Jeremias Gotthelf
Der Besuch
Jeremias Gotthelf

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So besprachen sich Mutter und Tochter über dieses und anderes, was die Leute nichts angeht, und als endlich Stüdeli einschlief, war ein bedeutender Teil der Nacht vorüber, aber auch Stüdeli an Weisheit bedeutend reicher geworden. Das Gewitter hatte die Luft geläutert, es war ein prächtiger Sonntagsmorgen, den jedoch Stüdeli fast verschlief. Sobald es flott war, nahm es sein Bubi auf den Arm und ging in den Garten den Blumen nach. Aber der Garten gefiel ihm nicht wie früher, die Wege waren gar zu eng, der Buchs nicht geschoren, ein Gnist darin, wenn man es sagen durfte, und vieles verkümmert und halb erstickt. Es fand den auf dem Tanzboden schöner; wenn es hier wohnen sollte, das müßte ihm anders werden, dachte es. Es war nicht lange alleine, eine Gespielin nach der andern kam, ihns zu grüßen, zu fragen, warum es gestern so dahergekommen wie eine Bombe, welche vom Himmel gefallen? Sie hätten gemeint, dFranzosen oder gar dRussen seien hinter ihm her. Stüdeli hielt sich gut, gab Bescheid mit lachendem Munde, frug, wie ihnen sein Bubi gefalle, dem man es allerdings von weitem ansah, daß es nicht armer Leute Kind war. Aber der kleine Kerl war heute recht unartig, entfremdete sich vor den Töchtern des Dorfes, wollte zu keiner gehen, wendete sich unwillig der Mutter zu, wenn eine ihn nehmen wollte. Die Töchtern wurden recht empfindlich. »So«, sagte eine um die andere, »bin ich dir nicht gut genug? Du bist doch ein recht hochmütiger Emmentaler!«

Auf dem Kirchweg machten sie dann ihre Glossen auch über Stüdeli. Das sei auch nicht mehr das alte, sagten sie, es sei hochmütig geworden und tue so vornehm und werde doch kaum viel Ursache dazu haben. Wenn eine das Kinderwägeli selbst ziehen müsse, so könne man daraus abnehmen, ihr Höfli werde nicht Rosse ertragen, höchstens ein paar magere Kühli, vielleicht gar nur Geißen. Es nehmte sie doch wunder, was die für ein Gesicht gemacht, als des Geißhändlers Bub zu ihr in die Brechhütte geschloffen sei und hintenher seine Blättere. Das hätte sich doch treffen müssen, daß beide gerade da zusammengekommen, schöner nützte nichts. Es könne kaum ein abgeredet Spiel gewesen sein, daneben könne man es nicht wissen, für nichts und wieder nichts werde doch die Frau ihnen beiden nicht wüst gesagt haben. Die solle bedenklich ausgekehrt haben, daß eben das Stüdeli mitten im Wetter die Flucht genommen und dahergekommen sei wie aus einer Kanone. So zergliederten die Kirchenleute den Besuch, er bildete das Tagsgespräch, die nouvelle du jour. Schüchtern redeten einige dazwischen und gaben wieder, was Stüdeli selbst erzählt und durch die Knechte ins Publikum gekommen war, aber sie fanden ungeneigte Ohren und wagten nicht, mit Energie ihre Meinung zu vertreten, sie wollten die Gunst des Publikums nicht aufs Spiel setzen. So hat es die arme Wahrheit, ihre treuen Liebhaber sind rare Vögel, selten einer wagt für sie ein Gefecht; sobald es hitzig zu werden scheint, macht er sich auf den Rückzug, geschweige daß einer ordentlich dafür einsteht.

Der Pfarrer predigte wirklich über diesen Vorfall nicht, zog ihn nicht einmal an, aber man hätte glauben sollen, er habe das nämliche Thema vorgehabt; denn, wo die Predigt die Gespräche unterbrochen, da setzten die Kirchgänger sie nach der Predigt fort, der Predigt gedachte kein Mensch. Heute hätte, glauben wir, der Pfarrer alles mögliche sagen können, selbst, sie seien Schelmen und Spitzbuben, und die Regierung bestehe aus Räubern und Mördern, sie hätten wenig Notiz davon genommen, allweg die Weiber nicht, er wäre kaum verklagt worden. Es werden, einige Alte ausgenommen, im Dorfe nicht viele gewesen sein, welche, als sie heimkamen, den verlesenen Text anzugeben gewußt hätten.

