ich dir sagen? Ich liebe dich über alles in der Welt; aber was ich tun muß, ich kann es nicht verhindern. Eine Kraft, furchtbarer als du fassen kannst, reißt mich fort, trotz der Liebe, die ich für dich habe. Ich muß gehorchen . . . Ich gehorche! Du ziehst dich zu deinen Eltern zurück . . . Komme ich wieder . . . dann . . . Aber werde ich wiederkommen? Was wird aus mir werden? Wer kann es wissen? Darf ich etwas anderes begehren als meine Aufgabe? Kurz, wenn ich wiederkomme . . .

– Wenn du wiederkommst, wirst du mein sein?

– Ganz und gar! antwortete Kassem mit einer Rührung und einer Wärme, welche wohl bewiesen, daß die Liebe durch die neue Leidenschaft nicht ausgelöscht worden war; ja, ganz und gar! Für immer! Ich werde nur an dich denken! Nur dich wollen! Indessen . . . höre! Es ist dies so wenig wahrscheinlich, daß ich wiederkomme! . . . Alles ist dunkel bei dem, was ich tue . . . Vielleicht wäre es vernünftiger von dir . . . Wenn du dir von mir raten lassen willst, so werde ich die Scheidung verlangen, du nimmst einen anderen Mann . . . Du bekommst Kinder . . .

Damit fing Kassem im äußersten Herzeleid an zu weinen. Amyneh verspürte bei all seinem Schmerze einige Schauer von Freude, ja, sogar bereits von Hoffnung, und sie antwortete: nein, ich willige nicht in die Scheidung; ich werde dich erwarten, ein Jahr, zwei Jahre, drei Jahre, zehn Jahre . . . bis an meinen Tod! Bis an meinen Tod, hörst du? Und der wird weit schneller kommen, wenn du selbst stirbst. Ich will mich auch nicht zu meinen Eltern zurückziehen. Ich kenne sie. Sie würden glauben, daß ich unglücklich sei, nicht über deine Abwesenheit, sondern über mein Alleinsein; sie würden mich wieder verheiraten wollen. Ich will bei deiner Schwester bleiben, und dorthin mußt du wieder zu mir kommen, sobald du kannst.

Kassem trocknete sich die Augen, und nachdem er Amyneh umarmt, ließ er sein Haupt eine ziemlich geraume Weile an dem treuen Herzen ruhen, von welchem er sich trennen wollte. Das Schweigen wurde nur durch Schluchzen und lange Seufzer unterbrochen. Endlich frug Amyneh mit leiser Stimme: wann willst du fort?

– Heut abend, antwortete Kassem.

– Nein! Gönne mir noch diese Nacht, du gehst dann morgen. Ich aber, ich will zu deiner Schwester hin, sie zu benachrichtigen; morgen hilfst du mir dann, alles zu ihr hinüberschaffen zu lassen; wenn du mich dort eingerichtet siehst, dann . . . dann magst du mich verlassen . . . Aber ich will, daß du mich dort denkst, damit du, wenn du erst fern weilst, mich, meine Kleidung, mein Gemach . . . und alles, was mich umgibt, im Geiste erschauen kannst!

Und sie fing wieder an zu weinen, aber sanfter; dann, da sie merkte, daß sie nicht allzuviel Zeit zu verlieren habe, erhob sie sich endlich von der Seite ihres Mannes, zog große Strumpfhosen an, welche die Frauen zum Ausgehen anlegen, hüllte sich in den großen Hyader oder Mantel von blauer Baumwolle, welcher den Kopf oder die ganze Person verhüllt, befestigte mittels zweier goldener, mit Granaten ausgelegter Spangen in Taubenform den Rubend oder Schleier von dichtem Perkalin, welcher an der Stelle der Augen von einem engen Netzgitter durchbrochen war, und also bereit, drückte sie dem in eine Art dumpfer Erschlaffung gesunkenen Kassem noch einmal die Hand und ging hinaus.

Als sie auf der Straße war, wurde ihr das Herz so schwer, und sie fühlte sich so unglücklich, so verlassen, daß sie beinahe laut aufgeschrien hätte, um das Erbarmen der Vorübergehenden anzuflehen; sie hätte es ohne Zweifel getan, und jeder hätte sie beklagt, aber sie besann sich anders, als sie vor der Moschee vorbeikam.

Sie trat dort ein und sprach ihre Gebete. Sie sagte mit leidenschaftlicher Geläufigkeit eine tüchtige Anzahl Rikaats her und betete mehr als zehnmal ihren Rosenkranz ab, indem sie mit Inbrunst die neunzig Namen des barmherzigen Gottes wiederholte. Glücklicherweise befanden sich auch andere Frauen in dem Heiligtume, eine unter andern, die erzählte, daß ihr einziges Kind im Alter von drei Jahren in der äußersten Gefahr wäre; diese Betrübten mitsammen, und Amyneh mit ihnen, hielten einander aufrecht, indem sie recht aus Herzensgrunde beteten.

Nachdem sie eine gute Stunde hierauf verwandt, brach die junge Frau auf; an der Tür fand sie arme Kranke um den Brunnen versammelt, sie teilte zahlreiche Almosen unter sie aus und entfernte sich, mit Segnungen überhäuft.

Alle die Formeln: Heil sei mit Euch! Gott gebe Euch ein vollkommenes Glück! Möchtet Ihr mit allen Gütern überhäuft sein. Ihr und die Eurigen! und andere ähnliche mußten wohl melodisch im Ohre der armen Leidenden widertönen, und sie sagte sich, daß vielleicht Gott sich ihrer erbarmen würde. Sie begegnete Kavalieren; sie zogen vorbei, im Gefolge einer gewichtigen Persönlichkeit, die auf einem schönen Rosse saß. Sie näherte sich demütig und bat um ein Almosen. Man sah wohl an ihrem Mantel von feinstem Tuche, an ihrem Rubend von glänzender Weiße und an ihren kleinen neuen Pantoffeln von grünem Leder, daß sie keineswegs aus Not so die Hand ausstreckte, und die Krieger und der alte Herr, welche sich sagten, daß sie's täte, um sich vor Gott zu demütigen und eine Gnade zu erlangen, verfehlten nicht, ein kleines Geldstück in die Hand zu legen, die sittsam in einen Zipfel des Mantels gehüllt, ihnen hingestreckt worden, und begleiteten ein jeder seine Gabe mit einem wohlwollenden Kopfnicken und einer Sühneformel. Nachdem Amyneh solchermaßen getan, was in ihren Kräften stand, um sich die Güte und Nachsicht der Gottheit zu gewinnen, lenkte sie ihre Schritte nach dem Hause ihrer Schwägerin und kam bald dort an.

