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Frau Loysel, deren Zustand sich so weit gebessert hatte, daß sie das Bett verlassen konnte, saß stundenlang in einem Lehnstuhl am Fenster. Der Arzt ordnete Spazierfahrten zu früher Morgenstunde an, wo sie von niemand gesehen werden und doch neue Eindrücke gewinnen würde.
Berthilde war immer um sie, nur für die Nacht kehrte sie zu ihrer Tante zurück. Sie teilte alle Mahlzeiten der Kranken, um sie zum Essen zu bewegen, sie fuhr des Morgens mit ihr spazieren, sprach nicht viel, versuchte aber doch, sie zur Teilnahme für die Außenwelt anzuregen.
Groß war der Erfolg dieser Liebesmühe aber nicht. Frau Loysel erholte sich zwar körperlich und war offenbar bei klarem Bewußtsein, aber gemütlich konnte sie sich nicht aufraffen nach diesem Schlag. Von Zeit zu Zeit bewegte sie die Lippen, ohne einen Ton hervorzubringen, und Berthilde, die sie unablässig beobachtete, konnte von diesen bebenden Lippen das Wort »Sterben!« ablesen, das erste, das sie nach ihrer Rückkehr zum Bewußtsein gesprochen hatte.
Die Untersuchung nahm ihren Fortgang, schien aber der Witwe des Ermordeten gänzlich gleichgültig zu sein; es war, als ob ihr Vergangenheit und Gegenwart fremd geworden wären, und nichts sie zu erschüttern vermöchte. Berthilde fand diese Teilnahmlosigkeit höchst beunruhigend; sie hätte gerne Fragen und Thränen veranlaßt, um Die Frau aus diesem Stumpfsinn aufzurütteln, aber wie sollte sie es anstellen? Sie besprach diese Frage mit Armand, und beide wandten sich an den Arzt.
»Was für uns ein Rätsel bleibt,« sagte er, »ist, daß meine Mutter mit keiner Silbe nach den Umständen von meines Vaters Tod gefragt hat ... meinen Sie, daß sie den Knall und das Kreischen der Dienstboten gehört haben könnte?«
»Ohne Zweifel,« versetzte der Arzt. »Ich habe viel über diesen Fall nachgedacht, der selten, doch nicht einzig in seiner Art ist. Der Schuß, oder wahrscheinlicher die nachher im Hause entstandene Unruhe haben sie derart erschüttert, daß eine teilweise Nervenlähmung eingetreten ist. Der kataleptische Zustand war schon vorbereitet, als Sie ihr Zimmer betraten. Daß sie alles gehört hat, zeigt sich gerade in ihrer Scheu, durch Fragen jene Eindrücke neu zu beleben. Man muß darin ihren Willen achten; das Gegenteil könnte bedenkliche Erscheinungen hervorrufen.«
»Für uns wäre es ja eine große Wohlthat,« bemerkte Armand mit einem Seufzer, »wenn wir unsre Sorgen mit ihr besprechen könnten. Ich fühle mich trostlos vereinsamt, und seit der Verdacht auf den armen Grésil gelenkt wurde, ist mir das Herz doppelt schwer.«
»Der arme Junge! Seine Großmutter würde diese Verurteilung nicht überleben.«
»Halten Sie ihn denn für schuldig, Doktor?«
»Ich maße mir kein Urteil an, da ich die Einzelheiten zu wenig kenne. Mein Gefühl würde mich auf eine andre Fährte weisen ...«
»Und auf welche?« fragte Armand stürmisch.
»Das kann ich Ihnen gegenüber nicht aussprechen ...« versetzte der Arzt ausweichend, aber Armand drang aus eine Erklärung.
»Ich habe keine bestimmte Persönlichkeit im Sinn, nur eine Richtung,« sagte er endlich notgedrungen. »Der Notar war ein Liebling der Frauen, der überall Erfolge hatte ... es könnte sich um eine That der Rache handeln ...«
Armand war nicht zimperlich, aber diese Aeußerung trieb ihm das Blut in die Wangen: handelte es sich doch um den Vater.
»Die Rache eines ... Ehemannes, meinen Sie?«
»Oder einer Frau. Es thut mir leid, Ihnen derartige Andeutungen gemacht zu haben, aber Sie wollten es ja hören ... ich bin auch nicht der einzige, der daran denkt.«
Armand war bestürzt. Diese ihm bisher fremde Möglichkeit müßte allerdings zu Grésils Freisprechung führen! Für einen wohlerzogenen Sohn ist es immer peinlich, an seinem Vater Schwächen zu entdecken, dazu machte die Innigkeit, womit Armand an der Mutter hing, diese Enthüllung besonders peinlich, und doch sollten ihm weitere Aufklärungen nicht erspart bleiben.
