Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Von alledem, was Tschitschikow erwartete, geschah jedoch nichts. Zuerst wachte er viel später auf, als er sich vorgenommen hatte – das war die erste Unannehmlichkeit. Als er aufgestanden war, schickte er sofort hinunter, um zu erfahren, ob der Wagen angespannt und alles fertig sei; man meldete ihm aber, daß der Wagen noch nicht angespannt und noch nichts fertig sei – das war die zweite Unannehmlichkeit. Er geriet in Wut und nahm sich sogar vor, unserem Freunde Sselifan ein ordentliches Donnerwetter zu machen und wartete nur mit Ungeduld, mit was für Ausreden dieser wohl kommen würde. Bald erschien Sselifan an der Schwelle, und der Herr hatte das Vergnügen, von ihm die bewußten Reden zu hören, die man immer von seiner Dienerschaft zu hören bekommt, wenn man in aller Eile abreisen will.
»Pawel Iwanowitsch, man muß ja noch die Pferde beschlagen.«
»Ach du, Tölpel! Warum hast du mir das nicht früher gesagt? Hast du vielleicht keine Zeit gehabt?«
»Zeit habe ich wohl gehabt . . . Dann sind auch die Räder nicht in Ordnung, Pawel Iwanowitsch, man wird sie neu bereifen müssen, denn die Straßen sind jetzt ausgefahren und holperig . . . Außerdem muß ich melden: der Vorderteil des Wagens ist ganz aus den Fugen, so daß der Wagen vielleicht schon nach zwei Stationen entzweigeht.«
»Gemeiner Kerl!« schrie Tschitschikow und schlug die Hände zusammen. Dann ging er so nahe auf Sselifan zu, daß dieser, aus Angst, von seinem Herrn ein Geschenk zu bekommen, zurücktaumelte und auf die Seite wich.
»Willst du mich morden? Wie? Willst du mich erstechen? Willst du mich auf der Landstraße umbringen, du Räuber, du verfluchter Tölpel, du Meerungeheuer? Drei Wochen sitzen wir doch auf dem gleichen Fleck! Wenn du doch nur ein Wort gesagt hättest, du Taugenichts, hast es aber für die letzte Stunde aufgespart! Wo man schon ganz Spannung ist und nur einzusteigen und wegzufahren braucht? Und da mußtest du mir so übel mitspielen, wie? Du hast es doch schon früher gewußt? Was? Antworte! Hast du es gewußt?«
»Ich hab' es gewußt«, antwortete Sselifan mit gesenktem Kopf.
»Nun, warum hast du es nicht früher gesagt, wie?«
Auf diese Frage gab Sselifan keine Antwort; wie er aber mit gesenktem Kopfe dastand, schien er sich selbst zu sagen: – Es hat sich wirklich so seltsam gefügt: ich hab' es wohl gewußt, aber nicht gesagt! –
»Geh jetzt hin und hol einen Schmied. Alles muß in zwei Stunden fertig sein. Hörst du? Unbedingt in zwei Stunden; und wenn nicht, so werde ich dich, so werde ich dich . . . zu einem Widderhorn biegen, zu einem Knoten zusammenbinden!« Unser Held war sehr zornig.
Sselifan wandte sich schon zur Türe, um den Auftrag seines Herrn auszuführen, blieb aber stehen und sagte: »Noch eines, Herr: den Schecken sollte man verkaufen, denn er ist ein ganz gemeiner Kerl, Pawel Iwanowitsch; Gott möchte einen jeden vor einem solchen Gaul behüten, er stört nur beim Fahren.«
»Ja, gewiß, gleich laufe ich auf den Markt, um ihn zu verkaufen!«
»Bei Gott, Pawel Iwanowitsch, der sieht nur so aus, als ob er was taugte, in Wirklichkeit ist er aber ein Gauner von einem Gaul, einen solchen Gaul kann man nirgends . . .«
»Dummkopf! Wenn ich ihn mal verkaufen will, so verkaufe ich ihn. Was kommst du noch mit langen Erklärungen! Ich werde mal sehen: wenn du mir nicht sofort die Schmiede holst und wenn nicht in zwei Stunden alles fertig ist, so beutele ich dich so durch, daß du dein eigenes Gesicht nicht erkennst! Marsch! Geh!« Sselifan ging.
Tschitschikow geriet in die übelste Laune und schleuderte den Säbel, den er auf Reisen immer bei sich führte, um den Leuten, von denen er Respekt verlangte, solchen einzuflößen, zu Boden. Über eine Viertelstunde verhandelte er mit den Schmieden, ehe er mit ihnen handelseinig wurde, denn die Schmiede waren, wie das immer so ist, abgefeimte Gauner: als sie merkten, daß die Arbeit sehr dringend war, verlangten sie den sechsfachen Preis. Wie sehr er sich auch ereiferte und sie Spitzbuben, Räuber und Ausbeuter der Durchreisenden nannte, wobei er sogar auf das Jüngste Gericht hinwies – alles machte auf die Schmiede nicht den geringsten Eindruck; sie zeigten eine große Charakterstärke und ließen nicht nur nichts vom Preise nach, sondern vertrödelten statt der zwei Stunden ganze fünfeinhalb. Während dieser Zeit hatte er das Vergnügen, die einem jeden Reisenden bekannten angenehmen Augenblicke zu durchkosten, wenn der Koffer gepackt ist und im Zimmer nur noch Bindfaden, Papierfetzen und sonstige Abfälle herumliegen, wenn der Mensch weder als Reisender noch als Ansässiger anzusehen ist und durch das Fenster langsam vorbeigehende Menschen sieht, die über ihre Groschen sprechen und mit einer eigentümlichen dummen Neugier die Augen heben, um ihn anzublicken und dann ihren Weg fortzusetzen, was die üble Laune des armen, nicht abreisen könnenden Reisenden nur noch verschlimmert. Alles, was er sieht: der kleine Kramladen vor seinem Fenster, der Kopf der Alten, die im Hause gegenüber wohnt und ab und zu an das Fenster mit dem kurzen Vorhang tritt – alles ist ihm widerlich, und doch geht er nicht vom Fenster weg. Er steht da, bald ganz geistesabwesend, bald mit stumpfem Interesse alle beweglichen und unbeweglichen Dinge betrachtend, und zerdrückt vor lauter Ärger eine Fliege, die unter seinem Finger summt und mit den Flügeln gegen die Fensterscheibe schlägt. Alles nimmt aber ein Ende, und der ersehnte Augenblick ist da: alles ist fertig, der Vorderteil des Wagens ist ordentlich befestigt, das Rad ist neu bereift, die Pferde sind von der Tränke zurückgekommen, und die räuberischen Schmiede sind, nachdem sie die ihnen ausgezahlten Rubelscheine nachgezählt und dem Reisenden alles Gute gewünscht haben, abgezogen. Endlich waren die Pferde angespannt, zwei soeben gekaufte, heiße Wecken in den Wagen gepackt, und auch Sselifan hatte sich schon etwas in die am Bocke angebrachte Tasche gesteckt; unser Held setzte sich in Gegenwart des Polowoi, der die Mütze schwenkend in seinem obligaten baumwollenen Rock vor der Türe stand, wie auch der anderen Lakaien und Kutscher, wie solcher, die zum Gasthaus gehörten, so auch der fremden, die sich versammelt hatten, um zu sehen, wie ein fremder Herr die Stadt verläßt und die auch bei jeder anderen Ausfahrt zugegen sind, in die Equipage – und der Wagen, von der Art, wie ihn die Junggesellen haben, der in dieser Stadt eine so lange Station gemacht hatte und dessen die Leser wohl schon überdrüssig geworden sind, rollte endlich zum Tore des Gasthauses hinaus. – Gott sei Dank! – dachte sich Tschitschikow, indem er sich bekreuzigte. Sselifan holte mit der Peitsche aus, Petruschka, der einige Minuten auf dem Trittbrett geschwebt hatte, stieg zum Kutscher hinauf, unser Held setzte sich recht bequem auf dem kaukasischen Teppich zurecht, schob sich ein Lederkissen in den Rücken, drückte sich die beiden heißen Wecken an den Körper, und die Equipage begann wieder zu hüpfen und zu springen, infolge des Pflasters, das bekanntlich die Kraft besaß, jeden Gegenstand in die Höhe zu werfen. Mit einem seltsamen, undefinierbaren Gefühl betrachtete er die Häuser, die Mauern, den Bretterzaun und die Straßen, die auch ihrerseits in einer scheinbar hüpfenden Bewegung langsam zurücktraten und von denen nur der liebe Gott allein wußte, ob Tschitschikow sie je wieder in seinem Leben sehen würde. An einer Straßenkreuzung mußte der Wagen halten, weil durch die Quergasse eine endlose Beerdigungsprozession zog. Tschitschikow steckte den Kopf aus dem Wagen und befahl Petruschka, zu erfragen, wer da beerdigt werde; er erfuhr, daß es die Beerdigung des Staatsanwalts war. Von den unangenehmsten Empfindungen erfüllt, drückte er sich sofort in eine Ecke, zog das Lederverdeck hoch und den Vorhang zu. Während die Equipage stillstand, betrachteten Sselifan und Petruschka, die Köpfe fromm entblößt, den Leichenzug und zählten genau nach, wie viele Fußgänger und Equipagen an der Prozession teilnahmen; Tschitschikow hatte ihnen befohlen, sich keinem erkennen zu geben und keinen der ihnen bekannten Lakaien zu grüßen und blickte selbst ängstlich durch die kleinen Fensterchen im ledernen Verdeck hinaus. Dem Sarge folgten entblößten Hauptes alle Beamten. Er fürchtete anfangs, sie könnten seine Equipage erkennen, sie hatten aber ganz andere Sorgen. Sie führten nicht mal die üblichen Gespräche, die stets bei einem Leichenzuge geführt werden. Die Gedanken eines jeden waren nur auf sich selbst gerichtet: sie dachten daran, was der neue Generalgouverneur wohl für ein Mensch sei, wie er wohl die Sache anpacken und wie er sie empfangen werde. Den zu Fuß gehenden Beamten folgten geschlossene Wagen, aus denen Damen mit Trauerhauben hervorblickten. Nach den Bewegungen ihrer Lippen und Hände zu schließen, waren sie in lebhafte Gespräche vertieft; vielleicht sprachen auch sie über die Ankunft des neuen Generalgouverneurs, stellten Kombinationen über die Bälle an, die er geben würde, und redeten von ihren ewigen Festons und Kleiderbesätzen. Diesen Equipagen folgten im Gänsemarsche einige leere Droschken, nach diesen kam aber nichts mehr, und unser Held konnte weiterfahren. Er ließ das Lederverdeck herunter, seufzte und sprach aus tiefster Seele: »Ja, der Staatsanwalt! Er hat gelebt und gelebt und ist dann gestorben! Und nun werden die Zeitungen berichten, er sei, zum größten Leidwesen seiner Untergebenen und der ganzen Menschheit, als ein geachteter Bürger, ein seltener Vater und ein musterhafter Gatte gestorben; noch vieles andere werden sie schreiben; vielleicht werden sie noch hinzufügen, daß ihn die Tränen der Witwen und Waisen zum Grabe begleitet hätten; wenn man aber die Sache vernünftig betrachtet, so gelangt man zum Schluß, daß er bloß buschige Augenbrauen gehabt hat und sonst nichts.« Jetzt befahl er Sselifan, schneller zu fahren und dachte sich dabei: – Es ist eigentlich gut, daß ich einem Leichenzuge begegnet bin; man sagt, es bedeute Glück, wenn man einer Leiche begegnet. –
Der Wagen bog indessen in ödere Straßen ein, und bald zogen sich nur die langen Bretterzäune hin, die das Ende der Stadt ankündigten. Nun war auch das Straßenpflaster zu Ende, die Stadt blieb hinter dem Schlagbaume zurück, und Tschitschikow war wieder unterwegs. Wieder flogen zu beiden Seiten der Landstraße die bekannten Bilder vorbei: Werstpfähle, Stationsaufseher, Ziehbrunnen, lange Reihen von Fuhren, graue Dörfer mit ihren Samowars, Bauernweibern und dem flinken bärtigen Wirt, der mit einem Sack Hafer in der Hand aus dem Wirtshause gelaufen kommt; ein Fußgänger in durchgeriebenen Bastschuhen, der schon achthundert Werst zurückgelegt hat; schnell erbaute Städtchen mit ihren Bretterbuden, Mehlfässern, Bastschuhen, Wecken und sonstigem Kram; scheckige Schlagbäume, in Reparatur befindliche Brücken, unübersehbare Felder zu beiden Seiten der Straße, Gutsbesitzerkutschen, ein berittener Soldat, der einen grünen Kasten mit blauen Bohnen und der Inschrift: »Artilleriebrigade Nummer soundso« mit sich führt; grüne, gelbe und frisch aufgewühlte schwarze Streifen in der Steppe; aus der Ferne klingt ein Lied herüber; Fichtenwipfel verschwinden im Nebel, in der Ferne verhallt Glockengeläute; Krähen wie die Fliegen und ein Horizont ohne Ende . . . Rußland! Rußland! Ich sehe dich, aus meiner herrlichen, schönen Ferne sehe ich dich. Arm, weit verstreut und unfreundlich ist alles in dir; nichts erheitert, nichts erschreckt den Blick: keine kühnen Wunder der Natur, von kühnen Wundern der Kunst gekrönt – keine Städte mit vielfenstrigen, hohen, in Felsen eingebauten Palästen; keine malerischen Bäume, kein die Häuser umrankender Efeu, im ewigen Staube der Wasserfälle; der Kopf fällt nicht in den Nacken, um die sich über ihm und in der Höhe endlos türmenden Felsblöcke zu betrachten; es leuchten nicht durch die übereinandergetürmten dunklen, von Reben, Efeu und zahllosen Millionen wilder Rosen umschlungenen Bogen – es leuchten nicht in der Ferne die ewigen Linien der strahlenden Berge, die in einen silbernen, heiteren Himmel ragen. Offen und wüst und flach ist alles in dir; wie Punkte, wie kleine Zeichen ragen unansehnlich aus der Ebene deine niederen Städte: nichts verführt, nichts bezaubert den Blick. Doch welch eine unergründliche, geheimnisvolle Kraft zieht mich zu dir? Warum klingt und schallt mir unaufhörlich dein trauriges Lied ins Ohr, das dich deiner ganzen Länge und Breite nach vom einen Meere zum andern durchzieht? Was liegt darin, in diesem Liede? Was ist's, was da ruft und schluchzt und ans Herz greift? Was sind das für Töne, die so schmerzvoll küssen, in die Seele dringen und mein Herz umschweben? Rußland! Was willst du von mir? Welch ein unfaßbares Band ist zwischen uns? Was blickst du so und warum richtet alles, was in dir ist, seine erwartungsvollen Blicke auf mich? . . . So stehe ich noch ratlos und unbeweglich da, doch eine Gewitterwolke beschattet schon mein Haupt, künftige Regengüsse verheißend, und mein Denken erstarrt vor deiner weiten Ausdehnung. Was verheißt dein grenzenloser Raum? Ist's möglich, daß hier in dir der unendliche Gedanke nicht geboren werde, wo du doch selbst kein Ende hast? Sollte hier nicht der Recke erscheinen, für den es in dir genug Raum gibt, daß er sich entfalte und bewege? Drohend umfängt mich dein mächtiger Raum, der sich mit furchtbarer Kraft in meinem Innern spiegelt; eine überirdische Gewalt erleuchtet meine Augen . . . Oh, welch eine funkelnde, herrliche, der Welt noch unbekannte Ferne! Rußland! . . .
