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Um die Wallfahrt der Kärntnerin mit dem toten Kinde spann sich selbstverständlich bald ein Gerede. Das Gerücht bemächtigte sich derselben und dieses ist von Haus aus leichtfertig oder gehässig; es übertreibt, entstellt und verdächtigt. Eine Kindesmörderin hat man eingebracht, hieß es, eine Fremde aus dem Lavanttal. Ihr Kind hat schon »ein' G'ruchen g'habt« und doch hat sie noch immer so getan, als müßt' es in Maria-Buch die Augen aufschlagen, zappeln und nach der Mutterbrust verlangen, eine abgedrehte Dirn, eine scheinheilige, die sie sein muß. Und eigens die Kirche hat sie sich aufsperren lassen, und allein hat sie drinnen sein wollen, und was sie da gemächelt und gedächtelt, nicht einmal der Mesner hat's sehen dürfen. Den hat sie ja bestochen gehabt, und ihr Liebhaber muß wohl danach sein, daß sie das tun kann. Ist sie denn so hübsch? Wie man nur so fragen kann: ist doch auch der Doktor, der ledige, ganz vernarrt in sie. In seinem Haus hat er sie und er läßt sie noch immer nicht fort ... Das Nervenfieber hätte sie, sagt er, und vielleicht hat sie ihn selber schon damit angesteckt; wer sollte denn auch nicht schnappen, wenn ihm die gebratenen Tauben in den Mund fliegen? Nicht wahr ist's, daß sie der Bucher Pfarrer selber eingeliefert, und wenn schon, so hat er die rechte Adresse verfehlt; denn in den Kotter, zum Kriminalaktuar gehört sie, und der hat Haare auf den Zähnen, der läßt sich nicht um den Daumen drehen, ganz im Gegenteil, der wird ihr schon die Daumschrauben anzulegen wissen. Mit dem guten Herrn Pfarrer hat sie's freilich leicht gehabt; dem hat sie nur so was wie eine Kirchenbuß' vorzumachen gebraucht! Und sollte nicht nachher der Doktor dem Pfarrer auf den Leim gegangen sein? Ein Freigeist sein will er und spielt mit ihm unter einer Decke! Und ein hochmütiges Ding übereinand' ist sie, die Landstreicherin; wie sie nur dort gesessen ist vor der Kirchentür und die längste Zeit sich über die armen Wallfahrer lustig gemacht hat! Und mit der Schönheit soll's just auch nicht so weit her sein; wie eine Wetterhex' hätt' sie ausgeschaut, sagt man. Die »Guster« sind halt verschieden; aber daß sie zuletzt auf dem Schub in ihr Landl zurück muß, das ist gewiß ... wir haben Scherereien genug mit unseren eigenen Leuten. Auf den Schub? Lächerlich; mit einer Kindesmörderin macht man einen kürzeren Prozeß ...
Das klang nicht liebevoll, das war ungereimtes Zeug; aber an beides kehrt sich das müßige Geschwätz nicht. Und einen Stamm, einen greifbaren Halt hatte das wuchernde Geranke immerhin. Ja, so willkürlich die Vermutungen umsprangen, in einem Stücke trafen sie sogar das Richtige.
Der Aktuar ist wirklich ein heikeliger Herr. Er ist ein reizbares Männchen durch und durch; auf seinem bartlosen, schmalen, zitterigen Gesicht ist das Rot des Eifers und der Erregtheit fast die beständige Farbe. Er ist tüchtig und nicht ohne Scharfsinn; aber es fehlt ihm die Gelassenheit; und so verbohrt sich sein Witz nicht selten. Sein galliges Wesen schlägt überall vor, und wer ihn willkommen geheißen, möcht' ihn im nächsten Augenblicke schon wieder gehen sehen, ja ihm wohl gar dazu behilflich sein. Die Amtsgenossen finden ihn schwierig und unausstehlich, aber seine zufahrende Weise erfreut sich doch auch manchen Anklanges; er ist das, was sich das Volk unter einem strengen Richter vorstellt. Für ihn steht es fest, daß die Kärntnerin, obwohl sie noch nicht vernommen werden konnte, also noch nicht unter seine Klauen geraten war, eine Kindesmörderin, eine Simulantin sei, welche in Maria-Buch eine ausgesuchte Komödie aufgeführt habe. In dieser Auffassung fühlt er sich dem Pfaffen und dem Pflasterschmierer gegenüber nicht wenig überlegen, er, der sichere Paragraphenmann. Es begreift sich sonach auch, daß die Anspielung auf die Kirchenbuße und auf die schone Natur von seinem Stammsitz unter den Tisch gefallen.
