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In tiefster Niedergeschlagenheit schritt Helmut durch die Straßen dahin und der Wohnung des Professor Hartmann zu, wo die gewohnte abendliche Seminarübung abgehalten werden sollte. Schon sechs Wochen waren nun verstrichen und noch waren alle Versuche Helmuts vergeblich geblieben, sich Einnahmen zu verschaffen. Zu allen Professoren, zu dem Direktor und den Oberlehrern des Gymnasiums war er gelaufen mit der Bitte, ihm Schüler zuweisen zu wollen; aber es hatte nichts genutzt.
Kein Wunder, daß Helmut da allmählich der Mut schwinden wollte. Es war ja zu entsetzlich, so ganz aus der Tasche fremder Leute leben zu müssen. Als er sich dazu entschlossen hatte, Härtels hochherziges Anerbieten anzunehmen, war es immer nur mit der tröstlichen Gewißheit geschehen, daß es ihm bald gelingen würde, sich selber die Mittel zu verschaffen und nur einstweilen oder für den Fall der Not Härtels Güte in Anspruch zu nehmen. Er wollte als anständiger Mensch es doch nur in der Weise tun, daß er ihre Hilfeleistung als ein Darlehen betrachtete, dessen Rückgabe ihm später in Amt und Würden eine Ehrensache sein mußte. Aber ohne jeden eigenen Verdienst mußte diese Unterstützung im Laufe der Jahre eine Höhe erreichen, eine Summe darstellen, die wie eine fürchterliche Schuld auf ihm lasten und nachher im Berufsleben jede Freude am Dasein vergällen würde. Die besten Jahre seines Lebens hindurch mußte er dann mit der Abzahlung jener Schuld sich plagen, wenn es ihm überhaupt gelang, dies einmal zu erreichen.
In tiefster Niedergeschlagenheit, fast verzweifelt, trat Helmut so bei Professor Hartmann ein. In seine düstere Stimmung verloren, hatte er nicht auf die Zeit geachtet und war so etwa zehn Minuten früher als zur angesetzten Stunde in der Wohnung des Genannten erschienen. Er merkte es erst beim Eintreten in das Arbeitszimmer des Professors beim Blick auf die Uhr. Es war ihm sehr peinlich, den Gelehrten, den er noch schreibend am Arbeitstisch vorfand, so vorzeitig gestört zu haben; er bat daher sehr um Entschuldigung und wollte sich schnell wieder zurückziehen. Aber Professor Hartmann hielt ihn zurück.
»Bleiben Sie nur, lieber Herr Berendt, Sie stören mich nicht.« Mit einer Handbewegung lud er Helmut ein, neben ihm auf dem Stuhle am Schreibtisch Platz zu nehmen. »Es ist mir im Gegenteil sehr lieb, daß Sie etwas eher kommen; so kann ich gleich mit Ihnen eine Sache besprechen, derentwegen ich Sie schon zu mir bitten wollte. Es handelt sich nämlich um folgendes: Ein junger Russe, ein sehr vermögender Gutsbesitzer aus der Krimgegend, der hierhergekommen ist, um volkswirtschaftliche Studien zu betreiben, hat sich an einen Kollegen, Professor Watzdorff, gewandt mit der Bitte, ihm doch einen Herrn nachweisen zu wollen, der bereit wäre, ihn in der Erlernung der deutschen Sprache, die er nur sehr mangelhaft beherrscht, zu unterstützen und auch sonst etwas bei den Studien hier an die Hand zu gehen. Kollege Watzdorff hat nun unter seinen Hörern keine geeignete Persönlichkeit und fragte daher mich, ob ich vielleicht jemand wüßte. Da habe ich nun an Sie gedacht, Herr Berendt, der Sie mir vor einiger Zeit einmal sagten, daß Sie gern Unterricht erteilen wollten. Wie wär's, hätten Sie also Lust, es mit dem Herrn zu versuchen? Es soll ein sehr liebenswürdiger Mensch sein, allerdings ein bißchen exzentrisch, wie diese Halbasiaten ja meistens sind,« schloß der Professor lächelnd.
Ob Helmut es versuchen wollte! Er war ja so glücklich, ein so innig jubelndes Gefühl der Dankbarkeit gegen die Vorsehung beseelte ihn, die ihm da plötzlich in tiefster Not Hilfe sandte. Mit tausend Freuden nahm Helmut daher den Vorschlag an, und sein fast stürmischer Händedruck sagte dem Professor besser als Worte, wie dankbar er für die gütige Übermittlung der Anfrage war.