Diese Schwägerin war kein gewöhnlicher Charakter. Sie ist wohl eine Zeichnung wert. Man nannte sie mit ihrem Namen Zemrud-Khanum, Frau Smaragdin. Sie war mindestens zehn Jahre älter als Kassem und hatte Mutterstelle bei ihm vertreten. Auch empfand er für sie eine tiefe Hochachtung, eine sehr große Verehrung, und das alles mit einiger Furcht gemischt, ein Gefühl, dies letztere nämlich, welches von Aziz-Khan, dem Gemahl der Dame, in hohem Grade geteilt wurde. Freilich ließ Zemrud-Khanum in den Punkten, wo sie einmal ihre feste Überzeugung hatte, nicht nach. Von dem General, ihrem Gatten, als zweite Frau geehelicht, hatte sie ein halbes Jahr darangesetzt, um die erste fortschicken zu lassen; aber es war ihr gelungen. Seitdem hatte sie, wiewohl Aziz-Khan mehrmals versucht hatte, ihr die handgreifliche Wahrheit zum Verständnis zu bringen, daß ein Mann von seinem Range und Vermögen unrecht an sich handelte, indem er nur eine geheiligte Person in dem Bereiche seines Enderuns hätte, das heißt, indem er, ganz wie ein gemeiner Bürger, nur eine einzige Frau besäße, niemals von irgendeiner Neuerung dieser Art etwas wissen wollen, und das Feuer, womit sie an die Mägde und Bedienten Ohrfeigen und zuweilen sogar Schläge mit dem Pfeifenrohr austeilte, hatte Aziz-Khan zu denken gegeben. Er vermied es, seinen Bart und seine Würde in Erörterungen bloßzustellen, deren Ausgang ihm nicht zum voraus bekannt war. Auch hütete er sich, wenn er übler Laune war, das zu Hause merken zu lassen; in diesem Falle ging er nach dem Bazar spazieren.

So war Zemrud-Khanum eine ausgezeichnete Frau, unumschränkte Gebieterin ihres Reiches, verehrt und gefürchtet, umringt von einer Herde von acht Kindern, deren ältestes, ein Junge, ungefähr fünfzehn Jahre zählen mochte, und dies alles hatte sie in löblicher Ordnung und Stille und, ohne daß auch nur gemuckst wurde, im Gange! Sie war leicht böse und leicht wieder gut. Ihre Stimme wurde im Zorne bei weitem die schärfste des Stadtviertels; aber es kam auch vor, daß es die sanfteste war, wenn sie sich darangab, jemand zu trösten. Sie war edelmütig wie ein Sultan, mildtätig wie ein Prophet, und obendrein war ihr, die einst außerordentlich hübsch gewesen, davon noch mit vollen vierzig Jahren etwas geblieben; sie hatte viel Geist, machte allerliebste Gedichte und spielte Târ mit einer solchen Vollkommenheit, daß ihr Gemahl, Aziz-Khan, wenn sie sich herbeiließ, ihm vorzuspielen, anfing, eine Viertelstunde lang den Kopf zu wiegen, dann sich in Verzückung ans Murmeln gab: ausgezeichnet! ausgezeichnet! ausgezeichnet! und schließlich Tränen vergoß und sich den Kopf gegen die Wand stieß.

Als Amyneh in den Salon ihrer Schwägerin eintrat, fand sie daselbst Besuch vor, wie ihr das übrigens die Anwesenheit zweier den ihrigen ganz gleicher Paar Pantoffeln verraten hatte, welche sich vor der Tür befanden. Die beiden Damen, die in diesem Augenblicke auf den Polstern saßen, waren niemand Geringeres als Bülbül-Khanum, Frau Nachtigall, und Lulu-Khanum, Frau Perle, die eine die dritte Frau des Statthalters, und die andere die alleinige und einzige Gattin des Oberhauptes der Geistlichkeit, des jungen und liebenswürdigen Mulla-Sadek, des kundigsten Backwerkliebhabers, der sich in ganz Damghan finden ließ. Diese Damen waren alle beide hübsch, sehr elegant und rechte Spötterinnen. Da Zemrud-Khanum ihrerseits zum Trübsinn nur neigte, wenn man sie durch Widerspruch dazu zwang, so war die Unterhaltung gut im Zuge; man sprach von neuen Moden, Putz, Gesundheit der Kinder, Eigenheiten der Ehemänner, ja wohl auch von Zornesausbrüchen dieser Herren; was immer eine große Rolle bei den vertraulichen Mitteilungen der Frauen spielt als das sicherste Mittel, ihre so seltenen Verdienste zur Geltung zu bringen, und schließlich, das Geläster, das Geläster, das Geläster! Dieses Salz, dieser Pfeffer, dieser spanische Pfeffer, dieses Nec plus ultra der geselligen Freuden; kurz, alles, was sich nur sagen läßt und sogar, und vornehmlich, was sich verschweigen ließe, alles wurde tapfer durchgenommen, und das war ein Gelächter, das nur aufhörte, um von vorn wieder anzufangen.

Drei Dienerinnen, davon zwei Belutschinnen und eine Negerin, in Seide und Kaschmir gekleidet, reichten in diesem Augenblicke emaillierte und mit Edelsteinen besetzte goldene Kalians, und die Damen rauchten nach Herzenslust, als die betrübte Amyneh eintrat. Für gewöhnlich war sie keine unwürdige Teilnehmerin solcher Zusammenkünfte; im Gegenteil, sie brachte dazu eine Heiterkeit und ein so artiges, frisches Lachen mit, daß man Lieder darauf gemacht hatte, welche allerwärts gesungen wurden: »Amynehs Lachen!« Ach! heute war keine Rede von Amynehs Lachen! die arme Kleine ließ ihren Mantel und ihren Schleier fallen, küßte ihrer Schwägerin die Hand, welche sie zärtlich auf die Augen küßte, und setzte sich, nachdem sie die anwesenden Damen wie zwei Freundinnen begrüßt hatte.

– Mein Gott! Kind, rief Zemrud-Khanum, was hast du denn? Die Augen rot? Hast du etwa gar geweint? Sollte das Kassems Schuld sein? In dem Falle schick ihn mir; ich werde ihn wieder auf den rechten Weg bringen! Ach! diese Männer! diese Männer! Wir waren just bei diesem Thema! Aber tröste dich, tröste dich! Du darfst deine schönen Augen nicht verderben!

– Sich die Augen verderben um einen Mann! sagte Lulu, die elegante Frau des geistlichen Würdenträgers, welche Narrheit! Dabei fällt mir ein, liebe Amyneh, mein Herz, mein Augenlicht, vielleicht könnt Ihr mir genauer erzählen, was gestern der Gulnar-Khanum mit ihrem Manne begegnet ist? Es scheint, daß es eine entsetzliche Szene gegeben hat!

– Ich erfuhr nichts davon, antwortete Amyneh sehr leise, indem sie sich die Augen trocknete und einen Seufzer erstickte.

– Ich kenne die Geschichte aufs allergenaueste, rief die Lebensgefährtin des Statthalters, welche lange schwarze, mandelförmig geschnittene Augen und auf den Wimpern eine gehörige Dosis Surmeth hatte, was ihnen einen übernatürlichen Glanz verlieh. Es scheint, daß Seid-Hussein in einem Augenblicke, wo ihm die Galle überlief, sich hat einfallen lassen, die Ohren seiner Gattin betrachten zu wollen.

– Wie abscheulich! riefen Zemrud und Lulu wie aus einem Munde.

– Eine Roheit! fuhr Bülbül die Achseln zuckend und mit einem Tone unnachahmlicher Ziererei fort; aber kurz, er hat es gewollt, und obwohl sich Gulnar sehr zur Wehr gesetzt hat und sogar böse geworden ist, hat ihr doch Seid-Hussein am Ende ihren Tschargat in Unordnung gebracht, dergestalt, daß er das rechte Ohrläppchen gesehen hat, und an diesem Ohre goldene und saphirene Ringe, die er sich nicht erinnert geschenkt zu haben! Daher denn großer Spektakel, wie ihr euch denken könnt.

– Gulnar-Khanum ist aber auch von einer Unvorsichtigkeit! eiferte Lulu. Wie mag man nur solche Ohrringe tragen, wenn man des gesitteten Benehmens seines Mannes nicht sicher ist? Meiner würde sich nimmermehr erlauben . . .

