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IX

Wera erhob sich am Morgen ohne Fieber und Schüttelfrost, nur blaß und abgespannt war sie. Sie hatte die Krankheit an der Brust der Großtante in einer Flut von Tränen ausgeweint. Der Doktor meinte, es wäre nun wohl alles gut, sie solle jedoch ein paar Tage im Zimmer bleiben.

Die alte Ordnung kehrte allmählich wieder zurück. Weras Namenstag ging auf ihren Wunsch ganz still vorüber. Weder Marfinka noch die Wikentjews kamen. Man hatte ihnen durch einen Expreßboten sagen lassen, daß Wera Wassiljewna sich nicht ganz wohl befinde und das Zimmer hüten müsse.

Tuschin gratulierte schriftlich und fragte an, ob er seinen Besuch machen dürfe. Wera antwortete ihm: »Warten Sie noch, bitte, ich bin noch nicht wieder ganz wohlauf.«

Die Gratulanten aus der Stadt wurden dahin beschieden, daß Wera auf Anordnung des Arztes das Zimmer hüten müsse. Nur die Dienerschaft trug dem Festtage Rechnung. Die Stubenmädchen zogen ihre bunten Kleider an, salbten ihre Köpfe mit Nelkenpomade und schmückten sich mit Bändern, während die Kutscher und Lakaien sich gehörig betranken.

Wera und die Großtante waren in ein neues Verhältnis zueinander getreten. Die Großtante vermied in ihrem Benehmen gegen Wera jede Spur von geheuchelter Nachsicht, nahm die Sache jedoch anscheinend auch nicht so leicht wie Raiskij. Noch weniger aber bekannte sie sich zu jener grundsätzlichen Verurteilung, wie sie der landläufigen strengen Auffassung von der Bedeutung eines solchen Irrtums, oder Unglücks, oder Fehltritts, wie man zu sagen pflegt, beliebt – dieser rücksichtslosen, brutalen Auffassung, die von keiner Entschuldigung, keiner Motivierung eines solchen Fehltritts etwas wissen will.

Beide sahen einander mit ernsten Blicken an und sprachen nur wenig, zumeist von gleichgültigen, alltäglichen Angelegenheiten; ihre Augen jedoch redeten in stummer Sprache von ernsten, wichtigen Dingen.

Sie schienen sich gegenseitig zu beobachten, fürchteten sich jedoch offenbar, miteinander zu sprechen. Tatjana Markowna sagte nicht ein Wort, das als Rechtfertigung oder Entschuldigung des Fehltritts hätte gelten können, nicht mit einer Silbe tat sie des Geschehenen Erwähnung, anscheinend in dem Bestreben, Wera erst zur Ruhe kommen zu lassen. Sie behandelte sie doppelt zärtlich, doch lag in ihrer Zärtlichkeit nichts Gemachtes, Beabsichtigtes, als wollte sie damit nur irgendwelche andern Gefühle oder Meinungen maskieren. Sie war tatsächlich zärtlicher gegen Wera, als stehe sie nach diesem offenen Bekenntnis, ja selbst nach diesem Fehltritt ihrem Herzen näher.

Und Wera bemerkte wohl diese Aufrichtigkeit und Herzlichkeit im Verhalten der Großtante, doch empfand sie keine Erleichterung davon. Sie hatte strenge Verurteilung und Strafe erwartet, ja sie begehrte nach solcher. Sie hätte es nur als gerecht und billig hingenommen, wenn die Großtante sie für ein halbes oder ein ganzes Jahr irgendwohin fortgeschickt hätte, vielleicht nach ihrem entlegenen Gut, bis sie vergessen hätte, wie sehr ihr Vertrauen und ihre Liebe getäuscht worden. Dann, nach dieser Frist, hätte sie ihr vielleicht verzeihen und sie zurückrufen sollen, um ihr jedoch die alte Liebe und Zärtlichkeit erst dann wieder zuzuwenden, wenn sich Wera durch jahrelange ernsthafte Arbeit, unter Anspannung aller Kräfte ihres Herzens und Verstandes, das Recht auf diese mütterliche Liebe wiedererobert hätte. Eine solche strenge Buße und Sühne hätte ihrem Gemüt die Ruhe und das Gleichgewicht wiedergegeben oder sie wenigstens ihre Schuld vergessen lassen – wenn anders es wahr sein konnte, was Raiskij ihr zum Troste sagte: daß die Zeit alles im Leben auslösche und verwische.

