Paul Grabein
Das stille Leuchten
Paul Grabein

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III.

Holten wollte sich in seinem Zimmer für die Abendtafel zurechtmachen, da klopfte es.

»Herein!« Und er wandte den Kopf zur Tür des Zimmers, in dem schon das elektrische Licht brannte.

Ein polterndes Tasten draußen im Dunkeln nach der Klinke, und dann erschien Professor Barck auf der Schwelle. Einigermaßen überrascht blickte Holten auf den unerwarteten Besuch.

»Ich suche Sie schon den ganzen Nachmittag,« ächzte der Professor statt jeder Erklärung und stolperte hastig weiter ins Zimmer. »Ich habe ja noch eine fürchterliche Aufregung nach Tische gehabt.« Und er hielt sich den Leib, um seine dadurch verursachten Leberschmerzen zu veranschaulichen.

Holten mußte lächeln, aber höflich bat er: »Wollen Sie nicht Platz nehmen, Herr Professor?«

Stöhnend ließ sich Barck schwerfällig auf das Sofa fallen. Der sonderbare Kauz sah aber übrigens wirklich – wie Holten jetzt bemerkte – ganz angegriffen aus. »Was hat es denn gegeben?« forschte er, sich gleichfalls setzend.

»O, denken Sie nur – diese Infamie, diese Rücksichtslosigkeit – kaum liege ich nach Tisch auf meinem Sofa – der Arzt hat mir strengste Ruhe nach dem Essen verordnet – da klopft's an meine Tür, und herein kommt der Windhund, der Leutnant. Ich denke, es ist das Stubenmädchen, und bleibe noch ruhig in Schlafrock und Pantoffeln auf meinem Sofa liegen, da schnarrt mich der Kerl an, er komme in einer ernsten Angelegenheit – im Auftrage des Kammerherrn. Ich denke, mich rührt der Schlag. Ich fahre auf dem Sofa hoch und frage den Menschen, ob er wohl nicht recht gescheut ist, da hat dieser grüne Bengel die Frechheit, mich anzufahren, er verbitte sich jede Beleidigung – ich scheine nicht zu wissen, daß die Person des Kartellträgers sakrosankt sei – nun, um es kurz zu machen, er überbringt mir eine Forderung von dem Kammerherrn auf Pistolen.«

Holten horchte überrascht auf.

»Auf Pistolen! Hören Sie? Auf Pistolen!« stöhnte heiser das vertrocknete Männchen in der Sofaecke. »Ist es nicht einfach Unsinn – purer Wahnsinn? Mir, einem alten, kranken Mann, der noch nie in seinem Leben eine Pistole in der Hand gehabt hat! Aber was fragt so ein Bandit, so ein adliger Wegelagerer danach.«

»Nun, und was haben Sie dem Herrn erwidert?« unterbrach ihn Holten.

»Er soll sich zum Teufel scheren, hab' ich ihm gesagt, auf der Stelle, mitsamt seinem ganzen Kammerherrn. – Da schwätzte er noch was – was ich in meiner Aufregung gar nicht mehr gehört habe – die Galle war mir natürlich über die Leber gelaufen, wie Sie sich denken können – und dann ließ er mich endlich allein.«

Erschöpft sank der Alte einen Augenblick in sich zusammen. Dann aber fuhr er abermals hoch.

»Und dann das allerschönste. Eine Stunde später – mir zittern noch alle Glieder vor Aufregung – klopft es wieder, diesmal Fräulein Hedwig und, was soll ich Ihnen sagen? Sie setzt mir einfach den Stuhl vor die Tür. Der Kammerherr und die Fräulein von Lychtritz hätten erklärt, sie würden auf der Stelle das Haus verlassen, wenn ich nicht ginge – auch die anderen Herrschaften hätten sich schon so oft über mich beschwert – im Interesse ihres Hauses müsse sie mich also leider bitten, mit der nächsten Post abzureisen. – Nun, was sagen Sie dazu?«

Ganz vernichtet lag der alte Herr in seiner Sofaecke.

»Ja, –« Holten zuckte die Achseln – »da ist freilich nichts zu machen.«

»So – da soll ich also wieder meine Siebensachen zusammenpacken und weitergehen?« jammerte der Professor. »Aber wissen Sie, wie das einem alten, kranken Mann tut, der nichts mehr auf der Welt sucht als seine Ruhe? Fünfmal bin ich in diesem Sommer ausgezogen, in keiner Pension ist meines Bleibens. Und ich kümmere mich doch um keinen Menschen – nur meine Ruhe will ich haben.«

So komisch dieser Verzweiflungsausbruch auch wirkte, tat Holten doch der sonderbare alte Herr leid.

