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Auf der schattigen und malerischen Fahrstraße, die von Clermont-Ferrand nach dem Puy de Dôme führt, rollte ein großer Landauer dahin, und der gleichmäßige Trott des stattlichen Gespanns schaukelte drei glückliche Menschen. Die alte Frau Firminy, die ihre Nichte Berthilde und deren Verlobten als Ehrendame begleitete, war vielleicht weniger stürmisch glücklich als das junge Paar, aber in ihrer Gemütsruhe fand sie doch auch ein Glücksgefühl. Die rechte Hand in der Kleidertasche versteckt, um das Geheimnis ihrer Andachtsübung nicht preiszugeben, ließ sie vielleicht zum zehntenmal während dieser Fahrt den Rosenkranz durch ihre Finger gleiten.
Die früh verwitwete kinderlose Frau hätte ohne den Beistand der Religion in einen trostlosen Seelenzustand geraten müssen. Der Glaube hatte ihr nicht nur zur Aussicht auf ein besseres Leben verholfen, sondern auch zu einer Menge von Beschäftigungen, womit sie die Zeit ausfüllen konnte, die sie noch hienieden zu verleben hatte. Ihre Schwester hatte ihr sterbend die Pflicht auferlegt, die Erziehung der reizenden, damals sechzehnjährigen Berthilde zu vollenden, was sie anfangs etwas in Unruhe versetzt hatte, denn wie sollte sie die Sorge um ihr Seelenheil mit den Sorgen einer Erzieherin vereinigen?
Berthilde hatte ihr indes diese Last bald vom Herzen genommen, indem sie den Beweis lieferte, daß diese Aufgabe sich spielend erledigen würde. Zwei oder drei Lehrer anzustellen, um ihre hübsche Begabung für das Aquarellieren, Klavierspielen und bescheidenen Hausgesang auszubilden, damit war alles gethan, was eine der reichsten Erbinnen der Provinz zum letzten Schliff bedurfte.
Die Lehrer hatten sich eingefunden, Berthilde hatte ihre Stunden genommen und war nachher mit der Tante in die Kirche gegangen. Ihre Jugendfrische, die frei von Uebermut war, hatte sich aufs freundlichste mit der ehrliehen, keinem Menschen lästigen Frömmigkeit der alten Dame verständigt, und eine innige Herzlichkeit hatte sich zwischen Tante und Nichte entwickelt. Anfangs hatte Frau Firminy keinen sehnlicheren Wunsch gehabt, als recht frühzeitig durch einen Freier ihrer Mutterpflichten enthoben zu werden. Jetzt, nach sechs Jahren der Pflegschaft, that es ihr fast leid, daß Armand Loysel dieser Befreier werden und ihr die Nichte entführen wollte, genau vier Wochen nach dem Tage, wo sie auf Wunsch des jungen Mädchens zusammen einen Ausflug nach den Quellen von Fontanas unternahmen.
»Wie merkwürdig, daß du nie in Fontanas gewesen bist!« sagte sie zu Armand, der ihr gegenübersaß und ihr glückstrahlend in die Augen sah. »Und du bist doch in Clermont geboren, wo jeder kleine Junge den Ort kennt! Auf dem Puy de Dôme bist du doch gewesen?«
»Ja, aber ich kam nicht über Fontanas ... erinnerst du dich noch?«
Ueber Berthildes hübsches Gesichtchen flog ein kindlich sonniges Lächeln.
»Ob ich mich erinnere! Es war einer von den Tagen, wo du höchst ungezogen warst! Dein Papa wollte zur Rute greifen, und hätte meine Mutter nicht Fürbitte eingelegt, wär's um die Würde des jungen Herrn Armand geschehen gewesen!«
Beide lachten herzlich, denn daß sie von jeher Kameraden gewesen waren, zählte zu den Freuden ihrer Liebe. Berthilde war nur um zwei Jahre jünger als ihr Verlobter und hatte seine Kinderspiele geteilt. Ihre Mutter, der alle Engherzigkeit fremd gewesen war, hatte den Grundsatz gehabt, daß ein Kind nicht einsam aufwachsen soll, besonders nicht, wenn dieses Kind ein großes Vermögen zu erwarten hat. Sie hatte diese Idee vielleicht bis zum Uebermaß verwirklicht und um ihr einziges Töchterchen außer den Kindern ihrer Freundinnen eine ganze Schar von Schützlingen versammelt.