Unterdessen benützte die Mutter die stille Zeit während der Predigt, Stüdeli ihre Pflanzplätze zu zeigen, nachher gab es sich nicht mehr, wie sie wohl wußte. Pflanzplätze sind der rechten Weiber Ehrenplätze, zugleich eine Gelegenheit für Mütter, Töchtern auf den Zahn zu fühlen. Freilich war es wohl früh im Jahr und noch wenig Entwicklung da, sondern nur die Anfänge, und bloß einige Pflanzen und das Aussehen des Ganzen, ob es sorgfältig oder nachlässig gearbeitet sei, ließen sich beurteilen. Stüdeli rühmte, wie recht, und doch machte es die Mutter schließlich fast böse. Als sie die Pflanzungen verlassen wollten, drehte Stüdeli sich noch einmal um und sagte: »Aber Mutter, eins ärgert mich, das sollte nicht sein, du vermagst dich freilich dessen nichts, aber dem Ganzen gibt es ein bös Aussehen, das sind euere Bohnenstecken. Sieh, das sind krumme, dünne, kurze, keiner zwei Klafter lang, es sind eigentlich nur Erbsstecken, nicht Bohnenstecken, an denen können die Bohnen nicht hinauf an die Sonne wachsen. Da solltest unsere dagegen sehen, schön grade, halbe Tannli sinds. Weißt was, das nächste Jahr muß euch mein Mann drei-, vierhundert bringen, wir haben deren genug in unserem Berge, es tut dem Aufwachs nur wohl, wenn er erdünnert wird, und nehmen wir sie nicht, sprechen andere Leute zu. Es gibt auch bei uns deren Leute genug, welche meinen, es sei erlaubt, alles zu nehmen, was nicht schreit: ›Wottsch mih la sy, du Donner!‹« »He«, sagte die Mutter, im ersten Augenblick etwas empfindlich, »es ist kurios, daß dir die Bohnenstecken nicht mehr recht sind, sie sind nicht besser, nicht böser, als wir sie von je gehabt, und hatten, wenn sie gerieten, immer Bohnen genug und so schöne als andere Leute.« »Ja, Mutter«, antwortete Stüdeli, »zselbist hatte ich noch keine anderen Bohnenstecken gesehen, als wie man sie hier hat, ich meinte, sie seien alle so, aber seit ich unsere sah und andere da oben, gefallen die mir nicht mehr: die andern so schön gradauf und diese krumm und ghogeret, man darf fast nit luege. Du hast doch das nicht ungern, Mutter?« »Warum sollte ich, bsunderbar wenn du Wort haltest und machst, daß ich fünfhundert schön grade bekomme!« antwortete die Mutter, und ein fein Lächeln überflog ihr Gesicht. »Mutter, sollte ich nicht noch zur Base Gotte gehen, jetzt wärs vielleicht noch Zeit, ehe die Predigt aus ist, und sie könnte es zürnen, wenn ich mich nicht zeigte«, frug Stüdeli. »Hast ganz recht«, antwortete die Mutter. »Es ist eine wunderliche Base, lange macht die es nicht mehr, aber notti ist sie eine gute, und dich hatte sie immer bsunderbar lieb, und sooft ich sie sah, fragte sie nach dir. Aber säume dich nicht lange, sonst kömmst mitten i dKilcherlüt.«

Die Base Gotte wohnte zu unterst im Dorfe, eine Strecke weit hatte Stüdeli zu gehen neben vielen Häusern vorbei, bei welchen wenige Menschen zu sehen waren. Das Dorf schien fast verlassen. Nicht etwa daß die ganze Bevölkerung in der Kirche war, bewahre, man war hier eben wegen der Bildung und wegem Sue über die Gottesdienstlichkeit hinaus, aber die einen schliefen noch, die andern schliefen wieder, die dritten kochten, und die vierten und Hoffärtigsten strählten und rissen ihre Haare am Kopfe herum, weil es Locken darin geben sollte und nicht geben wollte. Das Dorf kam Stüdeli anders vor als früher. Früher hatte es dasselbe für das schönste gehalten im ganzen Kanton, jetzt schüttelte es über gar vieles den Kopf. Die Strohdächer mit ihren braunen Gesichtern und grünen Anflügen kamen ihm gar häßlich vor, hingen wie alte, wüste Nachtkappen über die kleinen Fenster herein. Obschon es Sonntag war, sah es gar nicht aufgeräumt aus, Grebel hinter dem Hause und Grebel vor dem Hause, Stöcke, Reiswellen, Holz von allen Sorten, Wagen und Bännen, kurz alles, was denkbar war, bunt durcheinander. Hier und da schien es akkurat, als ob man sämtlich Material zusammengeschleppt habe, um im Fall der Not ums ganze Haus herum alsbald eine Wagenburg schlagen zu können. Die Misthaufen schwammen in einer braunen Sauce, die sich aber auch auf die Straße wagte und gerne mit dem Bache vermischte, aus welchem die Weiber unten im Dorfe den Kaffee machten, daher immer behauptet wurde, unten im Dorfe trinke man stärkern und brauneren Kaffee als oben im Dorfe.

