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III

Alle hatten sich, zu Wagen oder zu Fuß, zur Kirche begeben. Raiskij, der erst am Morgen in sein Zimmer gekommen war, erkannte sich selbst im Spiegel nicht wieder. Er hatte Schüttelfrost, verlangte von Marina ein Glas Wein, trank es aus und legte sich ins Bett.

Es war ihm nicht leichter zumute als Wera. Körperlich und seelisch erschöpft, warf er sich dem Schlaf in die Arme, wie jemand, der, selbst fiebernd, an der Brust des gesunden Freundes Schutz und Rettung sucht. Und der Schlaf tat seine Pflicht. Er trug ihn weit fort von Wera, von Malinowka, von der Schlucht und dem Drama, das sich gestern dort vor seinen Augen abgespielt hatte.

Der Traum entführte ihn in ganz andere Regionen, denen alle schäumende Leidenschaft, alle überschwengliche Poesie fremd war. Er sah sich in Petersburg, allein, in seinem verlassenen Atelier, mit gleichgültigem Blick seine begonnenen und nie zu Ende geführten Arbeiten musternd.

Dann träumte er, er sitze mit seinen Freunden bei Saint-George und esse und trinke mit Appetit, höre sich die banalen Anekdoten an, die gewöhnlich bei Junggesellendiners zum besten gegeben werden, und wäre davon so gelangweilt, daß er selbst im Schlaf noch Schlafsucht empfand.

Und dabei lag er in gesundem, prosaischem Schlaf, der ihn so fest umfangen hielt, daß, als er von dem Geläut der Kirchenglocken erwachte, er während der ersten zwei oder drei Minuten ganz unter dem Einfluß der trägen, animalischen Ruhe stand, die wie eine hohe Wand ihn von dem gestrigen Tag trennte.

Er wußte nicht, wo er war, ja, vielleicht nicht einmal, wer er war. Die Natur hatte ihr Recht gefordert und durch diesen festen Schlaf das Gleichgewicht seiner Kräfte wiederhergestellt. Er empfand keinen Schmerz, keine Qualen mehr – alles war wie ins Wasser gesunken.

Er streckte sich, pfiff sogar lustig und sorglos und hatte nur die Empfindung, daß ihm aus irgendeinem Grunde sehr wohl zumute war, daß in ihm volle Ruhe herrschte und er schon lange nicht so gut geschlafen hatte und so gekräftigt aufgewacht war. Ganz zum klaren Bewußtsein war er noch nicht gekommen. Während der nächsten zwei, drei Minuten jedoch kehrte ihm allmählich die Erinnerung an alles das zurück, was gestern geschehen war. Er setzte sich im Bett auf, als ob er sich nicht selbst aufgerichtet hätte, sondern von einer fremden Kraft emporgerichtet worden wäre; zwei Minuten etwa saß er unbeweglich, mit weit geöffneten Augen da, als sehe er etwas, an dessen Wirklichkeit er nicht glauben könne. Sobald er dann jedoch sah, daß es dennoch Wirklichkeit war, schlug er die Hände über dem Kopf zusammen, fiel auf das Kissen zurück und sprang gleich darauf aus dem Bett mit einem Gesicht so voll jähem Entsetzen, wie es gestern selbst in der furchtbarsten Minute nicht darin zu lesen gewesen war.

Eine neue Pein, nicht von derselben Art wie die gestrige, nahm von seinem Innern Besitz. Ebenso hastig und krampfhaft nervös, wie Wera am Abend vorher, als sie nach der Schlucht eilen wollte, faßte er bald nach diesem, bald nach jenem der auf den Stühlen zerstreut umherliegenden Kleidungsstücke.

Er klingelte Jegorka herbei und wurde, trotz seiner Hilfe, nur mit Mühe mit dem Ankleiden fertig. Er zog den Rock vor der Weste an, vergaß die Krawatte und kam trotz aller Anstrengungen Jegorkas nur mit knapper Not in seine Kleider hinein. Er fragte, was im Hause vorgehe, und als er hörte, daß alle zur Messe seien, außer Wera, die krank in ihrem Zimmer liege, erschrak er heftig und eilte bestürzt aus seinem Zimmer, dem alten Hause zu.

Er klopfte leise an Weras Tür, doch niemand meldete sich. Er wartete ein paar Minuten und drückte dann auf die Klinke – die Tür war von innen nicht verschlossen.

Er öffnete vorsichtig die Tür und ging mit entsetztem Gesicht hinein, ganz leise auftretend, wie ein Mensch, der einen Mord beabsichtigt. Er trat kaum mit den Fußspitzen auf, zitterte am ganzen Leibe, war bleich wie die Wand und fürchtete jeden Augenblick, vor innerer Erregung zusammenzubrechen.