– Gulnar, erwiderte Bülbül, glaubte sich gegen alles gesichert, weil sie, wie es der Brauch ist, die übrigen Ohrringe, die, welche harmlos waren, nicht an den Ohren, sondern auf ihrem Tschargat befestigt trug, ganz wie wir andern.

– Dabei fällt mir ein, unterbrach Lulu, weil wir gerade von Moden sprechen . . .

Hier wurden abermals die Kalians und der Tee gebracht, und Amyneh hoffte mit Recht, daß, wenn die ersteren geraucht und der letztere getrunken wäre, die Visite bald ein Ende nehmen würde, und während jede der schönen Frauen ihre Tasse in der Hand hielt, fuhr Lulu in ihrer Rede fort: weil wir gerade von Moden sprechen, sagte ich, habt ihr die neue Art Unterkleider gesehen, die die Armenier von Teheran mitgebracht haben? Alle Frauen sind, scheint's, darin vernarrt, weil die Europäer solche unter ihre Kleider anziehen, und sie nennen sie Yiletkeh. Ich habe mir drei bestellt . . .

– Ich nur zwei, erwiderte Bülbül, eines von Goldstoff und das andere von rotgeblümtem Silberstoff. Es ist äußerst bequem für die Säuglinge.

Die Unterhaltung zog sich noch eine Weile in diesem Tone hin, dann nahmen die beiden Damen Abschied, umarmten Zemrud und Amyneh und zogen sich zurück, indem sie Dienerinnen, Kaliaren, Bediente, nicht ohne großen Lärm, wie sich das für Personen von solchem Range gehörte, mit sich fortnahmen.

Jetzt fand sich Amyneh imstande, zu erzählen, was sie auf dem Herzen hatte. Sie tat es mit äußerster Leidenschaftlichkeit, und Zemrud, außer sich vor Entrüstung und Zorn, und zugleich vor Neugierde und Besorgnis wegen eines so erstaunlichen Falles, sagte zu ihr, indem sie Mantel und Schleier nahm: bleib hier, meine Tochter, ich will mit Kassem reden gehen und, ich verspreche dir, wie sich's gehört. Kurz, bleibe hier, erwarte mich, und vor allen Dingen höre auf, dich zu betrüben. Der Junge ist mein Bruder, aber ich betrachte ihn wie meinen Sohn; ich habe ihn erzogen, ich habe ihn verheiratet. Dein Vater hat sich aufs edelmütigste gegen ihn betragen, denn die zweihundert Tomans, die Kassem gegeben hat, um dich zu bekommen, und von denen, beiläufig bemerkt, mein Mann die Hälfte hergeliehen hatte, die hat dein Vater ganz auf deine Ausstattung verwandt, und noch einiges mehr. Vallah! Billah! Tallah! wir wollen doch sehen, aus welcher Tonart Meister Kassem mir antworten wird! Beruhige dich, sage ich, und sei gewiß, daß alles dies nichts zu bedeuten hat.

Damit machte sich Zemrud-Khanum auf den Weg, in Kriegsrüstung und wohl verhüllt, weder Magd noch Diener mitnehmend, so daß man sie nur dem Blitze vergleichen konnte, der einen Gewitterhimmel durchfurcht und dessen majestätische Schrecknisse verkündet.

Amyneh blieb auf dem Teppich in tiefer Niedergeschlagenheit sitzen und hörte kaum die Stimme der Hoffnung, welche noch ein Echo in ihrem Herzen zu wecken suchte. Sie wartete zwei volle Stunden; nach Verlauf dieser Zeit kehrte Zemrud zurück. Sie nahm ihre Schleier ab, sie war außer Fassung, bleich, und man sah, daß die starke Frau geweint hatte. Sie setzte sich neben Amyneh, ergriff ihre Hand, und da sie sah, daß diese nicht ein Wort sagte, die Augen nicht aufschlug und starr vor sich hinblickte, zog sie sie an ihr Herz und sprach zu ihr, indem sie sie mit Küssen bedeckte: wir sind sehr unglücklich!

In der Tat, sie waren sehr unglücklich. Kassem war sehr freundlich, sehr rücksichtsvoll gegen seine ältere Schwester gewesen; aber in seinem Entschlusse, am nächsten Tage aufzubrechen, hatte er sich unerschütterlich gezeigt, indem er erklärte, daß er diesen Aufschub nur der zärtlichen Liebe, die er für Amyneh hege, bewilligt hätte; daß er aber, wenn man ihn quälen und mit Klagen heimsuchen sollte, die sein eigener Schmerz ihm unerträglich mache, noch denselben Abend aufbrechen würde; und alles Flehen, alle Vernunftgründe, alle Vorwürfe Zemruds hatten nichts anderes von ihm erlangen können.

– Er ist behext, mein liebes Herz, sagte Zemrud, indem sie den Bericht von ihrem verunglückten Feldzuge beschloß, behext von diesem furchtbaren Zauberer. Die Leute dieser Art verfügen über eine unwiderstehliche Macht, und da, wo sie gebieten, ist es gewiß, daß nichts übrig bleibt, als sich zu unterwerfen. Kassem ist in der Gewalt dieses Mannes. Man muß hoffen, ja man muß glauben, daß es zu seinem Besten ist; denn nach dem, was er mir erzählt hat, scheint der Derwisch die besten und liebreichsten Absichten zu haben. Er ist ein frommer Mann und unfähig, Böses zu tun. Auch ich habe Zauberer gekannt; es waren die ehrwürdigsten Leute von der Welt, Wunder an Wissen! Ich wiederhole dir's also, beruhige dich! Es ist besser, dein Mann tut unter dem Schutze des Inders große und gewaltige Dinge, als wenn er beispielsweise in den Krieg zöge, wo selbst die Gunst des Königs (dessen Größe wachse und erstarke!) ihn nimmer davor bewahren könnte, daß er einen bösen Hieb davontrüge.

Diese Art von Trost, welchen Zemrud ihrer kleinen Schwägerin spendete, mochte nun viel oder wenig wert sein, das tut nichts zur Sache. Sie hatte keinen anderen zu ihrer Verfügung, und sie bediente sich seiner, soviel sie konnte, indem sie ihn in allen Formen wieder vorbrachte und immer jede Darlegung mit der festen Versicherung, mit dem eidlichen Versprechen beschloß, daß Kassem auf alle Fälle nicht länger als ein Jahr abwesend bleiben würde, und daß es durchaus vernunftgemäß und natürlich wäre, anzunehmen, daß er als Besitzer eines ungeheueren Vermögens zurückkäme, welches sie alle in der Familie, Männlein und Fräulein, in den Stand setzen würde, ihre Liebhabereien zu befriedigen. Am Ende sagte Amyneh, welche sich ein wenig Gewalt angetan hatte, sie wolle nun gehen, und kehrte nach Hause zurück.

Sie fand dort Kassem in einem Zustande, der nicht viel besser war als der ihrige. In dem Augenblicke des Abschieds von seiner Frau, seinem Hause, seinen Gewohnheiten, seinem Glücke, seiner Liebe war die Begeisterung schwächer geworden. Der Entschluß blieb, weil er ihn weder aus seiner Phantasie, noch aus seinem Willensleben herausreißen konnte; aber er war schwarz verschleiert, und das Herz tat sich im Überflusse gütlich daran, sich zu winden, sich zu beklagen, zu seufzen, Beschwerde zu erheben; kurz, um das Ding beim rechten Namen zu nennen, Kassem war sehr unglücklich, wie man es ist, wenn man, zwischen Pflicht und Liebe gestellt, von der Pflicht sich fortgezogen wähnt. Es kommt nicht viel darauf an, zu untersuchen, was dieser letztere Ausdruck in jedem einzelnen Falle besagen möge. Kassem nahm an, daß seine Pflicht sei, den Derwisch zu suchen und einzuholen. Er mußte sich wohl unterwerfen.