Einer, der in Judenburg eine Art Standquartier hatte, erschrak nicht wenig, als von der Kärntnerin und ihrem toten Kind die Rede ging. Es ist dies der lange Veit, der Fuhrmann. Daß die herzlosen Anschuldigungen und Verwünschungen seinen Schützling, die Gertrauder Marie betrafen, mußte er bald erkennen, und es wollte ihm schier das Herz abdrücken. Er hätte laut ausrufen mögen: So ist die Geschichte nicht, so kann sie nicht sein, und für die Lavanttaler Dirn leg' ich meine Hand ins Feuer! Aber was half's? Sein schwerfälliger Bedacht, sein engbegrenzter Fuhrmannswitz konnte gegen den leidenschaftlichen Sturm nicht aufkommen. Und wo sollte er's anbringen können, was er von der Armen weiß und von ihr hält? Der Fuhrmann gehört auf die Straße und nicht vor studierte Herren. Und faßt er's denn selber, kann er sich's erklären, wie das brave Mädchen zu einem Kinde und das Kind ums Leben gekommen? Nein, nein! Ein großes Unglück hat's abgesetzt; sie kann nicht schlecht geworden sein, die Marie nicht, sagt er sich; aber es ist ihm doch leid um sie, als wie wenn ein schönes Haus abgebrannt, als wie wenn ihm alle Rösser umgestanden wären. Ich soll mich weiter um die Dirn umschauen, soll der Frau Groggerin Post sagen lassen ... o du mein Gott! Die gute Seel' in St. Gertraud erfährt's noch früh genug. Vielleicht hat er ein Einsehen, der Himmel, und ruft die verlassene Mutter zu ihrem Kinde ab; es wär' vielleicht eh das Bessere ...
So denkt der lange Veit und fährt recht tief ins Unterland.
Marie war schwer erkrankt. Nach Wochen stellte sich erst die Wendung zum Besseren ein. Da klärte sich der Geist, aber die Schwäche war noch sehr groß; und wie sie von Kräften gekommen war, so wechselte auch ihr ganzes Aussehen. Eine Weile schien sie sehr gealtert, dann aber begann sich eine neue, bleichere und feinere Jugend zu entwickeln. Der Doktor hatte eine Freude an diesem erneuten Leben und seine Mutter nahm sich des unglücklichen Gastes mit der lautersten Menschenfreundlichkeit an. Sie wollte Einblick gewinnen in das verstörte Gemüt und dasselbe wieder aufrichten; mit mütterlicher Zärtlichkeit und Sorgfalt suchte sie dem verlassenen fremden Kinde beizukommen, und das grause Schicksalsrätsel desselben sollte sich ihrem berechtigten und schonenden Mitgefühl gegenüber auftun.
Aber gerade an ihrem Zartsinn lag's, daß sie von der Armen weniger begriffen wurde. Diese Behandlungsweise ging von einem zu hohen Gesichtspunkte aus; sie verblüffte und verwirrte das Naturkind. Hätte die Frau Schlag vornehm getan: Gnade von oben verstand das einfache Geschöpf; es würde gedankt und sich gedemütigt haben. Doch ungemessene Güte als etwas Natürliches und Selbstverständliches hinzunehmen, war die Gertrauder Marie, die an der Frau Grogger doch auch, eine Herrin gehabt hatte, so wenig gewohnt, daß sich dagegen eine Art Mißtrauen regte, ein letzter Rest von Stolz sich auflehnte. Sie will nicht so gehalten sein, sie hat's nicht verdient, sie will lieber gleich in die Strafe kommen als länger eine Prinzessin abgeben müssen! Oder sie denkt sich: vielleicht werden die armen Seelen auch in ein gutes kaltes Wasser getan, ehe sie ins höllische Feuer müssen. So scheu und unerkenntlich gebärdet sich ein Vogel, der nicht für die Freiheit innerhalb der vier Wände, für den Käfig bestimmt ist; so wird dem, der in der scharfen Gebirgsluft aufgewachsen ist, schwül in der wohnlicheren Ebene; so wird den Bauern unheimlich zumute, wenn sich die Herrenleute mit ihnen gemein machen.
Eine der ersten Äußerungen der Wiedererwachenden war: »Wo bin ich denn? und wer zahlt denn für mich? Gewiß die Frau Groggerin ... es sieht ihr völlig gleich.«
Es kostete viele Mühe, ihr begreiflich zu machen, daß niemand für sie zu zahlen brauche, daß man nichts von ihr verlange, daß sie sich gut geschehen lassen müsse, um gesund zu werden, und daß sie in ein gutes Haus und zu Leuten gelangt sei, denen es eine Freude bereite, ihr wieder zu Kräften zu verhelfen.
Ach, hättet ihr mich lieber sterben lassen, es wäre so leicht gewesen und ich hätt' gar nichts gewußt davon; so aber geht die Geschicht' von neuem an und ich soll Honig schlecken, eh' man mir die bittere Galle eingibt ... ! dachte auf diese Auseinandersetzung hin die Arme; aber auszusprechen getraute sie sich's nicht, aus Furcht, damit ihre Wohltäter zu kränken. Sie schaute nur verwundert drein, als täte sich ihr eine neue unverständliche Welt auf.
Sie wollte, sobald es anging, aufräumen helfen; sie wollte sich in der Küche zu schaffen machen, aber auch das wurde nicht zugelassen; sie müsse sich noch schonen, hieß es, und sie lächelte bitter. Ich soll mich schonen für die Strafhausarbeit, für den Galgen wohl gar, das ist ja rein die verkehrte Welt! Aber sie meinen es gut mit mir, ja so viel gut. Woher sollt' ich wissen, daß es auch solche Menschen gibt? Und wenn ich auch vor ihnen niederfallen und ihnen die Händ' und die Füß' küssen möcht' wie den Heiligen in der Kirche: es wär' doch kein rechtes Vergeltsgott, und sie verstehen mich nicht.
