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So, nun noch einen kleinen Schlußgalopp, unten in der Ecke changieren und dann hier oben noch einmal die Volte geritten – en avant!«
Helmut legte den linken Schenkel hinter den Gurt, drückte den rechten Zügel gegen den Hals seines Rappens, klopfte mit dem rechten Unterschenkel an, und schnaubend sprang Schamyl los, mit seinen weit ausholenden und doch sanften, nicht stoßenden Galoppsprüngen eilig die Reitbahn durchmessend.
In der Mitte der Bahn standen Wasilew und der Stallmeister und beobachteten mit kritischen Blicken die Haltung des Reiters, der heute das zweite Dutzend der Unterrichtsstunden vollendete. Der Russe, selbst ein leidenschaftlicher Reiter, der zwei prächtige edle Pferde aus seiner Heimat mitgebracht hatte, gab nicht eher Ruhe, als bis Helmut sich dazu entschloß, sich auch in der edlen Reitkunst ausbilden zu lassen. So war er denn in die Bahn zum Universitätsstallmeister gekommen, unter dessen Anleitung er zunächst auf einigen Schulpferden und dann die letzten Stunden hindurch auf einem der Pferde des Russen seine Übungen vorgenommen hatte.
»Famos, großartig!« lobte Wasilew und klatschte Bravo, als Helmut, der in der Tat sehr gut zu Pferde saß und mit ruhigen, weichen Hülfen das temperamentvolle Tier durch die Bahn lenkte, wieder an ihm vorbeikam.
»Wissen Sie was, Helmut, wir wollen heut nachmittag hinaus – einen Ausflug zu Pferde machen.«
Helmut parierte sein eifrig vorwärtsstrebendes Tier und führte es im Schritt auf die beiden Herren zu. Der Vorschlag des Russen verursachte ihm große Freude. Auch er fühlte sich bereits so sicher im Sattel, daß er gern nun endlich einmal aus der Bahn herausgekommen wäre, um seine junge Kunst draußen in voller Freiheit, in der schönen Natur zu probieren.
»Ja, Herr Berendt macht seine Sache allerdings sehr gut,« bestätigte der Stallmeister. »Ich würde auch nichts dagegen haben, daß er ausreitet. Aber gleich das erste Mal mit Ihrem Vollblüter da – ich weiß doch nicht.«
»Nitschewo, das macht nichts! Paß' ich auf, daß nichts passiert, übernehme ich jede Garantie. Schamyl ist fromm wie eine Lamm, gehorcht auf jeden Wink von mir. Passen Sie auf! Bitte serr, Helmut, wollen Sie noch einmal angaloppieren.«
Helmut kam der Aufforderung nach, und abermals sprang der Rappe feurig los.
»Geben Sie lange Zügel und Sporen! Lassen Sie ihn ganz flott gehen!« gebot der Russe, und Helmut kam dem nach, so daß Schamyl mit wilden Sätzen und stürmisch schnaubend durch die Bahn flog. Da ließ Wasilew plötzlich einen leisen Pfiff durch die Zähne ertönen. Das feurige Tier, das eben noch in vollem Dahinstürmen war, spitzte die Ohren, und wie der leise Pfiff noch weiter in sein Ohr drang, mäßigte es in wenigen Augenblicken sein heftiges Tempo zum Schritt und kehrte dann, dem anhaltenden Pfiff gehorchend, wiehernd, mit stolz gekrümmtem Hals, den wehenden Schweif von sich streckend, auf seinen Herrn zu, diesen mit seinen feurig leuchtenden dunklen Augen voll anschauend.
»Bravo, bravo!« rief der Stallmeister. »Das ist eine großartige Dressur! Das bringen Sie mit unseren Pferden nicht fertig. Ja, wenn die Sache so liegt, dann glaube ich wohl, wird es nichts auf sich haben. Außerdem hat Herr Berendt ja auch wirklich einen außerordentlich sicheren Sitz und eine ruhige Hand. Also denn meinetwegen!«
Welche Freude! Helmut schlug das Herz lebhafter und, Schamyl verhaltend, schwang er sich leicht aus dem Sattel. »Nicht wahr, Schamyl, wir werden recht gut miteinander auskommen?« sprach er zu dem edlen Tier, das er während der verschiedenen Stunden, die er es geritten, schon ordentlich liebgewonnen hatte.