Mit dem so feinen, so zarten, so göttlichen Gefühl, das den Frauen in allen Ländern eigen ist, wenn sie lieben, und das allein hinreichen würde, die wahrhaft himmlischen Wesen der Schöpfung aus ihnen zu machen, begriff Amyneh den Kampf, der in der Seele ihres Mannes sich noch behauptete, und instinktiv vermied sie, was denselben schwerer und grausamer für den Leidenden hätte machen können.

– Vielleicht, sprach sie bei sich selbst, könnte es mir gelingen, ihn acht Tage, höchstens einen Monat bei mir zu behalten! Aber wie würde er leiden! . . . Und am Ende? . . . Wie? Er würde doch auf und davon wollen! . . .

So gibt sie den Kampf auf und zeigt sich ergeben. Sie sagt nur: du kehrst wieder?

– Ja! ja! ich kehre wieder . . . ich schwöre dir's zu, Amyneh! Wie sollte ich nicht wiederkehren? Sei gewiß, wenn du mich nicht mehr wiedersehen solltest, dann . . .

Sie legte ihm die Hand auf den Mund.

– Ich werde dich wiedersehen, sagte die beste der Frauen, und ihre Stimme wurde fester. Gewiß, ich werde dich wiedersehen! Denk an mich, nicht wahr?

– Ja, ich will daran denken . . . will oft daran denken . . . Nein! sieh an, ich will immer daran denken! O Amyneh! meine Amyneh! Geliebte! Wie sollte ich's nur anfangen, nicht immer an dich zu denken? Bedenke doch nur, was du mir bist! . . . Wußte ich das etwa bis auf diesen Augenblick? . . . Ich hatte mir nie träumen lassen, daß ich dich verlieren könnte . . . Dich verlieren . . . Soll ich dich denn verlieren?

– Nein! du wirst mich nicht verlieren. Ich werde ruhig dort bei deiner Schwester sein. Ich will viel Geduld . . . viel Mut haben . . . Ich bin gewiß, daß dir nichts zustoßen wird, Kassem! Leg noch einmal deinen Kopf auf meinen Schoß.

So verging die Nacht unter der schmerzlichsten Verzweiflung und den zärtlichsten Liebkosungen, eines tröstete das andere, und am öftesten war es Amyneh, welche unter der schlimmen Behandlung, die das Geschick ihnen auferlegte, mutig das Haupt erhob.

Als der Tag erschien, rief sie die Dienstboten und befahl ihnen, die Teppiche aufzuheben, alles in die Koffer zu verschließen, das Haus leer zu machen; sie ließ Maultiere holen, und das Hausgerät wurde zu Zemrud-Khanum hinübergeschafft. Die Leute des Stadtviertels, durch dies rührige Treiben aufmerksam gemacht, waren wie ein Ameisenhaufen aus ihren Häusern herausgekommen; sie blieben, die einen auf der Türschwelle, die andern auf der Straße stehen, oder auch saßen auf Wetterdächern der Krambuden, ohne die zu rechnen, welche auf ihre Terrassen gestiegen waren. Es war ein großer Haufen. Als Amyneh sah, daß nichts mehr in der Wohnung, und daß die vier Wände eines jeden Zimmers leer waren, hüllte sie sich in ihre Schleier und brach auf. Kassem folgte ihr, kehrte aber dann nach Verlauf einer Stunde zurück. Er war allein mit dem kleinen Negersklaven. Ein wenig mußte man noch auf ihn warten. Dann zündete der Sklave mitten auf dem größten Platze des Stadtviertels ein großes Feuer an, und als der Scheiterhaufen ganz hoch emporloderte, erschien denn auch Kassem auf der Straße.

Er hatte Kopf und Oberkörper, Füße und Schenkel bloß und trug nur ein Unterbeinkleid von weißem Leinen. In der Hand hielt er die Kleider, welche er am Tage vorher angehabt hatte, ein rotseidenes Beinkleid, Kulidscheh von grauem, schwarzbesetztem deutschen Tuch, Dschubetz von roter geblümter Vermanwolle und eine sehr feine Lammfellmütze. Er schritt auf den Scheiterhaufen zu; er legte dort alle die Kleidungsstücke nieder, welche unter seinen Augen verzehrt wurden. So legte er das Gelübde der Armut und Askese ab. Die Menge sah ihm zu; sie war tiefbewegt. Man liebte ihn. Was Wunder? Man hatte ihn ganz klein gekannt; er war jung, er war schön; bis dahin war er immer glücklich gewesen und hatte sich verbindlich gegen die einen, äußerst wohltätig gegen die anderen gezeigt. Die Frauen weinten; einige stießen laute Klagen aus, indem sie mit den Armen gestikulierten und sprachen: welch ein Unglück! welch ein Unglück! Im Grunde aber war man hoch erbaut. In den Augen derer, welchen die Dienstboten die Sache erklärt hatten, war Kassem der hingebende Diener der Wissenschaft mit ihrer Entsagung, und nichts schien schöner.

Als das Opfer beendet war, rief der neue Derwisch nach Art seiner Brüder mit gellender Stimme aus: »Hu!« das heißt: »Er!« das Wesen der Wesen, der, welcher alles, was lebt, in seinem Schoße begreift und aufbewahrt, Gott. Die Segensrufe wurden laut: Gott behüte ihn! Die heiligen Imams mögen über ihm wachen! O Gott! o Gott! erhalte ihn! Alle Propheten seien mit ihm!

Kassem dankte mit einem Neigen des Hauptes und verließ den Platz. In dem Augenblicke, wo er die Straße erreichte, welche aus der Stadt hinausführte, reichte ihm ein alter Bakkal oder Krämer eine kleine kupferne Schale, indem er ihn bat, sie als Andenken an ihn anzunehmen, was er tat; dann ging er einige Schritte weiter, da trat, von seinem Vater geschickt, das Kind des Tischlers, das fünf Jahre alt war und das er oft gestreichelt hatte, auf ihn zu und brachte einen kräftigen Wanderstab geschleppt. Auch den nahm Kassem. Aber seine Festigkeit verließ ihn einen Augenblick; er konnte einige Ausbrüche des Schluchzens nicht zurückhalten und faßte krampfhaft das Kind, das er in seine Arme drückte. Es war die bittere Erinnerung an das, was er verlor. Er faßte sich jedoch noch zeitig genug, und nachdem er sich mit großen Schritten entfernt, befand er sich bald außerhalb der Stadt und wanderte in der Richtung nach Osten, das heißt nach Khorassan zu, wo, wie er fühlte, der Inder ihn erwartete und rief.