Und noch eins machte die unglückliche Marie befangen. Sie bemerkte, wie zärtlich der Sohn mit seiner Mutter umging, und wie dieser das Herz lachte, das Auge leuchtete, wenn sie seiner, des Vielbeschäftigten, ansichtig wurde, wenn sie auch nur seinen Schritt hörte. So also, dachte sie sich, sind die Leute, die einen ehrlichen Namen haben; so gut und freundlich sind sie gegeneinander; ein solcher Frieden ist im Haus und solches Ansehen genießen sie; nichts zu verbergen haben sie, und kein Mensch kann ihnen was Unrechtes nachsagen.
Bittere Tränen entpreßte ihr die Scham; sie hätte sich verkriechen, vergraben mögen, und ein Gefühl bemächtigte sich ihrer, das sie bisher noch nicht gekannt hatte, für das sie keinen Namen wußte. Es ist dies der Neid der schuldlos Geächteten.
Nein, nein, da herein gehör' ich nicht, sagte sie sich. Das ist ein schöner Garten, und die Distel wächst auf dem staubigen Rain. Aus sein müßt' es mit ihrer Lieb', wenn sie wüßten, woher ich bin; so ein Schandfleck paßt nicht in ein reinliches Haus. Und ein schlechter Dank wär's, wenn ich mich aufknöpfen ließ'. Wenn ich einmal draußen bin, können sie alles erfahren, und ach, es macht mich ja auch nicht schöner, daß noch so viele andere nicht besser dran sind.
So kam's, daß die Frau Schlag mit ihrem Schützling nicht ganz zufrieden war; sie klagte das auch ihrem Sohne: »Ich gebe dir recht, die Marie ist ein seltenes Mädchen, und ihr Schicksal muß jeden dauern, der ein fühlendes Herz hat. Aber braucht sie so verschlossen zu sein, wo ihr Teilnahme entgegenkommt? Ich meinte, es müßte ihr eine Erleichterung schaffen, sich einer Frau, einer Mutter gegenüber aussprechen zu können. Aber so oft und so schonend ich auch auf ihre dunkle Vergangenheit anspielen mag, sie weicht mir aus, wird unruhig, und quälen will ich sie denn doch nicht. Wenn sie sich in ein vorteilhafteres Licht stellen wollte, wäre mir dies noch erklärlich; aber sie klagt sich im Gegenteil maßlos an, möchte lieber heute als morgen die Strafe antreten, hat ein grausames Verlangen danach und bekennt doch nicht, auch dem wohlwollendsten Andringen gegenüber nicht, wessen sie sich eigentlich schuldig fühlt. Es kann ja nicht so schlimm stehen um sie, oder ich müßte mich sehr täuschen. Sie ist erkenntlich, sie möchte am liebsten bei Heller und Pfennig abverdienen, was wir für sie tun konnten, und in der Art, wie sie mir ihren Dank bezeigen zu müssen glaubt, ist oft ein Ungestüm, das mich verlegen macht. Es wäre mir lieber, wenn sie mir ihr Herz erschließen wollte. Ich muß fürchten, daß ihr meine Weise eher weh tut und ihr krankhaftes Gemüt mehr verschüchtert als aufrichtet.«
»Aber liebes Mütterchen,« antwortete der Doktor lächelnd, »wo nähmest du auch die Autorität her, ein so sprödes Gemüt zu beugen? Deine Art ist Milde, Sanftmut, zagende Rücksicht – verzeih, wenn ich mich nicht schicklicher auszudrücken weiß, – und dieses fremde Mädchen ist ein Gewächs, das sich nur schmeidigt, wenn man es derb anzufassen vermag. Es ist viel ursprüngliche Leidenschaft in der Gertrauderin und da und dort kommt sie auch zum Vorschein, so in dem überschwenglichen Vertrauen, von dem der Pfarrer geschrieben hat, so in den Selbstanklagen und Dankesäußerungen; aber glaube mir, das Lauterste, Goldigste oder Glutigste drängt sie gewaltsam zurück. Es ist unsere zahme Weise, was sie verschüchtert. Vom leidigen Bildungsmenschen zur einfachen Natur zurück schlägt sich nicht leicht eine Brücke. Schon die überstandene Krankheit hat überdies eine seelische Unsicherheit zur Folge; die schreckliche Vergangenheit erscheint der Armen wie ein schwerer Traum, in welchen sie sich noch nicht recht zu finden weiß, und ihr ungewisses Schicksal vor Gericht wirft über ihr Wesen einen verdüsternden Schatten voraus. Also schone ihr zages, aber im geheimen aufkochendes Gemüt. Daß wir ihr wohlwollen, wird sie hinterher um so klarer erkennen; sie ist an Kopf und Herz ein ungewöhnliches Geschöpf, und es tut ihr sicherlich gut, zeitweise aus dem Bannkreise der Verstoßenen herausgekommen zu sein.«
»Du machst sie ja zu einem förmlichen Ausbund merkwürdiger Eigenschaften.«
»Mißtrau mir nicht, Mütterchen! Wer einmal auf halber Leiter ist, steigt besser aufwärts als wieder zurück.«
Und Mutter und Sohn wußten sich eins in Liebe und Leben.