Bei der Base Haus sah es nicht schöner aus als bei den andern, und war ihm doch dasselbe von Jugend auf wie ein kleines Himmelreich erschienen, denn wenn es dahin kam, gab ihm die Base was Gutes. Es weiß kein Mensch, wie mancher Eiertätsch dort um Stüdelis willen den Weg aller Eier gewandert. Drinnen im Hause ging es ihm nicht besser.

Die Base war sehr freundlich, zog für ihns und das Bubi aus allen Ecken alles hervor, womit sie glaubte den guten Willen zeigen zu können, sogar einige neue Silberstücke drückte sie Stüdeli in die Hand. Nicht daß sie glaube, es hätte sie nötig, Mangel sehe man ihm keinen an, dsGunträri, es sei nur ein Zeichen, daß es sich an sie erinnere, daß sie auch noch da sei. Sie denke oft an ihns, und es solle einmal erfahren, daß sie es nicht vergessen. Sie erzeigte Stüdeli und dem Bubi eine recht großmütterliche Liebe und hatte die Augen voll Wasser, als Stüdeli pressierte und Abscheid nahm, denn trotz allem Guten kam es ihm in der Stube unheimlich vor, es war ganz eine andere als früher, eng, nieder, voll Fliegen, schwarz und nicht aufgeräumt. Es entschuldigte sein Pressieren, weil es den Kirchenleuten entrinnen wolle, und als es zum Haus austrat, kamen sie gerade daher. Es glaube, der Pfarrer habe heute ihm wohl zTrotz eine kurze Predigt gehabt, früher sei er um diese Zeit kaum beim zweiten Teile gewesen, verschweige beim dritten. Es hatte sich zu weit vorgewagt, um durch eine Hintertüre entweichen zu können unbemerkt. Es stürzte sich also kühn in den Strom und stund viel Pein aus mit Grüßen und Danken, ehe es endlich landen konnte am elterlichen Hause.

Recht ärgerlich kam es zu der Mutter in die Küche und klagte, wie es mitten in die Leute gelaufen, was es just habe meiden wollen. Es wisse nicht, wie es komme, setzte es hinzu, »aber die Leute sind mir alle so grob vorgekommen. Ich weiß nicht, taten sie gegen mich expreß so, oder ist es ihr Brauch, was ich nicht glauben kann, denn früher waren sie nicht so. Und doch weiß ich nicht, was ich den Leuten zuleid getan, daß sie so gegen mich sind.« Die Mutter sagte nicht viel dazu als: »Es wird dih öppe ume dücht ha«, was aber Stüdeli nicht glauben wollte. Die Mutter hatte das Szepter in der Küche heute selbst zur Hand genommen und, wenn zu rechter Zeit gegessen werden sollte, nicht viel Zeit mit Schwatzen zu verbrauchen. Nicht daß eine große Mahlzeit bereitet wurde, es war das Gewohnte ungefähr, aber die Stücke Fleisch, welche aufgestellt wurden, waren ausgewählt und alles mit besonderer Sorgfalt gekocht. Die Mutter wollte der Tochter zeigen, daß sie es nicht verlernt, daß sie es noch könne. Die Mutter hatte der Tochter die Wahl gelassen, ob sie ihr im Stübli decken solle, oder ob sie mit den andern an Tisch wolle. Stüdeli wählte das letztere. »Wenn ich apart essen würde, da täten sie erst recht aufbegehren und mich ausführen. Ich müßte geng hören, wie ich hochmütig geworden, eine Emmentaler Bäurin vorstellen wolle; wenn sie eine solche wären, so hätten sie doch das Kinderwägeli nicht ziehen, sondern mit Roß und Wägeli kommen wollen, und was dere uvrschamte Sachen mehr sind. So redet man doch da oben bei uns nicht miteinander«, grollte Stüdeli.