Sobald er sich in der Wüste befand, so seines Weges zog und die Kiesel auf der Straße mit seinem Stocke schlug, fühlte er sich frei in der weiten Welt, und sein Herz beruhigte sich. Er geriet in Begeisterung und sah sich in Gedanken bereits als Herr, als unumschränkter Herr all der glorreichen Geheimnisse, deren Enthüllung der Inder ihm angekündigt und versprochen hatte. Nichts von Gemeinheit oder Gier war in seinem Enthusiasmus; was er wollte, war nicht das Vermögen, die Menschen unter die Macht des Zaubers zu bringen, Und noch weniger, durch die Verwandlung der Metalle den Allerweltsreichtum zu besitzen. Er wollte die Weisheit und das Eindringen in die erhabensten Geheimnisse der Natur. Er sah sich im voraus verklärt, über die Wünsche, über die Nöte hinaus; er sah sich als einen Asketen, welchem nichts mangelt an Reichtümern des Gemütes und Vollkommenheiten des Geistes, und welcher, durch sein Wissen und seine gänzliche Verachtung der irdischen Dinge in den innersten Schoß der Gottheit versetzt, so einer Glückseligkeit ohne Grenzen teilhaftig wird. Er hatte sehr große Kämpfe, furchtbares Ringen gegen seine weltlichen Neigungen gefürchtet, ehe er dahin gelangte. Aber nichts von dem. Er selbst verwunderte sich jetzt über die Leichtigkeit, mit welcher er sich von Amyneh getrennt hatte, die er doch am Tage zuvor noch vergötterte, und indem er sich so freien und leichten Herzens, fast gleichgültig gegen den Verlust fühlte, den er sich auferlegt hatte, erkannte er mit Bewunderung die tiefe Weisheit des indischen Derwischs. Dieser hatte ihm, als Kassem auf der Unmöglichkeit, sich von seiner Frau zu trennen, bestanden, die Gleichgültigkeit, die er in diesem Augenblicke empfand, ganz genau vorhergesagt.

– Die menschlichen Leidenschaften, so hatte der Weise sich ausgedrückt, sind keineswegs so stark, noch so schwer zu brechen, wie der große Haufe der Menschen sich einbildet. Unerschöpflich in ihrem Wesen, haben sie doch nur einen Schein von Macht, und wenn man mit Gewalt den Fuß darauf setzt, so seufzen sie erst, dann schweigen sie, und als Schatten, denn das sind sie, werden sie am Ende vor dem unerbittlichen Willen bald zunichte. Wer zweifelt daran? die schwachen Seelen; aber wir, die wir zur Herrschaft über die Welt, über die anderen Menschen und vor allem über uns selbst geschaffen sind, wir wissen, daß es hierum so bestellt ist. Verlaßt Euer Haus, macht Euch auf, und Euer Haupt, von verderblichen Sorgen befreit, wird nicht sobald in der freien Luft sein, so werdet Ihr Euch wundern über die Ängste, deren Gespenster Eure Einbildungskraft in diesem Augenblicke sieht, und die nicht wagen werden, Euch auch nur anzugreifen.

Und so war es. Kassem dachte an Amyneh nur wie an einen fernen Traum, der keine Einwirkung mehr auf den Geist ausübt; und, wie wir gesehen, ganz und gar seinen unermeßlichen Entwürfen hingegeben, deuchte ihn, als schwebe er auf ihren Flügeln dahin. Er fand sich in sich wieder, ruhig und glücklich.

Acht Tage vergingen so. Jeden Abend kam er in ein Dorf und setzte sich unter den Baum, welcher die Mitte des Hauptplatzes bedeckte. Die ältesten der Bauern, der Mulla, manchmal ein oder mehrere andere Derwische, Wanderer gleich ihm, setzten sich ihm zur Seite, und ein Teil der Nacht verfloß in Unterhaltungen der verschiedensten Art. Bald waren es Reiseberichte, bald Schlachtenberichte; oft wurden die schwierigsten Fragen der Metaphysik von diesen Bauernköpfen verhandelt, wie das im ganzen Orient so der Brauch ist, und man hörte gern Kassems Bemerkungen, denn man sah wohl, daß er studiert hatte. Was die zum Leben notwendigen Dinge anlangte, so fand er allerwärts leicht eine Matte, um sich niederzulegen, und seine Reisportion. Er hatte sich zu wiederholten Malen nach dem erkundigt, den er einholen wollte. Man hatte ihn vorbeiziehen sehen: er dachte, da der Inder wenig Vorsprung vor ihm hätte, so würde er ihn leicht einholen.

Am neunten Tage der Reise ging er, wie gewöhnlich, in lebhaftem Schritte seines Weges dahin und blickte ohne Langeweile und ohne Ermüdung auf den unendlichen Bereich der Wüste, welche, steinig, gewellt, von Schluchten, Felsen, Hügeln durchschnitten, ganz fern am Horizonte von zwei Reihen prächtiger Berge eingefaßt war, die das Spiel des Lichtes gleich Edelsteinen färbte, als er im tiefsten Inneren seiner Seele einen unerwarteten Druck, eine plötzliche Wallung, einen Schmerz, einen Ruf inne wurde. Seine Seele kehrte sich sozusagen auf sich selbst und sprach zu ihm: Amyneh!

Sie hatte es ganz leise gesagt. Er hörte es trotzdem, und mit ihm hörte es sein Herz, und mit seinem Herzen alle Fibern seines Wesens und alle Echos, die in seinem Gedächtnisse, seinem Gefühle, seinem Verstande, seiner Phantasie, seinen Gedanken vorhanden waren, all dieses wachte auf und begann mit Leidenschaft zu rufen: Amyneh!

Es war, wie wenn Kinder nach ihrer Mutter verlangen, wie den Unglücklichen sein mußte, welche in den Wogen der Sündflut ertranken, als sie ihre Hände zum Himmel erhoben und weinend sagten: rette uns!

Er war gar überrascht, Kassem, er war gar überrascht! Er glaubte, daß die ganze Vergangenheit verschwunden wäre; keineswegs; die Vergangenheit zeigte sich gerade vor ihm, laut brauste sie heran, als Herrscherin, ihr Gut, ihre Beute zurückfordernd, ihn, Kassem, zurückfordernd, und er hörte etwas wie ein drohendes Gemurmel: was hast du mit der Wissenschaft zu schaffen? Was willst du mit der höchsten Gewalt? Was gehen dich die Magie und die Herrschaft der Welten an? Du gehörst der Liebe! Du bist der Sklave der Liebe! Der Liebe entlaufener Sklave, komm zurück zu deiner Herrin!

Und wie Kassem gesenkten Hauptes seinen Weg fortsetzte, da holte ihn die fast unzertrennliche Gefährtin einer tiefen Liebe, ihre rächende Gefährtin ein, und eine unwiderstehliche Traurigkeit bemächtigte sich seiner, ganz wie das Dunkel der Nacht am Abend das Gefilde überfällt.

Vergebens setzte sich der junge Mann zur Wehre, er war gefangen, war wiedergefangen. Er hatte geglaubt, daß es nichts wäre, Amyneh zu lieben und sie zu verlassen. Aber die Liebe hatte seiner gespottet. Er wiederholte sich: die Leidenschaft ist nichts; man blicke ihr nur ins Gesicht, dann fällt sie hin!

Wohl sah er ihr ins Gesicht; sie fiel nicht hin; sie bemeisterte ihn, und er war es, der sich schwach, ja schwach werden fühlte, und der sich niederwarf. Er wollte sie verjagen, aber wer war der Herr in ihm? Die Liebe oder er? Die Liebe war es! und die Liebe wiederholte unermüdlich: Amyneh!

Und alles in des armen Kassem gesamtem Wesen hub wieder an und sprach: Amyneh!

Und diese Stimme, und diese flehenden, erzürnten, eigensinnigen, mit einem Worte, allmächtigen Stimmen hörten nicht mehr auf, und Kassem vernahm in seinem Inneren nur noch diese einzigen Worte: Amyneh! meine Amyneh!