»Halt, halt, Dummkopf!« rief Tschitschikow Sselifan zu.
»Da gebe ich dir gleich eins mit dem Säbel!« schrie ein entgegensausender Feldjäger mit einem ellenlangen Schnurrbart. »Siehst du denn nicht, der Teufel schinde deine Seele, daß es eine Staatsequipage ist?« Und wie ein Gespenst verschwand unter Donner und Staub die Troika.
Wieviel Seltsames und Lockendes, Emporhebendes und Herrliches liegt in dem einen Wort: Reisen! Wie herrlich ist sie selbst, diese Fahrt! Ein heiterer Tag, herbstliches Laub, kalte Luft . . . Du hüllst dich fester in deinen Mantel, ziehst die Mütze über die Ohren und drückst dich enger und gemütlicher in die Ecke! Zum letztenmal hat ein kalter Schauer deine Glieder ergriffen, und schon ist an seine Stelle eine wohlige Wärme getreten. Die Pferde rasen dahin . . . Wie verführerisch schleicht der Schlummer heran, die Augenlider fallen zu, und du hörst wie im Schlafe das Lied vom weißen Schnee, das Schnauben der Pferde, das Rasseln der Räder, und schon schnarchst du und drängst deinen Nachbar in die Ecke. Wenn du erwachst, liegen schon fünf Stationen hinter dir; Mondlicht; eine unbekannte Stadt; Kirchen mit altertümlichen Holzkuppeln und schwarzen Turmspitzen; dunkle hölzerne und weiße gemauerte Häuser; Mondlicht hier und da, als ob weiße Leinentücher an den Wänden hingen und auf den Straßen und auf dem Pflaster lägen; kohlschwarze Schatten durchschneiden sie schräg; wie schimmerndes Metall glänzen die schräg beleuchteten Schindeldächer; und keine Seele weit und breit: alles schläft. Höchstens brennt noch in einem Fensterchen ein einsames Licht: ist's ein Handwerker, der ein Paar Stiefel näht, ist's ein Bäcker, der sich bei seinem kleinen Ofen zu schaffen macht? Was kümmert's uns? Und erst die Nacht!. . . Himmlische Mächte! Welch eine Nacht begibt sich dort oben in der Höhe! Und die Luft, und der Himmel, der ferne, hohe Himmel in seiner unerreichbaren Tiefe, der sich so grenzenlos wohltönend und heiter breitet! . . . Doch ein kalter nächtlicher Hauch weht dir kühl in die Augen und schläfert dich ein, und schon schlummerst du, vergißt dich und schnarchst – und ärgerlich wirft sich dein armer, in die Ecke gedrückter Reisegenosse hin und her, als er deine Last auf sich fühlt. Du erwachst – und wieder liegen vor dir Felder und Steppen; nichts ist zu sehen, alles ist leer, alles ist offen. Ein Werstpfahl fliegt dir mit seiner Zahl in die Augen; der Morgen bricht an; am weißen, kalten Horizont schimmert ein bleicher goldener Streif; frischer und steifer wird der Wind; du hüllst dich fester in deinen warmen Mantel! . . . Welch eine herrliche Kälte! Welch ein herrlicher Schlaf, in den du aufs neue versinkst! Ein Stoß – und du erwachst wieder. Die Sonne steht schon hoch am Himmel. »Vorsicht! Vorsicht!« ruft eine Stimme; der Wagen fährt einen steilen Abhang hinab; unten ist ein breiter Mühlendamm und ein großer klarer Teich, der wie ein Messingdeckel in der Sonne glänzt; ein Dorf, die Häuser liegen am Abhang zerstreut; wie ein Stern strahlt seitwärts das Kreuz der Dorfkirche; Geschwätz der Bauern und ein unerträglicher Appetit im Magen . . . Gott! Wie schön ist zuweilen auch eine weite, weite Reise! Wie oft habe ich schon wie ein Ertrinkender und Untergehender nach dir gegriffen, und wie oft hast du mich großmütig errettet! Und wieviel herrliche Pläne, poetische Träume sind schon auf einer solchen Fahrt entstanden, wieviel wunderbare Eindrücke gabst du den Sinnen! . . .
Auch unser Freund Tschitschikow hatte auf seiner Fahrt durchaus keine ausgesprochen prosaischen Träume. Wollen wir mal untersuchen, was er fühlte. Anfangs fühlte er nichts und blickte nur ab und zu zurück, um sich zu vergewissern, daß er die Stadt tatsächlich verlassen hatte; als er aber sah, daß die Stadt schon längst verschwunden war, daß von den Schmieden, Mühlen und sonstigen Dingen, die in der Nähe der Städte zu sein pflegen, keine Spur mehr zu sehen war und selbst die weißen Türme der steinernen Kirchen in den Erdboden versunken waren, richtete er seine ganze Aufmerksamkeit auf die Fahrt, blickte nur nach rechts und nach links, und die Stadt N. war ganz seinem Gedächtnisse entschwunden, als hätte er sie vor langer Zeit, in seiner Kindheit, auf der Durchreise berührt. Zuletzt interessierte ihn auch die Fahrt nicht mehr; er schloß ein wenig die Augen und ließ seinen Kopf auf das Kissen fallen. Der Autor muß gestehen, daß er sich darüber freut, weil er endlich einmal Gelegenheit hat, einiges über seinen Helden zu erzählen, während ihm bisher immer, wie es der Leser schon sah, bald Nosdrjow, bald die Bälle, bald die Damen, bald der städtische Klatsch und bald die Tausende von Bagatellen im Wege waren, die nur dann als Bagatellen erscheinen, wenn sie im Buche stehen, aber, solange sie in die Wirklichkeit gehören, als höchst wichtige Angelegenheiten angesehen werden. Jetzt wollen wir aber dies alles beiseite lassen und an die Sache schreiten.
Es ist sehr zweifelhaft, ob der von uns erwählte Held den Lesern gefallen wird. Daß er den Damen nicht gefallen wird, darf man wohl positiv behaupten, denn die Damen verlangen, daß ein Held die Vollkommenheit selbst sei; der geringste seelische oder körperliche Makel macht ihn sofort unmöglich. Wenn der Autor ihm noch so tief in die Seele hineinblickt und sein Bild reiner als ein Spiegel zeichnet, so wird das dem Helden nicht den geringsten Wert verleihen. Sogar die Korpulenz und das mittlere Alter Tschitschikows werden ihm viel schaden: die Korpulenz wird man ihm auf keinen Fall verzeihen, und sehr viele Damen werden sich von ihm abwenden und sagen: »Pfui, wie garstig!« Das alles ist dem Autor wohl bekannt, und dennoch kann er sich leider keinen tugendhaften Menschen zum Helden wählen. Aber . . . vielleicht wird man in dieser selben Erzählung andere, noch niemals angeschlagene Saiten hören, den unendlichen Reichtum des russischen Geistes kennenlernen, einen mit göttlichen Tugenden begabten Mann erblicken oder ein herrliches russisches Mädchen, das in der ganzen Welt nicht seinesgleichen hat, mit der ganzen wunderbaren Schönheit der weiblichen Seele, die ganz aus großmütigem Streben und Selbstaufopferung besteht. Und vor ihnen werden die tugendhaften Menschen aller anderen Völker ebenso leblos erscheinen, wie das tote Buch vor dem lebendigen Wort! Russische Regungen werden sich bemerkbar machen . . . und die Leser werden sehen, wie tief in die Natur des Slaven das eingedrungen ist, was die Natur der anderen Völker nur oberflächlich berührt hat . . . Warum sollen wir aber von Dingen sprechen, die in der Zukunft liegen? Es ziemt sich nicht für den Autor, der schon längst ein vom strengen Innenleben und von der erfrischenden Nüchternheit der Vereinsamung erzogener, gereifter Mann ist, sich gleich dem Jüngling zu vergessen. Alles kommt einmal an die Reihe, alles hat seine Zeit und seinen Platz! Und doch hat der Autor keinen tugendhaften Menschen zum Helden erwählt. Man darf sogar verraten, warum. Weil es endlich einmal Zeit ist, den armen tugendhaften Menschen in Ruhe zu lassen; weil das Wort »tugendhafter Mensch« unnütz von allen Lippen gesprochen wird; weil man den tugendhaften Menschen schon längst zu einem Pferd gemacht hat und es keinen Schriftsteller gibt, der nicht fortwährend auf ihm herumritte und ihn mit der Peitsche und jedem anderen Gegenstand antriebe; weil man den tugendhaften Menschen dermaßen müde gehetzt und ausgehungert hat, daß an ihm nicht mal ein Schatten der Tugend zu sehen ist und nur noch Rippen und Haut statt eines Körpers geblieben sind; weil man den tugendhaften Menschen nur noch mit heuchlerischen Lippen anruft; weil man den tugendhaften Menschen mißachtet. Nein, es ist endlich Zeit, auch mal einen Schurken vorzuspannen. Also wollen wir einen Schurken vorspannen!