Kaum konnte Helmut diesmal die zwei Stunden abwarten, bis das Seminar zu Ende war. Es drängte ihn, nach Hause zu eilen und der guten Frau Härtel die große Herzensfreude mitzuteilen, die ihm widerfahren war. Das war dann wirklich ein Fest, als er nach Hause gestürmt kam und der lieben Frau die gute Nachricht ins Haus brachte. Freudestrahlend wurde auch sofort Vater Härtel herbeigeholt und zur Feier des Tages eine Flasche guten Rheinweins beim Abendbrot auf das Wohl des künftigen »Prinzenerziehers« getrunken, wie Herr Härtel in fröhlicher Laune Helmut scherzhaft taufte.
Nur wenig Schlaf kam in der darauffolgenden Nacht in Helmuts Augen. Freudig malte er sich die Zukunft aus, wie alles nun so schön und glatt gehen würde. Mit fieberhafter Ungeduld sehnte er den Morgen herbei, um zu dem jungen Russen eilen und ihm seine Dienste antragen zu können. Der Professor hatte ihm noch einige freundliche Zeilen zur Empfehlung mitgegeben, die ihm, wie er zuversichtlich hoffte, das Engagement verschaffen würden.
Endlich war es doch so weit – es war zwar immer noch etwas früh, erst halb zehn Uhr Morgens – daß Helmut sich auf den Weg machen konnte. Herr Iwan Fedorowitsch Wasilew wohnte in einer Villa im Professorenviertel unterhalb des Landgrafenberges. Er mußte offenbar in außerordentlich günstigen Verhältnissen leben; das sagte sich Helmut gleich, als er nun an der Klingel des Vorgartens zog, in dem die äußerst vornehm gebaute Villa lag. Das Gitter sprang auf, und Helmut schritt auf das Gebäude zu. An der Tür des Haupteingangs befand sich neben dem Klingelzug ein Schildchen, das den Namen Iwan Fedorowitsch Wasilew trug. Die Tür war schon offen, und in ihrem Rahmen stand ein Diener im schwarzen Gehrock mit weißer Binde, der unter höflicher Verbeugung den Besucher begrüßte.
»Ist Herr Wasilew schon zu sprechen?« fragte Helmut nicht ohne ein gewisses Herzklopfen der Erwartung. Aber wie sehr stürzte ihn plötzlich die Antwort des dienstbaren Geistes aus allen Himmeln. Er mußte nämlich zu seinem größten Schrecken hören, daß Herr Wasilew nicht zu Hause sei. Die förmlich betrübte Miene Helmuts rief auf dem glattrasierten Gesicht des Dieners den Hauch eines Lächelns hervor, und er beeilte sich, zur Aufklärung zu versichern, daß sein Herr außerhalb der Stadt noch ein kleines Weinberghäuschen als Sommervilla bewohne, worin er bisweilen, wenn es ihm behagte, über Nacht zu bleiben pflegte. Wenn der Herr sich dorthin bemühen wollte, so würde er Herrn Wasilew, der erst spät aufzustehen gewohnt sei, sicherlich noch antreffen.
Dem Himmel sei Dank! Das war ja wieder ein Trost, wenn schon sich freilich die Entscheidung damit noch eine gute halbe Stunde hinauszog; denn das bezeichnete Gartenhäuschen lag ziemlich weit draußen vor der Stadt, nach der Ölmühle zu.
Helmut machte sich sofort dahin auf den Weg und eilte derartig, daß er schon nach reichlich zwanzig Minuten an Ort und Stelle war. Das alte, noch aus dem Ende des achtzehnten Jahrhunderts stammende Häuschen lag freundlich mit seinen weißen Mauern, rotem Ziegeldach und grünen Fensterläden inmitten eines größeren, ziemlich verwilderten Gartens mit schattigen Baum- und Strauchgruppen, der früher als Weinberg gedient hatte zur Zeit, als noch der berühmte Creo und Crollo bei Jena gebaut wurde.
Nun stand Helmut vor dem Häuschen und klopfte gegen die Tür, die ebenso wie die ihm sichtbaren Fensterladen noch verschlossen war. Sofort antwortete von drinnen der tiefe, rauhe Laut eines großen Hundes, der aber alsbald verstummte, von einer herrischen Stimme zur Ruhe gerufen. Dann aber regte sich nichts, und alles blieb stumm, wie zuvor. Einen Augenblick stand Helmut zweifelnd, was er tun sollte; aber endlich entschloß er sich doch, von neuem zu klopfen, diesmal sogar etwas kräftiger. Ein heftiges Aufheulen erfolgte, und im nächsten Augenblick wuchtete drinnen ein schwerer Körper gegen die Tür; man hörte das Kratzen der an der Innenseite der Tür heruntergleitenden Hundetatzen. Von dem mächtigen Anprall zitterte und krachte die nur schwache Tür in allen Fugen, so daß Helmut ordentlich erschrocken zurückprallte.
