Jeremias Gotthelf
Das Erdbeeri Mareili
Jeremias Gotthelf

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Im folgenden Sommer knüpfte der Verkehr sich wieder an und hatte nichts an Innigkeit verloren, am wenigsten von Mareilis Seite, das Fräulein blieb sein Engel, dessen Erscheinung sein Herz mit Freuden füllte. Auch das Fräulein blieb bei seiner Teilnahme und Freundlichkeit und nicht bloß wegen dem romantischen Anfang ihrer Bekanntschaft, wegen dem Interessanten, welches derselbe auf sie beide warf, sondern es war ein seltsam Etwas, welches dasselbe an Mareili fesselte, von dem das Fräulein zwar immerfort sagte: ›Es gspässigs, es kurioses Meitschi!‹ Es dankte viel weniger als andere für Guttaten, es brauchte nie schöne Worte, einschmeichelnde Redensarten, aber es liebte die Hand, aus der sie kamen von ganzem Herzen und ganzem Gemüte, das war das Gspässige in seinem Wesen, das so natürlich war und doch lange ein Rätsel blieb.

Man fordert Dankbarkeit vom Armen, Ergebenheit, aber an die persönliche Liebe denkt man nicht, begreift sie darum nicht, man denkt gar nicht an die Möglichkeit, daß, wo weit die Stände scheiden, die Herzen in wahrer Liebe, die ist eine persönliche, sich einen können. So liebt der Wohltäter wohl die Armen, das heißt, er fühlt Mitleiden mit ihnen und übt Wohltaten an ihnen, aber wo ist der Arme, den er persönlich als einen Bruder liebt, als einen Bruder erzieht, als ein Bruder sich ihm gibt? Hier liegt noch ein gar dunkles Gebiet, in welches unser Herrgott seine Sonne auch einmal so recht sollte scheinen lassen.

Die Macht dieser Liebe fühlte das Fräulein, wenn es auch an die Liebe selbst nicht dachte, das Mädchen zog ihns an, interessierte ihns sehr, wie das Fräulein sagte und unbewußt vielleicht mehr fühlte als sagte. Das war der wahre Grund, warum das Verhältnis sich nicht abnutzte, nicht in Gleichgültigkeit zerfloß oder gar lästig wurde.

Was sich verlor, war Mareilis Schüchternheit und fast gänzliches Verstummen vor dem Fräulein. Es durfte reden, antworten, sich ordentlich mitteilen über seine Verhältnisse. Es sprach von ihrem häuslichen Leben, und das Fräulein entdeckte, wie gut Mareili und seine Mutter die weiblichen Arbeiten kannten, weit besser, als man damals es gewohnt war. Das war eine sogenannte Trouvaille, ein Fund, und von da an war viel Verdienst im Häuschen. Wenn nur die Mutter besser hätte arbeiten mögen, jetzt wären sie geborgen gewesen.

Aber der Mutter Zustände kümmerten Mareili mehr und mehr. Die gute Frau mußte viel leiden, und, wie sie doktern mochte, es wollte nicht bessern, sie wurde immer unbehülflicher. Wenn nicht gute Nachbarn gewesen wären, Mareili hätte sich nicht mehr von Hause entfernen, seinen Gewerb, an dem es noch immer hing mit großer Eifrigkeit, aufgeben müssen. ›Was willst anfangen, wenn die Mutter stirbt?‹ hatte das Fräulein oft gefragt. ›Darf nicht daran denken‹, hatte das Mareili geantwortet. ›Wenn es ginge, ich bliebe am liebsten im Tschaggeneigraben und täte wie bisher, was will ich mehr?‹ ›Das wird nicht gehen‹, hatte dann das Fräulein gesagt, aber Mareili begriff nicht, warum das eigentlich nicht gehen sollte, doch widerredete es nicht. Wovon man lange gesprochen und doch nicht erwartet hatte, geschah endlich: Mareilis Mutter starb.