Dunkel und bescheiden ist die Herkunft unseres Helden. Seine Eltern waren vom Adel, ob es aber alter oder persönlicher Adel war, das weiß Gott allein. Im Gesicht hatte er keine Ähnlichkeit mit ihnen: wenigstens hatte eine Verwandte, die bei seiner Geburt anwesend war, eine kleine, kurze Frau, wie man sie »Kiebitz« zu nennen pflegt, nachdem sie das Kind auf die Arme genommen, ausgerufen: »Er ist doch ganz anders geraten, als ich erwartet hatte! Er hätte doch der Großmutter mütterlicherseits ähnlich sehen sollen, was auch sicher das beste für ihn wäre, er ist aber, wie das Sprichwort sagt, ›weder Mutter noch Vater, sondern einem durchreisenden Gesellen‹ nachgeraten.« Das Leben sah ihn anfangs mit einer sauren, unfreundlichen Miene durch ein trübes, schneeverwehtes Fenster an; keinen Freund, keinen Gespielen hatte er in seinen Kinderjahren! Ein kleines Zimmerchen mit kleinen Fensterchen, die weder im Sommer noch im Winter geöffnet wurden; der Vater – ein kranker Mann in einem langen, mit Lammfell gefütterten Rock und gestrickten Pantoffeln, die er auf den bloßen Füßen trug, ein Mann, der im Aufundabgehen unaufhörlich seufzte und in den in der Ecke stehenden Sandnapf spuckte; das ewige Sitzen auf der Bank mit der Feder in der Hand und Tinte auf den Fingern und selbst auf den Lippen; die ewige Vorschrift vor den Augen: »Lüge nicht, folge den Erwachsenen und trage die Tugend in deinem Herzen«; das ewige Scharren und Schlürfen der Pantoffeln durchs Zimmer und die wohlvertraute, doch immer strenge Stimme: »Wieder machst du Dummheiten!«, die immer ertönte, wenn das Kind, der Einförmigkeit seiner Arbeit überdrüssig, an irgendeinem Buchstaben einen Schnörkel oder einen Schwanz anbrachte; und das ewig bekannte und immer unangenehme Gefühl, wenn nach diesen Worten sein Ohr sehr schmerzvoll von den Nägeln der langen, von hinten heranlangenden Finger zusammengekniffen wurde: das ist das elende Bild seiner frühesten Kindheit, von der er kaum eine blasse Erinnerung bewahrt hat. Aber alles ändert sich im Leben schnell und schleunig: eines Tages, als die erste Frühlingssonne leuchtete und die Frühlingsgewässer rieselten, setzte sich der Vater mit seinem Sohn in einen kleinen Wagen, den ein braungeschecktes Pferdchen schleppte, von der Art, wie sie von den Pferdehändlern »Elstern« genannt werden; den Wagen lenkte ein kleiner buckliger Kutscher, der Stammvater der einzigen leibeigenen Familie, die dem Vater Tschitschikows gehörte, ein Mann, der im Hause fast alle Ämter versah. Mit dieser Elster fuhren sie mehr als anderthalb Tage; unterwegs übernachteten sie, fuhren durch einen Fluß, aßen kalten Fleischkuchen und Hammelbraten und erreichten erst am Morgen des dritten Tages die Stadt. Den Knaben überraschten die unerwartet prächtigen Straßen, die er einige Minuten lang mit weit aufgerissenem Munde betrachtete. Dann plumpste die Elster mit dem Wagen in eine Grube, mit der eine enge Gasse begann, die abwärts strebte und voller Schmutz war; lange arbeitete sie dort aus aller Kraft, zappelte mit den Beinen und zog schließlich, vom buckligen Kutscher und vom Herrn selbst angespornt, den Wagen in einen kleinen Hof, der auf dem Abhange lag; auf dem Hofe befand sich ein altes Häuschen, vor dem zwei Apfelbäume blühten und hinter dem ein kleines niedriges Gärtchen lag, das nur aus Ebereschen und Holundersträuchen bestand und eine kleine Bretterhütte mit einem Schindeldach und einem schmalen trüben Fensterchen in sich barg. Hier wohnte eine Verwandte, eine schwache Alte, die aber noch immer jeden Morgen auf den Markt ging und nachher ihre Strümpfe am Samowar trocknete. Sie tätschelte dem Jungen die Wangen und bewunderte seine Körperfülle. Bei dieser Alten mußte er nun bleiben und jeden Tag in die städtische Schule gehen. Der Vater übernachtete und fuhr gleich am nächsten Morgen wieder ab. Beim Abschied vergoß er keine Träne; er schenkte dem Sohne einen halben Rubel in Kupfer für seine Ausgaben und Näschereien und gab, was viel wichtiger war, eine kleine Belehrung dazu: »Paß auf, Pawluscha: lerne fleißig, mach' keine Dummheiten, sei kein Schlingel; bemühe dich aber vor allem, deinen Lehrern und Vorgesetzten gefällig zu sein. Wenn du deinem Vorgesetzten immer gefällig bist, so wirst du, auch wenn du keine Fortschritte im Lernen machst und Gott dir keine Talente gegeben hat, doch deinen Weg machen und alle überholen. Halte dich von deinen Kameraden fern: sie werden dich nichts Gutes lehren; und wenn du schon mit jemand verkehrst, so suche dir die Reicheren aus, die dir bei Gelegenheit nützlich sein werden. Halte niemand frei; benimm dich lieber so, daß die anderen dich freihalten; vor allen Dingen spare aber jede Kopeke: sie ist zuverlässiger als alles in der Welt. Ein Kamerad oder Freund wird dich begaunern und im Unglück verraten, die Kopeke bleibt dir aber auch in der größten Not treu. Mit der Kopeke kannst du alles erreichen und jedes Hindernis überwinden.« Nachdem er ihm diese Lehre erteilt hatte, verabschiedete sich der Vater von seinem Sohne und ließ sich von der Elster nach Hause schleppen; Pawluscha sah ihn nie wieder, aber seine Worte und Lehren drangen ihm tief ins Herz.
Pawluscha begann gleich am folgenden Tage die Schule zu besuchen. Besondere Fähigkeiten für irgendeine bestimmte Wissenschaft waren an ihm nicht zu erkennen; er zeichnete sich mehr durch Fleiß und Sauberkeit aus, zeigte großen Verstand in praktischen Dingen. Er erfaßte sofort die Situation und stellte sich zu seinen Kameraden so, daß sie ihn freihielten, er sie aber nicht nur niemals freihielt, sondern zuweilen auch ihre Gaben auf die Seite tat, um sie später ihnen selbst zu verkaufen. Schon als Kind übte er Enthaltsamkeit. Von dem halben Rubel, den ihm sein Vater geschenkt hatte, gab er keine Kopeke aus; im Gegenteil: er vergrößerte schon im Laufe des ersten Jahres dieses Kapital, wobei er einen ungewöhnlichen Geschäftssinn zeigte. Er knetete aus Wachs einen Gimpel, strich ihn an und verkaufte ihn mit großem Vorteil. Nach einiger Zeit ließ er sich auf andere Spekulationen ein: er kaufte auf dem Markte allerlei Eßwaren ein und setzte sich dann in der Klasse neben die reicheren Schüler; sobald er merkte, daß es einem Kameraden übel wurde – was auf den beginnenden Hunger hinwies –, so zeigte er ihm wie zufällig aus der Bank den Rand eines Lebkuchens oder einer Semmel; nachdem er dem anderen auf diese Weise ordentlich Appetit gemacht hatte, verkaufte er ihm das Backwerk zu einem Preis, der dem Appetit des Betreffenden entsprach. Zwei Monate gab er sich in seiner Wohnung unermüdlich mit einer Maus ab, die er in einen kleinen Holzkäfig eingesperrt hatte, und erreichte es schließlich, daß die Maus Männchen machen und auf Kommando sich hinlegen und wieder aufstehen konnte; dann verkaufte er sie gleichfalls sehr vorteilhaft. Als er auf diese Weise fünf Rubel zurückgelegt hatte, nähte er das Säckchen zu und begann ein neues mit Geld zu füllen. Gegen die Obrigkeit benahm er sich noch klüger. Niemand verstand so schön ruhig auf seiner Bank zu sitzen wie er. Es ist zu bemerken, daß der Lehrer die Ruhe und das gute Betragen über alles schätzte und die klugen und aufgeweckten Jungen nicht ausstehen konnte; er glaubte immer, daß diese über ihn lachen müßten. Einer, der ihm nur einmal durch seinen Witz aufgefallen war, brauchte sich nur zu rühren oder ohne jede böse Absicht mit der Wimper zu zucken, um den ganzen Zorn des Lehrers heraufzubeschwören. Einen solchen Schüler verfolgte und bestrafte er ohne jede Nachsicht. »Ich werde dir deinen Hochmut und Trotz schon austreiben!« pflegte er zu sagen. »Ich kenne dich durch und durch, so wie du dich selbst nicht kennst. Du wirst mir die ganze Stunde knien müssen! Du wirst auch das Hungern lernen!« Und der arme Junge mußte, ohne selbst zu wissen, warum, sich die Knie wund reiben und ganze Tage hungern. »Fähigkeiten und Begabung sind Unsinn!« pflegte der Lehrer zu sagen. »Ich sehe nur auf Betragen. Einer, der einen Buchstaben vom anderen nicht unterscheiden kann, sich aber gut benimmt, bekommt von mir in allen Fächern die besten Noten; aber einem, an dem ich eine schlechte Geistesrichtung und Spottlust bemerke, gebe ich eine Null, und wenn er auch den Solon an Weisheit übertrifft!« So sprach dieser Lehrer, der den Fabeldichter Krylow wie den Tod haßte, weil dieser mal gesagt hatte: »Sauf soviel du willst, wenn du nur deine Sache verstehst«, und der mit freudestrahlendem Gesicht zu erzählen pflegte, daß in der Schule, in der er früher unterrichtet hatte, eine solche Stille geherrscht habe, daß man eine Fliege vorbeifliegen hören konnte, daß keiner von den Schülern im Laufe des ganzen Jahres während des Unterrichts gehustet oder sich geschneuzt habe und daß man bis zum Glockenzeichen mit dem bloßen Gehör nicht hätte erkennen können, ob jemand in der Klasse war oder nicht. Tschitschikow erfaßte sofort den Geist dieses Lehrers und begriff, wie er sich zu benehmen hatte. Während der ganzen Stunde bewegte er kein Auge und zuckte nicht mit der Wimper, und wenn man ihn von hinten noch so zwickte; sobald das Glockenzeichen ertönte, sprang er Hals über Kopf auf und reichte dem Lehrer als erster die Mütze mit den drei Klappen (der Lehrer trug stets eine Mütze mit drei Klappen); nachdem er ihm die Mütze gereicht hatte, verließ er als erster das Klassenzimmer und bemühte sich, dem Lehrer auf dessen Heimwege mindestens dreimal zu begegnen, wobei er jedesmal vor ihm die Mütze zog. Diese Politik hatte vollen Erfolg. Während der ganzen Schulzeit war er stets gut angeschrieben; beim Verlassen der Schule bekam er aber die besten Noten in allen Gegenständen, ein lobendes Attest und ein Buch mit der goldenen Inschrift: »Für musterhaften Fleiß und vorzügliches Betragen.« Er verließ die Schule als Jüngling von recht sympathischem Äußern, mit einem Kinn, das schon nach dem Rasiermesser verlangte. Um diese Zeit starb sein Vater. Die Erbschaft bestand aus vier gänzlich abgetragenen Unterjacken, zwei alten, mit Lammfell gefütterten Röcken und einer ganz kleinen Geldsumme. Der Vater verstand offenbar nur, gute Lehren über das Sparen zu erteilen, hatte aber selbst gar nichts gespart. Tschitschikow verkaufte sofort das baufällige Häuschen mit dem unbedeutenden Grundbesitz für tausend Rubel und übersiedelte mit der leibeigenen Familie in die Stadt, in der Absicht, sich da niederzulassen und in den Staatsdienst zu treten. Um diese Zeit wurde der arme Lehrer, der so sehr die Ruhe und das gute Betragen schätzte, wegen Dummheit oder wegen eines anderen Vergehens aus der Schule gejagt. Vor Kummer begann er zu trinken; bald hatte er kein Geld mehr dazu; krank, ohne ein Stück Brot und ohne Hilfe darbte er, ganz verlassen, in einem ungeheizten Loch. Als seine früheren Schüler, die Klugen und Aufgeweckten, in denen er immer Trotz und Hochmut gewittert hatte, von seiner elenden Lage erfuhren, sammelten sie für ihn sofort einen gewissen Geldbetrag, wobei mancher manchen Gegenstand, den er wirklich brauchte, verkaufte; nur Pawluscha Tschitschikow allein beteiligte sich nicht an der Kollekte, unter dem Vorwande, daß er nichts habe, und gab nur ein silbernes Fünfkopekenstück, das ihm die Kameraden mit den Worten: »Ach, du Geizhals!« vor die Füße warfen. Der arme Lehrer bedeckte das Gesicht mit beiden Händen, als er von dieser Tat seiner ehemaligen Schüler erfuhr; die Tränen flossen aus seinen erloschenen Augen in Strömen wie bei einem schwachen Kinde. »Auf dem Totenbette läßt mich Gott weinen!« sagte er mit schwacher Stimme; und als man ihm über Tschitschikow berichtete, seufzte er schwer auf und fügte hinzu: »Ach, Pawluscha! Wie ändert sich doch der Mensch! Was warst du doch für ein braver Junge, ohne die geringste Unart, weich wie Seide! Wie furchtbar hast du mich betrogen!«