›Wirklich alles?‹, dachte sie, und dumpfe Traurigkeit beschlich sie. Nein, die Zeit war nicht imstande, alle die furchtbaren Qualen, die sie schon erduldet, und die ihr noch bevorstanden, hinwegzuwischen.

So viel Schreckliches hatte sie schon erfahren, so Schweres trug sie noch jetzt, nachdem sie das liebende Herz dieser zärtlichen Mutter wiedergefunden – und doch schien da noch eine böse, bittere Erfahrung zu lauern, für die vielleicht auch die Zeit ihr kein Heilmittel, keinen Trost zu bieten haben würde.

Sie bemühte sich, nicht daran zu denken – und dachte doch im nächsten Augenblick wieder daran: Wie sie wohl die Großtante mit diesem furchtbaren Schmerz, den sie ihr angetan, wieder aussöhnen, wie sie ihr den Schlag, den sie durch ihre Schuld empfangen, erträglich machen könnte. Sie suchte dieses Schweigen der Großtante, diese verdoppelte Zärtlichkeit, mit der sie ihr entgegenkam, zu begreifen – und machte dabei die Beobachtung, daß die Großtante ihr, wenn sie sich unbeobachtet wähnte, ganz seltsame Blicke zuwarf, die Wera nicht zu deuten wußte.

Daß die Großtante unaussprechlich leiden mußte, war ihr klar. Der Kummer hatte ihr ganzes Wesen verwandelt, sie ging zuweilen gekrümmt, war gelb geworden, und die Runzeln in ihrem Gesicht hatten sich vermehrt. Dann aber, wenn sie Wera ansah oder ihr zuhörte, richtete sie sich plötzlich wieder auf, und in ihren Augen leuchtete eine so zärtliche Glut, als hätte sie in Wera jetzt erst so recht – nicht die liebe, kleine Enkelin von früher, sondern die eigene Tochter entdeckt, dir ihr nun doppelt lieb, doppelt teuer geworden.

›Warum nur diese Fülle, dieses Übermaß von Liebe? Vielleicht‹, dachte Wera, ›wollte die Großtante sie jetzt ganz besonders schonen und hegen, das ganze Mitgefühl über sie ausströmen lassen, dessen ihr tief empfindendes Frauenherz fähig war. Sie wollte die arme, kranke, reuige Büßerin nicht die Schuld entgelten lassen, wollte ihr Verfehlen mit dem Mantel christlicher Liebe bedecken.

Ja, das wird es wohl sein‹, dachte Wera demütig. ›Doch, o Gott – welche Qual ist das, dieses Mitleid zu ertragen, dieses Almosen hinzunehmen! Gefallen zu sein und sich nicht wiederaufrichten zu können – nicht nur in den Augen der andern, sondern auch in den Augen dieser zärtlich liebenden, treuen Mutter!‹

Sie wird sie hätscheln und streicheln, mehr vielleicht als früher – aber sie wird sie hätscheln, wie man einen unglücklichen Idioten hätschelt, den die Natur stiefmütterlich behandelt hat, indem sie ihm den Verstand nahm. Oder, was noch schlimmer ist, wie man einen unglücklichen, verirrten Bruder streichelt, dem man durch das bißchen Zärtlichkeit sein Unglück erträglich zu machen sucht.

Ihr Stolz, ihre menschliche Würde, das Recht auf die Achtung der Welt, ihre eigene Selbstachtung – alles das war in Trümmer geschlagen. Man reiße diese Blume aus dem Kranz, der die Stirn des Menschen umwindet – und er ist entwürdigt, zur Sache herabgedrückt. Die Menge schaut mitleidig auf den Gefallenen und straft ihn mit ihrem Schweigen, wie die Großtante sie jetzt straft. Wer einmal diesen berechtigten menschlichen Stolz in seiner Seele empfunden, wer sich dieses Anrechtes auf die Achtung der andern einmal bewußt geworden und sein Haupt aufrecht auf den Schultern zu tragen gelernt hat – der kann nicht weiterleben, wenn ihm dieses Anrecht genommen ist.

