Goethe
Sankt-Rochus-Fest zu Bingen
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Eine große Bewegung aber verkündet: nun komme die Hauptprozession von Bingen herauf.

Man eilt den Hügelrücken hin, ihr entgegen.

Und nun erstaunt man auf einmal über den schönen, herrlich veränderten Landschaftsblick in eine ganz neue Szene.

Die Stadt, an sich wohl gebaut und erhalten, Gärten und Baumgruppen um sie her, am Ende eines wichtigen Tales, wo die Nahe herauskommt.

Und nun der Rhein, der Mäuseturm, die Ehrenburg!

Im Hintergrunde die ernsten und grauen Felswände, in die sich der mächtige Fluß eindrängt und verbirgt.

Die Prozession kommt bergauf, gereiht und geordnet wie die übrigen.

Vorweg die kleinsten Knaben, Jünglinge und Männer hinterdrein.

Getragen der heilige Rochus, in schwarzsamtenem Pilgerkleide, dazu, von gleichem Stoff, einen langen goldverbrämten Königsmantel, unter welchem ein kleiner Hund, das Brot zwischen den Zähnen haltend, hervorschaut.

Folgen sogleich mittlere Knaben in kurzen schwarzen Pilgerkutten, Muscheln auf Hut und Kragen, Stäbe in Händen.

Dann treten ernste Männer heran, weder für Bauern noch Bürger zu halten.

An ihren ausgearbeiteten Gesichtern glaubt' ich Schiffer zu erkennen, Menschen, die ein gefährliches, bedenkliches Handwerk, wo jeder Augenblick sinnig beachtet werden muß, ihr ganzes Leben über sorgfältig betreiben.

Ein rotseidner Baldachin wankte herauf; unter ihm verehrte man das Hochwürdigste, vom Bischof getragen, von Geistlichwürdigen umgeben, von östreichischen Kriegern begleitet, gefolgt von zeitigen Autoritäten.

So ward vorgeschritten, um dies politisch-religiöse Fest zu feiern, welches für ein Symbol gelten sollte des wiedergewonnenen linken Rheinufers sowie der Glaubensfreiheit an Wunder und Zeichen.

Sollte ich aber die allgemeinsten Eindrücke kürzlich aussprechen, die alle Prozessionen bei mir zurückließen, so würde ich sagen: die Kinder waren sämtlich froh, wohlgemut und behäglich als bei einem neuen, wundersamen, heitern Ereignis.

Die jungen Leute dagegen traten gleichgültig anher.

Denn sie, in böser Zeit geborne, konnte das Fest an nichts erinnern, und wer sich des Guten nicht erinnert, hofft nicht.

Die Alten aber waren alle gerührt, als von einem glücklichen, für sie unnütz zurückkehrenden Zeitalter.

Hieraus ersehen wir, daß des Menschen Leben nur insofern etwas wert ist, als es eine Folge hat.

Nun aber ward von diesem edlen und vielfach-würdigen Vorschreiten der Betrachter unschicklich abgezogen und weggestört durch einen Lärm im Rücken, durch ein wunderliches, gemein-heftiges Geschrei.

Auch hier wiederholte sich die Erfahrung, daß ernste, traurige, ja schreckliche Schicksale oft durch ein unversehenes, abgeschmacktes Ereignis, als von einem lächerlichen Zwischenspiel, unterbrochen werden.

An dem Hügel rückwärts entsteht ein seltsames Rufen, es sind nicht Töne des Haders, des Schreckens, der Wut, aber doch wild genug.

Zwischen Gestein und Busch und Gestripp irrt eine aufgeregte, hin und wider laufende Menge, rufend: halt!

– Hier!

– Da!

– Dort!

– Nun!

– Hier!

– Nun heran!

– So schallt es mit allerlei Tönen; Hunderte beschäftigen sich laufend, springend mit hastigem Ungetüm, als jagend und verfolgend. Doch gerade in dem Augenblick, als der Bischof mit dem hochehrwürdigen Zug die Höhe erreicht, wird das Rätsel gelöst.

Ein flinker, derber Bursche läuft hervor, einen blutenden Dachs behaglich vorzuweisen.

Das arme schuldlose Tier, durch die Bewegung der andringenden frommen Menge aufgeschreckt, abgeschnitten von seinem Bau, wird, am schonungsreichsten Feste, von den immer unbarmherzigen Menschen im segenvollsten Augenblicke getötet.

Gleichgewicht und Ernst war jedoch alsobald wieder hergestellt und die Aufmerksamkeit auf eine neue, staatlich heranziehende Prozession gelockt.

Denn indem der Bischof nach der Kirche zuwallte, trat die Gemeinde von Bidenheim, so zahlreich als anständig, heran.

Auch hier mißlang der Versuch, den Charakter dieser einzelnen Ortschaft zu erforschen.

Wir, durch so viel Verwirrendes verwirrt, ließen sie in die immer wachsende Verwirrung ruhig dahinziehen.

Alles drängte sich nun gegen die Kapelle und strebte zu derselben hinein.

Wir, durch die Wege seitwärts geschoben, verweilten im Freien, um an der Rückseite des Hügels der weiten Aussicht zu genießen, die sich in das Tal eröffnet, in welchem die Nahe ungesehen heranschleicht.

Hier beherrscht ein gesundes Auge die mannigfaltigste, fruchtbarste Gegend, bis zu dem Fuße des Donnersbergs, dessen mächtiger Rücken den Hintergrund majestätisch abschließt.

Nun wurden wir aber sogleich gewahr, daß wir uns dem Lebensgenusse näherten.

Gezelte, Buden, Bänke, Schirme aller Art standen hier aufgereiht.

Ein willkommener Geruch gebratenen Fettes drang uns entgegen. Beschäftigt fanden wir eine junge tätige Wirtin, umgehend einen glühenden, weiten Aschenhaufen, frische Würste – sie war eine Metzgerstochter – zu braten.

Durch eigenes Handreichen und vieler flinker Diener unablässige Bemühung wußte sie einer solchen Masse von zuströmenden Gästen genugzutun.

Auch wir, mit fetter, dampfender Speise nebst frischem, trefflichen Brot reichlich versehen, bemühten uns, Platz an einem geschirmten langen, schon besetzten Tische zu nehmen.

Freundliche Leute rückten zusammen, und wir erfreuten uns angenehmer Nachbarschaft, ja liebenswürdiger Gesellschaft, die von dem Ufer der Nahe zu dem erneuten Fest gekommen war.


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