Wera lag auf dem Sofa, das Gesicht der Rückenlehne zugewandt. Ihr Haar fiel von dem Kissen fast bis auf den Fußboden herab, der Rock ihres grauen Kleides hing achtlos, kaum die in den Pantoffeln steckenden Füße bedeckend, herunter.

Sie wandte sich nicht um, sondern drehte nur den Hals ein wenig seitwärts, um zu sehen, wer eingetreten war; doch war sie offenbar dazu nicht imstande.

Er ging zu ihr hin, kniete vor dem Sofa nieder und preßte seine Lippen auf ihren Pantoffel. Sie wandte sich plötzlich um; ihr Auge streifte ihn mit einem flüchtigen Blick, und schmerzliches Erstaunen malte sich in ihren Zügen.

»Was ist das ... Boris Pawlowitsch – eine Komödienszene oder ein Romankapitel?« sprach sie dumpf, während sie sich unwillig abwandte und den Fuß mit dem Pantoffel unter das Kleid zog, das sie, ohne hinzusehen, hastig zurechtzog.

»Nein, Wera – es ist eine Tragödie!« sprach er kaum hörbar, mit erlöschender Stimme, und setzte sich auf einen Stuhl neben dem Sofa.

Als sie den seltsamen Klang seiner Stimme vernahm, wandte sie sich um und sah ihn forschend an; ihre Augen weiteten sich und blickten auf ihn voll Erstaunen. Sie sah dieses bleiche Gesicht, so bleich, wie sie es noch nie gesehen hatte, und schien das Rätsel dieses neuen Gesichtes, dieses neuen Raiskij zu erraten.

Sie warf das Tuch fort, stand vom Sofa auf und trat, all ihre eigene Sorge in diesem Augenblick vergessend, auf ihn zu. Sie sah in einem fremden Gesicht das gleiche, tötende Leiden, an dem sie selber litt.

»Vetter, was ist mir dir? Du bist unglücklich!« sagte sie und legte ihm die Hand auf die Schulter. Und in diesen wenigen Worten, in der Stimme, mit der sie gesprochen wurden, schien alles zum Ausdruck zu kommen, was es Großes im Herzen des Weibes gibt: Mitgefühl, Selbstverleugnung, Liebe.

Ihre zärtliche Teilnahme und das unerwartete, trauliche »Du« rührte ihn aufs tiefste. Er blickte mit demselben grenzenlosen Dankgefühl zu ihr auf, mit dem sie ihn gestern angesehen, als er, sich selbst vergessend, ihr beim Abstieg in die Schlucht behilflich war.

Sie vergalt ihm ganz wider Erwarten seine Großmut mit gleicher Großmut, und wie gestern dieser Strahl edler Menschlichkeit aus ihm plötzlich hervorgeschossen war, so geschah ein Gleiches jetzt mit ihr.

Aus dem Wirrwarr der Gefühle, die auf ihn einstürmten, trat die Qual der Verzweiflung und Reue über das Schändliche, das er an ihr begangen, besonders stark hervor, und diese Reue machte sich in einer heißen Tränenflut Luft.

Er ließ sein Gesicht in ihre Hände sinken und weinte wie jemand, der alles verloren hat, dem nichts, gar nichts mehr übriggeblieben ist.

»Was habe ich getan! Ich habe dich, die Frau in dir, die Schwester, tödlich beleidigt!« brach es aus ihm unter Schluchzen hervor. »Doch nicht ich war es, nicht der Mensch in mir – es war das Tier, das dieses Verbrechen beging. Oh, was habe ich getan!« rief er voll Entsetzen und sah sich um, als wenn er jetzt erst ganz zur Besinnung käme.

»Quäle dich und mich nicht!« flüsterte sie sanft und zärtlich. »Schone mich – ich ertrage das nicht. Du siehst, in welcher Verfassung ich bin.«

Er war bemüht, ihrem Blick auszuweichen. Sie legte sich wieder auf das Sofa.