Das Echo dieser etwas grimmigen Begrüßung war eine nicht minder lebhafte Verwünschung in russischer Sprache. Gleich darauf hörte man einige Hiebe niederfallen und die Dogge jämmerlich winselnd sich zurückziehen. Dann näherten sich Schritte der Tür, und eine Stimme fragte nicht gerade sonderlich liebenswürdig in gebrochenem Deutsch: »K schortu! Waas is los?«
Helmut war recht betroffen über diesen Empfang, den er etwas besser erwartet hatte. Aber was war zu machen? So erklärte er denn mit lauter Stimme: »Verzeihen Sie vielmals; aber ich wurde von Ihrem Diener hierhergeschickt, da ich glaubte, daß Ihnen mein Besuch baldigst erwünscht wäre. Ich komme mit einer Empfehlung von Professor Hartmann wegen der Unterrichtsangelegenheit.«
»Ah, is sich etwas anderes! Biete, biete serr um Entschuldigung. Biete nurr einen Augenblick warten zu wollen.«
Die Schritte verhallten wieder im Innern und Helmut brauchte nur wenige Minuten zu warten, dann wurden drin die Laden aufgestoßen und einige Augenblicke später öffnete sich die Tür: Helmut sah sich dem Herrn dieses eigenartigen Sommerpalais gegenüber. Er war ein großgewachsener, offenbar noch junger Mann, in ein schwer seidenes orientalisches Gewand, eine Art Schlafrock, gehüllt, goldgestickte rote Saffianpantoffeln an den Füßen, von schönem, intelligentem Gesicht mit wohlgepflegtem Vollbart und etwas brünettem Teint, dessen dunkle, große Augen ihn jetzt mit jenem weichen Ausdruck des Slawen liebenswürdig ansahen.
»Biete nochmalen serr um Entschuldigung, aberr ich sein Langschläfer und zu so früher Stunde auf Besuch noch nicht eingerichtet. Biete serr, treten Sie ein; aberr müssen Sie schon entschuldigen, es ist hier ein großes Tohuwabohu! Sieht serr bös aus, ganz Garçonwirtschaft.«
Mit großer Zuvorkommenheit schüttelte Herr Wasilew Helmut die Hand und zog ihn ins Innere seiner Behausung.
Da drin sah's allerdings sehr chaotisch, aber äußerst malerisch aus. Der Russe hatte sich dieses sein Tuskulum ungefähr wie ein tartarisches Prunkzelt eingerichtet. Alle Wände waren mit prächtigen persischen und türkischen Teppichen behängt, Diwane und ähnliche orientalische Sitzgelegenheiten bedeckten den gleichfalls mit dicken Teppichen geschmückten Fußboden, und auf einem Diwan in der Ecke zeigten die zerwühlt umherliegenden Kissen und seidenen Plumeaus an, daß dort der Herr des Hauses sein Nachtquartier aufgeschlagen hatte. Auf dem mit Perlmutter eingelegten kostbaren Teetischchen stand der Samowar friedlich neben einigen Weinflaschen und einer Aschenschale, in der eine gewaltige Zahl von Zigarettenresten lagen.
Eine geniale Unordnung machte sich auch sonst allenthalben in dem kostbar eingerichteten kleinen Raum bemerkbar, und von einer Ecke aus, wo ein zottelhaariges Bärenfell lag, beobachtete mit lauerndem Blick, den mächtigen Kopf auf die Pranken gereckt, eine wundervolle Tigerdogge den Ankömmling, nun aber langsam mit der fein ausgezogenen Rute hin und her pendelnd, als sie bemerkte, daß der Besucher offenbar in friedlicher Absicht gekommen war und von dem Herrn freundschaftlich aufgenommen wurde.
Herr Wasilew nötigte Helmut nunmehr mit größter Liebenswürdigkeit, auf dem freien Diwan Platz zu nehmen, und rückte für sich selber einen Hocker zurecht.
»Aberr biete serr, machen Sie sich's bequem. Sie rauchen – natürlich, darf ich bieten?« Er präsentierte ihm eine Zigarettendose aus Tula mit feinster Arbeit, sich selbst zur Gesellschaft gleichfalls den unvermeidlichen Papyros in den Mund steckend und Feuer gebend.
»Es ist außerordentlich liebenswürdig, daß Sie sich herrbemühen.«
Helmut hatte dankend die Zigarette angenommen und verneigte sich nun vom Sitz aus gegen seinen Gastherrn.