»Gut denn!« entschied Wasilew. »So lassen Sie um drei Uhr satteln, Herr Stallmeister. Punkt drei werden wir zur Stelle sein. Do swidanie!« Und er verließ mit Berendt die Bahn. –
Das war dann ein herrliches Reiten oben durch den stillen Bergwald. Wasilew und Helmut waren über Wöllnitz und den Fürstenbrunnen hinaufgeritten auf das Plateau des Luftschiffes und zogen nun, den Tieren Ruhe gönnend, mit lang verhängtem Zügel im Schritt durch den wundervollen Wald. Neben ihnen her trabte als getreuer Begleiter Tyras, die Tigerdogge, die sich stets an der Seite Wasilews hielt.
In schräg fallenden, goldig zitternden Lichtwellen drang die Sonne des Spätnachmittags durch die Stämme und spielte zitternd auf dem grünen Waldboden, der mit Wacholdergesträuch und allerlei Buschwerk üppig bestanden war. Auf dem tief ausgefahrenen Waldweg schritten zwischen den Geleisen die Pferde dahin im raschelnden Laub, und das wunderbare, geheimnisvolle Weben des Waldes raunte um sie herum. Ein ununterbrochener feiner Ton, wie das stille Atmen des Forstes, drang aus den Wipfeln zu ihnen nieder, sonst herrschte ungestörte Stille in dem entlegenen grünen Revier. Nur dann und wann klang das Pochen des Spechtes ans Ohr oder der schmetternde Schlag eines Finken, und zuweilen durchbrach das wohlige Schnauben und Prusten der emsig dahinschreitenden Tiere die wundervolle friedliche Stille des Waldes.
Ein köstliches Gefühl schwellte Helmuts Brust. Was für ein Göttergenuß war das, auf dem edlen Pferde so dahinzustreifen durch die herrliche Natur! Wie stolz und frei fühlte sich da der Mensch im Bewußtsein, ein so edles, mutiges Geschöpf zu meistern und es sich dienstbar zu machen zu herrlichstem Naturgenuß.
»Nein, ist das wundervoll!« wandte sich, dem ihn beherrschenden Gefühl Ausdruck gebend, Helmut an seinen Begleiter und streckte ihm, der dicht neben ihm ritt, die Rechte hinüber. »Ich danke Ihnen von ganzem Herzen, Iwan, daß Sie mir dieses Vergnügen bereitet haben. Ich habe in meinem Leben noch nichts Schöneres kennen gelernt!«
»Freut mich, freut mich,« sagte der Russe gutmütig und erwiderte freundschaftlich Helmuts begeisterten Händedruck. »Ist sich tatsächlich wundervolles Vergnügen! Ist sich auch prächtiges Wald hier oben auf dem Luftschiff. Scharmant, scharmant!«
»Und ich bin ordentlich stolz darauf,« fuhr Helmut weiter fort, »daß ich mit Schamyl so gut zurechtkomme. Ein famoses Tier!« lobte er, sich niederbeugend und liebevoll Hals und Schulter seines Rappen klopfend.
»Sagte ich Ihnen ja, Helmut, er ist sanft wie Lamm. Jedes Kind kann ihn reiten.«
Die Reiter zogen hinter der Lobedaer Burg zu Tal und machten dann, nun wohl über zweieinhalb Stunden im Sattel, in Burgau halt, um sich durch einen kleinen Trunk zu stärken. Aus diesem kleinen Trunk wurde, allerdings sehr wider das Programm, ein recht kräftiges Pokulieren, wenigstens von seiten des Russen. Die Ankunft zweier berittener Studenten war für die im Wirtshaus versammelten Bauern der Umgegend immerhin ein Ereignis, und sie machten sich neugierig an die beiden Gäste heran.
Dem Russen bereitete es ein Vergnügen, Helmut mit den Einheimischen auf thüringische Mundart sich herumnecken zu hören, und plötzlich kam es über ihn, den guten Leuten hier ein kleines Extravergnügen zu bereiten. Heimlich ging er zum Wirt und gab ihm einen Auftrag, ohne daß es von den anderen Gästen bemerkt wurde. Mit unbefangener Miene kehrte er dann wieder an die Tafel zurück und wartete nun mit wahrhaft kindlicher Freude auf den großen Augenblick seiner Überraschung. Und die blieb allerdings nicht aus.