Was tun? Was er tat. Er blieb standhaft und setzte seinen Weg fort. Er ging so vor sich hin; er hatte all seinen Frohsinn, all seine Begeisterung, alle seine Hoffnungen, ja selbst das Gefallen an seinen Hoffnungen verloren, und er nagte an der Bitternis eines tiefen, unheilbaren Kummers. Bei jedem Schritte empfand er, daß er sich, nicht von seinem Glücke, nein, von der Quelle seines Lebens entferne; sein Leben war schwerer, beengter, mühseliger, kampfreicher, weniger wertvoll und flößte dem, der es hinschleppte, geringeres Verlangen ein, es zu behalten. Und doch schritt er fürder, der arme Liebende.

– Ich kann nicht zurück; ich habe versprochen, habe gelobt, zu dem Inder zu stoßen. Wie sollte ich seine Geheimnisse nicht erfahren? O Amyneh! meine Amyneh! meine teure, vielgeliebte Amyneh!

Es ist sehr schade, daß die Menschen, welche viel Phantasie und Gemüt haben, vom Geschick nicht in die Verfassung gebracht sind, nur ein einzig Ding auf einmal zu wollen. Wie gut würde alles für sie verlaufen! Wie frei, ungeteilt, rückhaltlos, unbedenklich und sorglos würden sie sich der einzigen Leidenschaft hingeben, die sie erfaßte! Unglücklicherweise erlegt ihnen der Himmel immer mehrere Aufgaben auf. Kein Zweifel, weil sie mehr und besser sehen als die andern, haben sie ihre Gedanken vieler Orten eindringen lassen; sie lieben dies, sie lieben das. Sie wollen wie Kassem die unaussprechlichen Geheimnisse besitzen, und wie er lieben sie ein Weib zur gleichen Zeit, wo sie die Wissenschaft lieben, und können nicht mit Maßen, mit Ruhe lieben; was alles wieder ins Gleiche bringen würde. Nein! zu ihrem Unglücke müssen die Leute wie Kassem nichts halb tun können und verlangen von sich selbst nach vielen Seiten immer das Vollkommene. Es begegnet ihnen fast immer, daß sie tief unglücklich sind, weil sie nicht alles auf einmal zu erreichen vermögen.

Wenn er wenigstens die Zuversicht gehabt hätte, welche seine Schwester Zemrud sich bemüht hatte, Amyneh einzuflößen: in einem, in zwei Jahren heimzukehren . . . Aber nein! Er konnte diesen Trost nicht als möglich gelten lassen. Er wußte, daß er, einmal in der Gewalt des indischen Derwischs, für immer als Richtschnur seiner Lebensführung die befolgen würde: die Erkenntnis ist langwierig, und das Leben ist kurz. So war es denn geschehen um die Bilder, welche die Vergangenheit ihm zeigte; seine Glückseligkeit war erloschen.

– Am Ende werde ich alt werden, sagte er sich; ich werde alt werden; werde Amyneh vergessen.

Diese Vorstellung tat ihm mehr weh als alles Übrige zusammen genommen. Er wollte lieber leiden, wollte sich lieber auf den Tod vom Schmerze gemartert fühlen. Er wollte nicht vergessen! das hieß, sich selbst verleugnen, zunichte werden und einem neuen Kassem Platz machen, welchen er nicht kannte und aus dem Grunde haßte.

Er versuchte sich zu beruhigen in dem Gedanken an die schönen Dinge, die er erfahren sollte, und an die Wunder, die zu schauen ihm jeden Tag vergönnt sein würde, und die, so fügte er voll Überzeugung hinzu, die Herrlichkeit der glänzendsten Erdendinge, ja sogar, sagte er sich ganz leise, Amynehs Schönheit bei weitem übertreffen.

Diese Einflüsterung seines Verstandes machte ihn schaudern, und eine Stimme erhub sich in seinem Herzen, welche bitter erwiderte: und Amynehs Liebe? Gibt es auch etwas in höchster Himmelshöhe, das sie an Wert überragte?

So war denn Kassem so vollkommen unglücklich, so niedergeschlagen, so traurig, wie nur ein Mensch sein kann. Er tat heiße Gelübde, um so bald wie möglich dem Derwisch zu begegnen; denn es erfaßten ihn derartige Anfälle von Mutlosigkeit, daß er sich zuweilen auf die Erde warf und dem Schluchzen überließ.

– Wenn er bei mir ist, sagte er sich, werde ich abgezogen werden, werde an das denken, was er mir sagt. Er wird mich zum hehren Schauen der Wahrheit zurückführen. Ich werde nicht glücklich sein, aber Mut wiederfinden; denn den brauche ich. Mein Los ist, den großen Plänen meines Meisters zu dienen; ich will mein Los tragen.

Im Grunde hatte er nichts mehr auf der Welt, das ihn fesselte. Zwischen zwei Leidenschaften hin und her gezogen, hegte er – so sehr er litt – nur noch den einen Wunsch, einen Augenblick der Rast zu gewinnen und zu erfahren, was Ruhe sei, und den Frieden zu kosten. Wie die Tage dahingingen, kam es so weit mit ihm, daß er gar nicht mehr wußte, was ihn in dieser Welt glücklich machen könnte, so sehr deuchte ihm nur von unmöglichen Dingen zu träumen. Amyneh! Sie war so fern! Sie entfernte sich mit jedem Tage! Er hatte sie verloren; dieses angebetete Bild war in seinen Tränen versunken, er sah es nicht mehr recht; vom vielen Trauern, Sehnen, Herbeirufen, Beweinen und Nichterreichenkönnen schien es ihm in der Welt, in der er selber lebte, nicht mehr vorhanden zu sein, keine Wirklichkeit auf Erden zu haben; er wagte nicht mehr an die Möglichkeit zu glauben, es jemals wiederzugewinnen, und die Liebe zur Wissenschaft wiederum, die erste, einzige Ursache seines Kummers, ob er die noch empfand, war er sich nicht recht sicher.

Aber in diesem Punkte täuschte er sich. Die schmerzliche Wißbegierde, zu deren Sklaven ihn die Worte des Derwischs gemacht hatten, hielt ihn in Wirklichkeit fester umklammert, als er glaubte. Es war ihm nicht recht klar, warum ihm in seiner Vereinsamung, in seiner Verlassenheit die erzürnte und leidende Liebe ihre Qualen nicht erspare, und doch hätte er begreifen müssen, daß diese Liebe, so mächtig, wenn es galt, ihn zu martern, dennoch nicht gänzlich Siegerin blieb; denn bei alledem und trotz alledem kehrte Kassem, von diesem Stachel durchbohrt, nicht etwa wieder um; er zog seines Weges, aber nicht nach Amyneh zu; er zog seines Weges, um den Derwisch wiederzufinden, und er schien eine Kette am Halse zu haben, die ihn zog. Diese Kette war sein Kismet, sein Los. Er war dahingeschlichen, wider Willen, seinen Gefühlen, seinen Wünschen, seinem Herzen, seiner Leidenschaft, allem zum Trotz; und doch zog er seines Weges und konnte nicht anders.

Was noch seltsamer war, daß er im Grunde weit entfernt war, zu wissen, was er suchen wollte, und noch weniger, was er zu erringen gedachte. Der Inder hatte ihm nur all seine Macht gezeigt und versichert, daß er seiner bedürfe. Sein aufgeregter Sinn, seine plötzlich in Feuer und Flammen gesetzte Phantasie taten, sagten das übrige. Er wollte schauen, er wollte dienen; er sah nur ganz unbestimmt Höhen und Tiefen, über denen der Schwindel schwebte; er wollte sich willenlos diesem Schwindel, diesem gigantischen Genius in die Arme, an den Hals werfen, dessen Blicke, auf die seines inneren Menschen gerichtet, ihn bezauberten, und, einmal in dieser furchtbaren Gemeinschaft, wußte er nicht, was ihm begegnen würde; aber er suchte auch gar nicht einmal es auszuforschen. Es war in Wahrheit der Schwindel, auf den er es abgesehen hatte.