Um diese Zeit kam der lange Veit als Weinführer aus dem Unterland zurück, und sobald er hörte, daß die arme Marie wiederhergestellt sei und nächster Tage schon vors Gericht müsse, gab's ihm einen Stich im Herzen. Er hatte der guten Groggerin in St. Gertraud noch immer nicht Post sagen lassen. Was mußte sie von ihm denken und wie sich abhärmen um das Schicksal der Verschollenen, welche von ihr wie eine Tochter gehalten worden! Also jetzt schnell ins Lavanttal, und sollt' es mit halber Fracht geschehen!
Den anderen Morgen zog er auch schon die wohlbekannte Sattelstraße aufwärts. Es ist ihm nicht leicht ums Herz und so mag's wohl kommen, daß sein Peitschenknall weniger lustig und laut erschallt. Und daß er seinen Schmiß schont, merkt er vielleicht selber nicht.
Dafür erstaunt er um so mehr, die muntere Dreikönig-Resi nicht schon vor der Türe zu sehen. Und auch das grüne Samtkäppchen des Alten kommt nicht zum Vorschein.
Sein Gespann findet von selbst zum Trog, und der lange Veit betritt die Zechstube.
Fahren da zwei glührote Gesichter auseinander, als hätte eins am andern ein Gespenst erblickt! Dieses steht aber nicht zwischen, sondern neben ihnen. Ei ja, für verwirrte Augen mag der Hagere im langen Kittel immerhin etwas Spukhaftes haben.
Und er lächelte so boshaft, der Unheimliche, als wollt' er sagen: »Mir scheint, da hab' ich eine Brandstiftung vereitelt und wenn's gezündet hätt', hätt' doch ich nicht zu löschen gebraucht.«
Denn er hat genug gesehen; ein artiger Störenfried aber entschuldigt sich. »Wie,« fragt er, »sollt' ich mich nicht gehörig angemeldet haben? Daß ich ungelegen komm' ... ich mach' es nicht ungeschehen, wenn ich auch gleich wieder verschwinde. Und laßt euch nicht stören, kann ich doch auch nicht sagen.«
Auf einmal sieht er näher zu und mit seinem Spaß ist's aus. Aus einem ganz anderen Ton fragt er: »Ist das nicht der Kohlschreiber von St. Gertraud, und Huber heißt er? Daß du dir, Resi, hie und da eine kleine Schadloshaltung vergönnst: ich kann dir's nicht verübeln, und du weißt eh, wie ich's mein'! Aber mit diesem – Lumpen da laß dich nicht ein.«
»Fuhrmann, das verbitt' ich mir ...«
»Ja, Fuhrmann bin ich und eine Geißel hab' ich, und wenn ich einen damit durchpeitschen möcht', so ist's der, und meine Rösser sollten aufschauen, was ich in dem Stück vermag.«
Der junge Mensch wollte den Lästerer anspringen und an der Gurgel fassen.
Der aber schnellt ihn ab und ruft ihm grimmig zu: »Daß Er sich nicht weiter rühr', sonst vergess' ich mich!«
Nun aber war die Resi so weit gefaßt, daß sie aufbegehren konnte: »Veit,« sagte sie, »ich lass' mir meine Gäst' nicht schimpfieren. Ist Er denn verrückt?«
»Sollst gleich sehen, daß ich's nicht bin. Nicht rühren, sag' ich! Und du horch auf: Draußen in Judenburg haben sie eine kärntnerische Wallfahrterin aufgegriffen. Als Kindsmörderin steht sie vor Gericht, eine schreckliche Krankheit hat sie durchgemacht. Wildfremde Leute glauben an ihre Unschuld, haben sie gelabt und gepflegt. Aber der, der das liebe Geschöpf ins Unglück gebracht hat, der sitzt da und hat Zeit und Luft, auf und auf, soweit die Straßen lang ist, heut' der und morgen einer andern schön zu tun ...«
»Das wär'st du, Huber?« ruft die Enttäuschte dazwischen.
»Ja, Resi, und zu deiner Witzigung sei's gesagt. Und der junge Herr kann sich jetzund empfehlen, wenn's beliebt. Aber komm' Er ja nicht meinen Rössern zu nah, sie schlagen aus.«
Und kläglich war des Kohlschreibers Abzug, so sehr er denselben auch durch aufgeraffte Steine, als welche man Kraftworte wie: der Esel, der Fuhrmannsstrick, Verleumder, gemeines Volk und dergleichen betrachten kann, zu decken suchte. Wie kam aber dieser vielseitige Schmarotzer überhaupt ins Bereich der Dreikönige?