Man kann jedoch nicht behaupten, daß die Natur unseres Helden so rauh und hart, daß seine Gefühle so abgestumpft gewesen wären, daß er weder Mitleid noch Barmherzigkeit gekannt habe. Weder das eine noch das andere Gefühl waren ihm fremd; er wäre sogar bereit, seinen Nächsten zu helfen, doch diese Hilfe durfte nicht in größeren Geldsummen bestehen, denn er wollte um keinen Preis das Geld antasten, das er beschlossen hatte, nicht anzutasten; mit einem Worte, der väterliche Rat: »spare jede Kopeke« trug seine Frucht. Er hing aber am Gelde nicht des Geldes wegen; es waren nicht Geiz und Gier, die ihn bewegten. Er hatte ganz andere Beweggründe: ihm schwebte ein Leben mit allen Genüssen und Freuden vor: Equipagen, ein gut eingerichtetes Haus, schmackhaftes Essen – das war es, was seine Gedanken unausgesetzt beschäftigte. Um später einmal, mit der Zeit, dies alles kosten zu können, sparte er jede Kopeke, die er vorläufig sich selbst und den anderen versagte. Wenn an ihm irgendein reicher Mann in einem schönen Rennwagen, mit Trabern in prunkvollem Geschirr, vorüberfuhr, blieb er wie angewurzelt stehen und sagte später, wie aus einem tiefen Traume erwachend: »Und er war doch ein gewöhnlicher Kontorist und trug das Kopfhaar auf Bauernart geschnitten!« Alles, was nach Reichtum und Wohlstand schmeckte, machte auf ihn einen Eindruck, den er sich selbst nicht zu erklären vermochte. Nachdem er die Schule verlassen, wollte er sich auch nicht die kürzeste Ruhe gönnen: so stark war sein Wunsch, so schnell als möglich an die Arbeit zu gehen und in den Dienst zu treten. Trotz der lobenden Atteste gelang es ihm nur mit großer Mühe, einen Posten am Rentamte zu bekommen: auch in der entlegensten Provinz braucht man nämlich Protektion! Der Posten war recht unbedeutend und mit einem Gehalt von nur dreißig oder vierzig Rubel im Jahre verbunden. Er war aber fest entschlossen, sich mit dem größten Eifer dem Dienste zu widmen, alles zu besiegen und zu überwinden. Er zeigte auch in der Tat eine unerhörte Selbstaufopferung, Geduld und Genügsamkeit. Vom frühen Morgen bis zum späten Abend saß er, ohne die geringste geistige oder körperliche Ermüdung, in die Kanzleipapiere vertieft und schrieb; er ging nicht nach Hause, schlief auf den Kanzleitischen, aß oft mit den Kanzleidienern zu Mittag und brachte es bei alledem doch fertig, die größte Reinlichkeit zu beobachten, sich anständig zu kleiden, seinem Gesicht einen angenehmen Ausdruck und seinen Bewegungen einen gewissen Adel zu verleihen. Es muß erwähnt werden, daß die Rentamtsbeamten sich durch besondere Unansehnlichkeit und Häßlichkeit auszeichneten. Die Gesichter mancher von ihnen erinnerten an ein schlecht gebackenes Brot; die eine Backe war geschwollen, das Kinn ragte in die entgegengesetzte Seite, die Oberlippe war zu einer Blase aufgedunsen, die zudem auch noch gesprungen war; mit einem Wort, sie sahen gar nicht schön aus. Sie sprachen alle mit rauher Stimme, als wollten sie jemand verprügeln; sie opferten oft dem Gotte Bacchus und zeigten auf diese Weise, daß in der Natur der Slaven noch vieles Heidnische erhalten geblieben ist; sie kamen zuweilen sogar angetrunken in den Dienst, so daß in den Amtsräumen eine unangenehme Stimmung herrschte und die Luft durchaus nicht aromatisch war. Unter solchen Beamten mußte Tschitschikow, der sich von ihnen wie durch sein angenehmes Gesicht, so auch durch die freundliche Stimme und die strengste Abstinenz unterschied und auszeichnete, unbedingt auffallen. Und doch machte er seine Karriere nur mit der größten Mühe. Er bekam einen alten Abteilungsvorstand zum Vorgesetzten, der ein Muster steinerner Gefühllosigkeit und Unerschütterlichkeit war; ewig unnahbar, hatte er noch niemals gelächelt und niemand selbst mit einer einfachen Frage nach dem Befinden begrüßt. Noch niemals hatte ihn jemand anders gesehen, nicht einmal auf der Straße, nicht einmal zu Hause; wenn er doch wenigstens einmal Teilnahme für etwas gezeigt hätte! Wenn er sich doch wenigstens einmal betrunken und im Trunke gelacht hätte! Wenn er sich doch wenigstens einmal der wilden Ausgelassenheit hingegeben hätte, der sich selbst ein Räuber im Rausche hingibt! – Von alledem sah man bei ihm keine Spur. Er war überhaupt aller Eigenschaften bar, wie der bösen, so auch der guten, und dieser Mangel machte einen grauenhaften Eindruck. Sein hartes, wie aus Marmor gemeißeltes Gesicht, das nicht die geringste Unregelmäßigkeit aufwies, erinnerte an kein anderes Menschengesicht; alle seine Züge waren streng proportioniert. Nur die vielen Pockennarben und Unebenheiten, die sein Gesicht übersäten, machten es zu einem jener Gesichter, auf denen, wie der Volksmund sich ausdrückt, der Teufel nachts Erbsen drischt. Man sollte annehmen, daß kein Mensch es fertigbringen könnte, die Neigung dieses Menschen zu gewinnen; aber Tschitschikow machte dennoch einen Versuch. Zuerst bemühte er sich, ihm in allerlei Kleinigkeiten gefällig zu sein: er studierte sorgfältig, wie die Federn zugeschnitten waren, mit denen der Vorgesetzte zu schreiben pflegte, schnitt dann einige Stück auf die gleiche Art zu und legte ihm immer eine hin, so oft er eine brauchte; er blies und wischte den Streusand und Tabak von seinem Tische weg; er schaffte einen neuen Putzlappen für sein Tintenfaß an; er brachte heraus, wo jener seine Mütze, die elendeste Mütze, die es je auf der Welt gegeben hat, hinzuhängen pflegte und legte sie jedesmal einen Augenblick vor Schluß der Amtsstunden neben ihn; er putzte ihm den Rücken, wenn er sich an der Wand mit Kalk beschmiert hatte. Dies alles blieb aber völlig unbemerkt, als wäre es überhaupt nicht unternommen worden. Endlich erfuhr Tschitschikow einiges über das Familienleben seines Vorgesetzten: daß er eine ältliche Tochter hatte mit einem Gesicht, auf dem wohl gleichfalls der Teufel nachts Erbsen zu dreschen pflegte. An diesem Punkte unternahm er nun seinen Angriff. Er stellte fest, welche Kirche diese Tochter an Sonntagen zu besuchen pflegte und pflanzte sich dann immer, sauber gekleidet, mit steif gestärktem Vorhemd, ihr gegenüber auf. Dies hatte Erfolg: der strenge Abteilungsvorstand konnte dem nicht widerstehen und lud ihn zum Tee ein! Ehe die Kanzleikollegen es sich versahen, gedieh die Sache so weit, daß Tschitschikow zu ihm ins Haus zog und darin zum unentbehrlichsten Menschen wurde: er kaufte Mehl und Zucker ein, behandelte die Tochter als seine Braut, nannte den Abteilungsvorstand Papachen und küßte ihm die Hand. Das ganze Rentamt war überzeugt, daß Ende Februar, vor dem großen Fasten, die Hochzeit stattfinden würde. Der strenge Abteilungsvorstand verwendete sich sogar für ihn bei der vorgesetzten Behörde, und Tschitschikow bekam nach einiger Zeit, als es gerade eine Vakanz gab, selbst den Posten eines Abteilungsvorstandes. Darin bestand wohl auch der Hauptzweck seiner Verbindung mit dem alten Abteilungsvorstand; denn er ließ dann sofort seinen Koffer heimlich zu sich nach Hause schaffen und befand sich schon am nächsten Tage in einer anderen Wohnung. Er hörte auf, den Abteilungsvorstand Papachen zu nennen und ihm die Hand zu küssen; und die Hochzeit kam überhaupt nicht mehr zur Sprache, als wäre von ihr überhaupt nie die Rede gewesen. Sooft er aber dem alten Abteilungsvorstand begegnete, drückte er ihm freundlich die Hand und lud ihn zu einer Tasse Tee ein, so daß der Alte trotz seiner ewigen Unbeweglichkeit und verstockten Gleichgültigkeit jedesmal den Kopf schüttelte und in den Bart brummte: »Betrogen, betrogen hat er mich, der Teufelssohn!«
Das war die schwierigste Schwelle, die er zu überschreiten hatte. Von nun an ging die Sache viel leichter und erfolgreicher. Er lenkte die allgemeine Aufmerksamkeit auf sich. Man nahm an ihm alles wahr, was man in dieser Welt braucht: Anmut in den Manieren und Handlungen und Tüchtigkeit in Geschäften. Mit diesen Mitteln ausgerüstet, erlangte er in kürzester Zeit das, was man ein warmes Plätzchen nennt, und machte davon denkbar besten Gebrauch. Man muß nämlich wissen, daß man um jene Zeit die Bestechlichkeit mit den strengsten Mitteln zu bekämpfen begann. Tschitschikow fürchtete diese Bekämpfung nicht und nützte sie sofort zu seinem eigenen Vorteil aus, wobei er die echt russische Erfindungsgabe zeigte, die nur unter dem Drucke von Verfolgungen erblüht. Er machte die Sache wie folgt: wenn ein Bittsteller kam und die Hand in die Tasche steckte, um einige der bekannten Empfehlungsbriefe mit der Unterschrift des Fürsten Chowanskij, wie man bei uns in Rußland die Banknoten zu nennen pflegt, hervorzuholen, faßte er den Besucher bei der Hand und sagte mit einem Lächeln: »Nein, nein! Sie glauben wohl, daß ich . . . Nein, nein! Das ist unsere Pflicht, unsere Schuldigkeit; das müssen wir ohne jede Bezahlung tun! In dieser Beziehung können Sie ganz unbesorgt sein: die Sache wird morgen erledigt werden. Darf ich Sie um Ihre Adresse bitten? Sie brauchen sich nicht mehr herzubemühen: alles wird Ihnen ins Haus geschickt.« Der entzückte Bittsteller kehrt fast begeistert nach Hause zurück und denkt sich: – Da ist endlich ein Mensch, wie wir solche möglichst viel haben müßten! Ein wahrer Edelstein! – Der Bittsteller wartet aber einen Tag, einen zweiten – er bekommt nichts ins Haus zugestellt; auch am dritten Tage nicht. Er geht in die Kanzlei – in seiner Sache ist noch nichts geschehen; er wendet sich an den Edelstein selbst. »Ach, entschuldigen Sie!« sagt Tschitschikow äußerst höflich, indem er die beiden Hände des Besuchers ergreift: »Wir hatten so viel zu tun, aber morgen wird es erledigt werden, morgen, ganz bestimmt! Ich muß mich wirklich genieren!« Alle diese Worte begleitete er mit den bezauberndsten Gesten. Wenn dabei der Schlafrock aufging, so suchte die Hand die Sache sofort gutzumachen und den Rockschoß festzuhalten. Aber auch morgen und übermorgen und auch am dritten Tage bekam der Bittsteller nichts ins Haus gebracht. Nun wird er nachdenklich: »Hat die Sache vielleicht doch einen Haken?« Er erkundigt sich und erfährt, daß man den Schreibern etwas geben muß. »Warum sollte ich ihnen nichts geben? Auf ein paar Fünfundzwanzigkopekenstücke kommt es mir nicht an.« – »Nein, die Schreiber kriegen keine Fünfundzwanzigkopekenstücke, sondern je fünfundzwanzig Rubel.« – »Was, je fünfundzwanzig Rubel für die Schreiber?!« ruft der Bittsteller aus. – »Was ereifern Sie sich so?« antwortet man ihm: »Es ist ganz in Ordnung: die Schreiber bekommen je fünfundzwanzig Kopeken, und der Rest geht an den Amtsvorstand.« Der einfältige Bittsteller versetzt sich einen Klaps auf die Stirn und schimpft, was er schimpfen kann, auf die neue Ordnung: auf den Kampf gegen die Bestechlichkeit und auf die höflichen, veredelten Umgangsformen der Beamten. »Früher wußte man wenigstens, was man zu tun hatte: man gab dem Amtsvorstand einen Zehnrubelschein, und die Sache war erledigt; heute muß man aber einem jeden fünfundzwanzig Rubel geben und verliert obendrein eine ganze Woche, ehe man darauf kommt! Hol der Teufel diese Unbestechlichkeit und die edle Gesinnung der Beamten!« Der Bittsteller hat natürlich recht; dafür gibt es jetzt aber keine bestechlichen Beamten; alle Amtsvorstände sind die ehrlichsten und edelsten Menschen; und nur die Sekretäre und die Schreiber sind Spitzbuben. Bald bot sich jedoch Tschitschikow ein viel weiteres Feld für seine Tätigkeit: es wurde eine Kommission zur Errichtung irgendeines sehr großen Amtsgebäudes eingesetzt. Es gelang ihm, bei dieser Kommission unterzukommen, und er wurde zu einem ihrer tätigsten Mitglieder. Die Kommission machte sich unverzüglich an die Sache. Sechs Jahre plagte sie sich mit dem Amtsgebäude ab; aber entweder war das Klima ungünstig, oder lag es an der Beschaffenheit der Baumaterialien – jedenfalls kam der Bau nicht über das Fundament hinaus. Indessen hatte schon jedes der Kommissionsmitglieder an einem anderen Ende der Stadt sein sehr hübsches Haus von bürgerlicher Architektur: offenbar war dort der Boden günstiger. Die Kommissionsmitglieder fingen an, im Wohlstande zu leben und Familien zu gründen. Erst jetzt begann Tschitschikow, sich allmählich von den strengen Fesseln der Enthaltsamkeit und der unerbittlichen Selbstlosigkeit zu befreien. Erst jetzt milderte er seine strengen Fasten, und nun zeigte es sich, daß ihm durchaus kein Verständnis für alle die Genüsse fehlte, deren er sich in den Jahren seiner feurigen Jugend, wo sonst kein Mensch Herr über sich selbst ist, zu enthalten verstanden hatte. Er entfaltete sogar einen gewissen Luxus: er schaffte sich einen recht guten Koch und feine Hemden aus holländischem Leinen an. Auch kaufte er sich für seine Anzüge ein Tuch, wie es nur wenige Leute im Gouvernement trugen; aus dieser Zeit stammt auch seine Vorliebe für die braunen und rötlichen Tuchsorten mit Glanz; schon hatte er sich ein vorzügliches Paar Pferde angeschafft und hielt bei seinen Ausfahrten einen der Zügel mit eigener Hand, damit das eine Beipferd sich wie ein Aal winde; schon gewöhnte er sich die Manier an, sich mit einem in verdünnte Eau de Cologne getauchten Schwamm abzureiben; schon kaufte er eine gewisse gar nicht billige Seife, die der Haut eine wunderbare Glätte verlieh; schon . . .