»Vor allen Dingen wollen Sie mir gestatten, mich Ihnen vorzustellen: Studiosus Helmut Berendt.«
»Serr angenehm, serr angenehm!« Abermals schüttelte Herr Wasilew seinem neuen Bekannten freundschaftlich die Hand. »Also Sie wollen sich wirklich meiner annehmen? – Spreche ich nurr serr schlecht, serr mangelhaft; werden Sie serr viel Mühe mit mir haben.«
Die Ausdrucksweise des Russen war in Wahrheit keineswegs so glatt, sondern vielfach mit französischen und russischen Wörtern durchsetzt, so daß Helmut in der Tat nur mit einer gewissen Anstrengung ihn verstehen konnte. Aber er beeilte sich natürlich, zu versichern, daß es ihm ein Vergnügen sein würde, Herrn Wasilews Sprachkenntnisse zu vervollkommnen, die im übrigen schon recht gute wären.
»Ach, ich bin serr erfreut, daß Sie bereit sind,« sagte Herr Wasilew. »Aberr – biete, Sie nehmen Kognak oder Glas Wein? Es ist alles, was ich Ihnen anbieten kann.« Er sprang auf, um die bezeichneten Getränke herbeizuholen, von denen er noch einen großen Vorrat in einer Ecke auf dem Fußboden stehen hatte. Aber Helmut lehnte dankend ab mit der Begründung, er trinke niemals am Vormittag, besonders nicht so früh am Tage.
Der junge Russe setzte sich wieder und man fuhr in der Verhandlung fort.
»Aberr muß ich nun noch eins sagen. Es ist serr schwer für mich, mich zurechtzufinden hier unter den Leuten in der Stadt. Würde ich serr gern haben, daß der Herr sich mir auch außer den Lektionen ein wenig widmen möchte auf Spaziergängen, auf Ausflügen, bei Besuch in die Konzerte oder die Theater.«
Helmut erklärte sich gern auch dazu bereit, wenn ihm nur so viel Zeit am Vor- und Nachmittag übrig bliebe, wie sein eigenes Studium erforderte.
»Aberr biete serr, selbstverständlich – ganz selbstverständlich!« beeilte sich Herr Wasilew zu versichern. »Ich wollen Sie nicht ganz und garr mit Beschlag belegen. Also, wären wir einig? Scharmant, serr scharmant! Doch wir müssen reden von dem snöden Mammon. Darf ich fragen, was Sie haben gedacht für einen Honorarr?«
»Bitte,« entgegnete Helmut, »ich möchte das gern Ihrem Ermessen überlassen, Herr Wasilew.«
»Gut, so darf ich mir vielleicht erlauben, Ihnen anzubieten einen Honorar von zweihundert Mark die Monat – wenn Ihnen das recht ist, sonst biete serr, mir Ihren Proposition zu machen.«
Helmut glaubte seinen Ohren nicht zu trauen. Zweihundert Mark monatlich! Das war ja ein richtiges kleines Vermögen! Nicht einmal im Traume hatte er an solche Summe gedacht; schon die Hälfte wäre ihm geradezu fürstlich erschienen. Sein Herz schlug vor Freude so laut, daß er meinte, der Russe müsse es hören. Wie froh und dankbar war er in dieser Stunde. Nun konnte er ja nicht nur sorgenfrei sein Leben führen, seinen Studien obliegen, sondern jeden Monat noch eine stattliche Summe, die Hälfte seines Honorars, zurücklegen und so einen kleinen Fonds ansammeln für spätere Zeiten, wenn diese Einnahmequelle einmal versiegen sollte. Mit strahlendem Gesicht versicherte er Herrn Wasilew, daß er mit größter Freude dies Angebot annehme. Sie verabredeten nun noch alles Nähere, und Helmut brach dann auf, um dem Russen Zeit zu geben, richtig Toilette zu machen.
»Saggen Sie, was sein sich das für einer komischen Kutsch?«
Herr Wasilew, der am Fenster stand, winkte eifrigst Helmut zu sich, denn draußen fuhr gerade auf der Straße ein allerdings merkwürdiges Gefährt vorüber: ein kleiner offener Wagen von phantastischem Zuschnitt, auf dem lachend vier Studenten in bunten Mützen saßen; einer aber von ihnen kutschierte und lenkte an der Leine einen hochbeinigen, stark abgeklapperten Schimmel, der mit steifem Schritt das Wägelchen in Bewegung setzte.
»Ach so, die Himmelsziege!« sagte Helmut lachend.