Huber ist ein geschickter Arbeiter, ein flinker Rechner; in dienstlicher Beziehung ist er bei seinem gräflichen Herrn gut angeschrieben. Schon vor Jahr und Tag war er so gestellt, daß er sich einen selbständigen häuslichen Herd hätte gründen können. Er hatte Wohnung, Holz und Licht frei; leicht hätte sich dazu auch ein Gärtchen, eine kleine Stallwirtschaft, Roß und Wägelchen gefunden; und der Forst hätte ihm ab und zu Stücke leckeren Wildes ins Haus geliefert. Aber Huber war ein loser Vogel und wollte es gern länger bleiben. Er hatte Geld und damals gab's noch was aus, auch wenn man's vertun wollte. Er gefiel den Dirnen, und er machte sich kein Gewissen daraus, die ein' und die andere zu beschwatzen. Er wollte das Leben genießen, hatte aber für den Kern, für die Würze desselben noch wenig Sinn. Derlei Löffler aus allen Schüsseln gibt's und hat's zu allen Zeiten gegeben, und der Verwöhnte wird eitel.
Nun hatte der Graf draußen im Murtal ein neues Werk angelegt, das einen größeren Aufschwung nehmen sollte. Er schickte die umsichtigsten Leute dahin, die Sache in Gang zu bringen. Nicht der letzte darunter war der Kohlschreiber. Derselbe durfte sich sogar schmeicheln, mit erhöhten Bezügen dem neuen Unternehmen für die Dauer zugeteilt zu werden, und die Nähe Judenburgs, eines regen Städtleins, das er noch nicht kannte, hatte nicht geringen Reiz für ihn; und so war er in der letzteren Zeit schon mehrmals unterwegs zwischen seiner alten Schreibstube und einem Bestimmungsorte, von welchem er sich mehr versprach.
Und wenn er so des Weges zog, hatte er nicht nur auf Waldbestand, schlagbare Hänge, leichte Zufuhr, Sägmühlen und Kohlenmeiler, überhaupt auf alles acht, was mit seinem rußigen Geschäfte in Verbindung stand, sondern er blickte dabei auch gern nach der Jugend Milch und Blut, nach lebfrischen Gesichtern aus.
So a z'nichte Keuschn,
So a finstrer Grabn;
So a scheans Deandl
Söllt's do besser habn!
dachte und sang er, als er zum erstenmal des kleinen Dreikönig-Wirtshauses ansichtig wurde, draus soeben die muntere Resi hervorgetreten. Rasch entschlossen kehrte er zu, denn ein hübscher Anblick hat schon oft den Durst gezeitigt. Und gut hat er's getroffen, denn der Alte kostete wieder einmal die Gegend des Marweins (Markwein, von der windischen Mark so genannt) ab, und gern kam er wieder. Und daß ihm just bei dem Handel, der kein drittes verträgt, der grobe Fuhrmann wie ein Gespenst dazwischengefahren, wurmt ihn nicht wenig.
Das Dreikönig-Wirtshaus ist ihm nun wohl für immer verleidet – das sagt er sich auf dem Weg ins neue Werk, während jener mit Wüst und Hott über den Sattel setzt und bald in St. Gertraud erzählt, wie er den Schlecker klein gekriegt. Also auch dort steht ihm eine Beschämung bevor und diese zukünftige wurmt ihn noch mehr als die eben überstandene.
Vergebens redet er sich ein, der Huber: der lange Blaukittel ist ein Grobian, ein ordinärer Kerl, ein gemeines Lästermaul, und was der von der Straße aufliest, ist in den Wind geredet; das ist höchstens gut genug für die Schwemm', dringt aber nicht ins Extrazimmer und an den Herrentisch ... Was ihm dieser ungeschlachte Mensch versetzt hat, sitzt gleichwohl und dringt tiefer, als sich's der Vielgeliebte gestehen mag.
Ja, es ist diese gemeine Straßenfigur, dieser grobe Kerl, dieser ungebildete Mensch, der ihm ein Bild vors Auge beschworen, welches er denn doch nicht ohne weiteres zu bannen vermag. Und dies vorwurfsvolle Bild heißt Marie: jetzt ein liebes, feuriges, herziges Mädchen, wie er noch kein anderes kennen gelernt, und jetzt verhärmt, krank, schrecklich angeklagt und einer Verurteilung entgegensehend, von welcher sich ihre Ehre, ihre Lebensfreude unmöglich mehr erholen kann!
O, der Zärtliche, der Gehätschelte ist nicht ohne Gefühl, nicht ohne Gewissen! Hört nur, was er sich sagt. Ja, ja, meint er, ich bin der Armen einen Besuch schuldig. Ich weiß ihr auf gute Art beizukommen, und das wird sie trösten. Sie wird mit sich reden lassen; eine frühere Geliebte in solcher Lage muß erkenntlich dafür sein, wenn man überhaupt noch ihrer gedenkt. Und von den Wehleidigen, Klagenden, »Raunzenden« ist sie nie gewesen; also kann ich's schon wagen, sie wiederzusehen, wenn ich derlei Szenen auch gern aus dem Wege gehe. Freilich, selbst im günstigsten Falle ist's aus und bleibt's aus zwischen uns; sie wird's auch einsehen. Mit einer so ungeschickten Person kann sich unsereins unmöglich länger abgeben wollen. Was hält' es denn auch verschlagen, wenn im Groggerhaus ein Bübchen mehr herumgelaufen wäre? Und die gute Alte hätte sie nach wie vor im Dienste behalten. Von der Marie hätt' ich am allerwenigsten eine solche Taktlosigkeit, solches Aufsehen erwartet, und übel daran ist sie in der Tat. Also ich will ihr meine Teilnahme bezeigen, und dabei bleibt's. Es soll in Judenburg mein erster Gang zu ihr sein. Mehr läßt sich freilich nicht tun, und Malheur bleibt Malheur. Es ist gut, daß ich bald in andere Verhältnisse komme ...