»Welchen tückischen Dolchstich habe ich dir versetzt!« flüsterte er erschauernd. »Ich bitte dich nicht einmal um Verzeihung – es ist unmöglich, mir zu verzeihen! Du siehst meine Qualen, Wera.«

»Dein Dolchstich ... hat mir nur für einen Augenblick Schmerz bereitet. Dann sagte ich mir, daß er nicht von gleichgültiger Hand gegen mich geführt sein konnte, und ich begriff, daß du mich liebst. Jetzt erst machte ich mir klar, was du in all den Wochen ... was du gestern erduldet hast. Beruhige dich, du bist mir nichts schuldig, wir sind quitt!«

»Versuche nicht, Wera, ein Verbrechen zu rechtfertigen! Der Dolch bleibt immer ein Dolch!«

»Du hast mich aus einem Taumel geweckt! Ich wandelte wie im Schlafe dahin; euch alle – dich, die Großtante, die Schwester, das ganze Haus – sah ich nur wie im Traum, ich war voll Bosheit und Hohn gegen euch ... war meiner Sinne nicht mächtig.«

»Was soll ich nun tun, Wera? Verlangst du, daß ich abreise? In welchem Zustand würde ich jetzt fortgehen? Laß mich meine Strafe hier abbüßen ... daß ich wenigstens ein klein wenig Frieden finde ... und sühne, was ich verbrochen.«

»Nicht doch ... deine Phantasie sieht dort ein Verbrechen, wo nur ein Irrtum ist. Erinnere dich doch, in welchem Zustand, in welcher Fieberhitze du gehandelt hast!«

Sie schwieg.

»Ich habe nichts weiter als deine Freundschaft«, sagte sie dann und reichte ihm die Hand. »Ich verurteile dich nicht – ich vermag es nicht; ich weiß jetzt, wie leicht man einen Irrtum begehen kann.«

Es fiel ihr sichtlich schwer, zu sprechen, und sie tat es offenbar nur, um ihn zu beruhigen. Er drückte die Hand, die sie ihm reichte, und seufzte tief auf.

»Du bist so gut, wie nur eine Frau es sein kann, und urteilst über diesen Irrtum nicht mit dem Verstand, sondern mit dem Herzen.«

»Nein, du bist zu streng gegen dich selbst. Jeder andere würde das Recht auf seiner Seite wähnen, nach all den törichten Scherzen, die man sich dir gegenüber herausgenommen hat. Ich meine jene Briefe, du weißt ja ... Vielleicht war die Absicht nicht schlecht – du solltest ernüchtert werden –, aber es war doch immer Bosheit dabei und Spott, während du alles so ernst nahmst. Wir haben dich ohne Not verhöhnt, wir waren schlecht gegen dich, weil wir dich nicht verstanden! Es war so dumm, so dumm! Du hast tiefer gelitten als ich gestern.«

»O nein! Ich habe selbst zuweilen mitgelacht, über mich und über euch. Damals zum Beispiel, als du den Paletot, die Decke und das Geld für den armen Verbannten verlangtest.«

Sie machte große Augen und sah ihn erstaunt an.

»Welches Geld? Welchen Paletot? Wer ist der Verbannte, von dem du sprichst? Ich verstehe dich nicht!«

Seine Züge hellten sich ein wenig auf.

»Ich dachte gleich damals, daß dieser Einfall nicht von dir stammte – und nun sehe ich, daß du gar nichts davon weißt!

Er teilte ihr kurz den Inhalt der beiden Briefe mit, in denen von dem Geld und dem Paletot die Rede war.

Sie wurde bleich bis in die Lippen.

»Wir schrieben abwechselnd mit Natascha an dich, mit derselben Handschrift, scherzhafte, kleine Briefchen, in denen wir den Ton deiner Briefe nachzuahmen suchten. Das war alles, sonst weiß ich von nichts!« sagte sie leise, das Gesicht der Wand zukehrend.

Sie schwiegen beide. Er schritt nachdenklich auf dem Teppich hin und her, während sie, von dem Gespräch ermüdet, auszuruhen schien.

»Ich bitte dich wegen dieser Geschichte nicht erst um Verzeihung. Und auch du rege dich nicht weiter auf!« sagte sie. »Wir werden uns versöhnen ... ich habe dir nur den einen Vorwurf zu machen, daß du dich mit deinem Bukett übereilt hast. Als ich hierher ging, wollte ich zu dir schicken, um dir alles zu erzählen ... so wollte ich wenigstens zu geringem Teil wiedergutmachen, was du gelitten hast. Aber du kamst mir zuvor!«

»Ach!« rief er schmerzlich aus. »Das gibt mir den Todesstoß!«

»Nun, lassen wir das ... später, später! Jetzt erbitte ich Hilfe von dir, als meinem Freund und Bruder. Einen wichtigen Dienst heische ich! Du wirst mir ihn nicht verweigern?«

»Wera!«

Er sagte nichts weiter, doch belehrte sie ein Blick auf ihn, daß sie alles von ihm verlangen könne.