Ich weiß nicht, ob die leidenschaftliche Liebe jemals anerkennen kann, daß eine andere Leidenschaft eine würdige Nebenbuhlerin für sie sei; aber wenn es eine gibt, der sie dieses Recht einräumte, oder die sie sich's aneignen zu lassen geneigt wäre, ohne sich allzusehr zu entrüsten, so, scheint es, muß es gerade die sein, welche Kassem in ihre krampfhaften Arme preßte. Begeisterung gegen Begeisterung, Raserei gegen Raserei; die der einen kommt der der anderen gleich; auf der einen wie auf der anderen Seite gleich viel Entsagung, gleich viel Erkenntnis, vielleicht gleich viel Blindheit; und wenn die Liebe sich rühmen kann, die Seele, welche sie in die blauen Himmelsgefilde der Sehnsucht entrückt, über die Gemeinheiten der Erde hinweg mit sich fortzureißen, so hat ihre Nebenbuhlerin, eben die, welche Kassems Seele gleichzeitig mit der Liebe besaß, das Recht, zuversichtlich zu antworten, daß die Macht, die sie ausübe, auf nicht weniger erhabene Ziele gerichtet sei. So durcheilte der unglückliche Liebende die steinigen Ebenen, von einer unerbittlichen Sonne ausgeglüht, bar alles dessen, was nach Vegetation ausgesehen hätte: vor seinen unachtsamen Augen hatte er immer Horizonte, deren Kreise unermeßlich waren und sich unaufhörlich ausdehnten; er ging vorwärts, und litt, und weinte, und er fühlte sich vergehen, und dennoch zog er seines Weges.

Es half ihm nichts, daß er vorwärts kam, es gelang ihm nicht, seinen Meister zu erreichen. Seit vierzehn Tagen bereits hatte er seine Spur verloren; er hatte gefragt, er befrug die Dorfleute, die Reisenden; niemand hatte den Inder gesehen. Man kannte ihn nicht. Ohne Zweifel hatte Kassem in irgendeinem Augenblicke eine andere Richtung eingeschlagen, was in diesen Gegenden nicht schwer hält, wo es, genau genommen, keinerlei Weg gibt. Aber Kassem konnte sich nicht erwehren, in diesem Umstande die Macht seines Kismets zu erkennen.

– Wenn ich meinen Meister, sagte er sich mit Bitterkeit, in den ersten Tagen, wo der Schmerz mich befallen, angetroffen hätte, so würde ich ohne Zweifel nicht die Kraft besessen haben, ihn ihm zu verbergen. Er hätte mich streng getadelt, und ich hätte bei dieser unbesonnenen Mitteilung nichts gewonnen als beständige Vorwürfe, und vielleicht . . . wie! vielleicht? . . . Ganz gewiß ein Mißtrauen, das, ohne mir Amyneh wiederzugeben, mich unzweifelhaft jahrelang dem Heiligtum der Wissenschaft, dessen ich für unwürdig erklärt worden wäre, ganz fern gehalten haben würde. Jetzt habe ich es nicht mehr in der Hand, weil ich den Kelch der Leiden bis auf den Grund geleert habe, in der Tiefe meines Unglücks wie versunken bin und gar nicht auch nur daran denke, mich je herauszuziehen. Nein! ich werde dem Inder nicht ein Wort sagen! Ich werde ihm mein Geheimnis nicht zeigen! Er könnte es nicht begreifen. Er ist ein hartes Gemüt, allem verschlossen, was nicht das Erhabene ist, das er aufsucht. Er ist bereits Gott; ich, ach! ach! Was bin ich? Ach! was bin ich?

Kassem zog durch viele Länder, durch verlassene, durch bewohnte Stätten; er wurde hier leutselig, anderwärts übel aufgenommen; er kam in Städte; er durcheilte die Straßen Herats und sodann die des großen Kabul. Aber er war von einer tiefen Gleichgültigkeit gegen alles. In der Tat, man konnte nicht sagen, daß er lebte. Die doppelte Überspannung, welche sein Wesen hinriß und zerriß, ließ ihn nicht einen Augenblick auf das Niveau der alltäglichen Interessen herabsinken. Er wanderte, aber er träumte und sah nur seine Träume. Es war ein Wunder, daß er die Erde mit dem Fuße berührte, denn er war ganz und gar nicht auf der Erde. Als er Kabul erreicht hatte, hielt er sich, wie ich eben sagte, keineswegs damit auf, die Merkwürdigkeiten dieser berühmten Stadt zu besichtigen, welche bekanntlich in Stein gebaute und dazu mehrstöckige Häuser hat, sondern er beeilte sich, aus ihr herauszukommen, und nach einigen Tagen gelangte er zu den Höhlen von Bamyan, wo er sicher war, den Derwisch zu finden. In der Tat, nachdem er deren zwei oder drei durchsucht, gewahrte er beim Eintritt in eine der Grotten seinen Meister, auf einem Steine sitzend und mit der Spitze seines Stabes Linien ziehend, deren kunstvolle Verbindungen auf ein Wahrsagewerk deuteten.

Ohne das Haupt zu wenden, rief der Inder mit der wohlklingenden Stimme, welche bei ihm so merkwürdig war: gelobt sei der höchste Gott! Er hat seinen Dienern die Mittel verliehen, nie überrascht zu werden! Tritt näher, mein Sohn! Genau in diesem Momente des Tages mußtest du ankommen! Da kommst du, da bist du! Ich lobe deinen Eifer, dessen unendliche Reinheit mir verbürgt ist; ich lobe deine Hochsinnigkeit und Hochherzigkeit; meine Berechnungen beweisen sie mir, und ich kann nicht daran zweifeln. Von dir kann ich nur lauter Gutes, lauter Tugendsames, lauter Hilfreiches erwarten, und dennoch, ich weiß nicht, wie es kommt, daß unerklärliche Hindernisse vor unseren Arbeiten aufsteigen!

Kassem näherte sich bescheiden und küßte dem Weisen die Hand. Aber dieser, in seine Betrachtungen versunken, schlug gar nicht einmal das Auge nach ihm auf und verblieb im unbeweglichen Anschauen der Linienverbindungen, welche er in den Sand gezeichnet hatte und an welchen er nachdenklich Abänderungen vornahm. Der junge Mann sah ihn mit einer Art von schwärmerischem Glücke an. Er fühlte sich nicht mehr allein. Er war einem Wesen nahe, das in seiner Weise ihn liebte, das ihn schätzte, dem er etwas war und das auf ihn zählte. Er hätte gar gern den Derwisch umarmt; er hätte sich an seinen Hals werfen, ihn an sein leidendes Herz drücken mögen. Aber es schien nicht, daß etwas Derartiges möglich wäre; Kassem schob diese Gedanken, fast über sich selbst lächelnd, beiseite; er begnügte sich, seinen Meister mit inniger Zuneigung schweigend zu betrachten, ohne zu versuchen, ihn in dem Nachsinnen zu unterbrechen, darin dieser fortfuhr, und dessen Tiefe er bewunderte, ohne es zu verstehen. Endlich indessen erhob der Inder das Haupt und schaute seinen Gefährten unverwandten Blickes an.

– Die Stunde ist gekommen, sagte er; wir sind am festgesetzten Ort: wir wollen unsere Arbeiten beginnen. Hoffen wir alles, wie es auch sein mag!