So Huber. Ja, man traue einem Eitlen, einem Selbstling so bald Herzensgroßmut zu! Derlei Menschen müssen tüchtig gewalkt werden, wenn sie einen inneren Halt gewinnen, wenn sie zur Einsicht gebracht werden sollen. Es ist ihnen gar wohl zu gönnen, wenn sie gelegentlich aus dem Regen in die Traufe geraten.
Zu schicklicher Stunde betrat der Kohlschreiber das Haus des Bezirksarztes, mit dem Bewußtsein, selbst auf dem kurzen Wege hieher nicht unbemerkt geblieben zu sein.
Er stieß auf das Stubenmädchen und fragte dasselbe mit dem gewinnendsten Lächeln, ob er nicht die Marie Klöckl sprechen könne; er habe gehört, daß sie sich noch in der Pflege des Herrn Doktors befinde.
»Sie wissen also, daß sie sehr krank war und sich noch immer nicht ganz erholt hat ... wen soll ich melden?«
»Es bedarf keiner Umstände, liebes Kind! Ich bin ein guter Bekannter aus ihrer Heimat ... das wird genügen.«
»Meinen Sie? Nun, das kann der Herr Doktor selbst entscheiden; er ist zu Hause. Treten Sie unterdessen ins Wartezimmer.«
Das gescheite Mädchen enteilte, um ihren Herrn auf den faden Menschen, auf den zuversichtlichen Besuch aufmerksam zu machen.
»Hat er eine Karte abgegeben, hat er sich genannt?« fragte Doktor Schlag gleichgültig.
»Nein; er will als guter Bekannter aus ihrer Heimat bei der armen Marie Zutritt haben.«
»Dann will ich mir ihn erst selber ansehen. Ja, überlaß ihn mir, Luise! Es kommt mir so ein Gedanke ... wie, wenn ihn das böse Gewissen hergetrieben hätte?«
Der Arzt verließ seine Studierstube, und als er den hübschen Burschen vor sich hatte, fragte er anscheinend zerstreut: »Sie wünschen?«
»Die Marie Klöckl zu sprechen.«
»Und sind?«
»Ein guter Bekannter aus ihrer Heimat.«
»Ihr Name, wenn ich bitten darf?«
»Ich glaube, der tut nichts zur Sache; sie wird mich auf den ersten Blick erkennen.«
»Sie bringen gute Nachricht, gute Zeugenschaft für sie?«
»Daran hab' ich so eigentlich noch nicht recht gedacht.«
Der Doktor war seiner Sache gewiß, und es war eine ernste, tief einschneidende Frage, die er nun tat:
»Sie sind der Vater des unglücklichen Kindes?«
Huber ward rot bis über die Ohren und konnte dem vollen, auf ihn gerichteten Blicke nicht standhalten.
»Und sind ein feiger, elender Wicht!« fuhr Schlag mit Nachdruck fort.
»Herr Doktor, das verbitt' ich mir ...«
»Es steht nicht bei Ihnen! Sie kommen ungeladen, ungerufen, und der Willkomm richtet sich nach dem Wert des Eindringlings.«
»Sie verdächtigen meinen Charakter, meine Gesinnung.«
»Ich urteile nach Ihrer Larve und nach dem Geständnisse, das ich aus Ihnen herausgeschreckt. Was Sie zu bieten haben, ich seh' es Ihnen an, sind ein glattes Gesicht und faule Ausreden. Danach verlangt die Ärmste nicht; ihr ist besserer Trost geworden. Ein rechtschaffener Mann wüßt' auch, mit welcher Sühne er ihr zu kommen hatte. Sie namenloser guter Bekannter haben ein totes Kind auf dem Gewissen. Sie namenloser guter Freund haben das prächtigste Mädchen unglücklich gemacht und sollten Ihren Jahren nach doch schon zu unterscheiden wissen, ob Sie's mit einem Glasscherben oder mit einem Edelstein zu tun hatten. Das böse Gewissen hat Sie hieher getrieben, aber Sie sind nicht Mannes genug, mit ihm zu ringen.«
»Wer gibt Ihnen das Recht, so über mich herzufallen?«
»Ja, warum bleiben Sie denn noch, wenn Ihnen meine Rede nicht behagt? Ich halte Sie nicht, ich lasse Sie auch nicht vor. Aber ja, es gibt eine Art von Züchtigung, der man sich nicht entwinden kann, nicht wahr, Sie lieber Ungenannter? An Ihrem Namen ist mir gar nichts gelegen, aber Sie selbst empfinden ihn jetzt vorwurfsvoll; denn zuzeiten muß man sich zu dem bekennen, was man ist und was man getan. Und Sie sollen nicht umsonst zum Arzt gekommen sein, ist doch die Diagnose nicht schwer, die ich Ihnen zu stellen habe. Nicht die Marie geb' ich verloren, so Schlimmes ihr auch noch bevorsteht, sondern Sie, ihren Verführer. Fahren Sie fort, den Schürzen nachzulaufen – an der schmutzigsten werden Sie hängen bleiben. Dies das Los von Ihresgleichen.«
Damit drehte Doktor Schlag dem Kohlschreiber den Rücken. Er hatte nicht leidenschaftlich, sondern mit ruhigem Bedacht gesprochen, mit jedem Satze zielend und treffend. Er schöpfte dabei aus dem Unwillen, der sich längst in ihm gegen den unbekannten Frevler an Mariens Lebensglücke aufgesammelt hatte; und da die Vorstellungen von demselben so auffallend der gegebenen Figur entsprach, so bekam der unselige Huber mehr ab, als er unter anderen Umständen zu gewärtigen gehabt hätte.