»Ich werde dir die ganze Geschichte dieses Jahres erzählen, sobald ich mich dazu kräftig genug fühle.«

»Warum? Ich will, ich kann, ich darf sie nicht wissen!«

»Unterbrich mich nicht! Ich atme kaum vor Schwäche, und die Zeit ist kostbar. Ich werde dir alles erzählen, und du sollst es der Großtante wiedersagen.«

Er heftete seine bestürzten Augen auf sie – in seinen Zügen malte sich Entsetzen.

»Ich selbst vermag es nicht, die Zunge würde mir den Dienst versagen. Ich würde sterben, bevor ich zu Ende bin.«

»Der Großtante? Warum?« sprach er nur mühsam, mit allen Anzeichen der Furcht. »Bedenke doch die Folgen ... wenn ihr etwas zustößt? Ist es nicht besser, daß sie nichts davon erfährt?«

»Ich habe es schon längst bei mir beschlossen! Welches auch die Folgen sein mögen, hier heißt es nichts verbergen, sondern alles ertragen. Vielleicht sterben wir beide, ich und sie, daran oder werden wahnsinnig ... doch will ich sie nicht hintergehen. Sie hätte es längst erfahren sollen, aber ich hoffte immer noch, ihr etwas ganz anderes mitteilen zu können, darum schwieg ich. Oh, wie furchtbar ist das alles!« fügte sie leise hinzu und ließ ihren Kopf auf das Kissen sinken.

»Soll ich ihr alles sagen? Auch das, was gestern abend geschehen ist?« fragte er leise.

»Ja!«

»Auch den Namen soll ich sagen?«

Sie nickte kaum merklich mit dem Kopf, zum Zeichen, daß sie auch dies wünsche, und wandte sich ab.

Sie bat ihn, er möchte sich neben sie auf das Sofa setzen, und flüsternd, mit häufigen Unterbrechungen, erzählte sie ihm die Geschichte ihrer Beziehungen zu Mark. Als sie zu Ende war, hüllte sie sich in ihren Schal ein und legte sich, in Fieberschauern erbebend, wieder aufs Sofa.

Ganz bleich erhob sich Raiskij. Beide durchlebten schweigend einen Augenblick des Grauens – sie in dem Gedanken an die Großtante, er im Gedanken an sie beide.

Er hatte die Aufgabe – jetzt nicht mehr in der Hitze der Leidenschaft, in einem Anfall wilder Rachsucht, sondern in unabweisbarem Pflichtgefühl –, noch einen zweiten Dolchstich zu führen, gegen eine Frau, die er mit der Zärtlichkeit eines Sohnes liebte.

›Ein furchtbarer Auftrag, in der Tat. Ja, das ist wirklich ein wichtiger Dienst‹, dachte er.

»Wann soll ich es ihr sagen?« fragte er leise.

»So bald wie möglich! Ich leide furchtbar, solange sie es nicht weiß – ach, und mir stehen noch so viele Leiden bevor! Gib mir das Fläschchen mit dem Riechsalz ... es muß da irgendwo auf dem Toilettentisch stehen. Und nun geh ... laß mich allein, bitte ... ich bin so müde.«

»Heute kann ich mit der Großtante nicht reden, es sind Gäste da. Gott weiß, wie sie das erträgt! Morgen will ich's ihr sagen.«

»Ach, ob ich dann noch bin!« sagte sie. »Beruhige sie jedenfalls bis morgen, so gut es geht. Sag ihr irgend etwas ... damit sie nur keinen Argwohn faßt ... und mir niemanden herschickt!«

Er reichte ihr das Fläschchen und fragte sie, ob sie nicht irgend etwas brauche, ob er ihr nicht eins der Mädchen schicken solle.

Sie schüttelte ungeduldig den Kopf, bedeutete ihm durch ihren Blick, daß er gehen solle, und schloß die Augen, um nichts zu sehen. Sie empfand ein Bedürfnis nach undurchdringlichem Dunkel und ungestörter Stille – kein Strahl des Tageslichts sollte ihr Auge treffen, kein Laut an ihr Ohr dringen. Sie sehnte sich nach einem Zustand völliger Ruhe, zum Stein, zur Pflanze wollte sie werden, alle ihre Seelenkräfte sollten in Schlummer sinken – nichts denken, nichts fühlen, nichts bewußt erkennen: das war jetzt ihr einziges Sehnen.

Er aber fühlte, als er sie verließ, eine neue, noch furchtbarere Last auf seiner Seele als jene war, mit der er zu ihr gekommen. Die eine Bürde hatte sie, zum Teil wenigstens, von ihm genommen, um ihm eine andere, schwerere, aufzuerlegen.


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