Es war zur Winterzeit, das Fräulein befand sich in der Stadt, Mareili war allein und damals vielleicht achtzehn Jahre alt. Es hatte viel mit der Mutter gehabt in den letzten Tagen, aber die Liebe hatte alles leicht gemacht, und jetzt konnte es sich kaum darein schicken, keine mehr zu haben, sie fehlte ihm bei jedem Schritt und Tritt. Sein einziger Trost im Leben war das Fräulein, aber das war fern einstweilen. Als die Mutter begraben war und es alleine im Häuschen blieb, wollte es ihm fast das Herz abdrücken, es kam sich vor wie ein im Walde von seinen Eltern, wenn es Nacht werden will, verlassenes Kind. Ganz arm war Mareili nicht, es waren zwei Betten da und Hausrat, den man in dieser Hütte nicht gesucht, auch ein Sparpfennig fehlte nicht. Die Nachbarn waren gut gegen ihns, waren ihm in der schlimmen Zeit treu beigestanden.

Und doch ward es ihm so alleine im Häuschen bald unheimlich, es begriff, daß es in die Länge hier nicht bleiben konnte. Es merkte bald, daß jedermann auf ihns spekulierte in gar vielfachen Beziehungen. Es ist kurios: wenn jemand stirbt, möchte jeder etwas erben, und wärs nur ein Andenken, möchte mit der Hinterlassenschaft auf irgendeine Weise die eigene Lage verbessern. Man spekuliert auf Geld oder auf Personen oder auf beides zusammen. Die Menschen haben offenbar ein bedenklich Stück von einem Jagdhund in ihrer Natur, haben eine feine Nase, und wittern sie das kleinste Vörtelchen, kömmt sie das Jagen an unwiderstehlich. Die einen wollten Mareili zu sich nehmen, es sollte ihnen nähen, dienen und in ihrem Lohn Erdbeeri gwinnen; andere wollten zu ihm ziehen und gemeinsam Haushalt mit ihm führen, andere es gar heiraten, Herr Jeses! Es meinten es sicher alle zum allerbesten, und alle meinten, sie hätten eigentlich bloß Mareilis Beste im Auge, und suchten ihm mit allem Eifer dieses begreiflich zu machen, und doch wurde es Mareili unheimlich dabei, und es mochte fast nicht warten, bis die Zeit um war und das Fräulein wiederkam.

›Und jetzt, was willst?‹ frug das Fräulein, als beim Wiedersehen den ersten Fragen und Antworten ihr Recht geschehen. Mareili berichtete und kam zum Bekenntnis, so weh es ihm tue, zweifle es doch, daß es so bleiben könne, so alleine könne es nicht bleiben, aber was dann, wisse es nicht. Fort-, weit wegzugehen, werde ihm das Herz zerreißen. ›Weißt du was‹, sagte das Fräulein, ›bleibe bei mir! Es ist ja gerade, als ob es so sein sollte, so trifft es sich. Meine Kammerfrau, dGattung, hat mir heute aufgesagt. Sie kränkelt und redet schon lange davon. Heute sagte sie mir in allem Ernst, ich solle nach jemand anders sehen, sie könne nicht mehr, und jetzt gerade kommst du.‹ Mareili fiel wie aus den Wolken über diesen Vorschlag, es entsetzte sich darob, teils aus Freude, teils aus Schrecken. Es sollte immer beim Fräulein sein können, das war die Freude; es sollte den Tschaggeneigraben und seine Freiheit verlassen, sollte ins Schloß unter die Dienerschaft, im Winter gar in die Stadt, das war der Schrecken. Das Fräulein hatte aber auch Überwindung gebraucht zum Vorschlag. Ein undressiertes Baurenmädchen, welches nicht Weltsch kann, zur Kammerfrau in einem vornehmen Hause zu erheben, das brauchte Mut und Aufopferung. Wo es hoch hergeht, ist so eine Kammerfrau eigentlich der zweite Leib, der die meisten Dienste verrichtet, welche eigentlich dem Leibe der Herrin zustünden, alle bis ans Essen usw. Es ist die potenzierte Kindermagd, wie ein Fräulein und andere Menschen eigentlich auch nichts anderes sind als potenzierte und erwachsene Kinder. Und wie die Glieder des Leibes den Gedanken des Geistes untertan sind, sie ausführen, sobald sie entstehen, so soll die Kammerfrau die Gedanken entstehen sehn und sie ausführen, ohne daß es der verzögernden Rede bedarf.