– Was sucht Ihr? sprach Kassem zu ihm; was erwartet Ihr? was wollt Ihr?

– Ich weiß nicht, antwortete der Inder; was ich will, das kenne ich nicht. Was ich kenne, ist unermeßlich. Not tut mir das Jenseits. Not tut mir das letzte Wort. Wenn ich es habe, sollst du es teilen, und ohne die unzähligen Straßen gezogen zu sein, die ich durchlaufen habe, sollst du alles besitzen, ohne Sorge, ohne meine Ängste, ohne mein Herzeleid, ohne meine Zweifel, ohne mein Verzweifeln. Begreifst du? Bist du glücklich?

Kassem schauderte.

– Ohne Verzweifeln? sprach er zu sich selbst, ist das wohl wahr? Werde ich nicht ebensoviel gezahlt haben wie er?

Gleichwohl fühlte er sich von den Worten seines Meisters hingerissen. Sein Herz belebte sich neu und jubelte auf. Er hoffte nun auch. Er war einem seiner Lebensziele nahe. Einen Augenblick vergaß er das andere.

– Auf! rief er kraftvoll, gehen wir! Ich folge Euch! ich bin bereit!

– Du hast keine Furcht? murmelte der Derwisch.

– Vor nichts in der Welt! erwiderte Kassem. In Wahrheit, das Leben war von allem das, woran er am wenigsten hing.

Der Derwisch erhob sich und ging in die Grotte. Kassem folgte ihm. Sie versenkten sich in die Tiefen der Erde. Bald ließ des Tages Helle sie im Stich. Sie schritten fürder, in der Dämmerung, bald dann in der Finsternis. Der eine wie der andere sprach kein Wort. Nach Verlauf einiger Zeit fühlte Kassem unter seinen vorgehaltenen Händen den bloßen Felsen, und er bemerkte, daß der Derwisch ihn mit seinen Fingern betastete. Um sie her häuften sich Steinblöcke, welche bei Erdstürzen dorthin geschleudert worden waren und welche sie erstiegen hatten. Der Derwisch stöhnte tief, schöpfte Atem und begann abermals zu stöhnen. Kassem machte sich klar, daß sein Meister die Felsen zu verrücken suchte. Plötzlich fühlte er sich kräftig bei der Hand gefaßt, und der Derwisch, der ihn gewaltsam mit sich zurückriß, brachte ihn an einen Ort, wo ein Streifen Tageslicht hereinbrach.

– Es ist etwas in dir, rief er, was uns am Gelingen hindert! Ich sehe es jetzt, ich weiß es, ich bin dessen gewiß! Du bist rechtschaffen, du bist hingebend, du bist gut und treu! Aber es ist da ein Etwas! Ich weiß nicht, was! Du bist nicht ganz ungeteilt beim heiligen Werke! Rede! Gestehe!

– Es ist wahr, antwortete Kassem zitternd, es ist wahr; verzeiht mir. Ich bin nicht so, wie ich sollte.

– Was gibt's? rief der Derwisch, die Zähne aufeinanderpressend; verbirg mir nichts, mein Sohn, ich muß alles wissen, um Abhilfe zu schaffen. Habe keine Furcht, rede!

Kassem zauderte einen Augenblick. Er war ganz bleich geworden. Er begriff, daß er nicht zaudern dürfe. Er war dort nicht im Angesichte der Welt, sondern im Angesicht einer furchtbaren Unendlichkeit.

– Ich liebe, sagte er.

– Was?

– Amyneh!

– Ach! Unglücklicher!

Der Inder rang die Hände und blieb wie versunken in einen Schmerz, der keine Worte fand. Endlich bezwang er sich.

– Du kannst mir nicht viel helfen, sagte er. Dein guter Wille ist gelähmt. Hier bedarf es einer freien Seele; die deine ist es nicht. Indessen, du bist ganz rein von allem Bösen; du warst derjenige, den ich bedurfte . . . Du vermagst noch etwas . . . Ich werde nicht zurückweichen . . . Ich werde alles besitzen . . . besitzen, was ich will!. . . Aber um welchen Preis! . . . Du aber, du wirst nichts besitzen. Nichts! Verstehst du? . . . Es ist nicht meine Schuld! es ist nicht die deine! Ach! ein Weib! . . . ein Weib! . . . Fluch sei den Weibern! Sie sind der Verderb! sind die Geißel, gegen die kein Widerstand ist! sind das Verderben! . . . Und dennoch gehen wir! komm mit mir! in einer Viertelstunde wäre es zu spät!

Als er diese letzten Worte vollendet, rief eine Stimme am Eingang der Höhle: komm, Kassem, komm!

Kassem schauderte an allen Gliedern. Ihm schien, als erkenne er diese Stimme. Aber der Inder faßte ihn mit Macht und, ihn halb gewaltsam mit sich fortreißend, rief er ihm zu: hör nicht drauf, oder alles ist verloren!

Die Stimme ließ sich von neuem vernehmen: komm, Kassem, komm!

Kassem wurde halb wahnsinnig. Er erkannte die Stimme vollkommen; aber sein alter Meister riß ihn immer noch mit sich fort und rief ihm zu: kehre dich nicht, um! hör nicht drauf! Folge mir! Ich weiß, daß ich sterben werde! Aber wenigstens will ich sterbend finden!

Kassem ließ sich hinreißen. Er ging, er ward geschleppt, aber er leistete keinen Widerstand. Seine Liebe zu seinem Meister, eine fieberhafte, rasende Wißbegierde beherrschte ihn. Er wußte, wer ihn rief: er hatte keinen anderen Willen mehr, als dem furchtbaren Geheimnis entgegenzueilen. Plötzlich befand er sich dicht am Felsen, an der nämlichen Stelle, wo einige Augenblicke früher seine Hände getastet. hatten.

– Stelle dich dahin, sagte der Inder, indem er ihn in eine Art Einbiegung tief hineinstieß; da! da! Gut! . . . Du läufst weniger Gefahr, und jetzt – ich weiß es, ich fühle es – werde ich alles erfahren!

Kassem hörte ihn von neuem stöhnen, stoßen, zerren, schlagen; und zu gleicher Zelt standen ihm die Haare zu Berge vor Grausen, denn der Derwisch sprach in einer gänzlich unbekannten Sprache Formeln im Kehlton, deren Macht gewiß unwiderstehlich war. Plötzlich ließ sich ein fürchterliches Getöse in der Grotte vernehmen; Kassem fühlte, wie die Steine sich heftig bewegten, die Erde unter seinen Füßen wankte; die Felsen entglitten seinen Händen, das Licht drang von allen Seiten ein; ein entsetzlicher Einsturz hatte das Gewölbe geöffnet; er blickte hin, er sah den Derwisch nicht mehr, und an der Stelle, wo der weise, allmächtige Zauberer einen Augenblick vorher noch gewesen sein mußte, türmte sich ein Haufe ungeheurer Trümmer auf, welche von ihrer Stelle zu heben alle Menschenkräfte ohnmächtig gewesen wären; aber am Eingang der Höhle, die hinfort vom Lichte des Tages überströmt war, sah Kassem Amyneh, bleich, atemlos, ihm die Arme entgegenstreckend. Er eilte auf sie zu, er schloß sie in seine Arme, er schaute sie an; ja, sie war es. Sie hatte es nicht übers Herz bringen können, ihn zu erwarten. Sie war ihm nachgegangen, sie war ihm gefolgt; sie fand ihn wieder, sie behielt ihn.


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