Jeremias Gotthelf
Das Erdbeeri Mareili
Jeremias Gotthelf

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Jetzt hatte Mareili einen Engel gesehen, es war nicht Brüderchen, es war nicht Schwesterchen, aber ein Engel wars gewesen. Erstaunt hörte die Mutter Mareilis Bericht, aus dem sie lange nichts machen konnte, da die Worte wirr durcheinanderflogen wie ab einem Kirschbaume die Blüten, wenn der Wind dareinfährt. Endlich sagte die Mutter, es sei ein Traum gewesen und anders nicht. Da zeigte Mareili das Silberstück, da wußte sie nicht, was sie sagen wollte, der Verstand stund ihr lange still. Endlich ging er wieder, und sie sagte, sie hätte eigentlich nie gehört, daß die Engel Geld hätten, nach den schönen, weißen Kleidern sei das eine vornehme Herrenfrau oder Herrentochter gewesen, die hätten solche Kleider und schönes Geld. Aber Mareili meinte, es wüßte nicht, warum die Engel nicht Geld haben könnten; Gott könne ihnen ja geben, was er gut finde, und wenn er den Menschen soviel Geld gebe, so könne er den Engeln ja noch viel mehr geben. Es beschrieb die Erscheinung noch viel englischer und herrlicher, daß die Mutter wirklich nichts mehr zu entgegnen wußte und halb und halb sich in den Glauben des Kindes gefangen gab, besonders als alle Nachbarn sich auf die Seite des Kindes stellten. ›Wie wollte doch eine vornehme Herrenfrau oder Herrentochter dahin gekommen sein!‹ sagten sie, ›von einem Engel hergegen wird man es wohl begreifen.‹

Eines kränkte Mareili. Es hatte dem Engel nichts gesagt, ihn nicht gefragt nach Brüderchen und Schwesterchen, ihm nicht Grüße an sie aufgetragen, ihn nicht gefragt, ob auch ein Erdbeerenberg im Himmel sei, und wie schön die Beeren daselbst würden. Sein Trost war, er werde wiederkommen. Dann wollte es ihn aber auch zur Mutter führen, damit die auch einmal einen Engel sehe und künftig ihm glaube, wenn noch mehrere zu ihm kommen. Aber der Engel kam nicht wieder, und andere kamen auch nicht. Umsonst setzte es sich, sooft es sich tun ließ, um Mittagszeit ans gleiche Ort, dann kam Vetter Schläfli, kamen Träume, aber nie weckte ihns wieder eines Engels Stimme, nie stand, wenn es die Augen aufschlug, ein Engel da. Darum verklärte sich der Engel in Mareilis Gedanken immer herrlicher, und der Glaube, daß es wirklich ein Engel gewesen, wurde alle Tage fester. ›Wäre es kein Engel gewesen, so wäre er wiedergekommen‹, sagte man.

Je mehr der Glaube an den Engel sich festsetzte, desto mehr wuchs der Mutter der Kummer, der weiße Engel bedeute den Tod, daß dieser das dritte Kind im dritten Winter holen werde. ›Was wollte er anders bedeuten!‹ sagte sie. Der dritte Winter kam mit großer Angst und vielem Bangen, aber Gottlob ohne Tod. Mareili war auch nicht ein einzigmal krank, und als der Frühling kam, war es selbst das schönste Erdbeeri in Wald und Weid.

So lebten sie fort Jahr um Jahr in glücklicher Gleichförmigkeit, von Gott gesegnet. Der Segen war freilich nur klein. Güter der Welt gewannen sie nicht, aber es genügte ihnen, machte sie glücklich, und was will man mehr? Was änderte, war, daß Mareili alle Jahre größer und stärker wurde, die Mutter älter und schwächer, die Gliedersucht war es, welche sie hauptsächlich plagte. Das Gehen ward ihr beschwerlich; wenn es anderes Wetter geben wollte, konnte sie die Beine fast nicht mehr vorwärts bringen. Mareili mußte sich daher nach und nach auch ans Vertragen gewöhnen. Es gewöhnte sich aber schwer daran, es ward ihm unheimlich draußen in der weiten Welt unter den vielen Menschen. Die langen und breiten Straßen langweilten ihns unendlich. Es erzeigte es aber der Mutter so wenig als möglich, damit sie sich nicht über ihre Kräfte anstrenge, um selbst zu gehen.

