Jeremias Gotthelf
Der Besuch
Jeremias Gotthelf

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Sehr freundlichen Abscheid nahm Stüdeli von allen Hausgenossen, nur Sämi war nicht sichtbar. Dadurch, daß es sich weder eines Knechtes noch einer Magd verschämte, jedem die Hand und einen guten Wunsch gab, machte es nicht bloß gutes Blut, sondern sicherte sich lebhafte Verteidiger gegen den Vorwurf der Hochmütigkeit, der ihm den Tag über so oft gemacht worden war. Es war ein schöner, klarer Sonntagsnachmittag, so recht wie der liebe Gott sie lieb hat und als eine seiner schönsten Gaben den Menschen zur Erquickung sendet und nicht, um sie zu entheiligen mit Wüsttun und sie auszufüllen mit Lüderlichkeiten von allen Sorten. Oh, wenn einmal unser Herrgott die Lehr- und Ladenjungen, die Schuster- und Schneider- und andere Gesellen, die Mädels, die Jungfern, die Mamsells, die Damens und Junker frägt: »Laßt mal hören, was habt ihr mit euern Sonntagen gemacht?« hui, wie werden da ihre Gesichter brennen vor Scham und Angst, daß es eine Röte am Himmel geben wird, als wäre eine Welt im Brande! Zwei Mädchen statt nur eins galoppierten mit dem Kinderwägeli voraus auf der staublos gewordenen Straße, und sittigen Schrittes wandelten Mutter und Tochter nach.

Als sie zum Dorf aus waren, fing Stüdeli an bitterlich zu klagen. »Mutter«, sagte es, »wie bin ich doch zweg, so muß mir ja das Leben erleiden! Hier werde ich ausgelacht, droben werde ich ausgelacht, droben sagt man mir Birlig-Stüdle, hier dsKriesi-Stüdi, wer möcht am End so dabeisein, wenn man keinem Menschen nicht einmal mehr recht reden kann! Ist das nicht zum Drauslaufen?« Und dabei seufzte es schwer und machte fast eine Miene, als ob Tränen am Nachrücken seien. »Wohin wolltest laufen?« frug die Mutter kaltblütig. »Du könntest nirgends den Ort finden, und wenn du so lange laufen würdest als der ewige Jude, wo du es allen Leuten recht machen, verschweige recht reden könntest. Das nimmst viel zu schwer, und das kömmt davon her, daß du meinst, es solle alles recht sein, was du machst. Das bessert dir hoffentlich, so gut als es mir gebessert, ich hatte es früher ungefähr auch so. Nebstdem bist du im Übergang, ohne daß du es merkst. Jetzt bist noch halb Aargauere, aber schon halb Emmetalere oder noch mehr, und in kurzem wirst eine ganze sein. Du redst schon fast wie eine Emmentalerin, und daß dir so manches bei uns mißfiel, ist ja auch ein sicher Zeichen, daß es dir droben besser gefällt. Das hat sich dir erst erzeigt, als dir unser Dorf wieder vor Augen kam und dir alles weniger gefiel als früher oder gar mißfiel, und doch ists immer das gleiche, hat sich hell nichts geändert. Daneben muß man sich solcher Kleinigkeiten gar nicht achten, sie sind ja nicht redenswert. Wenn man sich ihrer achtet und sie zu Herzen fasset, so ist es immer ein sicher Zeichen, es gehe einem eigentlich recht gut, denn wenn man etwas Schwerers hätte, so würde