Die Bauern hatten ihre Kännchen ausgetrunken. Der Russe machte sich anheischig, eine neue Lage seinerseits zu spenden, und richtig, da kamen die hölzernen Gefäße mit geschlossenem Deckel wieder an, von dem Wirt selber präsentiert.
»Na, dann Prosit, meine Herren!« Der Russe erhob sein Kännchen und trank mit vergnügtem Lächeln seinen Gästen zu. Herzhaft taten diese aus ihren Gemäßen einen besonders kräftigen Schluck, um den freundlichen Spender zu ehren, aber – was war das?
Die Gesichter der Trinker wurden plötzlich mehr als verdutzt und mit verwunderten Augen blickten sie in das dunkle Innere der geharzten Kannen. Was da drin schwamm, glich zwar aufs Haar der gelbfarbigen Lehmbrühe ihres Lichtenhainers, nur der Schaum war völlig anders; das prickelte und brodelte wie Selterwasser und außerdem schmeckte das Zeug auf einmal so sonderbar.
»He, Gottlieb, was hast du uns denn da vor e sießes Zeigs zum Trinke gegebe?« schimpfte schließlich einer der braven Landsassen zum Wirt hinüber, der nun mit verschmitzter Miene lächelnd zu ihnen an den Tisch trat.
»Nu wierd's Tag! So was Gutes habt ihr eier Lebtag überhaupt noch niche getrunken. Wißt ihr, was ihr trinkt? Es is kee Weißbier, Sekt is es, französcher Champagner, Veuve Cliquot. Gelle, nu schmeckt's eich uff eemal, ihr Schlemmer, he?«
Das Staunen der braven Leute war in der Tat ein nicht geringes, daß sie auf einmal Sekt tranken und zwar gleich kannenweise einen echt französischen! Was für ein Krösus mußte der Russe sein! Ja, ja, der hatte sicherlich die Taschen voll Hundertmarkscheine!
Eine gewaltige Begeisterung bemächtigte sich plötzlich der Tafelrunde und alle beeilten sich nun, dem noblen Spender ein Viertel oder Halbteil aufs ganz Speziellste zu kommen; denn wie alle wackeren Dörfler in der Umgegend Jenas, aus den sogenannten »Bierdörfern«, waren auch die Burgauer Dorfsassen commentmäßigen Trinkens gar kundig und wetteiferten nun miteinander, dies dem Russen durch die Tat zu beweisen. Wasilew machte diese eigenartige Sitzung ein besonderes Vergnügen. Er lachte wie ein Kind und ließ noch zweimal die hölzernen Kannen mit dem edlen Naß füllen.
Helmut, der nie Spielverderber war, hatte zwar auch den Scherz mitgemacht, aber doch mit vernünftigem Maß, und er hielt es nachgerade für die höchste Zeit, dem bedenklich werdenden Gelage ein Ende zu bereiten, sowohl um der Leute, als auch um ihrer selbst willen. Denn es stand ihnen ja noch ein strammer Ritt bevor, zu dem sie ihren klaren Kopf behalten mußten. Er bat daher den Russen durch einige leise Worte, aufzuhören.
Wasilew brummte zwar noch ein Weilchen, aber schließlich gab er doch nach und kam gleichfalls heraus, um den Heimweg anzutreten.
Die beiden Reiter waren schon wieder ein paar Minuten im Sattel und trabten die Straße nach Wöllnitz hinunter, da tauchte vor ihnen ein Handwerksbursche auf, der die Reiter herankommen sah und die günstige Gelegenheit benutzen wollte, um sich noch von den vornehmen Herren ein paar Zehrpfennige für das Nachtquartier zu erbitten. So stellte er sich denn am Wege auf, präsentierte mit dem Humor eines welterfahrenen Landstreichers seinen Knotenstock wie ein Gewehr und machte in der Erinnerung an seine längstverflossene Dienstzeit eine militärische Ehrenbezeigung.