Der Eintritt Mareilis in die Welt erregte Aufsehen und Freude bei der Kundschaft, die sich durch ihns noch vergrößerte. Mareilis Wesen hatte etwas Eigenes, fast möchte man sagen, Vornehmes, trotzdem daß es barfuß ging. Es war kurz in seinen Worten, aber freundlich, hielt feste Preise, hielt sich höchst selten an einem Orte länger auf, als es sein mußte, wie gerne man auch mit ihm geplaudert hätte, und wenn ein Herr, besonders ein junger, ihm was sagen wollte, so lief es davon wie ein Reh, das einen Hund anschlagen hörte. Es brachte in seinen Absatz nach und nach eine Art System und zwar nach Sympathie und Antipathie. Es entdeckte nach und nach etwas, welches vielen Leuten verborgen bleibt, denn Mareili hatte nur dünne Haut, der meisten Leute ihre ist dagegen mit Sohlleder gefüttert. Es fühlte, daß ihm aus jeder Haustüre ein eigener Geist entgegenwehe und an jeder Türe ein anderer und zwar an den meisten Orten stetig der gleiche, nur, wie auch der Wind geht schärfer oder leiser, ein milder, freundlicher, ein roher, hochmütiger, ein geiziger oder mildtätiger, ein teilnehmender, ein harter, ein lustiger oder ein lüsterner, ein nobler oder ein gemeiner, kniffsüchtiger.

Es war ihm schon ums Haus herum, als fühle es diesen Geist, und selten täuschte es sich. Er kam ihm aus der Haustüre entgegen, es nahm ihn wahr, je nachdem man ihns warten oder nicht warten ließ, ihm auf seinen Gruß dankte, die Körbchen ihm abnahm, die Ware beurteilte, marktete, das Geld brachte und was für Geld! Je nachdem der Geist war, je nachdem wurde ihm das Haus lieb oder widerlich. Es gab Häuser, vor welchen es floh, als sei die Pest darin, vor die man ihns mit keinem Lieb gebracht hätte. Oh, wenn die Leute so gierig nach einem Körbchen haschten, mit den Fingern darin herumfuhren, die schönsten Beeren hervorgrübelten, alles verchareten, von einem Körbchen zum anderen fuhren, ein Mensch nach dem andern zum Versuchen kam, alles beschnüffelten, verhergeten, verblitzgeten und am Ende nichts kauften oder für einen Batzen oder zwei und kaltblütig ihns laufen ließen mit seinen entehrten Körbchen, die es vor keines Menschen Augen mehr abdecken möchte, wie ihm da das Herz blutete, wie es da das Haus floh für immer, als hausten darin Hunger, Pestilenz und Krieg und die übrigen bösen Geister alle! Es hatte verschiedene Striche, welche es besuchte, und in jedem Striche Häuser, welche höher oder tiefer standen in seiner Gunst je nach dem Geiste, der darin wehte. Darnach ordnete Mareili auch seine Erdbeeren und seine Wege. Es mußte nicht zu machen sein, so spielte es einem Lieblingshaus, wo man es freundlich begrüßte, billig behandelte, namentlich die Kinder manierlich taten, gute Worte ihm gaben, das schönste Krättchen zu, daß alle hell aufjauchzten, die Hände über dem Kopfe zusammenschlugen über die prächtigen Beeren und dringlichst ihns hießen bald wiederkommen. Mit der abnehmenden Gunst nahmen auch die Erdbeeren ab an Größe und Schönheit oder waren allesamt mittelgut, doch immerhin so gut, als irgendein Erdbeerimeitschi sie im Lande herumtrug. In der Regel kam es glücklich seinen Vorrat ab, und blieb ihm zuweilen auch ein Krättchen oder Körbchen übrig, he nun, so machten sie einen Erdbeeristurm und lebten auch wohl daran.