Plötzlich wurde aber an Stelle der alten Schlafmütze ein neuer Vorgesetzter ernannt, ein strenger Herr vom Militär, ein Feind jeder Bestechlichkeit und Unredlichkeit. Gleich am ersten Tage nach seiner Ernennung jagte er allen Beamten ohne Ausnahme Angst ein, verlangte Rechenschaftsberichte, stellte auf Schritt und Tritt Fehlbeträge fest, entdeckte sofort auch die Häuser von der schönen bürgerlichen Architektur – und das Spiel ging los. Die Beamten wurden entlassen; die Häuser kamen an den Staat und wurden in allerlei wohltätige Anstalten und Kantonistenschulen umgewandelt; alles wurde zerrupft, und Tschitschikow bekam mehr als die anderen ab. Sein Gesicht mißfiel plötzlich trotz seiner angenehmen Züge dem Vorgesetzten – warum eigentlich, weiß Gott allein: zuweilen geschieht so was ohne jeglichen Grund – und er fing an, Tschitschikow wie den Tod zu hassen. Der unerbittliche Vorgesetzte wütete entsetzlich. Da er aber immerhin ein Militär war und folglich alle Schliche des Zivildienstes nicht kannte, so gelang es bald anderen Beamten mit Hilfe ihres ehrlichen Aussehens und der Kunst, ihm gefällig zu sein, seine Gnade zu erwerben, und der General geriet bald in die Gewalt noch größerer Schurken, die er aber gar nicht für solche hielt; er war sogar zufrieden, daß er die richtigen Leute gefunden hatte, und prahlte sogar ernsthaft mit seiner Kunst, fähige Menschen zu entdecken. Die Beamten erfaßten schnell seinen Charakter und seinen Geist. Alle seine Untergebenen wurden zu verschworenen Gegnern jeder Unredlichkeit; sie verfolgten sie in allen Dingen so, wie der Fischer mit seiner Harpune einen fetten Hausen verfolgt; sie verfolgten sie mit solchem Eifer, daß ein jeder von ihnen bald ein Kapital von mehreren tausend Rubel beisammen hatte. Um diese Zeit bekehrten sich auch viele von den früheren Beamten zur Redlichkeit und wurden wieder in den Dienst genommen. Tschitschikow allein gelang es nicht, wieder in den Dienst zu treten; wie sehr sich für ihn auch der erste Sekretär des Generals, der es wunderbar verstand, seinen Vorgesetzten an der Nase herumzuführen, unter dem Einflusse der Empfehlungsbriefe des Fürsten Chowanskij einsetzte – in diesem Falle konnte er nichts ausrichten. Der General war ein Mensch, der sich wohl an der Nase herumführen ließ (doch ohne sein Wissen); wenn sich aber ein Gedanke in seinem Kopf festsetzte, so saß er darin so fest wie ein eiserner Nagel und ließ sich mit keiner Zange herausziehen. Alles, was der kluge Sekretär ausrichten konnte, war, daß Tschitschikows alte beschmutzte Dienstliste vernichtet wurde; und auch das hatte er beim General nur durch einen Appell an sein Mitleid erreicht, indem er ihm in den lebhaftesten Farben das rührende Schicksal der unglücklichen Familie Tschitschikows ausmalte, die jener glücklicherweise gar nicht besaß.
»Was ist da zu machen!« sagte Tschitschikow: »Die Sache ist einmal vorbeigelungen – punktum! Weinen nützt nichts, man muß handeln.« Und er entschloß sich, seine Karriere von neuem zu beginnen, sich aufs neue mit Geduld zu wappnen, sich wieder in allen Dingen einzuschränken, so angenehm sein Leben vorher auch war. Er mußte in eine andere Stadt ziehen und sich dort berühmt machen. Das wollte ihm lange Zeit nicht gelingen. Zwei oder drei Posten mußte er schnell hintereinander wechseln. Diese Posten waren irgendwie schmutzig und erniedrigend. Es muß hier festgestellt werden, daß Tschitschikow der reinlichste und heikelste Mensch auf Erden war. Obwohl er anfangs auch in einer unsauberen Gesellschaft hatte verkehren müssen, bewahrte er seine Seele doch immer rein, hielt darauf, daß in den Kanzleien lackierte Tische waren und daß alles anständig aussah. Niemals erlaubte er sich im Gespräch ein unanständiges Wort und fühlte sich immer verletzt, wenn er in den Worten der anderen den schuldigen Respekt vor Titel und Würden vermißte. Ich glaube, es wird dem Leser angenehm sein, zu erfahren, daß er jeden zweiten Tag die Wäsche wechselte, im Sommer aber, während der heißesten Monate, sogar jeden Tag: jeder irgendwie unangenehme Geruch beleidigte ihn. Aus diesem Grunde pflegte er sich jedesmal, wenn Petruschka erschien, um ihm beim Auskleiden behilflich zu sein und die Stiefel auszuziehen, eine Gewürznelke in die Nase zu stecken; in vielen Dingen waren seine Nerven so empfindlich wie die eines jungen Mädchens; darum fiel es ihm so schwer, wieder in die Gesellschaftsschichten hinabzusteigen, wo es nach Schnaps und schlechten Manieren roch. So sehr er sich auch zusammennahm, er magerte infolge dieser Widerwärtigkeiten ab und bekam sogar eine grünliche Gesichtsfarbe. Hatte er ja schon angefangen, dick zu werden und die rundlichen und angenehmen Formen anzunehmen, mit denen ihn der Leser kennengelernt hat; gar oft hatte er schon bei einem Blick in den Spiegel an allerlei Angenehmes gedacht: an ein junges Weibchen, an eine Kinderstube, und diesen Gedanken folgte stets ein Lächeln; als er aber jetzt einmal zufällig in den Spiegel blickte, konnte er sich nicht des Ausrufes enthalten: »Heilige Mutter Gottes! Wie garstig ich geworden bin!« Nachher wollte er lange Zeit nicht mehr in den Spiegel blicken. Doch unser Held trug alles tapfer und geduldig; schließlich bekam er eine Stellung beim Zollamt. Es ist zu erwähnen, daß diese Tätigkeit schon längst der Gegenstand seiner geheimen Gedanken war. Er sah, was die Zollbeamten sich für elegante ausländische Sächelchen zulegten, was für Porzellan und Batist sie ihren Gevatterinnen, Tanten und Schwestern schickten. Mehr als einmal hatte er schon seufzend ausgerufen: »Ach, wenn ich da eine Anstellung bekommen könnte: man sitzt dicht an der Grenze und hat mit gebildeten Menschen zu tun, und was für feine holländische Hemden kann man sich da anschaffen!« Es muß hinzugefügt werden, daß er dabei auch noch an eine gewisse Sorte französischer Seife dachte, welche der Haut eine ungewöhnliche Weiße und den Wangen eine herrliche Frische verlieh; wie diese Seife hieß, weiß Gott allein, er vermutete aber, daß sie an der Grenze anzutreffen war. Er wollte also schon längst in den Zolldienst treten, wurde aber noch von verschiedenen augenblicklichen Vorteilen an der Baukommission festgehalten; er sagte sich mit Recht, daß das Zollamt allenfalls doch nur eine Taube auf dem Dache, die Kommission aber der Sperling in der Hand sei. Jetzt aber wollte er, koste es, was es wolle, im Zolldienste unterkommen, und er erreichte es auch. Er machte sich ans Werk mit ungewöhnlichem Eifer. Das Schicksal selbst schien ihn zum Zollbeamten bestimmt zu haben. Eine solche Geschicklichkeit, einen solchen Scharfblick hatte man nicht nur niemals gesehen, man hatte von ihnen nicht mal gehört. Nach drei, vier Wochen hatte er sich bereits eine solche Tüchtigkeit in der Zollbranche angeeignet, daß er rein alles wußte: ohne zu messen und zu wiegen, erkannte er schon nach der Faktur, wieviel Ellen Tuch oder anderen Stoff ein Ballen enthielt; wenn er ein Paket bloß in die Hand nahm, konnte er sofort sagen, wieviel Pfund es wog. Was aber die Durchsuchung des Gepäcks betrifft, so hatte er darin, wie sich selbst seine Kollegen ausdrückten, die Nase eines Spürhundes: man mußte staunen, wenn man die Geduld sah, mit der er jeden Knopf betastete; und dies alles machte er mit einer geradezu mörderischen Kaltblütigkeit und einer unerhörten Höflichkeit. Während die von ihm durchsuchten Reisenden vor Wut rasten, aus der Haut fuhren und die böse Lust verspürten, ihm sein angenehmes Gesicht durch Nasenstüber zu verunstalten, sagte er nur, ohne das Gesicht zu verziehen und ohne etwas von seiner Liebenswürdigkeit zu verlieren: »Wollen Sie sich nicht bemühen und ein wenig aufstehen?«, oder: »Wollen Sie sich nicht, gnädige Frau, ins Nebenzimmer begeben? Die Gattin eines unserer Beamten wird mit Ihnen einige Worte wechseln«; oder: »Gestatten Sie, daß ich Ihnen das Unterfutter Ihres Mantels mit meinem Messer ein wenig auftrenne.« Und mit diesen Worten zog er Schals und Tücher hervor, so kaltblütig, wie aus seinem eigenen Koffer. Selbst die Vorgesetzten meinten, er sei ein Teufel und kein Mensch: er fand die Konterbande in Wagenrädern, Deichseln, Pferdeohren und an weiß Gott was für Stellen, in die kein Dichter hineinlangen würde, und in die hineinzulangen es höchstens einem Zollbeamten erlaubt ist; der arme Reisende, der über die Grenze gekommen, blieb dann einige Minuten wie vor den Kopf geschlagen; er wischte sich den Schweiß ab, der seinen ganzen Körper wie ein Ausschlag bedeckte, bekreuzigte sich und sagte bloß: »Na, na!« Seine Lage glich außerordentlich der eines Schuljungen, der eben aus dem geheimen Gemach gelaufen kommt, wohin ihn der Lehrer gerufen, um ihm eine kleine Belehrung zu erteilen und ihm statt dessen ganz unerwartet eine Portion Ruten verabreicht hat. In kürzester Zeit hatte er den Schmugglern das Leben ganz unmöglich gemacht. Er war der Schrecken und die Verzweiflung der ganzen polnischen Judenschaft. Seine Ehrlichkeit und Unbestechlichkeit waren unüberwindlich, beinahe unnatürlich. Er legte sich nicht einmal ein kleines Kapital aus den konfiszierten Waren und den den Reisenden abgenommenen Gegenständen an, die, zur Vermeidung unnötiger Schreibereien, an den Staat nicht abgeliefert wurden. Solch ein eifriger und uneigennütziger Dienst mußte zum Gegenstand des allgemeinen Staunens werden und schließlich auch der höchsten Behörde zu Ohren kommen. Er erhielt einen Titel, wurde befördert und reichte bald darauf ein Projekt ein, wie man alle Schmuggler einfangen könnte; dabei bat er nur um die Ermächtigung, das Projekt selbst zu verwirklichen. Man erteilte ihm sofort den Oberbefehl und das unbeschränkte Recht, allerlei Untersuchungen anzustellen. Das war alles, was er brauchte. Um jene Zeit hatte sich gerade eine planmäßig organisierte, mächtige Schmugglergesellschaft gebildet; das freche Unternehmen versprach Millionen abzuwerfen. Tschitschikow hatte schon längst Kenntnis von der Sache, und als die Gesellschaft ihn durch Abgesandte zu bestechen versuchte, ging er darauf sogar nicht ein und sagte trocken: »Es ist noch nicht Zeit.« Als er aber alle Vollmachten in Händen hatte, ließ er sofort der Gesellschaft ansagen: »Jetzt ist es Zeit.« Sein Plan war mehr als sicher. Er hatte die Möglichkeit, in einem Jahre mehr zu verdienen als in zwanzig Jahren des eifrigsten Dienstes. Früher wollte er mit den Schmugglern nichts zu tun haben, weil er da nur eine untergeordnete Rolle spielen und nicht viel hätte verdienen können; doch jetzt . . . jetzt war es eine ganz andere Sache: jetzt konnte er beliebige Bedingungen diktieren. Damit die Sache glatter vonstatten gehe, überredete er einen anderen Beamten, seinen Kollegen, der, obwohl er schon ergraut war, der Versuchung nicht widerstehen konnte. Das Abkommen wurde geschlossen, und die Gesellschaft machte sich ans Werk. Ihre ersten Schritte hatten den glänzendsten Erfolg. Der Leser hat schon sicher jene, oft wiedererzählte Geschichte von der klug erdachten Reise spanischer Hammel gehört, die die Grenze in doppelten Fellen überschritten und dabei für eine Million Brabanter Spitzen hinüberschmuggelten. Diese Geschichte spielte sich gerade zu der Zeit ab, als Tschitschikow beim Zollamt diente. Wäre er nicht selbst an diesem Unternehmen beteiligt gewesen, so hätte kein Jude in der ganzen Welt diesen Streich verüben können. Nach drei oder vier solchen Grenzüberschreitungen der Hammel hatten die beiden Beamten je vierhunderttausend Rubel Kapital. Tschitschikow soll sogar über fünfhunderttausend gehabt haben, da er geschickter war als der andere. Gott allein weiß, welch eine Riesenziffer diese gesegneten Summen erreicht hätten, wenn nicht ein böser Zufall in die Quere gekommen wäre. Der Teufel nahm den beiden Beamten jede Vernunft: sie wurden einfach verrückt und gerieten ohne jeglichen triftigen Grund in Streit. In einem hitzigen Gespräch, vielleicht auch in einem etwas trunkenen Zustande, nannte Tschitschikow den anderen Beamten einen Popensohn; jener war zwar wirklich ein Popensohn, fühlte sich aber, Gott weiß warum, auf einmal furchtbar verletzt und gab ihm sofort eine außerordentlich scharfe Abfuhr; er sagte nämlich: »Nein, du lügst: ich bin Staatsrat und kein Popensohn; du aber bist ein Popensohn!