Und der so selbstgefällig gekommen war, schlich kleinlaut von hinnen. Er begriff nicht, wie er diese Schmähungen so ruhig habe über sich ergehen lassen können, und zürnte sich deshalb. Er war eben noch nie unter der Zauberkraft von Blicken eines so klaren, selbstsicheren Mannes gestanden. Und dessen Worte hatten Eindruck, großen Eindruck auf ihn gemacht, so sehr er sich auch dagegen auflehnte, sie gelten zu lassen.
Warum hofmeistert mich dieser Mensch – ihm habe ich doch nichts in den Weg gelegt, ihn nicht gereizt, und mit einer artigen Frage darf man doch selbst dem Papst und dem Kaiser kommen? Freilich, ich hatte mir die Sache zu leicht gedacht, und es war ungeschickt von mir, aus meinem Namen ein Hehl zu machen. Nur das hat ihn auf den Gedanken gebracht, der mich aus seinem Munde so sehr verblüffte. Dumm, dumm, wenn der Hase hervorläuft, sobald auf den Busch geklopft wird! Ich könnte mich selber abohrfeigen ...
Und der Gedemütigte begab sich nicht ins Werk zurück: er trug Scheu, sich Bekannten zu zeigen, als wär' er ein Gezeichneter, als müßt' ihm jeder die erlittene Schmach an der Stirn ablesen können. Das menschenleerste Gäßchen nahm ihn auf, und in den nahen Wald flüchtete er. Und hastig war sein Schritt, sobald er das ungastliche Haus hinter sich wußte. So drückt sich der Hund an einer bedrohlichen Erscheinung ängstlich vorüber, dann aber nimmt er Reißaus und erst aus einiger Entfernung bellt er dawider; doch auch das währt nicht lange, er hält, und eine andere Richtung ist's, was ihn lockt.
Wie kommt es nur, fragte sich der Kohlschreiber, stillstehend, daß so viele Menschen an mir was auszusetzen finden? Die Frau Groggerin mutzt mir meinen Leichtsinn auf, der Fuhrmann droht mir mit seiner Peitsche und der Doktor wirft mich mit einer Strafpredigt zur Türe hinaus. Die Groggerin ist eine gute Alte, und daß sich die Jungen in mich vergaffen, könnte mich sattsam trösten; der Blaukittel ist nicht mehr als ein rußiger Kohlführer und seine Meinung kann mir gleichgültig sein; der Arzt versperrt mir aber gerade diejenigen Kreise, in die ich demnächst zu treten hoffte. Wo der gilt, bin ich unmöglich. Das ist mir denn doch höchst zuwider! Und das alles der abgeschmackten Dirnen wegen ...
Wieder schritt Huber ein Stück vorwärts. Es ist der stille Wald, was ihn umgibt. Kühl und würzig ist's darin; Fichten und Tannen haben Dauer; nur die eingesprengten Laubhölzer haben ihre Blätter verloren, welche, fahl und dürr, da und dort über den Weg rascheln. Die Spätherbstsonne, hat wenig Kraft mehr; hin und wieder blitzt sie noch herein, aber mit mattem Schimmer, der nicht blendet, nicht sengt. Dennoch atmet der unfreiwillige Spaziergänger tief auf, und von der Stirne trocknet er sich den Schweiß.