Dank der angeborenen Großmut und vornehmen Denkart des Mädchens hatte diese Erziehungsweise für Berthilde keinerlei Nachteile gehabt. In dem geschwisterlichen Verkehr mit Kindern minder begüterter Familien hatte sie gelernt, äußeren Verhältnissen keinen übermäßigen Wert beizumessen und Verdienst höher zu schätzen als Reichtum, was ihr im späteren Leben manche Freuden, aber noch mehr Widerwärtigkeiten bereiten sollte; jetzt indessen stand sie ja erst an der Schwelle dieses Lebens und hatte bisher nur seinen Sonnenschein empfunden
»Ich erinnere mich des Tages wohl!« sagte Armand fröhlich. »Ludwig Grésil hat damals alle Ehren davongetragen, er war der Tugendspiegel, ich der Sündenbock.«
»Der arme Grésil! Sprechen wir lieber nichts von ihm! Nichts soll unser Glück stören! Diese köstliche Fahrt ist ganz unser eigen, und drum habe ich auch gewünscht, so zeitig aufzubrechen. War's nicht das Richtige, Tantchen?«
»Gewiß, mein Kind,« stimmte Frau Firminy nach einer kleinen Pause bei. Sie hatte erst ihr Gebet beendigen müssen.
Je höher die Straße stieg, desto reicher und weiter wurde der Ausblick, und als der Kutscher an der letzten Kehre anhielt, um die Pferde verschnaufen zu lassen, lag ein gutes Stück der Auvergne vor ihnen.
»Sieh' nur, Armand, das ist unser Heimatland, das ist die Auvergne! Ein Land voll Reichtum und Armut, voll fetter Weiden und unfruchtbarer Gebirgszüge, ein Land der Gegensätze!«
»Wie wir Auvergnaten auch! Ein alter Boden mit erloschenen Vulkanen, aber wer weiß, ob es unter der Asche nicht noch glüht? Jedenfalls kochen sie uns das Wasser für unsre Heilquellen ... Berge und Menschen mit verhaltenen Leidenschaften!«
Beide lachten wie die Kinder.
»Wie köstlich, miteinander Dummheiten zu schwatzen!« sagte Berthilde, als die Pferde sich wieder in Bewegung setzten, »und dabei denken zu dürfen, daß es im ganzen Leben so fortgehen wird!«
»Du meinst, daß wir immer Dummheiten schwatzen werden?« fragte der junge Mann neckend.
»Ich will's hoffen!« versetzte sie beinahe feierlich. »Mir thäte jeder leid, der, mag er noch so alt sein, kein harmloses Vergnügen mehr an Scherzen fände, die vielleicht nicht geistreich, aber sicher harmlos sind.«
»Du hast recht – wie immer! Das ist zum Verzweifeln!«
»Da wären wir!« rief das junge Mädchen. »Du bleibst doch im Wagen, Tantchen? Es ist viel besser für dich, als dir nasse Füße zu holen wie wir! Die Schicklichkeit braucht dir keine Sorgen zu machen – um acht Uhr morgens begegnet man keiner Menschenseele! Die Touristen liegen noch in den Federn, die treffen wir erst auf dem Heimweg.«
Sie sprang leichtfüßig aus dem Wagen, den der Kutscher in den Schatten lenkte, und ging auf das Dörfchen zu, das aus ein paar im grünen Dickicht versteckten Häusern bestand. Eine Frau, die durchaus den Fremdenführer für das junge Paar machen wollte, wurde durch etliches Kupfergeld beseitigt, dann führte Berthilde ihren Verlobten auf eine kleine Anhöhe und sagte: »Jetzt werde ich dir alles der Reihe nach zeigen.«
In unregelmäßigen, verschieden gefärbten Granitbecken lagen die Wasserflächen vor ihnen ausgebreitet, und dieses Wasser war von unvergleichlicher Durchsichtigkeit. Krystallhell ist nicht das richtige Wort dafür, denn beim Krystall hat man immer das Gefühl des Körperlichen, während man hier einfach nichts wahrnimmt. Beugt man sich über die Fläche, so könnte man ohne das leise Gekräusel an den Stellen, wo die Quelle ins Becken strömt, einfach einen sammetartigen Algen- und Moosteppich in freier Luft vor sich zu haben wähnen.