Dann gab es in jedem Sommer einige unglückliche Tage, wo nichts ihm ging, wie es wollte, sondern immer das Gegenteil, wo es ihm schien, als sei es verkauft und verraten oder gar verhexet. Die schönsten Erdbeeren wurden ihm weggeschnappt, es wußte nicht, wie, die besten Kunden traf es nicht an, hier war man schon versorgt, dort laxierte man und konnte Erdbeeren nicht brauchen. Dann mußte es die Tour erweitern, an neue Häuser klopfen, das tat es äußerst ungern. Zu jedem neuen Hause ging es mit Schrecken, es wußte nicht, welch Geist ihm aus dem Hause entgegenkommen, was für ein Hund vor dem Hause bellen werde. Vor solchen Häusern, wo man ihns nicht kannte, ging es ihm selten gut, es wurde grob behandelt, grob abgefertigt, manchmal durch eine Stimme aus irgendeinem Loche her, es wußte nicht, ob über oder unter der Erde.

Nun war es an Mareili, Bericht aus der Welt zu bringen, der Mutter seine Erlebnisse mitzuteilen. Solche Berichte waren das Labsal der Mutter, aber die Hauptsache blieb ihr immer, wer nach ihr gefragt, ob man an die Erdbeerifrau noch denke? Man ist nicht gern vergessen schon bei Lebzeiten, man lebt gerne lange, und wenn man auch sterben muß, möchte man doch gerne noch lange leben nach dem Tode. Es ist kaum ein Bettelmannli auf Erden, welches nicht an dem Gedanken wohllebt: Was wird man sagen, wenn ich nicht wiederkomme. Man wird noch oft an mich denken. Und ach, wenn die Menschen drei Wochen nach ihrem Tode gucken könnten aus irgendeinem Himmelsfenster in die hinterlassenen Häuser und die hinterlassenen Herzen hinein, es würde den meisten übel gschmuecht werden, trotzdem daß sie im Himmel wären. Ja und wenn die Menschen drei Wochen nach ihrem Tode wiederkommen könnten auf Erden, so würde es den meisten betrübten Hinterlassenen übel werden, daß sie meinten, sie müßten sterben, ja, da würde es auch wahr, daß der zweite Schmerz größer wäre als der erste.

War es möglich, so zwängte die gute Frau alle Jahre ihre schweren Beine noch einmal in die Welt hinaus den Kunden nach, um sich persönlich zu überzeugen, wie lieb die Leute sie noch hätten und noch lange nicht vergessen. Und wenn sie dabei von weitem ein Tönchen aufgabeln konnte, als hätten die Leute sie noch lieber als Mareili, als hätte sie ihre Sache doch noch besser gemacht, so war sie überglücklich. Das war dann auch das erste, was sie Mareili berichtete, und wie sie glaube, sie hätte noch das größere Zutrauen und brächte eine größere Losung zweg. Mareili gönnte diese Freude der Mutter von Herzen, und in demselben war keine Spur von Eifersucht. Hatte es ja doch auch seine eigenen Freuden, welche die Mutter nicht kannte. Hatte es doch so innige Freude an den Erdbeeren nicht bloß um der Losung, sondern um ihrer selbst willen, weil sie ihm so lieb waren. Hatte es sein ganzes inneres Leben mit all seinen Träumen, wo doch der von dem schönen weißen Engel ihm einer der liebsten blieb und die Hoffnung, es werde ihn doch noch einmal wiedersehen. Das gute Kind lebte am liebsten in der wunderbaren, dunkeln Welt, die jenseits unsrer Sonne liegt, nach welcher seit Jahrtausenden die Gelehrten ausziehen mit Fackeln, Stangen und Spießen, sie zu erobern, und, wenn sie dann lange mit ihren Stangen und Spießen im Nebel herumgeguselt vergeblich, sie nie an ihren Spieß gekriegt, ihr Dasein in Abrede stellen und der Welt klar demonstrieren, es existiere keine solche unsichtbare Welt, weil, wenn eine wäre, sie dieselbe hätten an ihren Spieß kriegen müssen, nun hätten sie aber keine dran gekriegt, ergo sei auch keine. Nun existieren aber, Gott sei Lob und Dank, gar viele Dinge, welche Gelehrte und Weise dieser Welt nie und nimmer kriegen an ihren Spieß, dieweil sie trotz aller Weisheit nie fassen und begreifen werden, was als Himmelsgabe kindlichen Gemütern gegeben ist und über allen Verstand der Verständigen geht, kein Chemiker es mit seiner subtilen Wage wägen, mit irgendeinem Stoffe fassen, zersetzen oder binden kann.