»Kakoi? Himmelssiege? Was sein sich das für ein merkwürdiger Tier? Habe noch nie von einer solchen Siege gehörrt.«
»Ja, das ist allerdings ein Unikum, nur in einem Exemplar auf der Erde vertreten und zwar gerade hier in Jena,« erklärte lustig Helmut. »Die Naturgeschichte dieses braven Gauls, dessen Aussehen allerdings völlig undefinierbar ist, schwebt nämlich in mystischem Dunkel. Er ähnelt im allgemeinen mehr einem Bock als einem wirklichen Pferd, so erklärt sich dann wohl die eigentümliche Bezeichnung ›Himmelsziege‹ und entsprechend der absonderlichen Gestalt dieses Tieres sind auch seine Lebensgepflogenheiten. Es geht die Sage, daß die Himmelsziege leben kann, ohne jede Nahrung zu sich zu nehmen. Wenigstens ist es glaubwürdig verbürgt, daß die Ziege, wenn sie auf einer mehrtägigen Tour von Studenten gefahren worden ist, gelebt und gezogen hat, ohne daß sich ein Mensch um ihr Futter gekümmert hätte. Es scheint also, daß sie im stande ist, von der Luft zu leben. Eingeweihte Kenner des Tieres wollen allerdings behaupten, daß es, wenn die Herren Studenten auf nächtlichem Bummel mit dem Gefährt sanft auf der Landstraße eingeschlafen sind, sich langsam mit seinem Wagen nach den nahegelegenen Gersten- oder Kohlfeldern in Bewegung setzt, wo es dann mit bestem Appetit sein Nahrungsbedürfnis auf eigene Faust stillt.«
»Ah, das sein ja eine famose Tier! Mit dieser Siege müssen ich auch fahren. Ist sich ausgezeichnete Idee!« rief begeistert der Russe.
»Das ist sehr einfach zu machen,« entgegnete Helmut. »Wir brauchen nur zum Spritzenschmidt zu gehen und uns die Ziege für eine Fahrt zu mieten. Allem Anschein nach kehrt sie jetzt gerade von einem kleinen Vormittagsausflug zurück und wird dann Nachmittags wieder zu haben sein.«
»Ah, serr gut, scharmant!« rief Wasilew. »So wollen wir gehen sofort zum Spritzenschmidt und Himmelssiege bestellen – biete, so kommen Sie. Wird mir enorrmen Spaß machen, zu kutschieren der Himmelssiege.«
Gern gab Helmut seinen Bitten nach, und so machten sie sich denn in der Tat zum Spritzenschmidt, dem glücklichen Besitzer des Fabelwesens, auf den Weg, um für den Nachmittag das sonderbare Gefährt zu bestellen.
Es war ein prächtiger Junitag, die Sonne lachte vom blauen Himmel und die brave Himmelsziege trottete fleißig auf der Landstraße nach Burgnitz dahin. Der Russe, der ja vorzüglich mit Pferden umzugehen wußte – hatte er sich doch auch zwei seiner edlen Tiere von daheim mit nach Jena gebracht – hatte eine Stelle ausfindig gemacht, wo das sonst einem Dickhäuter vergleichbare Fell der Himmelsziege noch eine Spur von Empfindlichkeit sich bewahrt hatte. Wenn er dort die brave Ziege einige Minuten lang mit der Peitschenspitze kitzelte, so fühlte sie sich veranlaßt, ihre langen, starkknochigen Beine erst in einen unglaublich holpernden Galopp und dann in einen wahren Elentiertrott zu versetzen, der aber riesig förderte, so daß das absonderliche Gefährt unter seinem bewährten heutigen Leiter zur großen Freude der beiden Insassen sogar mehrere gutbespannte Fahrzeuge auf der Landstraße überholte.
Herr Wasilew war ausgezeichneter Laune, lachte und scherzte, rauchte eine Zigarette über die andere und machte bei jedem Wirtshaus halt, wo er mit aller Gewalt jedesmal einen Kognak kommen lassen wollte. Er erklärte, bei ihm in der Steppe daheim fahre man stets auf diese Art, und Helmut wurde es wirklich schwer, sich seiner Gastfreundschaft zu entziehen; denn Herr Wasilew nahm es seinem Begleiter ordentlich übel, daß dieser seine Libation beständig ausschlug. Dafür traktierte er denn wenigstens die Himmelsziege des öfteren mit einer Brotschnitte, auf die er einige Tropfen Kognak gegossen hatte, und das im Verkehr mit Studenten selber »kommentmäßig« gewordene Tier kam alsbald auf den Geschmack der Sache und verschlang die ihm dargereichten »illustrierten Brötchen« mit einem wahren Vergnügen, so daß es schließlich offenbar in eine recht lustige Laune kam. Es machte sogar ein paarmal den Versuch, ein heiseres Wiehern auszustoßen, ein kühnes Unternehmen, das so komisch wirkte, daß sich der Russe vor Vergnügen gar nicht zu fassen wußte.