« Um ihn noch mehr zu ärgern, fügte er hinzu: »Ja, so ist's!« Obwohl er Tschitschikow auf diese Weise ordentlich seine Meinung gesagt und den beleidigenden Ausdruck mit einer Retourkutsche zurückgegeben hatte, und obwohl die Wendung: »Ja, so ist's!« stark genug war, begnügte er sich nicht damit und schickte außerdem noch eine geheime Anzeige an die vorgesetzte Behörde. Man sagt übrigens, sie hätten auch ohnehin einen Streit wegen eines frischen jungen Weibes gehabt, das, wie sich die Zollbeamten ausdrückten, so fest wie eine Zaunrübe war; es sollen sogar ein paar Männer gedungen worden sein, um unseren Helden eines Abends in einer dunklen Gasse zu verhauen; die beiden Beamten hätten aber nichts erreicht, und das Weib sei einem gewissen Stabshauptmann Schamscharjow zugefallen. Wie es sich in Wahrheit verhielt, weiß Gott allein; der Leser kann, wenn er Lust hat, die Geschichte selbst weiter ausspinnen. Die Hauptsache aber ist, daß ihre geheimen Verbindungen mit den Schmugglern zu offenbaren wurden. Der Staatsrat ging zwar selbst zugrunde, stürzte aber auch seinen Kollegen ins Verderben. Die Beamten kamen vor Gericht, man beschlagnahmte alles, was sie hatten, und das Ganze kam so unerwartet, wie ein Blitz aus heiterem Himmel. Erst als sie wie aus einem Rausche erwachten, merkten sie, was sie angestellt hatten. Der Staatsrat konnte dem Schicksal nicht standhalten und ging irgendwo in der gottvergessenen Provinz zugrunde, der Kollegienrat aber ging nicht unter. Er verstand es, trotz der feinen Witterung der Beamten, die mit der Untersuchung betraut waren, einen Teil des Geldes auf die Seite zu schaffen; er wandte alle Schliche seiner großen Erfahrung und seiner ganzen Menschenkenntnis an: hier ging er mit seinen angenehmen Manieren vor, dort mit rührenden Reden; hier beräucherte er die Beamten mit Schmeichelei, die niemals schaden kann, dort steckte er einem etwas Geld zu; mit einem Worte, er machte die Sache so, daß er einen weniger entehrenden Abschied bekam als sein Kollege und dem Kriminalgericht entging. Doch vom Kapital und von all den ausländischen Sächelchen blieb ihm so gut wie nichts zurück: für diese Dinge hatten sich andere Liebhaber gefunden. Es blieben ihm nur an die zehntausend Rubel, die er sich für die Stunde der Not zurückgelegt hatte, zwei Dutzend holländische Hemden, der kleine Wagen, wie ihn die Junggesellen zu benutzen pflegen, und zwei Leibeigene: der Kutscher Sselifan und der Lakai Petruschka; außerdem hatten ihm die Zollbeamten aus lauter Herzensgüte fünf oder sechs Stück Seife zur Erhaltung der Frische seiner Wangen gelassen – das war alles. In einer solchen Lage befand sich nun unser Held! Ein so schweres Ungemach war plötzlich über ihn hereingebrochen! Dies nannte er, ein Opfer seiner Redlichkeit sein. Nun hätte man meinen sollen, er würde sich nach diesen Stürmen, Prüfungen, Schicksalsschlägen und Plagen mit den ihm gebliebenen letzten zehntausend Rubelchen in irgendeine entlegene friedliche Kreisstadt zurückziehen und dort in einem Schlafrock aus Kattun vor dem Fenster eines niedrigen Häuschens für immer eintrocknen, an Sonntagen die Raufereien der Bauern vor seinen Fenstern schlichten, oder mal zur Abwechslung einen Spaziergang nach dem Hühnerstall machen, um persönlich das für die Suppe bestimmte Huhn zu betasten und auf diese Weise sein stilles, doch in seiner Art nicht nutzloses Leben beschließen. Es kam aber anders. Man muß seiner unüberwindlichen Charakterstärke jede Anerkennung zollen. Nach allen diesen Erlebnissen, die genügt hätten, um einen Menschen, wenn nicht umzubringen, so doch jedenfalls für immer abzukühlen und zu demütigen, war in ihm seine ungeheure Leidenschaftlichkeit dennoch nicht erloschen. Er härmte sich ab, er ärgerte sich, er murrte gegen die ganze Welt, zürnte dem ungerechten Schicksal, empörte sich über die ungerechten Menschen und konnte sich doch nicht versagen, neue Versuche zu unternehmen. Mit einem Worte, er zeigte eine Geduld, gegen die die hölzerne Geduld des Deutschen, die schon von seinem langsamen Blutumlauf bedingt wird, gar nichts ist. Das Blut Tschitschikows wallte dagegen lebhaft, und er mußte seinen ganzen zielbewußten Willen zusammennehmen, um alles, was sich aus ihm drängte und nach Freiheit lechzte, im Zaume zu halten. Er stellte Betrachtungen an, denen eine gewisse Richtigkeit nicht abzusprechen ist: »Warum mußte ich es sein? Warum ist das Unglück über mich hereingebrochen? Welcher Beamte schläft jetzt und denkt nicht an Erwerb? Ich habe doch keinen Menschen unglücklich gemacht: ich habe keine Witwe beraubt, habe niemand an den Bettelstab gebracht; ich habe nur vom Überflusse geschöpft; ich nahm dort, wo auch jeder andere an meiner Stelle genommen hätte; hätte ich es nicht genommen, so täten es die anderen. Warum sollen die anderen ihr Leben genießen, und warum soll ich wie ein Wurm zugrunde gehen? Was bin ich jetzt? Wozu tauge ich noch? Mit welchen Augen kann ich jetzt einem achtbaren Familienvater ins Gesicht sehen? Wie soll ich keine Gewissensbisse empfinden, wo ich weiß, daß ich die Erde unnütz belaste? Und was werden einmal meine Kinder sagen? – ›Unser Vater,‹ werden sie sagen, ›war ein gemeiner Kerl: er hat uns gar kein Vermögen hinterlassen!‹«
Es ist den Lesern schon bekannt, daß Tschitschikow um seine Nachkommen sehr besorgt war. Das ist ein äußerst subtiles Thema! Gar mancher würde vielleicht nicht so tief in eine fremde Tasche greifen, wenn ihm nicht ganz von selbst die Frage käme: »Und was werden die Kinder sagen?« Und der künftige Stammvater schielt wie ein vorsichtiger Kater mit dem einen Auge zur Seite, ob ihn der Hausherr nicht beobachtet, und ergreift eilig alles, was gerade in der Nähe ist: Seife, Kerzen, Speck, oder einen Kanarienvogel, der ihm unter die Pfoten kommt, mit einem Worte, er läßt sich nichts entgehen. So jammerte und weinte unser Held, und doch stand seine Gehirntätigkeit keinen Augenblick still; in seinem Kopfe wollte unablässig etwas entstehen, was nur noch auf einen Plan wartete. Er schrumpfte wieder zusammen, begann wieder hart zu arbeiten, schränkte sich wieder in allen Dingen ein und sank wieder aus der Reinheit und der anständigen Position zu einem schmutzigen und niedrigen Dasein hinab. In Erwartung eines besseren war er gezwungen, den Beruf eines Rechtskonsulenten zu ergreifen – einen Beruf, der sich bei uns noch nicht recht eingebürgert hat: so ein Rechtskonsulent wird von allen Seiten herumgestoßen, von den kleinen Beamten und selbst von seinen Klienten verachtet und ist verurteilt, wie ein Lakai in den Vorzimmern herumzusitzen und jede Grobheit über sich ergehen zu lassen; doch die Not zwang ihn dazu. Unter anderem wurde er mit der Aufgabe betraut, einige hundert Bauern beim Vormundschaftsgericht zu verpfänden. Das Gut war gänzlich ruiniert; die Schuld am Ruin waren Viehseuchen, betrügerische Verwalter, Mißernten, Epidemien, an denen die besten Arbeiter starben, und nicht zuletzt die Dummheit des Gutsbesitzers selbst, der sich in Moskau ein Haus nach der neuesten Mode eingerichtet und für diese Einrichtung sein ganzes Vermögen bis zur letzten Kopeke aufgebraucht hatte, so daß ihm zuletzt nichts zum Essen blieb. Aus diesem Grunde mußte er das letzte ihm noch gebliebene Gut verpfänden. Verpfändungen bei der Krone waren damals noch eine neue Sache, zu der man sich nicht ohne eine gewisse Angst entschloß. Nachdem Tschitschikow als Bevollmächtigter des Gutsbesitzers alle in Betracht kommenden Personen günstig gestimmt hatte (ohne diese Stimmungsmache kann man bei uns bekanntlich nicht mal eine gewöhnliche Auskunft einholen: eine Flasche Madeira pro Kopf ist dabei das mindeste) – nachdem er also alle günstig gestimmt hatte, brachte er unter anderem folgenden Umstand zur Sprache: »Die Hälfte der Bauern ist ausgestorben; ob man nicht deswegen hinterher Schwierigkeiten hat?« – »Aber sie stehen doch noch auf der Revisionsliste?« fragte der Sekretär. – »Ja, auf der Liste stehen sie schon«, antwortete Tschitschikow. – »Was haben Sie dann solche Angst?« sagte der Sekretär. »Der eine stirbt, ein anderer kommt zur Welt, beide taugen gleich fürs Feld.« Der Sekretär verstand offenbar auch in Reimen zu sprechen. Unserem Helden kam aber der genialste Gedanke, der je einem Menschen in den Sinn gekommen ist. »Ach ich Dummkopf!« sagte er zu sich selbst. »Ich suche meine Handschuhe, und die stecken beide in meinem Gürtel! Wenn ich von solchen Gestorbenen vor Einreichung der neuen Revisionslisten, sagen wir, tausend Stück kaufe und sie beim Vormundschaftsgericht zu, sagen wir, zweihundert Rubel verpfände, so habe ich gleich zweihunderttausend Rubel Kapital! Jetzt ist aber die geeignetste Zeit: es hat eben eine Epidemie gegeben, und es sind, Gott sei Dank, genug Menschen gestorben. Die Gutsbesitzer haben ihre Vermögen am Kartentisch verloren, haben ordentlich gebummelt und sind ruiniert; alles geht nach Petersburg und tritt in den Staatsdienst: die Güter sind verlassen und werden elend verwaltet, und den Besitzern wird es mit jedem Jahre schwerer, die Steuern zu bezahlen; ein jeder wird mir darum mit Freuden seine gestorbenen Bauern abtreten, um keine Steuern für sie bezahlen zu müssen; mancher wird mir vielleicht noch was draufzahlen. Das ist natürlich recht schwierig und mühevoll und auch nicht ungefährlich, denn es kann daraus eine neue Geschichte entstehen. Aber dazu hat der Mensch seinen Verstand! Das Gute dabei ist, daß die Sache so unwahrscheinlich klingt und niemand es glauben wollen wird. Allerdings kann man sie ohne Land weder kaufen noch verpfänden. Ich werde sie aber zwecks Übersiedlung kaufen; im Taurischen und Cherssoner Gouvernement bekommt man jetzt Land so gut wie umsonst, wenn man nur Bauern zum Ansiedeln hat. Dort will ich sie auch alle ansiedeln! Ins Cherssoner Gouvernement mit ihnen! Sollen sie da wohnen! Die Übersiedlung kann ich auf vollkommen gesetzliche Weise machen, ganz wie es sich gehört, durch das Gericht. Und wenn sie die Bauern auf ihre Tauglichkeit hin untersuchen wollen, so habe ich nichts dagegen, warum denn nicht? Ich kann auch ein Attest mit eigenhändiger Unterschrift irgendeines Polizeihauptmanns beibringen. Den Besitz kann ich ›Tschitschikows Dorf‹ nennen oder auch nach meinem Taufnamen ›Pawlowskoje‹.« So entstand im Kopfe unseres Helden dieser seltsame Plan; ich weiß nicht, ob meine Leser ihm dafür dankbar sein werden, der Verfasser weiß aber gar nicht, wie er ihm danken soll, denn wäre Tschitschikow nicht auf diesen Gedanken gekommen, so hätte dieses Poem wohl nie erscheinen können.