Sie erinnerte sich einiger Beispiele, in denen die Welt, die öffentliche Meinung über solche Gefallene, wie sie jetzt eine war, erbarmungslos Gericht gehalten hatte.

›Bin ich denn besser als sie?‹ dachte Wera. ›Mark versicherte zwar, und auch Raiskij tat es, daß jenseits dieses ... Rubikon ... ein anderes, neues, besseres Leben beginne. Ja, ein neues wohl – doch inwiefern ein besseres?‹

Die Großtante bemitleidete sie – das allein war zum Sterben genug. Früher hatte sie sie geschätzt, war stolz auf sie gewesen, hatte ihr das Recht zuerkannt, nach freiem Ermessen zu denken und zu handeln, hatte sie gewähren lassen, ihr vertraut. Alles dies war nun für immer dahin! Sie hatte ihr Vertrauen mißbraucht, war gestrauchelt bei all ihrem Stolz.

Sie war eine Bettlerin im Kreise der Ihrigen. Diejenigen, die ihr am nächsten standen, waren Zeugen ihres Falles gewesen und kamen nun, ihr Gesicht abwendend, zu ihr, um aus Mitleid ihre Schmach mit dem Mantel der Liebe zu bedecken, während sie dabei stolz im stillen dachten: ›Du wirst nie wieder aufstehen, du Ärmste, nie wieder gleichberechtigt neben uns stehen – so nimm denn wenigstens um Christi willen unsere Verzeihung hin!‹

›Wohlan denn – um Christi willen will ich ihre Verzeihung hinnehmen und mich demütigen. Ich will es, ja – doch mein Herz begehrt auf, es will kein Mitleid, es will Zorn und Gewitter. Schon wieder dieser Stolz ... wo bleibt dann aber die Demut? Demütig sein heißt für mich soviel wie den strafenden Blick einer reinen Frau ertragen, jahrelang, ein ganzes Leben lang vor diesem Blick erbleichen, ohne darob auch nur einen Augenblick zu murren. Wohl denn – ich will nicht murren! Ich will alles ertragen: das großherzige Mitleid eines Tuschin, eines Raiskij, und das Erbarmen der Großtante, hinter dem sich vielleicht stille Verachtung birgt.

Tantchen verachtet mich!‹ dachte sie, in bitterem Harm erbebend, und verbarg sich vor ihren Blicken, saß schweigend und gedrückt in ihrem Zimmer, wandte sich ab oder schlug die Augen nieder, wenn Tatjana Markowna sie so mit innigster Zärtlichkeit – oder, wie sie meinte, mit christlichem Mitleid – ansah.

Und sie vergegenwärtigte sich, wie sie selbst vor dem Zusammentreffen mit Mark gewesen – vor jenem verhängnisvollen Abend, der ihre Ruhe zerstört hatte –, so rein war sie da, so voll natürlichen Reizes, voll frischen, prickelnden Lebens. Und unwillkürlich erschauerte sie!

Es erwies sich, daß auch ihre Geringschätzung der Meinung anderer, auf die sie sich früher so viel zugute getan, nicht standhielt. Es war ihr schmerzlich, auch in den Augen der »Banausen«, wie Mark sich ausdrückte, als eine Gefallene zu gelten. Sie seufzte nach ihrer Achtung, ihrer Bewunderung und Verehrung, die sie nun eingebüßt hatte.

›Hätte ich mir doch damals an der unglücklichen Kunigunde ein Beispiel genommen!‹ dachte sie mit schmerzlicher Selbstironie.

Sie wollte beten, und vermochte es nicht. Um was sollte sie beten? Ihr blieb nichts weiter übrig, als demütig das Haupt zu neigen und den Schlag, der auf sie niederfiel, entgegenzunehmen. Und sie beugte sich und trug die Last und Strafe der Verachtung, die, wie sie meinte, ihr nun mit Recht zuteil geworden.