Je verständiger und sinniger Mareili sein Tagewerk betrieb und Ordnung in dessen Verlauf brachte, desto eifriger trachtete es darnach, ein bestimmtes Kennzeichen sich zu merken, ob ein Tag glücklich oder unglücklich ablaufen werde. Wieviel konnte es sich ersparen, wenn es an unglücklichen Tagen nicht hinausging in die Welt, wo es nichts fand als Verdruß und Mühe!

Aber es ging ihm sonderbar. Glaubte es eins entdeckt zu haben, weil es einigemal eingetroffen, und wollte darauf abstellen, so fehlte es das nächste Mal gänzlich, es ging ganz das Widerspiel. Es achtete sich auf die Träume der Nacht, des Beines, welches zuerst aus dem Bette kam, des ersten Vogelgeschreis, des ersten begegnenden Menschen, des Stolperns und Nichtstolperns, und alle Zeichen waren gut, und alle Zeichen täuschten, und kehrum glaubte Mareili an jedes mit immer festerm Glauben. Zu einer Zeit, als eben sein Glauben auf Träume sich gestellt, hatte es immer und immer mit trübem, wüstem Wasser zu tun, es war in Todesängsten und Todesnöten.

›Mutter‹, sagte es am Morgen, ›heute habe ich einen bösen Tag, lauter Unglück und Verdruß; wenn es immer zu machen wäre, ich bliebe daheim, trübes Wasser ängstete und nötete mich gar zu grusam.‹ ›Das ist bös‹, sagte die Mutter, ›gehst nicht, so charen die Erdbeeren, darfst sie nicht mehr vertragen, hast von zwei Tagen beisammen, was wir beide gwinnen mochten, und es gab so wohl.‹ ›Weiß es wohl, Mutter‹, antwortete Mareili, ›sagte ja bloß, wenn es zu machen wäre. Will es in Gottes Namen probieren, mich grusam in acht nehmen; z'töte wird es ja nicht gehen.‹ Mareili ging.

Die erste Person, welche ihm begegnete, war eine alte, böse Frau, welche im Rufe stand, sie könne mehr als Brot essen, sie könne hexen. ›Es ist doch gut‹, sagte Mareili, ›halte ich nicht mehr alles auf der Sache, die hätte mich sonst können zurücktreiben.‹ Als es dahin kam, wo der Tschaggeneigraben ins weite Land sich mündete, käderten ein ganzes Regiment Ägersten gar mörderlich. Alle Bäume waren voll, es war, als ob sie eigens wegen Mareili hier eine Versammlung angestellt hätten. Das stellte Mareili. ›Soll ich, oder soll ich nicht?‹ sagte es. ›Auf dem Vogelgeschrei halte ich noch am meisten; aber es trifft ja alles zusammen, das muß etwas zu bedeuten haben, viel Böses allweg. Aber i Gotts Name, sei das jetzt, wie es wolle, es muß gegangen sein. Ich will brav beten, es ist doch am Ende der liebe Gott der Meister, und dÄgerste werde nit alles könne zwänge, und am Ende, was sy soll, muß ja sy!‹


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