»Ja, mein bester Herr Professor, was soll ich Ihnen denn nur dabei helfen?« fragte er.

»O, Sie sind doch der einzige vernünftige Mensch hier im ganzen Hause – das habe ich Ihnen heute Mittag gleich angemerkt,« klammerte sich Barck an seine letzte Hoffnung. »Der Rentner ist ja ein alter Hansnarr – der Oberlehrer eine absolute Null, ohne jede Persönlichkeit – aber Sie, wenn Sie mit dem Menschen, dem Kammerherrn, sprächen – das würde sicherlich Eindruck machen.«

»Bedaure sehr, Herr Professor,« erklärte Holten entschieden, »das ist natürlich ganz ausgeschlossen. Ich bitte Sie, was muten Sie mir zu?« Und er begann dem Professor des weiteren klar zu machen, daß es auch seine eigene Selbstachtung erfordere, nach dem Vorgefallenen möglichst sofort das Haus zu verlassen.

Endlich war das schwierige Werk gelungen.

»Dann reise ich aber auf der Stelle. Noch heut.« Barck sprang auf. »Keine Minute bleibe ich mehr unter diesem Dache, wo man die Gebote der Gastlichkeit so mit Füßen tritt! Mit meinem schönen Geld kann ich allerwärts leben. Es gibt noch genug Pensionen, die sich die Hände ausreißen nach einem Gast wie ich. Ich hab' jede Woche eine Rechnung von 160–200 Mark, wissen Sie, Verehrtester?«

Und wieder aufgerichtet im Gefühl seines verkannten Wertes schritt der alte Herr hinaus, sich sofort einen Wagen zu bestellen, der ihn noch heute Abend nach Umhausen bringen sollte.

* * *

Holten hatte dem Kammerherrn unmittelbar vor dem Abendessen noch auf seinem Zimmer einen Besuch gemacht, aus doppeltem Grunde: Einmal wollte er dadurch jeden Zweifel darüber benehmen, als ob er durch sein Zuhören etwa das taktlose Verhalten des Professors schweigend gebilligt hätte, dann aber wollte er noch ein Wort zu dessen Gunsten reden, um wenigstens seinen Ruf noch nach Möglichkeit wiederherzustellen. Der Kammerherr hatte Holten artig empfangen, sich diesem im Laufe der Unterhaltung sogar als ein ganz harmloser, liebenswürdiger Mensch enthüllt, und sie waren auf das Glockenzeichen zusammen in den Speisesaal hinüber gegangen.

Wiederum trafen Holten die Augen der Gesellschaft, diesmal ziemlich verwundert, als er nun an der Seite des Kammerherrn an den Tisch kam und links von diesem an einem leeren Platz sich niederließ. Durch des Professors Ausscheiden aus der Runde hatte sich eine Neugruppierung der zweiten Hälfte des Tisches vollzogen. Holten saß so näher bei den Parteigängern der schönen Frau Jutta, dem Maler Rudorff sogar schräg gegenüber, so daß er im Laufe der Unterhaltung auch mehrmals mit ihm ins Gespräch kam.

Das Hauptthema bildete natürlich der Zwischenfall vom Mittag und sein Nachspiel, das Verschwinden des Professors. Die Witzeleien regneten nur so auf das Haupt des Abwesenden hernieder. Holten hatte das eine Zeitlang schweigend mit angehört. Das Benehmen des Professors war ja in der Tat derartig gewesen, daß eine scharfe Verurteilung berechtigt war. Aber allmählich begannen ihn diese wohlfeilen Späße zu ärgern, die selber oft stark über das Ziel hinausschossen; besonders der Leutnant Bencken und der große Alpinist schienen sich darin überbieten zu wollen, um sich durch das beifällige Lachen der schönen Frau belohnt zu sehen.

Verdroß Holten schon die platte oder grobe Art ihrer Witze, so regte sich daneben auch der Unmut, daß man sich hier billig auf Kosten eines Abwesenden unterhielt, der sich nicht verteidigen konnte. Es steckte in seiner Art ein ritterlicher Zug, einen Wehrlosen oder den Einzelnen gegen die Überzahl stets in Schutz zu nehmen, und ebenso eine starke Oppositionslust, die sich stets regte, wenn er hörte, daß alle dasselbe zum Überdruß wiederholten.