man Kleines liegen lassen und über das Große ächzen und klagen. Da muß man sich hüten, daß man sich nicht versündige. Denn achtet man sich des Kleinen, stößt sich daran, nimmt es als eine Bürde auf, so wird sie akkurat so schwer wie das schwerste Elend und das Herz so voll Jammer, als ob das Unglück einem über dem Haupte zusammenschlüge. Lue, das ist dHauptsach, daß du es machst wie eine gute Hausmutter! Die wäscht ab, sobald angerichtet und abgegessen ist, und ehe sie zu Bette geht, räumt sie auf, sieht nach, ob allenthalben alles in Ordnung ist, stellt jede Sache an ihren rechten Ort, und was nicht in die Küche gehört, wirft sie draus, alles Ghüder in Kratten, um morgens auf den Mist zu wandern. Sich, so mach es auch mit deinem Herzen! Putz es alle Abend aus von allem täglichen Unrat, was sich ansetzen will, was nicht hineingehört, und absonderlich von allem, was nichts bedeutet und doch sich schwer machen will. Stell alles an den rechten Ort, wo es hingehört, wo es Gott wohlgefällt, damit du es am Morgen, gleich wenn das Tagwerk anfängt, wieder bei der Hand habest, die Geduld, die Sanftmut, die Freundlichkeit, den Frieden, die Liebe, und was alles Gutes und Schönes im Herzen sein soll, dann bsegne dich und bet recht ernsthaft: ›Vater, vergieb mir meine Schulden, wie ich vergebe meinen Schuldnern, und führe mich nicht in Versuchung, sondern erlöse mich von allem Bösen!‹ dann hets gwunne und ein gutes Leben hier mit einem guten Leben dort zsämmeghänkt. Es ist gar nichts, das dir davorsein könnte als e böse Kopf und es wunderligs, epfindligs Herz. Nun, Unglück wird es dir genug geben, wo du meinst, das Herz müsse dir abenandere. Aber die Unglück, wo vo Gott chömme, die mache nüt, da kömmt es immer wieder gut, und, was vonenandere her müsse, das chunnt geng wieder zsämme. Aber das, wo man selbst macht, das ist zum Verderben, und das, wo im Herze wächst, das ist wie drRost, das frißt zerst Grube und gryft zletzt ds Ganze a, daß es überall nüt meh nutz, ganz nüt meh als Rost ist. Machs so, glaub, es chunnt gut, du hast alles zweg, für e glücklichi Frau z'werde, und was du z'klage hest, sy ume Baggitellsache; ob du ja Birlig-Stüdle oder Kriesi-Stüdi heißest, es kömmt ja nichts darauf an, wenn die Birlig-Stüdle nur dem Mann lieb ist und das Kriesi-Stüdi Gott wohlgefällt! Glaub mr, es war manche Frau ganz anders zweg, zweg, daß es se dücht het, wenn ere niemer anders drKopf abschryß, su schryß si ne selber ab; u wär sih so reuig gsy, un ist so glücklich worde, du glaubst nit!« »Mutter, ih glaub dr wohl«, antwortete Stüdeli, »aber ih cha nit, ih bi gar son e schwachi Person, lang nit, was du.« »Gspäß!« antwortete die Mutter, »was nit bist, sottst werde u nit eys Tags; so macht es sih nit, wie viel meine, sondere bi längem. Fa ume an, selb ist dHauptsach; wo nie agfange wird, da gits nüt, und ehe, daß me nit afat, da ist drFehler. Fa a, su chunnts gut, zell druf u glaub mr!«