... Es ist trotz alledem noch gut, daß ich wenigstens ihr nicht unter die Augen zu treten brauchte. Ich hätte am End' vor ihr eine noch traurigere Rolle gespielt als vor dem scharfen Doktor. Und darin hat er recht: so wie viele andere ist sie nicht, ist die Marie nicht. Welche Angst, welchen Schrecken muß sie ausgestanden haben, daß sie auf den Gedanken kommen konnte, auf und davon zu gehen und mit dem toten Kinde zur Maria-Buch ihre Zuflucht zu nehmen! ... Dann die lange Krankheit; gottlob, sie wird wohl die meiste Zeit nichts von sich gewußt haben! Aber kaum halbwegs noch bei Kräften, muß sie vor Gericht Rede und Antwort stehen ... um nur mit dem Gericht nicht in Berührung zu kommen, hab' ich mich beeilt, ihr noch beim Doktor den schuldigen Besuch abzustatten. So hatt' ich's schlau berechnet, aber feig ist's gewesen, feig ... Kindesmörderin? Lächerlich; das ist sie nicht, das kann sie nicht sein. Wenn sie's aber doch getan hätte? ... im Zorn, daß ich sie verlassen? ... Und wenn ich so wirklich das tote Kind auf dem Gewissen hätte? Schauerlich, schauerlich! ... Ja, wenn man's so bedenkt, sollte unsereins doch gescheiter sein und die armen Dinger nicht so ins Verderben rennen lassen. Und das ist noch nichts, wenn sie einem von selbst in die Arme laufen. Aber wie hoch und feierlich habe ich der armen Marie die Heirat versprechen müssen! Und damals ist's mir damit auch heiliger Ernst gewesen ... ach, damals noch! Nur wenig hat gefehlt, und ich hätte mir nichts vorzuwerfen. Aber nein, völlig aufgesucht hab' ich den Leichtsinn – er hätte mich herausreißen sollen und hat' mich nur tiefer noch hineingeritten! Ein bißchen Falschheit, und der schlechte Kerl ist fertig! Und da will ich noch aufbegehren, wenn mich die rechtschaffenen Leut' ausstoßen? Ich hab' einen schönen Einzug gehalten da in Judenburg: mein Kind ist verscharrt, mein Schatz muß vor's Gericht, und mir schlägt man die Tür vor der Nase zu. Und wenn nur die arme Marie was davon hätte, daß nun die Straf auf mich kommt! ...
Der Kohlschreiber ließ sich auf einen Baumstrunk nieder, barg sein Gesicht in die Hände und weinte.
Die rechten Tränen waren dies allerdings noch nicht; denn was dieselben erpreßte, war zumeist die eben erlittene Demütigung, der Zorn über sein dummes Vorgehen, die peinliche Verlegenheit, in welche er sich seinen schmeichelhaften Plänen und Erwartungen gegenüber versetzt sah. Daß sie gerade hieher, nach Maria-Buch, wallfahrten mußte, die ungeschickte Marie!
Um seine Unbehaglichkeit möglichst zu übertäuben, machte sich Huber eifrigst im neuen Werk zu schaffen. Da konnte er noch seinen Mann stellen; da wußte er sich auch am besten geborgen. Er nahm mit Speise und Trank im Arbeiterwirtshaus vorlieb, zog sich gern auf seine Stube zurück und wenn er sich abends ergehen wollte, mied er die Wege zur Stadt hinan – dort konnte ja schon der schreckliche Doktor von seinem lächerlichen Auftreten herumgesprochen haben.
Oft kam ihm der Gedanke, ob nicht das Gericht auch ihn vorfordern könne; ob es nicht geraten sei, um dienstliche Versetzung einzukommen. Nach St. Gertraud zurück? Das ging nicht; denn dort hätte er erst recht Spießruten laufen müssen. Und die Flucht ergreifen? Das ging auch nicht; die Feigheit hat ihn schon einmal verdächtig gemacht. Und irgendwo muß der haltlose Mensch doch einen festen Stand haben; in geschäftlicher Beziehung will er sicher gehen, will er sich nichts nachsagen lassen.
Wenn nur die Nächte besser gewesen wären! Aber in Träumen bekam er noch oft den Spott des Doktors zu fühlen; in Träumen stand er auch selbst vor Gericht und konnte nicht Red' und Antwort geben, und die unglückliche Marie hielt sich von ihm abgekehrt, und nie konnte er ihr ins liebe Gesicht sehen, danach es ihn doch ebenso verlangte, als ihm davor bangte.
So ging mit dem Kohlschreiber Huber eine Veränderung vor, die selbst seiner neuen Umgebung auffallen mußte.
Eines Tages sagte der ihm übergeordnete Werktechniker, ein Junggesell, zu ihm neckenderweise: »Mir scheint, die Gertrauderin liegt Ihnen noch immer im Sinn. Ist sie denn wirklich so sauber? Die ganze Stadt spricht von ihr; Sie können sich was einbilden darauf.«
Hubers Antwort klang wider Erwarten kleinlaut. »Was ich mit auszustehen habe, wünsch' ich meinem ärgsten Feinde nicht,« sagte er.
»Ei was« – tröstete der andere Schürzenjäger – »man wird sie ja doch nicht gleich aufhenken. Die Wallfahrt, das war ein köstlicher Einfall; Maria-Buch ist eine mächtige Fürsprecherin. Und wissen Sie was? ist Gras gewachsen darüber, so haben Sie an der Gewitzigten einen Schatz, der keine Ansprüche macht und den Sie um den Finger wickeln können.«
Zu anderer Zeit hätte diese flotte Auffassung dem Kohlschreiber Achtung eingeflößt, Beifall abgenötigt; jetzt tat sie ihm aber weh, jetzt widerte sie ihn an.
»Sie haben leicht reden, Herr Ingenieur!« Das war alles, was er darauf entgegnete.
Und der andere zuckte die Achseln.