Nach russischer Sitte bekreuzigte er sich erst und schritt dann an die Ausführung. Unter dem Vorwande, sich einen Wohnort auswählen zu wollen, und auch unter anderen Vorwänden, nahm er sich vor, verschiedene Gegenden unseres Landes aufzusuchen, und zwar in erster Linie solche, die von Unglück, wie Mißernten, Seuchen usw., betroffen waren, mit einem Worte Gegenden, wo er die Leute, die er brauchte, billig kaufen könnte. Er wandte sich nicht aufs Geratewohl an jeden beliebigen Gutsbesitzer, sondern wählte sich die Leute nach seinem Geschmack, d. h. solche, mit denen sich ähnliche Geschäfte mit möglichst wenig Schwierigkeiten machen ließen, wobei er immer zunächst versuchte, mit ihnen bekannt zu werden und sie günstig zu stimmen, um die Bauern womöglich nicht durch Kauf, sondern als Geschenk zu bekommen. Der Leser darf es daher dem Autor nicht übelnehmen, wenn die Personen, die bisher aufgetreten sind, seinem Geschmack nicht entsprechen: das ist Tschitschikows Schuld; er ist hier der Herr, und wir müssen ihm folgen, wohin es ihm beliebt. Und wenn uns vorgeworfen wird, daß die Personen und Charaktere blaß und unscheinbar seien, so werden wir unsererseits sagen, daß man beim Anfang einer Sache niemals ihren weiteren Verlauf und Umfang ermessen kann. Auch der Einzug in eine Stadt, selbst in eine Residenz, ist immer irgendwie blaß: man sieht erst endlose rauchgeschwärzte Werke und Fabriken, und dann erst erscheinen die Ecken der sechsstöckigen Häuser, die Geschäftsläden, Aushängeschilder, die riesenhaften Perspektiven der Straßen voller Glockentürme, Säulen, Statuen, Türme, mit ihrem Glanz, Lärm und Dröhnen und allem, was der Gedanke und die Hand des Menschen geschaffen; haben. Wie die ersten Käufe zustande kamen, hat der Leser schon gesehen; wie die Sache weiter gehen wird, welche Erfolge und Mißerfolge den Helden erwarten, auf welche Weise er schwierigere Hindernisse bewältigen wird, wie gewaltige Bilder auftauchen, wie die verborgenen Hebel der weitläufigen Erzählung in Bewegung treten werden, wie ihr Horizont sich erweitern und wie sie selbst einen majestätischen lyrischen Verlauf nehmen wird – das wird er später sehen. Ein weiter Weg liegt noch vor unserer Reisegesellschaft, die aus dem Herrn mittleren Alters, dem Wagen, wie ihn Junggesellen zu benützen pflegen, dem Lakai Petruschka, dem Kutscher Sselifan und den drei Pferden besteht, die dem Leser auch schon ihren Namen nach, vom »Assessor« bis zum niederträchtigen Schecken, bekannt sind. So steht also unser Held vor uns da! Vielleicht wird man von uns noch einen letzten charakteristischen Pinselstrich verlangen: was ist er in bezug auf seine moralischen Qualitäten? Daß er kein von Tugenden und Vollkommenheiten erfüllter Held ist, ist ohne weiteres klar. Was ist er dann? Ein Schurke? Warum denn Schurke? Warum soll man gegen seine Nächsten so streng sein? Heutzutage gibt es bei uns keine Schurken mehr: es gibt nur wohlgesinnte, angenehme Menschen; aber solche, die mit ihrem Gesicht eine Ohrfeige der gesamten Öffentlichkeit herausfordern, kann man höchstens zwei oder drei finden; und auch diese sprechen heute schon von der Tugend. Am richtigsten wäre Tschitschikow mit guter Hauswirt und Erwerber zu bezeichnen. Der Erwerbssinn ist an allem schuld: er treibt den Menschen zu Geschäften, die die Welt »nicht ganz sauber« nennt. In einem solchen Charakter liegt allerdings etwas Abstoßendes, und der gleiche Leser, der auf seinem Lebenswege mit einem solchen Menschen verkehrt und recht angenehm die Zeit verbringt, wird ihn scheel anblicken, wenn er ihn im Helden eines Dramas oder eines Poems wiedererkennt. Weise ist aber derjenige, der sich von keinem Charakter abstoßen läßt, sondern seinen prüfenden Blick in ihn versenkt und ihn bis zu seinen Urgründen erforscht. So schnell wandelt sich alles im Menschen: ehe man sich's versieht, ist in seinem Innern ein schrecklicher Wurm gewachsen, der gebieterisch alle seine Lebenssäfte aufsaugt. So oft geschah es schon, daß nicht mal eine große, sondern eine ganz kleine und nichtige Leidenschaft in einem zu besseren Taten geborenen Menschen gewaltig anwuchs und ihn zwang, seine großen und heiligen Pflichten zu vergessen und in wertlosen Narrenschellen Großes und Heiliges zu sehen. Zahllos wie der Sand am Meere sind die menschlichen Leidenschaften, keine gleicht der anderen, und alle, wie die niedrigen so die edlen, die anfangs dem Menschen untertan sind, werden später zu seinen schrecklichen und unumschränkten Gebietern. Selig ist, der sich die schönste der Leidenschaften erkoren hat: seine grenzenlose Seligkeit wächst und verzehnfacht sich von Stunde zu Stunde, und er dringt immer tiefer in das unendliche Paradies seiner Seele ein. Es gibt aber Leidenschaften, deren Wahl nicht vom Menschen abhängt. Sie werden mit ihm in der Stunde seiner eigenen Geburt geboren, und es ist ihm nicht die Kraft gegeben, sich von ihnen zu befreien. Sie werden von höheren Absichten gelenkt, und es ist in ihnen etwas, was ewig ruft und nie im Leben verstummt. Es ist ihnen bestimmt, eine große irdische Laufbahn zu vollenden, ganz gleich, ob in finsterer Gestalt oder als eine die ganze Welt erfreuende lichte Erscheinung vorbeischwebend – sie sind in gleicher Weise zum Wohl der Menschen, das ihnen aber unbekannt ist, heraufbeschworen worden. Vielleicht hängt auch die Leidenschaft, die Tschitschikow treibt, gar nicht von ihm ab, vielleicht steckt in seiner kalten Existenz etwas, was einst den Menschen in den Staub und auf die Knie zwingen wird vor der Weisheit des Himmels. Und es ist noch ein Geheimnis, warum diese Gestalt in diesem, heute erscheinenden Poem auftritt.
Doch das ist nicht traurig, daß man mit unserem Helden unzufrieden sein wird; traurig ist, daß in der Seele die Gewißheit wohnt, daß die Leser mit dem gleichen Tschitschikow auch zufrieden sein könnten. Hätte der Autor ihm nicht so tief in die Seele geblickt, hätte er nicht daran gerührt, was der Aufmerksamkeit der Welt entgeht und sich verbirgt, hätte er nicht die geheimsten Gedanken enthüllt, die kein Mensch einem anderen anvertraut, hätte er ihn so gezeigt, wie er der ganzen Stadt, Manilow und den anderen erschienen war – so wären alle höchst zufrieden und hielten ihn für einen interessanten Menschen. Sein Antlitz, seine Gestalt wären dann allerdings nicht so lebendig; dafür wäre die Seele des Lesers nach der Lektüre durch nichts erregt, und alle könnten sich wieder dem Kartentisch zuwenden, dem Trost des ganzen russischen Landes. Ja, meine guten Leser, ihr wollt die menschliche Dürftigkeit nicht gerne enthüllt sehen. »Wozu?« fragt ihr. »Wozu das alles? Wissen wir denn nicht selbst, daß es im Leben viel Verächtliches und Dummes gibt? Auch ohnehin müssen wir oft Dinge sehen, die gar nicht tröstlich sind. Zeigt uns doch lieber das Schöne, das Anziehende. Wir wollen uns lieber vergessen!« – »Warum erzählst du mir, daß die Wirtschaft schlecht geht, Bruder?« sagt der Gutsbesitzer zum Verwalter. »Das weiß ich auch ohne dich, Bruder; weißt du mir denn nichts anderes zu erzählen? Laß mich doch dies alles vergessen, es nicht wissen – dann bin ich glücklich.« Und nun wird das Geld, das die Wirtschaft einigermaßen in Ordnung bringen könnte, zu verschiedenen Mitteln verwendet, die dem Gutsbesitzer helfen sollen, sich zu vergessen; das Gut kommt aber plötzlich zur öffentlichen Versteigerung – und der Gutsbesitzer kann sich nun am Bettelstab vergessen, mit einer Seele, die zu Gemeinheiten fähig ist, vor denen er früher selbst erschauert wäre.