Leichtfüßig wie eine Bachstelze schritt Berthilde zwischen den Wassertümpeln und Quellen hindurch, bald stillstehend, wo sich irgend etwas Besonderes darbot, bald die Hand ins Wasser tauchend, das in funkelnden Tropfen von ihren Fingern sprühte. Wie in eine Märchenwelt versetzt, folgte ihr Armand.
Die Wasser verschwanden im Dickicht des Waldes, unter Brücken und uralten Mühlen, um an deren bemoosten Rädern wieder aufzuleuchten; wie große Spiegel blitzten sie da und dort in der Morgensonne, verkrochen sich im Röhricht und plätscherten unter den losen Steinen, die zum Uebergang dienten. Ueberall war Wasser und wieder Wasser, klar und leuchtend, daß man im Diamantenland des Märchens zu sein glaubte. Kaum ließ es dem Menschen Raum, in seinem Bereich Fuß zu fassen. Nirgends tief, rieselte es so fröhlich dahin wie Vogelzwitschern; es war wie ein lebendiges Wesen, dessen geschäftige Beweglichkeit den ganzen Raum mit frischem Leben erfüllt.
Unter einer Gruppe von Steineichen, deren Zweige sich über ihrem Haupte kreuzten, blieb Berthilde stehen. Die Sonnenstrahlen huschten durch das grüne Dickicht und trieben auf der fast regungslosen Wasserfläche und den weißen Kieseln ihr Spiel.
»Ist es nicht köstlich?« fragte sie mit leiser Stimme.
Armand trat näher; doch statt aller Antwort sah er sie nur an. Mit ruhiger Freude erwiderte sie seinen Blick.
»Es ist – wie du,« versetzte er in ebenso gedämpftem Ton, denn die grüne Halle umfing sie wie ein Tempel. »Diese sprudelnde Quelle, das bist du, diese krystallene Reinheit, das bist du, der goldene Sonnenschein bist du.«
So standen sie beisammen, ohne daß auch nur ihre Hände sich berührt hätten. Die Reinheit dieser Natur ging in ihre Seelen über, und doch hauchte der heiße Atem der Leidenschaft über sie hin, wie der Sonnenschein, der jedes Blatt und jeden Grashalm erwärmte.
»Komm jetzt zum Wasserfall,« sagte Berthilde.
Der Zauber war gebrochen. Armand zog den Arm des jungen Mädchens durch den seinigen, und langsam gingen sie auf die Mühle zu. Sie betraten einen schwanken Steg, von dessen Höhe sie einen mächtigen Wasserstrahl überblicken konnten, der schwer und gewaltig wie geschmolzenes Glas in eine grüne Tiefe hinabstürzte, um lustig plätschernd in kleinen Sprudeln weiterzufließen; Eichen und Ulmen schlossen die übermütige Najade in ein grünes Laubzelt ein, ein Sonnenstrahl durchzuckte funkelnd seine Wassermassen.
»Wie schön!« flüsterte Armand, Berthildes Arm fester an sich pressend.
Sie machte sich los; das mutige, selbstgewisse Mädchen wollte ihre jungfräuliche Glückseligkeit durch keinen Hauch trüben lassen.
»Komm!« sagte sie, ihm voraneilend. »Wir haben jetzt genug gesehen. Die Erinnerung an diesen Tag soll uns unvergänglich bleiben, und man muß nichts im Uebermaß genießen, nicht einmal Quellwasser!«
Er holte sie erst ein, als sie wieder bei den Quellen stillstand.
»Wirst du dich an Fontanas erinnern?« fragte sie triumphierend.
»Bis zu meinem letzten Atemzug,« gab er ihr freudetrunken zurück. »So oft ich deiner gedenke, werden die klaren, frischen Quellen vor mir stehen. Wie diese Flut sich ergießt und hingibt, hast du mir deine Seele gegeben, und du kannst so wenig täuschen oder lügen, wie dieser reine Himmelstau.«
»Das ist wahr,« sagte sie einfach, »denn ich habe dich ja lieb.«