Mareili verstund freilich das Nähen, Stricken und Flicken wohl, aber das Glätten nicht, und eine Toilette hatte es kaum je gesehen von weitem, geschweige denn sie je gebraucht, man denke! Mareili gab eine sehr schöne Kammermagd, aber erst, wenn es gehen konnte auf den gewichsten Dielen, erst wenn es mit Manier sich präsentieren und anmelden, erst wenn es wenigstens ›Oui‹ und ›N'est-ce pas?‹ und ›Qui est là?‹ sagen konnte mit Anstand. Es gibt in jedem Hause, welches repräsentiert, eine Sitte, welche von jedem und besonders von einer Kammermagd gehandhabt werden muß, wenn nicht Ärgernis entstehen soll. Das Fräulein überwand seine Bedenken, war der große Engel dem Erdbeeriengeli gegenüber, sprach liebenswürdig dem bangen Mädchen zu, welches endlich sagte: ›Ach, mein Gott, ich wüßte ja nichts Besseres, es ist mir das Liebste, was ich ersinnen könnte, aber ich kanns nicht vorbringen, ich bins nicht imstande.‹

Da rief das Fräulein die alte Gattung. Das war kein so tüfelsüchtig Räf, wie man Exempel hat, daß alte Kammerfrauen geworden, welche nichts mehr freut, als junge Geschöpfe zu kujonieren, und wenn die Herrschaft mit ihren Nachfolgerinnen herzlich schlecht fährt oder gar nicht fahren kann. Gattung war gutmütig, und Erdbeeri Mareili war ihm lieb. Es fand freilich den Gedanken des Fräuleins vermessen, aus Mareili so urplötzlich eine Zofe zu machen, und zu Rate gezogen, würde es denselben für unausführbar erklärt haben. Gattung hatte Selbstbewußtsein, kannte ihres Amtes Bedeutsamkeit, wußte, was ihre Erfahrung wog, was sie in vierzig Jahren gelernt und was sie leistete, und ein achtzehnjähriges Baurenmädchen sollte sie ersetzen, mon dieu! Indessen es war geschehen, und Gattung sprach dem Meitschi Mut ein und bot sich an, wenn es alsbald komme, nachzuhelfen und bis zu ihrem Abgang ihm wenigstens einen Begriff des Dienstes und das allernötigste Weltsch beizubringen. Das Fräulein sei si bonne, daß es sich schon geduldig erweisen werde. Mareili ließ sich bereden, nur eines müßte das Fräulein ihm versprechen, ihns alle Jahre einige Tage in seine Erdbeeren zu lassen. Das tat das Fräulein gerne und sagte, vielleicht komme es selbsten mit.

Nun begann für Mareili ein ganz ander Leben, es war ein noch viel ärgerer Gegensatz, als wenn es aus einem Weltteil in einen andern gewandert wäre. Da war alles, alles anders, bloß der Himmel nicht, der gleiche stund über dem Tschaggeneigraben und über dem Schlosse. Dagegen die Erde im Tschaggeneigraben war Erde, wie sie Gott eben erschaffen hatte, ums Schloß herum dagegen war sie mit Kies bedeckt.

Es war die ersten Tage in fortdauerndem Zittern, es möchte ein großes, unersetzlich Unglück anrichten, wie ein Kind, das man mit Licht in eine Pulverkammer stellt, es durfte fast nicht trappen, nichts anrühren aus Angst, es zerbreche etwas oder lasse es fallen. Gattung schüttelte bedenklich den Kopf. Indessen es ging, wie es heißt, die Liebe duldet alles, überwindet alles. Nachdem die erste Angst überstanden war, faßte Mareili unglaublich schnell seine Aufgabe, so daß Gattung wieder wie bedenklich den Kopf schüttelte und sagte, pour une jeune Allemande stelle sich Mareili merveilleusement, so was hätte sie nie erlebt. Jetzt trug die Zartheit, mit welcher Mareili seine Erdbeeren behandelt hatte, gute Früchte. Das Fräulein behauptete, eine so leichte Hand, die man fast nicht fühle, wenn sie am Leibe herumhantiere, habe es noch nicht erlebt. Und als einmal die Angst überwunden war, fühlte Mareili sich fast glücklich in seinem neuen Verhältnis. Es sah das Fräulein immer und immer und sann Tag und Nacht daran, wie es sich ihm treu und gefällig erweisen, in seinen Augen lesen könne, was dasselbe denke, fühle, wünsche.