In heiterster Laune kam man so nach Burgnitz und ein gutes Essen wurde aufgetragen, mit dem man sich von den Strapazen der mehrstündigen Fahrt stärkte. Bei diesem Mahl nahm Helmut Gelegenheit, Herrn Wasilew von den mancherlei Scherzen zu erzählen, die von Burgnitz im Volksmunde im Umlauf waren; hauptsächlich eine dieser Geschichten machte Herrn Wasilew großes Vergnügen.
Es ging nämlich die Sage, daß in Burgnitz vor grauen Zeiten einmal ein schreckhaftes Abenteuer sich zugetragen habe. Ein braver Bürger des Städtchens war eines Mittags mit den Anzeichen höchsten Entsetzens in die Stadt gestürmt gekommen und hatte erzählt, draußen vor dem Tore auf der Landstraße wäre ein wildes Tier, das entsetzlich brüllte. Er habe es nur von weitem gesehen, aber es wäre gräßlich anzuschauen, groß und stark wie ein Löwe, habe auch einen Schwanz mit mächtiger Quaste daran, genau wie ein solches Untier.
Darob großes Entsetzen in der Stadt! Aber endlich kam die wackere Bürgerschaft unter dem Kommando des Schützenhauptmanns zu dem Entschluß, den Kampf mit der Bestie aufzunehmen, und mit rostigen Schießgewehren, Speeren und Sensen bewaffnet, machte sich die waffenfähige Mannschaft des Städtchens auf den Weg, das Ungeheuer zu erlegen. Richtig, als man draußen auf der Landstraße an der bezeichneten Stelle angekommen war, sah man im Schatten des Baumes wirklich das Untier stehen. In blinder Wut stürzten sich alle darauf los und im Handumdrehen war seinem Leben durch Hunderte von Mordwaffen aller Art der Garaus gemacht. Das Scheusal hauchte seine verruchte Seele mit einem gräßlichen Sterbegeheul aus, das wie ein langgezogenes Ya – Ya! klang.
Im selben Augenblick aber, wie das Untier alle viere von sich streckte und seinen Schwanengesang ertönen ließ, erhob sich aus dem Chausseegraben, bis dahin von allen unbeachtet, ein Mann, rieb sich die Augen vom Mittagsschläfchen, das er dort gehalten hatte, und blickte erstaunt um sich auf die aufgeregte Volksmenge, die ihre Waffen immer noch bedrohlich schwang. Als er aber dann zu seinen Füßen das tote Tier erblickte, kam plötzlich Leben in ihn und wutschnaubend brüllte er die wackeren Burgnitzer an: »Ihr Schalksnarren, ihr! Was habt ihr meinen Esel erschlagen?«
Die Gesichter, welche die guten Burgnitzer darauf machten, sollen nicht sehr geistreich gewesen sein. Zu ihrer einzigen Entschuldigung vermochten sie anzuführen, daß sie in ihrem Leben noch nie ein so seltsames Tier gesehen hatten. Wie dem auch sei, seit jener Zeit stehen die braven Burgnitzer im Rufe, nicht gerade durch einen Überschuß von Intelligenz ausgezeichnet zu sein, und es ist daher seit alters ein kleiner boshafter Brauch, wenn man nach Burgnitz kommt, die Leutchen dort zu foppen, indem man beide Hände an die Ohren legt und diese so auffällig verlängert. Ein lautes Ya erhöht die Deutlichkeit dieser Gebärde.
Der Russe war entzückt, als er von dieser Schnurre hörte, und es stand natürlich sofort bei ihm fest, beim Aufbruch nachher die braven Burgnitzer, die draußen vor dem Hotel die schon wieder eingeschirrte Himmelsziege umstanden, mit diesem eigenartigen Abschiedsgruß zu erfreuen. Helmut warnte zwar davor, denn wiederholt waren derartige Scherze schon schlecht ausgefallen und hatten zu Raufereien geführt; aber der Russe entgegnete lächelnd: »Nitschewo – macht nichts!« und er war denn auch nicht von seinem Vorhaben abzubringen.
Mit gemischten Empfindungen sah daher Helmut dem Aufbruch entgegen. Die Rechnung war bezahlt, sie bestiegen ihren Wagen, der Russe nahm Peitsche und Leine in die Hand, und mit gespannter Erwartung harrte nun Helmut der Dinge, die da kommen sollten.
Ein dichter Schwarm von Menschen, zumeist junge Burschen, darunter auch ländliche Arbeiter von außerhalb, umstanden das in Burgnitz schon bestens bekannte Jenenser Studentengefährt und einige scherzhafte Zurufe aus der Menschenansammlung begleiteten den Aufbruch der beiden.