So spracheten sie zusammen, kamen unvermerkt weiter, sahen ungsinnet sich vor einem Dorfe, welches mehr als eine Stunde entfernt war. Stüdeli erschrak, machte der Mutter Entschuldigungen, daß es sie so weit habe kommen lassen, aber es hätte ihm wieder viel geleichtet; wenn nur noch das Heimkommen überstanden wäre, dann hätte es allen Mut, es komme gut. »Allweg schreiß dir den Kopf nicht vorher ab!« antwortete die Mutter, »nachher wärest du dich sicher reuig. Aber allweg komme ich noch mit bis ins Dorf, die Kinder hätten mir nichts darauf, wenn ich nicht mit ihnen ins Wirtshaus ginge, sie hielten es mir ihr Lebtag vor, und nicht mehr, als sie dazu kommen, wird es ihnen nicht schaden und dir auch nicht, du hast dann noch einen strengen Weg immer obsig.« »Miech nüt, Mutter, wenn die letzte zeche Schritt nit wäre«, antwortete Stüdeli mit Seufzen. Als die Kinder hörten, daß es ins Wirtshaus gehe, taten sie Sätze wie junge Böcklein, es war, als sei ihnen das Himmelreich verheißen, und stracks gehe es darauf los.

Als sie ins Dorf kamen, sah man schon gegen das Wirtshaus, denn die lieben es auch, daß sie von den Leuten gesehen werden und zwar schon von ferne. Da begann Stüdelis Zunge zu stocken und seine Füße langsamer zu gehen, endlich rief es: »Mein Gott, mein Gott, Mutter, luegit doch, steht dort nicht mein Mann, dort, vor dem Wirtshaus in der Straße?« »Es dücht mih, es syg so eine drPostur nah, drnebe sollst du ihn besser kennen als ich und hast jüngere Augen«, antwortete die Mutter. »Es ist ihn gewiß, Mutter«, sagte Stüdeli, und seine Beine kamen wieder in Gang, doch nicht in Lauf. Gar manche Stadttochter wäre geflogen, ja, hätte vielleicht geglaubt, was sie mache, wenn sie ihm bis an den Hals fliege; das unterließ Stüdeli wohlweislich. Die Sitte auf dem Lande ist viel strenger, sie hält im allgemeinen gar nichts auf dem Fliegen, sie hält insbesondere gar nichts auf dem Fliegen um die Hälser. Doch konnte Peter an Stüdelis leuchtendem Gesichte und der Mutter Freundlichkeit sehen, wie willkommen sein Erscheinen war, und es war wirklich, als ob Wolken aus Peters Gesicht wegflogen, als ob ein ganz anderer Schein sich darüberlege.

Wer geglaubt, es seien da Wolken gesessen und verschwunden, hätte ganz recht gehabt. Es hatten da Wolken gesessen und zwar nicht ganz leichte, wenn auch nicht gerade Gewitterwolken. Aber so ein Ehemann ist wirklich bös zweg in solchen Fällen, er ist der arme Teufel zwischen Amboß und Hammer. »Hör, du bist der Mann, du mußt den Verstand machen, wenn sie ihn nicht selbsten hat«, sagte die Alten. »Wenn du mich lieb hättest, du würdest anders mir helfen und auf meiner Seite sein«, heißt es auf der andern Seite. Nun, wem soll er helfen, besonders wenn man dabei sagen könnte, wie das Sprüchwort heißt: »Öppis het drHerr Major recht und öppis dsLisabethli.« Er denkt, Vater und Mutter sollten die Witzigern seien, er denkt, sie wär doch die Jünger und sött in alt Lüt sich chönne schicke und ihnen auch was könne zGfalle tue. So denkt er in einem Augenblick so in einem andern anders, und je nachdem einer ein Gemüt hat, greift es tiefer oder minder tief. Am tiefsten greifts, am meisten leidet die größte Liebe. Peter hatte wirklich ein gut Gemüt, liebte beide Teile und mit Grund. Peter hatte aber auch Gerechtigkeitsgefühl; das sagte ihm, seine Frau sei diesmal offenbar im Unrecht. Er selbst war wirklich auch verletzt worden durch ihr Zwängen, welches offenbar Aufsehen machen mußte, was er bestmöglichst zu verstreichen suchen mußte. Es war ihm angst, wie Stüdeli heimkommen werden, versöhnt oder erst recht anfechtig. Das erstere durfte er kaum hoffen, und doch hätte er mögen und namentlich aus Liebe für Stüdeli, daß es das Vergangene vergessen hätte und versöhnt und freundlich käme. Seiner Leute war er sicher, daß sie dieses hoch aufnehmen und recht zu würdigen wüßten. Diese Unruhe trieb ihn seiner Frau entgegen, obgleich es ihm höllisch, wirklich höllisch zwider war, das Kinderwägeli ziehen zu helfen, er hätte lieber einen Wagen, mit zehn Zentnern beschwert, gezogen, von wegen es war ihm nicht wegen der Mühe, sondern wegen den Leuten. Das freundliche Entgegenkommen verscheute begreiflich seine Bekümmernisse, es war ein Wecken aus schweren Träumen in eine heitere Wirklichkeit, so wie auch sein Erscheinen Berge abwälzte und Kümmernisse verjagte. Kaum wirkte wohl ein Begegnen, ein Entgegenkommen freud- und segensreicher als dieses. Es ist überhaupt um das Entgegenkommen ein gar schön und herzig Ding. Nur muß man es die Meitschi nicht wissen lassen, die könnten es mißbrauchen, jedenfalls übertreiben, überhaupt steht es ihnen in der Regel sehr übel an.