Das Fräulein war glücklich, keinen Mißgriff getan zu haben, und freute sich des Kammermädchens, das so anständig und geschickt war, zu einem vornehmen Hause paßte und ihm wohl anstand. Das Fräulein war gewohnt, die Dienstboten anständig zu behandeln, mit kurzer Gemessenheit der Rede, solange es seine Gefühle in die konventionellen Schranken zu bannen vermochte. Diese konventionellen Schranken sind nicht absolut allgemeine, sondern fast jedes Haus hat seine eigenen, engern oder weitern. Ja, man sieht zuweilen in einem Hause große Rücksichtslosigkeit in Sitten und Manieren und gegenüber derselben ein so ängstliches Hüten aller Formen, eine um so strengere Gemessenheit im Reden und im Bewegen, und diese Form wird um alles gezogen, und alles muß sich in dieselbe fügen, die stärksten Gefühle, Liebe und Religion oder Liebe zu Gott und Menschen. Wo irgendwo diese Form durchbrochen wird, giltet es als Sünde, als sehr ernste Sünde, welche oft weder vergessen noch vergeben wird. Familienglieder, besonders weibliche, welche ihre Gefühle nicht immer in dieser konventionellen Hausschranke bergen können, werden beständig mit einer Art von –Ängstlichkeit betrachtet, mit bedenklichem Achselzucken wird verblümt von ihnen gesprochen, als ob man sagen wollte: ›Man kann nicht wissen, was Tüfels die noch anstellt.‹

Es ist aber eine gleichsam heillose Methode, daß alle Glieder einer Familie die gleiche Schnürbrust tragen sollen, und zwar gar zuweilen noch durch verschiedene Geschlechter hindurch, daß dieser Schnürleib gleichsam die Familienzwangsjacke sein soll für alle höhern menschlichen und religiösen Gefühle. Man denke die Folgen einer solchen Schnürbrust für die Leiber der Menschen, und um wieviel zarter und daher leichter verkrüppelt sind die Geister der Menschen! Wohlverstanden, wir reden hier nicht von den allgemeinen Schranken, welche sittliches Gefühl und christlicher Geist ziehen, sondern von den sonderbündlerischen Schranken der verschiedenen Häuser.

In einem solchen Schnürleib stak das arme Fräulein, fühlte ihn vielleicht oft lange nicht, er schien ihm zur andern Natur geworden, bis bei besondern Anlässen oder besondern Stimmungen die Gefühle schwollen, gegen die Bande drängten, Kopf und Herz zu platzen drohten, endlich in eine Schwäche bis zum Tod der Brand verlief. So war Mareilis Fräulein.

Aber Mareili fühlte diese übliche Gemessenheit nicht, machte keine Ansprüche auf Äußerungen der Liebe, auf Gegenliebe. Es fühlte sich glücklich in seiner Liebe. Wenn der Ton des Fräuleins in Gegenwart von Fremden noch kälter als sonst gegen ihns ward, so tröstete es sich sicher an einem freundlichen Blick, den das Fräulein ihm nachsandte. Und wenn zuweilen das Fräulein gereizt war und diese Stimmung Mareili fühlbar ward, so schrieb es sie einem innern Leiden zu, und seine Liebe ward um so inniger, seine Sorge um seinen Engel um so größer. Dann reichte wohl nachher das Fräulein Mareili die Hand und sah es an mit seinen wunderbaren Augen wie ehemals, und Mareili schoß das Wasser in die Augen und hatte seligen Lohn. Zuweilen auch, wenn die innere Glut und die kalte Welt so recht in schneidendem Gegensatze stunden, dem Fräulein es so enge ward, daß der Atem ihm ausgehen wollte, wo es ihm ward, als stünde es auf der höchsten Spitze des allerhöchsten Schneeberges in alter und neuer Welt, da frug es wohl: ›Mareili, hast du mich lieb?‹ und wenn dann Mareili das Wasser in die Augen schoß und es sagte: ›O Fräulein!‹ so gab dasselbe ihm die Hand und sagte: ›So behalte mich lieb!‹ Das waren Augenblicke, welche Mareili für alles entschädigten, was es wohl auch sonst zu tragen hatte, welche seine unverfälschte Liebe immer neu stärkten, welche es nie irre werden ließen am Fräulein, auch wenn dasselbe viele, viele Tage kein Zeichen besonderer Teilnahme ihm gab, es mit einer kühlen Gemessenheit behandelte, die akkurat aussah wie Hochmut gegen Niedere, die man drei Schritte vom Leibe haben will.


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