Jetzt hatte nun auch noch der junge Maler geglaubt, seinen Stein mit den anderen werfen zu sollen. Da fiel ihm Holten ins Wort:

»Verzeihung, Herr Rudorff, aber ich glaube, der Professor verdient doch schließlich mehr Mitleid als Spott.«

»Was? Dies verrückte, alte Huhn?« lachte ihm der junge Mensch ins Gesicht.

»Gewiß!« Holten erhob absichtlich seine Stimme. Man sollte ihn auch da oben verstehen, wo die Hauptspötter saßen. »Daß er alt ist, ist ja wohl nicht gerade ein Grund zum Spott – es steht überdies uns allen bevor – was Sie aber seine Verrücktheit nennen, seine Reizbarkeit und Schrullenhaftigkeit, das ist die Folge seines Leidens. Selbstverständlich entschuldigt das seinen Mangel an Selbstbeherrschung ja nicht; aber es mildert doch seine Schuld wohl wesentlich.«

Der junge Maler schwieg etwas verlegen über diese Abfertigung. Er hätte wohl gern eine burschikose Erwiderung gemacht, denn er schämte sich vor Frau Juttas spöttischen Augen, aber in der Art Holtens lag so etwas Ernstes, Überlegenes, und außerdem, der Mann sah so aus, als ob er nicht mit sich spaßen ließ.

Auch oben hatte man Holtens Worte gehört. Frau Jutta sah neugierig, mit ihrem gewohnten leisironischen Zug um den fein geschnittenen Mund die Lorgnette ungeniert vor die Augen führend, zu dem Neuling am Tisch, der da eben quasi öffentlich das Wort ergriffen hatte. Der Leutnant neben ihr hatte das Monokel eingeklemmt und fixierte Holten hochmütig kalt.

»Taxiere Schulmeester,« wandte er sich flüsternd an Frau Jutta, als Holten geendet hatte, und ließ das Augenglas niederfallen. »Übrigens einfach unverschämt. Wie kommt der Kerl dazu, uns hier 'ne Vorlesung zu halten?«

Holten hatte die Worte zwar nicht verstehen können, aber die geringschätzige Miene des jungen Elegants ließen ihn ihren Sinn erraten. Schon das Anstarren mit dem Augenglas war eine Dreistigkeit gewesen – eine Ungezogenheit, deren sich übrigens die schöne Frau da oben auch noch immer schuldig machte. Eine leise Röte stieg in Holtens Gesicht. Mit scharf zugreifendem Blick musterte er seinerseits Frau Jutta – einige Sekunden bot ihr Auge ihm Widerpart – dann ließ sie plötzlich die Lorgnette sinken und wandte sich Dr. Adlon zu, aber nicht ohne ein leises, hochmütiges Zucken der Schulter.

Holten verstand die Geste, und der Hochmut, die Kälte begannen ihn zu reizen. Wie kam sie dazu, ihn so mit Geringschätzung zu behandeln?

Ein plötzliches Verlangen packte Holten, dieser Frau zu zeigen, wer er war, ihren Hochmut niederzuzwingen. Einen Augenblick dachte er daran, einfach ihre Bekanntschaft zu erzwingen, den jungen Maler nachher zu bitten, ihn ihr vorzustellen; aber dann verwarf er den Gedanken wieder. Nein, sie sollte sich nicht einbilden, daß auch er ihr nachliefe wie die Schar der anderen hier. Er wollte es auf den Zufall ankommen lassen, der sie doch einmal in diesem engen Kreise zusammenführen mußte.

So hielt sich denn auch Holten abseits, als nach Tisch der größte Teil der Herrschaften mit Frau Jutta sich hinauf in den Salon begab. Wie eine Königin mit ihrem Gefolge zog sie ab. Ja, sonderbarerweise schienen selbst die Damen des Kreises – abgesehen von den Fräulein von Lychtritz – mehrere junge Frauen, von dieser Schwärmerei angesteckt zu sein. Holten, an dem man vorüber mußte, sah, wie sie sich förmlich darum drängten, Arm in Arm mit ihr, die Treppe hinaufzusteigen. Mit einem leisen zweifelnden Lächeln kritisierte er das absonderliche Treiben. Frau Jutta aber tat im Vorübergehen, als bemerke sie nichts davon. Hochaufgerichtet schritt sie an ihm vorüber, kalt über ihn hinwegsehend.

Er mußte ihr unwillkürlich nachschauen, bis sie aus dem Saal verschwunden war. Das Weib war – bei Gott – schön wie die Sünde. Kein Wunder, daß sie allen den Kopf verdrehte! Aber er sah die schillernde Schlange lauernd über ihre Schulter blicken.

 


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