Äußerlich erschien sie allen vollkommen ruhig, aber ihre Augen waren eingesunken, keine Spur von Farbe war in dem bleichen Gesicht, die Grazie ihres Ganges, die Freiheit ihrer Bewegungen waren fort. Sie magerte ab, und man sah es ihr an, daß sie des Lebens überdrüssig war.

Sie hatte für niemanden und für nichts Interesse. Natalja Iwanowna war auf ihren Wunsch heimgefahren, und sie saß nun zumeist allein in ihrem verschlossenen Zimmer und ging nur zum Mittagessen zur Großtante hinüber. Wenn diese sie mit ihrem forschenden Blick ansah oder in zärtlichem Ton ein Wort an sie richtete, ließ sie den Kopf sinken und wurde noch düsterer, noch in sich gekehrter. Und wenn Tatjana Markowna auch nur durch ein Wort oder einen Blick einen Wunsch äußerte, erfüllte sie ihn demütiger als selbst Paschutka.

Man sah und hörte gleichsam im ganzen Hause nichts von ihr. Ganz leise, wie ein Schatten, ging sie umher, und wenn sie jemanden um etwas bitten mußte, tat sie es flüsternd, ohne den Blick aufzuheben. Sie wagte nicht, einen Befehl zu erteilen. Es war ihr, als schauten Wassilissa und Jakow nur mit Mitleid auf sie, und in Jegorkas Augen glaubte sie kecken Hohn, in denen der Stubenmädchen heimlichen Spott zu lesen.

›Das also ist das neue Leben‹, dachte sie und blickte zur Seite, um den Leuten nicht ins Gesicht sehen zu müssen. Und doch wußte niemand im Hause, außer Raiskij und der Großtante, auch nur das Geringste. Sie aber meinte, ihr Geheimnis allen vom Gesicht lesen zu können.

Wie nun Tatjana Markowna sie so beobachtete, wurde sie selbst nachdenklich; Weras Traurigkeit steckte sie selber an. Auch sie sprach kaum mit jemandem, schlief nur wenig, kümmerte sich nur wenig um die Wirtschaft, empfing die Kaufleute nicht, die auf dem Gut erschienen, um Getreidekäufe abzuschließen, und kommandierte nicht mehr wie sonst im Haus herum. Die Ellbogen aufgestützt, die Stirn in den Händen, saß sie oft lange, lange einsam in ihrem Zimmer.

Gleich Wera war auch sie jetzt Raiskij seelisch nähergetreten. Die schlichte Sanftmut seines Gemüts, die Aufrichtigkeit, die aus jedem seiner Worte sprach, seine bis zur Redseligkeit ausartende Offenheit, der kühne Flug seiner Phantasie – alles dies gewährte sowohl der einen wie der andern einigen Trost.

Er wußte zuweilen sogar ein Lächeln auf ihr Gesicht zu locken. Aber die Wolke der Trauer, die sich über die beiden Frauen wie über das ganze Haus gesenkt hatte, vermochte er trotz aller Bemühungen doch nicht ganz zu bannen. Er wurde selbst traurig gestimmt, als er sah, daß weder seine unverminderte Achtung noch die Zärtlichkeit der Großtante der armen Wera ihre frühere Frische, ihren Stolz, ihr Selbstvertrauen, ihren klaren Verstand und starken Willen wiederzugeben vermochten.

»Tantchen verachtet mich, sie liebt mich nur noch aus Mitleid. Ich kann so nicht leben, ich werde sterben!« flüsterte sie Raiskij zu. Dieser stürzte sogleich zu Tatjana Markowna und sagte ihr, was Weras Seele nun wieder bedränge. Er war sehr bestürzt, als die Großtante, statt Wera zu trösten, seine Worte mit verlegener, unruhiger Miene aufnahm und nichts Besseres wußte, als zu beten. »Bete auch du!« flüsterte sie Wera zuweilen, wenn sie an ihr vorüberging, zu.

»Ich kann nicht – beten Sie für mich!« antwortete Wera.