Da geschah richtig das Angekündigte. Herr Wasilew, der Peitsche und Zügel in die Linke genommen hatte, führte plötzlich seine rechte Hand ans Ohr, schnitt den ihm zunächststehenden wackeren Stadtmannen eine komische Grimasse und begann mit lauter Stimme Ya – Ya! zu brüllen.
Einen Augenblick herrschte starres Schweigen. Dann aber brach ein vielstimmiger Schrei der Entrüstung aus den Kehlen der in ihrer Ehre verletzten Burgnitzer hervor; ein Dutzend von ihnen hob die Faust gegen den Attentäter und schickte sich an, einen Hagel von Hieben auf den Bösewicht niedersausen zu lassen. Aber in demselben Augenblick traf ein blitzschnell geführter Peitschenhieb die Himmelsziege, daß sie voll Schrecken hoch hintenaus schlug und dann mit einigen ungefügen Sätzen sich in einen wilden Galopp setzte.
Kreischend stob das Publikum vor dem Wagen auseinander und so hatte das Gefährt freie Bahn, das nun keuchend und polternd über das holperige Pflaster des Städtchens zum Tore hinaussauste. Wohl waren die Verfolger noch ein Weilchen hinter ihnen her, aber mit der Zeit mochte ihnen der Atem ausgegangen sein, denn es wurde still hinter den beiden.
Der Russe mäßigte nun die Gangart seines Pferdes und drehte die Bremse an, wozu es allerdings auch die höchste Zeit war; denn sie fuhren den ziemlich steilen Stadtberg hinunter und die bisher wild dahingaloppierende Himmelsziege war schon ein paarmal nahe daran gewesen, in die Kniee zu brechen. Im Schritt ging sie nun, sich von dieser unerhörten Anstrengung verschnaufend, weiter. Der Russe aber brach in ein unbändiges Lachen aus.
»Prewoschodno – famos!« lobte er selbst seinen Witz. »Hab' ich noch nie so gelacht in meinem Leben!«
»Sie können sich immerhin gratulieren, daß es so gut abgegangen ist,« meinte Helmut. »Denn die braven Burgnitzer haben schon manch einem diesen boshaften Witz übel angekreidet.«
Auch Helmut war jetzt davon überzeugt, daß jede Gefahr in dieser Beziehung ausgeschlossen sei, und er benutzte daher die eingetretene Ruhe der Situation, um sich eine Zigarre anzustecken.
Es war inzwischen fast völlige Dunkelheit eingetreten, und das tiefe Schweigen der einbrechenden Nacht lag über der einsamen Landstraße, die sich in Schlangenwindungen zwischen Schlehdornhecken den Berg hinabzog.
»Wir sollten doch wohl lieber die Laterne anzünden,« riet Helmut, »denn bei dem steilen Weg und den scharfen Biegungen könnte in der Dunkelheit leicht ein Unglück passieren.«
Sein Begleiter schickte sich denn auch an, diesem Rat nachzukommen, und verhielt ein paar Schritte weiter das Pferd. Es war gerade an einer scharfen Biegung der Straße, an einem wild wuchernden Gebüsch, hinter dem ein wenig betretener Fußweg direkt vom Städtchen herunter auf die Landstraße führte, von Ortskundigen gern benutzt, um den weiten Bogen der Straße abzuschneiden.
Wasilew stieg vom Wagen. Er hatte Helmut die Leine zugeworfen und entzündete gerade ein Streichholz, um die Laterne anzustecken. In diesem Augenblick erschallte plötzlich ein gedämpfter Ruf: »Da sind sie ja, nun drauf!«
Im nächsten Augenblick fuhren zwei dunkle Gestalten hinter dem Busch hervor, in den Fäusten, wie nun beim Schein der eben entzündeten Laterne sichtbar wurde, dicke Knüppel schwingend, und stürzten sich auf den Russen.
Einen Augenblick war dieser völlig verblüfft und wußte nicht, was er davon denken sollte; dann aber blitzte eine Ahnung in ihm auf, daß dieser Überfall in Zusammenhang mit dem Scherz stehen könnte, den er sich eben geleistet hatte. Vermutlich waren ein paar der Leute da oben, unter denen sich auch, wie schon erwähnt, einige ländliche Arbeiter von außerhalb befanden, wüste, händelsüchtige Gesellen, unzufrieden damit gewesen, daß die Verüber jenes Scherzes so mit heiler Haut davonkommen sollten, und waren dem Wagen auf diesem abkürzenden Pfade nachgesetzt.
Rasch sich entschließend, riß der Russe Helmut die Peitsche aus der Hand und schwang sie mit wuchtigen Hieben nach den Angreifern. Ein wilder Wutschrei aus rauher Kehle ließ erkennen, daß der Hieb gesessen haben mochte.