Wasilew sah den Fahrenden und plötzlich zuckte in seinem Kopf ein scherzhafter Gedanke auf.
Mit Flüsterstimme wandte er sich an Tyras, der neben ihm hertrabte. »Tyras, paß auf, such schön's Hütchen!« rief er dem Tier auf Russisch zu.
Der Hund spitzte die Ohren, dann richtete er seine Augen mit lebendigem Auffunkeln auf den abgerissenen Mann da vorn: ohne Zweifel, das war der Gegenstand, an dem er seine Kunst zeigen sollte, und einen rauhen Laut ausstoßend, jagte er plötzlich mit wuchtigen Sätzen auf den fremden Mann los.
Dieser beobachtete mit etwas zweifelnden Blicken das mächtige Tier, das da mit geöffnetem Rachen auf ihn zustürmte. Aber ehe er sich noch darüber klar geworden war, ob es Scherz oder Ernst werden sollte, war Tyras schon vor ihm angelangt und im nächsten Augenblick stellte das auf den Mann dressierte Tier dem armen Burschen seine schweren Pranken wuchtig auf die Schultern.
Tödlicher Schrecken malte sich plötzlich im Gesicht des Ärmsten, als er da zwei Zoll vor sich den grimmig geöffneten Rachen der Bestie sah, die ihm ohne Zweifel an den Hals wollte, und ein lauter Schrei des Entsetzens entrang sich ihm.
»Ums Himmels willen, Fedorowitsch, rufen Sie den Hund zurück; das gibt ja ein Unglück!«
Angstvoll schrie es Helmut dem Russen zu und konnte gar nicht begreifen, daß dieser nicht schon längst mit einem Zuruf den davonsetzenden Hund abgehalten hatte. Aber noch verwunderter wurde Helmut, ja sogar ehrlich empört, als er sah, wie der Russe mit lachendem Gesicht dem angsteinflößenden Vorgang zusah, ohne sich zu rühren. Schon wollte Helmut seinem Pferd die Sporen geben, um dem Bedrängten Hilfe zu bringen und den Hund zurückzureißen, aber da sah er plötzlich selbst, daß sein Einschreiten nicht vonnöten war. Tyras führte pünktlich den ihm gewordenen Befehl aus, den Helmut nicht verstanden hatte. Er stellte seine Pfoten wieder auf die Erde zurück und schnappte nach dem zerschlissenen Filz des Vagabunden, der dem Erschrockenen vom Kopfe gefallen war. Diese sonderbare Beute im Maul haltend, kehrte er im langsamen Trab, voller Stolz über seine Heldentat die Rute hin und her pendelnd, zu seinem Herrn zurück.
Helmut merkte nun wohl, daß es sich bloß um ein Kunststück von Tyras gehandelt hatte, das offenbar eine Spezialität von ihm war; aber er mußte sich doch sagen, daß es ein recht schlechter Scherz war, den sich sein Begleiter erlaubt hatte. Denn noch immer stand der arme Landstreicher am ganzen Körper zitternd da. Helmut gab dem auch offen in einer unmutigen Äußerung zu dem Russen Ausdruck. Aber dem war das nun zu viel. Er hatte im stillen noch immer nicht völlig Helmuts stillschweigendes Anordnen in Burgau vergessen.
»Ich verbitte mir diese ewige Schulmeisterei!« rief er. »Bin ich kein Gymnasiast, weiß ich allein, was ich zu tun und zu lassen habe – verstanden?« Und unmutig gab er seinem Pferd die Sporen, das, über die unverdiente Behandlung empört, in heftigen Sätzen dahinstürmte.
Auch Helmuts Rappe drängte nun vorwärts. Er war es gewöhnt, sich stets neben seinem Kameraden zu halten, und sein Eifer ließ nicht zu, daß dieser ihm voraus sein sollte. So mußte denn Helmut gegen seinen Willen ein schärferes Tempo einschlagen,, als er es hier auf der freien Landstraße für richtig hielt. Er war mit dem Zügeln seines aufgeregt dahinsetzenden Tieres so in Anspruch genommen, daß er fürs erste die ihn verletzende Äußerung des Russen über sich ergehen ließ.