Bei Tische fing ein jüngerer Bruder von Stüdeli plötzlich zu lachen an, und als man ihn frug, was das zu bedeuten hätte, antwortete er: »He, wil Stüdi so ganz e Emmetauere ist u so emmetauerisch redet; hier sagt man den Kirsi Kirsi, wie sie heißen, und längs Stück hat es jetzt immer von Kriesene brichtet und anders noch mehr; ich sage ihm künftig nur das Kriesi-Stüdi.« Stüdeli kriegte ein rot Gesicht, die andern lachten, die Mutter sagte: »Du bist immer der Uverschamtest, Sämi, und, daß ich den Namen nie mehr von dir höre, sei mir dsHerrgetts! Weißt nit, daß Ubername anhängen eine Sünde ist? Einen Namen gibt Gott mit der Geburt, einen andern Vater und Mutter in der Taufe, das sind die Nämen, wo gelten sollen, und die geben sie, welche das Recht dazu haben, und wer noch was hinzutut, der tuts is Tüfels Name, merk dir dies, Bub! Kriesi und Kirsi lat Gott wachsen, und an jedem Ort sagt man ihnen, wie es der Brauch ist, Kriesi oder Kirsi, und es ist beides gleich gut, und niemand hat das Recht, den andern auszulachen. Weißt es, Bub!« »Ja, Mutter, ich lache nicht deswegen, ich lachte bloß wege Stüdeli. Allbets konnte es auch Kirsi sagen wie wir; es sagt jetzt nur aus Hochmut Kriesi, es meint, das sei vornehmer«, sagte Sämi so mit der rechten gegenwärtigen Pflegelhaftigkeit eines übermütigen Schuljungens, wie man sie jetzt in den Dörfern, absonderlich in denen, wo Sekundarschulen sind, wo das französische ABC und Kappeleweltsch gelehrt wird, zu finden sind. »Sag du mir, wie du willst«, sagte Stüdeli, »es ist mir gleichgültig; aber wenn du mir einmal noch Kriesi-Stüdi sagst, so mußt du mir ›dr my Gott-Seel-Sämi‹ heiße. Weißt, warum? Ich hörte heute was, als ich beim Stall vorbeiging, das hört man im Emmental nicht, und das sagtest du aus Hochmut, daß man glauben sollte, wie ein Großer du seiest. Ich schämte mich fast für dich.« »So«, sagte der Vater zu Sämi, »mit Schein bekommen ich und du noch miteinander zu reden.«

Stüdeli sah alsbald, daß es in eine alte Wunde gestochen, es war ihm leid, es fing von seiner Abreise an zu reden. Es wolle zeitlich gehen, damit es zeitlich daheim sei, und vielleicht komme ihm der Mann entgegen, er habe davon gesagt. »Mit Roß und Wägeli?« frug der Vater. »Zweifle«, antwortete Stüdeli. »Das von gestern brauchen sie nicht und die andern auch nicht. Die hatten gestern stark gearbeitet, und dann nehmen sie am Sonntag keins aus dem Stalle, sie sagen, man müsse gegen die Tiere Verstand haben so gut als gegen die Menschen.« »So kann ich dich einen Plätz führen«, sagte der Vater, »meine taten gestern wenig oder nichts, und wenn auch, so bekommen sie zu fressen, daß sie auch am Sonntag den Brauch ertragen mögen.« Stüdeli ließ sich auf dieses Kapitel nicht ein, sondern bat ihn, seinetwegen nicht Mühe zu haben. Wetter und Weg seien gut, und es möchte den Leuten nicht die Freude machen, daß sie lachen könnten: wenn es reiten wolle, müsse es heimkommen, da hätte man Roß und Wägeli, um es wegzufahren, aber um es zu bringen, hätte es keine. Es wolle gehen, wie es gekommen, und das möge es ganz wohl vrbringen. »Ja«, ergänzte die Mutter, »ich will es begleiten, und eins von den Meitschene zieht das Wägeli schon«, und somit war die Reise geordnet.


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