Einen Augenblick trat darauf im Angriff eine Pause ein. Wasilew glaubte, daß die Gegner durch dies Warnsignal eingeschüchtert worden wären, und wollte rasch die Gelegenheit benutzen, um sich auf den Wagen zu schwingen und davonzujagen. Schon hatte er die Lehne des Kutschbocks ergriffen und den einen Fuß aufs Rad gesetzt, da sah Helmut plötzlich im matten Schein der Laterne, daß die Angreifer sich von neuem auf Wasilew stürzten. Diesmal aber war es bitterer Ernst – die wüsten Gesellen hatten ihre Messer gezogen und wollten so über den Russen herfallen, der ihnen in diesem Augenblick gerade schutzlos den Rücken zukehrte.
Mit einem kräftigen Satz sprang Helmut vom Wagen auf die Erde und stieß zugleich auch einen Warnschrei aus. In der nächsten Sekunde stand er vor dem ersten der Angreifer, und ein wuchtiger Hieb seiner starken Faust traf den Menschen vor den Kopf, daß er taumelnd zu Boden flog. Aber schon war der zweite heran und holte zum verderbenbringenden Stich nach Wasilew aus. Im letzten Augenblick gelang es Helmut jedoch noch, den Arm des Mannes zu packen, und nun entspann sich ein wütendes Ringen.
Der Mensch war von hünenhafter Gestalt und warf sich mit der Wucht eines wilden Tieres auf Helmut. Er war offenbar auch angetrunken, denn ein widerlicher Dunst von Fusel entströmte seinem Gesicht, das gerötet, mit wutverzerrten Zügen nun im Laternenschein dicht vor ihm auftauchte. Es bedurfte für Helmut der Anspannung aller Kräfte, um sich den Angreifer vom Leibe zu halten, der sich wie ein Tobsüchtiger gebärdete. Er hielt ihm zwar nun beide Hände bei den Gelenken fest, aber der Mann versuchte, ihn durch Fußtritte gegen die Kniee zu Fall zu bringen, und gleichzeitig mit aller Gewalt das Messer so herabzudrücken, daß es Helmuts dicht unter dem Gelenk zupackende Hand treffen sollte.
Die Situation war so eine recht bedenkliche, umsomehr, als nun auch der zweite der Angreifer sich wieder vom Boden aufgerafft hatte und mit einer Flut von Verwünschungen sich anschickte, sein Messer vom Boden aufzunehmen und den Angriff zu erneuern.
Da aber kam Wasilew heran und ihren vereinten Kräften gelang es, den Gegner von Helmut abzuschütteln und auch den zweiten Feind noch einmal zu Boden zu werfen. Dann waren sie mit einem Sprung wieder auf dem Wagen, im Nu war die Bremse aufgerissen und mit einem geradezu erschreckenden Galopp flog das rasselnde und schüttelnde Gefährt den steilen Weg hinab.
Einige Minuten ging so die tolle Fahrt – ein wahres Wunder war es, daß das Pferd dabei nicht zu Falle kam – dann war man aus dem Bereich der Angreifer gelangt und die brave Himmelsziege durfte nun endlich in eine ruhigere Gangart übergehen.
Jetzt fand Wasilew erst die Zeit, sich an seinen Begleiter zu wenden, dem er seinen gesunden Leib, ja vielleicht das Leben verdankte. Kräftig preßte er Helmut die Hand.
»Wenn Sie nicht gewesen wären – K tschortu! – ich glaub', ich wär' abgemurrkset worden – mausetott!« Er lachte bei diesem Gedanken seelenvergnügt vor sich hin.
Plötzlich aber wurde er ernst. »Das vergeß ich Ihnen nicht, Helmut! Laaßen Sie uns Freund sein – serr gut Freund! Hier meine Hand – wenn Sie je einmal im Leben meiner Hilfe brauchen, ßählen Sie auf mich! Wenn ich Ihnen im Stich laaß, bin ich Lump ganz ordinärer! So wahr ich Fedorowitsch Iwan Wasilew heiß: Ich bin Ihr Mann, wann immer Sie mir brauchen!«
Helmut mußte im stillen über diese drollig herausgebrachten Beteuerungen lachen, aber die Dankbarkeit des Russen freute ihn doch auch. Er hatte das Vertrauen, daß es diesem ernst mit seinem Wort war, und es konnte ihm in seiner Lage jedenfalls eine Beruhigung sein, wenn ein Mann wie Wasilew ernsteres Interesse an ihm nahm. So hatte denn schließlich selbst dieses böse Abenteuer am letzten Ende immerhin noch etwas Gutes für ihn gebracht.