Dieser bog jetzt plötzlich von der Straße ab und lenkte auf die seitlich sich dahinstreckenden Saalwiesen hinüber, die allerdings ein prächtiges Gelände, eine geradezu ideale Rennbahn darboten. Hier ließ Wasilew seinem Pferd die Zügel schießen und trieb es zu immer tollerem Jagen an. Helmut war sich nicht darüber klar: war es nur das unüberlegte Nachgeben einer starken Verstimmung gegenüber, oder war es ein beabsichtigtes Manöver, um Helmut zu einem Gewaltritt zu veranlassen, der ihm offenbar unbequem war.
Er kannte Wasilew noch nicht genug, um zu entscheiden, ob er diesem in der Tat eine solche Böswilligkeit zutrauen konnte. Bisher hatte er ihn zwar als exzentrischen Menschen, aber doch als einen vollkommenen Gentleman kennen gelernt. Auf alle Fälle aber mochte Helmut dieses Jagen nicht weiter mitmachen. Dicht neben ihm lief über die Wiesen hin der Schienenweg, sie waren durch keine Hecke von dem Bahnkörper getrennt und bei den temperamentvollen, jetzt aufgeregten Tieren konnte leicht ein Unglück geschehen, wenn ein Zug vorüberkam, was seines Erinnerns sogar um diese Zeit der Fall sein mußte.
Helmut rief daher dem Russen, hinter dem er nur wenige Schritte zurückgeblieben war, zu, er möchte mit Rücksicht hierauf seinen Galopp mäßigen; denn Schamyl ließ sich kaum bändigen, wenn nicht sein Kamerad gleichfalls ruhiger ging. Aber Wasilew hörte gar nicht auf Helmuts Zuruf. Im Gegenteil, wie eine trotzige Antwort auf die Warnung, versetzte er plötzlich seinem Renner einen Hieb mit der Gerte, daß dieser, wild zusammenschreckend, nun wirklich wie toll dahinbrauste. In demselben Augenblick fühlte Helmut auch, wie Schamyl sich noch schärfer ins Zeug legte. Gleichzeitig aber erschallte von hinten ein dumpfes Rollen – kein Zweifel, der Eisenbahnzug nahte heran! Nun war die Situation wirklich nicht mehr zum Scherzen.
»Um Himmels willen langsamer!« rief Helmut mit lauter Stimme seinem Vordermann zu. »Ein Eisenbahnzug kommt!«
Aber mit höhnischem Auflachen drehte der Russe im Dahinjagen nur halb den Kopf zu ihm herum. »Haben Sie Angst? So reiten Sie Schritt!«
Helmut erbleichte bis unter die Haarwurzeln. Zum zweiten Male, daß ihn eine hochmütige, ja geradezu verächtliche Äußerung des Russen traf! Aber es war jetzt nicht die Zeit, darüber nachzudenken, denn immer näher kam das verhängnisvolle Brausen, und plötzlich – ganz unerwartet – ein gellender Pfiff der Lokomotive. In demselben Augenblick, wie er an Helmuts Ohr schlug, krampften sich auch schon dessen Fäuste fest um die Zügel und suchten das dahinrasende Tier anzuhalten. Aber zu spät! Schon hatte Schamyl, von dem gellenden Laut hinter sich geängstigt, einen Seitensprung gemacht, der unerwartet, wie er kam, Helmut fast aus dem Sattel geworfen hätte, und im nächsten Augenblick brach das Tier in wild rasender Flucht aus.
Helmut hatte die Herrschaft über das Pferd völlig verloren. Die Nase weit vorgestreckt, stob der Rappe in blinder Flucht über den Wiesenboden hin, so rasend, daß er binnen wenigen Sekunden Wasilew überholt hatte. Dieser sah nun freilich, daß seine Unbedachtsamkeit böse Folgen gezeitigt hatte, und schleunigst ließ er den Pfiff ertönen, der Schamyl zur Besinnung bringen sollte; aber diesmal vergeblich. Der Pfiff wurde ja auch völlig übertönt durch das gellende Signal der Lokomotive, das abermals ertönte und das geängstigte Tier nur noch zu tollerem Rasen anpeitschte.