Der Autor wird sich auch noch Vorwürfe seitens der sogenannten Patrioten zuziehen, die ruhig zu Hause hocken und sich mit den gleichgültigsten Dingen abgeben, indem sie sich Vermögen erwerben und ihr Schicksal auf Kosten der anderen gestalten; sobald aber etwas geschieht, was nach ihrer Meinung das Vaterland beleidigt, wenn irgendein Buch erscheint, das manche bittere Wahrheit enthält – so kommen sie aus allen ihren Ecken gelaufen, wie die Spinnen, wenn sie sehen, daß eine Fliege in ihr Netz geraten ist, und sie erheben ein Geschrei: »Ist es denn gut, dies ans Tageslicht zu bringen, es offen zu verkünden? Alles, was hier beschrieben ist, gehört ja uns – ist das gut? Was werden die Ausländer sagen? Ist es denn angenehm, ungünstige Meinungen über sich selbst zu hören? Man denkt wohl, es tue uns nicht weh? Man denkt wohl, daß wir keine Patrioten seien?« Auf diese weisen Einwendungen, insbesondere hinsichtlich der Ausländer, weiß ich nichts zu antworten. Höchstens folgendes: In einem entlegenen Winkel Rußlands lebten einmal zwei Bürger. Der eine war ein Familienvater, namens Kifa Mokijewitsch, ein Mann von sanftem Gemüt, der sein ganzes Leben im Schlafrocke verbrachte. Um seine Familie kümmerte er sich nicht viel; sein Dasein war mehr spekulativ und mit folgender Frage, die er eine philosophische nannte, beschäftigt: »Man nehme zum Beispiel das Tier«, sagte er, in seinem Zimmer auf und ab gehend: »Das Tier wird ganz nackt geboren. Warum nackt? Warum anders als der Vogel: warum schlüpft es nicht aus einem Ei? Es ist wirklich seltsam . . . wenn man in die Natur tiefer eindringt, kann man sie gar nicht begreifen!« So dachte der Bürger Kifa Mokijewitsch. Aber das ist noch nicht die Hauptsache. Der andere Bürger war Mokij Kifowitsch, sein leiblicher Sohn. Er war das, was man in Rußland einen Helden nennt, und während sein Vater sich mit der Geburt des Tieres beschäftigte, wollte sich dieser zwanzigjährige, breitschulterige Mensch entfalten und austoben. Er verstand keine Sache leicht anzufassen: entweder ging jemand der Arm entzwei, oder eine Nase bekam eine Beule. Zu Hause und in der Nachbarschaft liefen alle, von dem leibeigenen Mädel bis zum Hofhund, wenn sie ihn sahen, davon; selbst sein eigenes Bett im Schlafzimmer haute er in Stücke. So war dieser Mokij Kifowitsch beschaffen, sonst war er aber eine gute Seele. Doch auch das ist noch nicht die Hauptsache. Die Hauptsache ist folgendes: »Ach bitte, Väterchen, gnädiger Herr, Kifa Mokijewitsch,« sagten zum Vater die eigenen und die fremden Leibeigenen, »was hast du für einen Mokij Kifowitsch? Er läßt niemand in Ruhe, dieser Bedrücker!« – »Ja, etwas mutwillig ist er schon«, pflegte der Vater darauf zu sagen: »Aber was soll ich mit ihm anfangen? Hauen kann ich ihn nicht mehr, dazu ist er zu groß, auch würde man mir Grausamkeit vorwerfen; er ist aber empfindlich und ehrgeizig: wenn ich ihm in Gegenwart eines oder zweier Menschen einen Vorwurf mache, wird er gleich ruhiger werden; aber die Öffentlichkeit ist so eine Sache – ein wahres Unglück! Wenn die Stadt es erfährt, werden ihn alle einen Hund nennen. Denken sich die Leute, daß mir das nicht weh tut? Bin ich nicht sein Vater? Folgt denn daraus, daß ich mich mit Philosophie beschäftige und zuweilen auch keine Zeit habe, daß ich nicht sein Vater bin? Aber ich bin doch sein Vater! Sein Vater, hol' mich der Teufel! Mokij Kifowitsch sitzt mir hier im tiefsten Herzen!« Kifa Mokijewitsch schlug sich bei diesen Worten kräftig auf die Brust und geriet in Ekstase. »Wenn er schon als Hund dastehen soll, so sollen es die Menschen nicht von mir erfahren, und ich will nicht sein Verräter sein!« Und nachdem er ein so starkes väterliches Gefühl zeigte, ließ er Mokij Kifowitsch seine Heldentaten fortsetzen und wandte sich wieder seiner Lieblingsbeschäftigung zu, indem er sich wieder eine ähnliche Frage vorlegte: »Nun, wenn der Elefant aus einem Ei ausschlüpfte, so müßte die Eierschale so dick sein, daß man sie auch mit einer Kanone nicht zertrümmern könnte; man müßte ein neues Geschütz erfinden.« So verbrachten ihr Leben diese beiden Bewohner eines friedlichen Winkels, die am Schlusse unseres Poems so unerwartet aus dem Fenster blicken, und zwar eigens, um ihre bescheidene Antwort auf den Vorwurf gewisser hitziger Patrioten zu geben, die sich vorläufig ruhig mit irgendeiner Philosophie oder mit Bereicherung auf Kosten des von ihnen so zärtlich geliebten Vaterlandes abgeben und nicht darum besorgt sind, daß man nichts Böses tue, sondern nur darum, daß die Menschen nicht sagen, sie täten etwas Böses. Doch nein, weder der Patriotismus noch jenes erste Gefühl sind der Grund der Anklagen; hinter ihnen steckt etwas anderes. Warum sollte ich es auch verheimlichen? Wer soll die heilige Wahrheit aussprechen, wenn nicht der Autor? Ihr fürchtet einen tiefen, auf euch gerichteten Blick, ihr fürchtet, auch selbst einen durchdringenden Blick auf etwas zu richten, ihr liebt es, mit den Augen gedankenlos über die Dinge zu gleiten. Ihr werdet auch über Tschitschikow von Herzen lachen; vielleicht werdet ihr sogar den Autor loben und sagen: »Das hat er aber wirklich fein beobachtet! Er muß doch sicher ein lustiger Herr sein!« Nach diesen Worten werdet ihr euch mit doppeltem Stolze euch selbst zuwenden, ein selbstzufriedenes Lächeln wird eure Lippen umspielen, und ihr werdet hinzufügen: »Man muß doch zugeben, daß es in gewissen Provinzen höchst seltsame und höchst drollige Menschen gibt und recht große Schurken dabei!« Wer von uns wird aber, von christlicher Demut erfüllt, nicht laut, sondern in aller Stille, allein, während seiner einsamen Zwiegespräche mit sich selbst in der Tiefe seiner eigenen Seele diese schwere Frage stellen: »Steckt nicht auch in mir ein Stück von diesem Tschitschikow?« Warum nicht gar! Wenn in diesem Augenblick einer seiner Bekannten, der weder ein allzu hohes noch ein allzu niedriges Amt bekleidet, an ihm vorbeigeht, so wird er sofort seinen Nachbar anstoßen und ihm sagen, vor Lachen beinahe wiehernd: »Schau, schau, da ist Tschitschikow, Tschitschikow ist eben vorübergegangen!« Dann wird er ihm, jeden Anstand vergessend, den er seinem Range und seinen Jahren schuldig ist, wie ein Kind nachlaufen und ihn necken: »Tschitschikow! Tschitschikow! Tschitschikow!«
Wir haben aber eben zu laut gesprochen und vergessen, daß unser Held, der, während wir seine Geschichte erzählten, geschlafen hat, schon aufgewacht ist und leicht seinen Familiennamen hören kann, den wir so oft wiederholten. Er ist aber ein empfindlicher Mensch und liebt es nicht, daß man von ihm respektlos spricht. Dem Leser ist es recht gleichgültig, ob Tschitschikow ihm zürnt oder nicht; was aber den Autor betrifft, so darf er sich unter keinen Umständen mit seinem Helden entzweien: sie haben noch einen weiten Weg Hand in Hand zurückzulegen; zwei große Teile des Poems liegen noch vor ihnen, und das ist keine Kleinigkeit.
»Ach Gott! Was ist denn mit dir los?« sagte Tschitschikow zu Sselifan: »Du? . . .«
»Was?« entgegnete Sselifan langsam.
»Was? Ein Gänserich bist du! Wie fährst du bloß? Rühr' dich!«
Sselifan hielt schon in der Tat seit geraumer Zeit die Augen geschlossen und schlug nur hier und da im Halbschlafe die gleichfalls duselnden Pferde mit den Zügeln auf die Seiten; Petruschka hatte schon längst, Gott weiß wo, seine Mütze verloren, hatte sich ganz zurückgelehnt und seinen Kopf gegen Tschitschikows Knie gedrückt, so daß ihm dieser einen Nasenstüber geben mußte. Sselifan wurde munter, gab dem Schecken einige ordentliche Peitschenhiebe, worauf jener einen Trab anschlug, fuchtelte dann mit der Peitsche über den Rücken des ganzen Dreigespanns und sagte mit hoher, singender Stimme: »Nur keine Angst!« Die Pferdchen kamen in Schwung und sausten mit dem federleichten Wagen dahin. Sselifan schwang bloß die Peitsche und rief: »Hü! Hü! Hü!« Er hüpfte elastisch auf dem Bocke, während die Troika die Hügel, mit denen die Landstraße übersät war, bald hinaufflog und bald wieder hinuntersauste. Tschitschikow lächelte nur, während er auf seinem Lederkissen leicht emporflog, denn er liebte das schnelle Fahren. Und welcher Russe liebt das schnelle Fahren nicht? Sollte seine Seele, die immer danach strebt, sich von einem Wirbel fortreißen zu lassen und zuweilen zu sagen: »Hol doch alles der Teufel!« – sollte seine Seele das schnelle Fahren nicht lieben! Sollte sie es nicht lieben, wo doch daraus etwas Begeisterndes und Wundersames tönt? Es ist, als hätte dich eine unbekannte Gewalt auf ihren Flügel gehoben, du fliegst selbst dahin, und alles fliegt: es fliegen die Werstpfähle, es fliegen die Kaufleute auf ihren Wagensitzen, es fliegt zu beiden Seiten der Wald mit den dunklen Reihen der Tannen und Fichten, mit dem Klopfen der Äxte und dem Gekrächze der Krähen; es fliegt die ganze Straße in die Gott weiß wo verschwindende Ferne; etwas Schreckliches ist in diesem schnellen Vorbeifliegen, wo der entschwindende Gegenstand keine Zeit hat, deutliche Formen anzunehmen, wo nur der Himmel über dem Kopfe, die leichten Wolken und der durchbrechende Mond allein unbeweglich erscheinen. Ach, du Troika, du schneller Vogel! Wer hat dich erdacht? Nur bei einem kecken Volke konntest du zur Welt kommen, in einem Lande, das keinen Spaß versteht, das sich als unendliche Ebene über die halbe Welt breitet – nun geh und zähle die Werstpfähle, bis es dir vor den Augen flimmert. Gar nicht schlau ersonnen siehst du aus, Fahrzeug, keine eiserne Schraube hält dich zusammen, in aller Eile hat dich bloß mit Beil und Meißel ein flinker Jaroslawischer Bauer gebaut und zusammengezimmert. Der Kutscher hat keine deutschen Stulpenstiefel an den Füßen: Vollbart und Fausthandschuhe sind sein einziger Schmuck, und er sitzt der Teufel weiß worauf; wenn er aber aufsteht, mit der Peitsche ausholt und ein Lied anstimmt – so rasen die Pferde wie ein Sturm dahin, die Speichen fließen zu einer glatten Scheibe zusammen – die Straße erzittert, der Fußgänger bleibt erschrocken stehen und schreit auf – und schon fliegt die Troika dahin, sie fliegt, sie fliegt! . . . Und schon sieht man in der Ferne etwas stauben und die Luft durchbohren.
Fliegst nicht auch du, Rußland, wie eine schnelle Troika, die niemand einholen kann, dahin? Wie Rauch staubt unter dir die Straße, die Brücken dröhnen, alles bleibt zurück! Der vom göttlichen Wunder erschütterte Zuschauer bleibt stehen: ist es nicht ein vom Himmel geschleuderter Blitz? Was bedeutet diese erschreckende Bewegung? Was für eine unbekannte Gewalt liegt in diesen von der Welt noch nie gesehenen Rossen? Ach, ihr Rosse, was seid ihr für Rosse! Sitzen Wirbelstürme in euren Mähnen? Zittert ein wachsames Ohr in jeder eurer Ader? Ihr hört von oben das euch bekannte Lied erklingen, ihr spannt einträchtig eure ehernen Brüste und verwandelt euch, fast ohne die Erde mit den Hufen zu berühren, in bloße langgestreckte Linien, und die Troika rast wie von Gott begeistert dahin! . . . Rußland, wohin fliegst du? Gib Antwort! Es gibt keine Antwort. Wunderbar klingen die Schellen; es dröhnt die in Stücke gerissene Luft und wird zu Wind; alles auf Erden fliegt vorbei, und alle anderen Völker und Staaten treten zur Seite und weichen ihr aus.