Wenn es so abdeckt auf den Gesichtern und heiter wird in den Herzen, dann schmeckt der Wein, und wäre er in der Lüneburger Heide gewachsen. Das war der nicht, welchen unsere Gesellschaft hier trank, der war am Genfersee gewachsen, in unsaubern Wirtshänden nicht verpfuscht, ein anmütig Wynli, und mundete absonderlich der Mutter. Jetzt sei es beim Schieß Zeit, daß sie aufhöre, wenn sie noch heimwolle, gwüß heyg si es Ketzerli und das es bravs. Si wüß sih nit z'bsinne, daß es ihr so gegangen. Wenn sie nur dr tusig Gottswille scho heim wäre. Es war wirklich etwas an der Sache; denn als sie Geld zählte, weil sie absolut die Ürti berichtigen wollte, klagte sie, sie komme nicht zweg, bald verschieße sie sich, und bald sehe sie die Stücke doppelt. Doch gefährlich war es nicht; denn als man auseinanderging, war ihr Schritt fest, ihr Gang gerade, man sah ihr nichts an. Nur wer sie genau kannte, hätte etwas gemerkt, es lächerete sie beständig, als ob Witz um Witz ihr durch den Kopf flöge. Nun, sie hatte Ursache zu heller Zufriedenheit, sie hatte ein gut Werk getan mancher Mutter zum Exempel.

Wenigstens ebenso glücklich wanderte das junge Ehepaar seines Weges. Stüdeli mochte fast nicht warten, bis sie zum Dorfe hinaus waren, um Peter seine reumütigen Geständnisse zu machen, zu sagen, wie es ihns so freue, daß er ihm entgegengekommen und sein Wüsttun ihns nicht habe entgelten lassen, und seine Vorsätze für die Zukunft mitzuteilen und namentlich, daß es von nun an ganz eine Emmentalerin werden wolle. Halb sei es sie schon, da unten habe man ihm Kriesi-Stüdi sagen wollen und ihm sonst vorgehalten, es rede ganz emmentalerisch. Nun wolle es lieber nur einen Übernamen statt zwei, mit den Birligen wolle es nichts mehr zu tun haben, sondern nur noch von Schöchlene wissen. Überdem gefalle es ihm da oben weit besser als da unten, es hätte nie geglaubt, wie doch die Augen ändern könnten, es sei ihm alles ganz anders vorgekommen, die Menschen und die Häuser, kurz alles zusammen, und aller Glust sei ihm vergangen, zu züglen, auf dem Tanzboden wolle es leben und sterben, wenn man es nur recht lieb haben wolle da oben und es ihns nicht lassen entgelten, daß es sich so verfehlt. Peter hätte ein Hund sein müssen, wenn ob solchen Liebesreden sein Herz nicht hätte weich werden sollen wie Grasanken und er nicht auch ausgepackt hätte, wie lieb es ihnen sei, niemand was gegen ihns hätte, dagegen das größte Bedauren, weil man glauben müßte, es sei ihm nicht wohl bei ihnen. Wenn man einmal das wisse, daß es ihm recht und es gerne bei ihnen sei, werde die größte Freude sein und alles ihm die Hände unter die Füße legen. Sie hätten anfangs großen Kummer gehabt, als es am Samstag so bös fort sei, und wenn deine Mutter wäre wie manche andere Frau, so hätten sie alle Ursache dafür gehabt. »Aber das ist eine, wie man sie nicht findet wie die Merzeglöckli, wenn der Schnee abgeht, die werde ich nicht vergessen, und wenn ich hundertjährig würde, und wenn ich ihr Liebs und Guts erweisen könnte, würde ich nie fragen: ›Was kosts?‹ Daran dachte man, und das war unser Trost, und er fehlte nicht und wenn du jetzt so kommst, so wirst sehen, was da für eine Freude und eine Liebe ist!«

Unter solchen Gesprächen wird der Weg kurz, sie waren daheim, ehe sie sichs versahen, und die zehn letzten Schritte hatten keine Bedeutung mehr. Man flog ihm freilich ebenfalls nicht an Hals, aber man kam ihm entgegen, man erkundigte sich mit herzlicher Teilnahme, wie es ihm gestern im Wetter ergangen, alle Hände waren bereit, ihm irgendwas zu tun, daß es fast nicht reden konnte, weil ihm das Weinen immer zvorderst war. Als Stüdeli am Abend mit Peter in ihr Stübchen kam, da nahm es ihn um den Hals und sagte: »Das habe ich nicht verdient, aber ich will es zu verdienen suchen, zähle darauf!«


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