Helmuts Lage war kritisch geworden. Er hatte vorhin bei dem ersten Sprung den linken Bügel verloren und fürchtete, daß er bei dem unsinnigen Dahinjagen infolgedessen unsicher im Sitze werden würde. Er versuchte daher während des wilden Reitens, mit dem Fuß den Bügel wieder zu angeln; aber bei dem angestrengten Bemühen schob er sich zu sehr nach links und plötzlich fühlte er, daß er auch den rechten Bügel verloren hatte.
Instinktiv riß er nun am Zügel, um größeren Halt zu gewinnen; im gleichen Augenblick aber erfolgte eine heftige Bewegung des anspringenden Tieres und Helmut schoß seitwärts von dessen Rücken. Er behielt dabei aber noch so viel Besinnung, daß er sofort die fest zusammengepreßten Fäuste öffnete und die Zügel freigab, damit er nicht von dem dahinjagenden Tier weitergeschleift werden konnte. Dann ein dumpf erschütternder Aufprall, Helmut empfand einen stechenden Schmerz im Kopf, Funken sprühten ihm vor den Augen und für eine Weile verlor er das Bewußtsein.
Als er wieder zu sich kam – er mochte einige Sekunden ohne Besinnung gelegen haben – sah er Wasilew neben sich knieen, bemüht, ihm allerlei Hilfe zu leisten.
»Du meine Güte! Was für Dummheiten machen Sie denn? Na, hoffentlich haben Sie sich doch nichts Ernstliches getan!«
Anfänglich schwieg Helmut, indem er nacheinander Arme und Beine hob. Zu seiner Freude spürte er keinen Schaden außer einem schmerzhaften Druck am Kopf und an der Hüfte, der aber offenbar nichts weiter auf sich hatte.
»Ich danke, es fehlt mir nichts.« Helmut erhob sich vom Boden und erwiderte es mit großem Ernste. Denn nun war ihm wieder der ganze Vorgang in Erinnerung. »Bitte, wollen Sie sich nicht weiter um mich bemühen, sondern um den Ausreißer. Das Tier könnte in der Stadt Schaden anrichten, namentlich unter den spielenden Kindern.«
Einen Augenblick zögerte Wasilew. Er kämpfte offenbar mit sich, ob er nicht ein Wort der Entschuldigung und der Abbitte gegen Helmut äußern sollte. Denn er war ja doch schuld an dem ganzen Vorfall, der sehr bös hätte ablaufen können, und er hätte es ohne Zweifel auch getan, wenn Helmut nicht jetzt durch seinen kalten, abweisenden Ton ihn seinerseits wieder gereizt hätte. So stand er auf – den Zügel seines eigenen Tieres, das ruhig neben ihm hielt, hatte er nicht losgelassen – und trat wieder zu seinem Pferd mit der Absicht, aufzusitzen.
»Sie haben recht,« entgegnete auch er gelassen. »Also do swidanie!« Schnell schwang er sich in den Sattel und stob dann in gestrecktem Galopp dahin, um Schamyl womöglich noch vor der Stadt einzuholen, der weit hinten auf den Wiesen noch sichtbar war, wie er in unverminderter Eile davonjagte. Helmut nahm seinerseits Hut und Reitgerte auf, die ihm beim Sturz entfallen waren, und schickte sich an, seinen Weg nach der Stadt zu Fuß zu gehen.
Es ging auch recht gut mit dem Marschieren, nur ein leichter stechender Schmerz in der Hüfte war als Erinnerung an das kleine Abenteuer zurückgeblieben. Aber trotzdem zog Helmut mit sehr ernstem Gesicht seinen Weg dahin. Wenn die Sache auch gut abgelaufen war, so war sie doch damit für ihn noch keineswegs erledigt. Er konnte das hochmütige Benehmen des Russen nicht verwinden, der ihn wie einen Bedienten behandeln zu können glaubte; um seiner Selbstachtung willen durfte er sich das nicht bieten lassen, mochte kommen, was da wollte!