»Dann weine!« sagte die Großtante.

»Ich habe keine Tränen mehr!« antwortete Wera, und sie gingen schweigend voneinander, jede nach ihrem Winkel.

Raiskij wurde mehr und mehr der Freund und Vertraute beider. Wera sowohl wie die Großtante erschienen ihm wie zwei Heilige, wie Märtyrerinnen; er suchte begierig jedes ihrer Worte, jeden Blick zu erhaschen und wußte nicht, welche von beiden ihn inniger, tiefer rührte.

Das Bild harmonischer Schönheit, das er stets in Wera gesehen, gedieh nun gleichsam vor seinen Augen zur Vollendung. Und neben ihr ragte in der Großtante die kraftvolle Gestalt des antiken Weibes, der klassischen Matrone empor. Jene sah er durch das Feuer der Leidenschaft und die Erfahrung sich zum Selbstbewußtsein, zur Selbstbeherrschung hindurchringen, und diese setzte ihn durch ihren überlegenen Verstand in Erstaunen. Woher kam ihr diese reife Einsicht – ihr, die doch eine Unvermählte, ein Mädchen war? Er konnte sich ihr Wesen, ihr Verhalten nicht erklären. Die Großtante war für ihn ein Rätsel, dessen Lösung er vergeblich suchte.

Beide drangen mit herzlichen Worten in ihn, er solle doch für immer bei ihnen bleiben, solle heiraten und ein eigenes Haus führen.

»Ich fürchte, ich halte es nicht aus«, antwortete er ihnen, »meine Phantasie wird nach neuen Idealen verlangen, meine Nerven werden neue Sensationen suchen – die Langeweile wird mich bei lebendigem Leibe verzehren. Solch eine arme Künstlerseele kennt nun einmal nichts als diesen ewigen Drang ... nach dem Schaffen. Nehmt es mir schon nicht übel, ich werde mich bald auf die Beine machen«, pflegte er zu erwidern, und seine melancholischen Worte stimmten sie nur trauriger.

Die Großtante hing ihren stillen Gedanken nach, während Wera sich in heimlichem Gram verzehrte. So gingen Tage auf Tage hin. Weras Niedergeschlagenheit wich nun kaum noch von ihr, und Tatjana Markownas Betrübnis wuchs in dem Maße, wie sie Wera schärfer und schärfer beobachtete.

Solange Wera sich nicht wohl befand, hatte die Großtante drüben im alten Hause geschlafen. Auf dem Sofa, Weras Bett gegenüber, hatte sie ihr Lager aufgeschlagen, um bei der Schlummernden zu wachen. Oft jedoch lagen beide da, ohne den Schlummer zu finden, und jede von ihnen lauschte, ob die andere wohl schlafe.

»Du schläfst nicht, Werotschka?« fragte die Großtante.

»Doch, ich schlafe«, antwortete Wera und schloß die Augen, um die Großtante zu täuschen.

»Sie schlafen nicht, Tantchen?« fragte ihrerseits Wera, als sie die Augen der Großtante auf sich gerichtet sah.

»Den Augenblick bin ich aufgewacht«, sagte Tatjana Markowna und legte sich auf die andere Seite.

›Ich kann nicht leben! Ich finde keine Ruhe, werde sie niemals finden!‹ zuckte es durch Weras gequältes Hirn.

›Ich muß es tun – Gott will, daß ich mir selbst diese Buße auferlege, um ihrem Herzen Ruhe zu schaffen!‹ dachte die Großtante mit einem tiefen Seufzer.

»Wann werden Sie mich hier fortnehmen, Tantchen – zu Ihnen hinüber?«

»Nach der Hochzeit, sobald Marfinka fort ist.«

»Ich möchte jetzt schon hinüberziehen, ich fühle mich hier so unglücklich, finde keinen Schlaf.«

»Warte noch ein Weilchen – sobald es mit deiner Gesundheit besser geht, wollen wir zusehen.«

Wera schwieg – sie wagte nicht, auf ihrem Wunsch zu bestehen.

›Sie will mich nicht bei sich haben‹, dachte sie, ›sie verachtet mich!‹


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