Endlich war Helmut in seiner Wohnung angelangt. Es war inzwischen schon dämmerig geworden; aber er machte doch kein Licht, sondern setzte sich, nachdem er seine Sachen abgelegt hatte, auf den Stuhl ans Fenster und sann, den Kopf in die Hände gestützt, vor sich hin. Das Herz war ihm sehr schwer. Er war sich klar darüber, daß er die ihm von dem Russen widerfahrene Behandlung nicht auf sich sitzen lassen dürfe; ja sein Stolz drängte ihn dazu, sofort ein paar Zeilen aufs Papier zu werfen und dem Russen zu schreiben, daß er sich nicht mehr in der Lage sähe, ihm seine Dienste zur Verfügung zu stellen. Aber was dann, wenn er die so außerordentlich günstige Stelle aufgab? Wenn er schon wieder einmal eine Gelegenheit aus der Hand ließ, die sich ihm unerwartet geboten hatte? Was sollte dann aus ihm werden? Eine derartige Einnahme würde er sicherlich nie wiederfinden. Und er hatte doch gesehen, wie schwer es ging, sich Privatstunden zu verschaffen! So schwankte er denn in schmerzlichem Hin und Her zwischen Stolz und Pflicht.
Er mochte wohl über eine halbe Stunde dagesessen haben – die Dämmerung begann draußen bereits immer mehr in Abenddunkel überzugehen – da klopfte es an seine Tür. Auf sein Herein traten schnelle Schritte ins Zimmer, er vernahm das silberne Klingen feiner Sporen und überrascht fuhr er von seinem Sitz in die Höhe. Wahrhaftig, im Dunkel des Zimmers trat da Wasilew bei ihm ein, wenn er auch nur die Umrisse der Gestalt undeutlich zu erkennen vermochte.
»Guten Abend, Helmut! Entschuldigen Sie, wenn ich störe, aber es drängte mich, herzukommen. Wissen Sie, ich will nicht viel Worte machen. Ich bin wütend auf mich selbst wegen der Geschichte vorhin. Ich bin sonst kein übler Bursche, aber wenn ich einen Tropfen zu viel getrunken habe, so geht es mir wie allen Menschen, die sich zu viel erlauben. Das Trinken ist ein Laster, es hat mir den Kopf ganz wirr gemacht, sonst wäre das von vorhin nicht vorgekommen. Also, verzeihen Sie, seien Sie mir nicht bös, Helmut!« – Wasilew streckte mit aufrichtigstem Bedauern ihm beide Hände entgegen – »und lassen Sie uns wieder Freunde sein, wie vorher.«
Helmut fiel eine Zentnerlast vom Herzen. Durch das Zuvorkommen des Russen wurde er der schweren Entscheidung enthoben, die ihn eben so bedrückt hatte. Nun konnte er, ohne seinem Stolz etwas zu vergeben, auch seinerseits die Hand zur Versöhnung reichen. Ein warmes Gefühl der Freude durchströmte ihn. Dem Himmel sei Dank, der Russe war trotz aller seiner Wildheit im Grunde doch ein guter Mensch, der das Herz auf dem rechten Fleck hatte. Aber immerhin, er mußte die Gelegenheit wahrnehmen, um für die Zukunft ähnliche Vorfälle zu verhüten. Wasilew mußte eben lernen, sich ihm gegenüber auf einen richtigen Fuß zu stellen. So nahm er denn die dargebotene Hand und drückte sie kräftig, aber dennoch erwiderte er ernst: »Da Sie mir Ihr Bedauern ausdrücken, Fedorowitsch, so will ich selbstverständlich den Vorgang vergessen sein lassen. Aber Sie müssen mir eines versprechen: Nie wieder einen solchen Ton, wie heute nachmittag, anzuschlagen; den vertrage ich nicht, den kann ich mir nicht bieten lassen. Sollten Sie sich noch einmal mir gegenüber vergessen, so wären wir in demselben Augenblick geschiedene Leute – so leid es mir auch tun würde.«
»Ich will mir alle Mühe geben. Es wird mir ja sehr schwer fallen, weiß der Himmel!« Der halbwilde Russe lachte mit naivem Eingeständnis vor sich hin. »Ich denke mir so gar nichts dabei, und ich weiß selbst nicht, wie mir mitunter das Wort zum Munde herausfährt. Aber,« er drückte nochmals kräftig Helmuts Hand, »ich werde mir Mühe geben – wenigstens Ihnen gegenüber. Und nun kommen Sie, Helmut, und lassen Sie die Sache vergessen sein!«