Ja, der Notar Loysel hatte viel geliebt und war viel geliebt worden, selbst wenn er nicht alle Abenteuer, die man sich nach seinem Tode erzählte, erlebt hatte. Dieser Klatsch berührte Armand weniger als die Beweise, die durch manche Aktenstücke erbracht wurden. Der Notar war freigebig gewesen, aber mit Maß, denn neben den Frauen hatte er auch das Geld geliebt; immerhin bezeugte der Ankauf mancher kleinen Liegenschaft oder manches Lädchens, daß es ihm nicht darauf angekommen war, eine Geliebte »anständig zu versorgen«, wenn er ihrer überdrüssig geworden war. Der erste Gehilfe war auf diesem Gebiete offenbar ziemlich bewandert; die Art, wie er ein Aktenfaszikel ohne Durchsicht stillschweigend dem zweiten übergab, bewies immer, daß es ein Romankapitel enthielt. Armand hatte sich anfangs gewundert, doch bald war ihm die Sache klar geworden. Mit wachsender Befangenheit und verletztem Schamgefühl that er dann, als ob ihn irgend ein Schriftstück völlig in Anspruch nähme, aber die Peinlichkeit solcher Augenblicke verfolgte ihn den ganzen Tag und bis in die Träume hinein.
Eines Morgens war er mit der Sonne aufgestanden, um seiner Mutter bei ihrer täglichen Ausfahrt Gesellschaft zu leisten, da Berthilde am Abend vorher gesagt hatte, sie sei zu müde, um morgen diese Pflicht zu erfüllen. Zu seinem Erstaunen hörte er seinen Namen rufen, und als er die Thür öffnete, stand seine Mutter, noch ohne Hut, aber zur Ausfahrt gerüstet, vor ihm.
»Du, Mama? So früh? Du beschämst mich ja!« rief er, sich zu einem heitern Ton zwingend.
»Ich wollte dich etwas fragen ... weißt du, ob ...« sie brach ab, als ob ihr die Frage nicht über die Lippen wollte.
»Was denn, liebe Mama?« sagte er, sie im, Zimmer führend.
Sie schwieg. Mit einem Ausdruck demütiger Unterwerfung, der dem Sohne ins Herz schnitt, blieb sie an der Thüre stehen.
»So sprich doch, mein Mütterchen, ich bitte dich!«
»Diese Miß Liona ... ist sie verhaftet worden?« stammelte die arme Frau mit größter Selbstüberwindung.
»Miß Liona? Nein! Weshalb sollte man sie verhaften?«
Frau Loysel sah ihrem Sohn in die Augen, und er gewahrte in dem grellen Morgenlicht zum erstenmal, welche Verwüstungen der Schmerz in diesen vierzehn Tagen angerichtet hatte. Das war nicht mehr die hübsche, jugendliche Frau Loysel! Tiefe Falten um den Mund zogen das einst rundliche Gesicht in die Länge, die Lippen waren farblos, die Augen dunkel umrändert, die Haare von weißen Strähnen durchzogen, die um so deutlicher hervortraten, als sie nicht mehr wie früher gekräuselt, sondern in glatten Scheiteln in die Stirne hereingelegt waren. Am auffallendsten aber war die Veränderung im Blick, der sonst warm und strahlend den geliebten Sohn gesucht hatte, jetzt aber scheu und unstät vor ihm zu fliehen schien.
»Weshalb hätte man Miß Liona verhaften sollen, liebe Mama?« wiederholte er, mehr und mehr bestürzt.
»Weil sie die letzte Person war, die den Vater sprach, ehe ... vor dem Ende ...« brachte sie mühsam heraus.
Armand war ganz verblüfft ... Wie kam seine Mutter zur Kenntnis dieser Thatsache? Sollte irgend ein Dienstbote ihr Dinge zutragen, die der eigene Sohn scheu vor ihr verheimlichte?
»Aber, liebe Mama, woher weißt du denn das?« fragte er, ohne aus seiner Ueberraschung ein Hehl zu machen.
»Ich bin ihr begegnet,« versetzte Frau Loysel nach abermaligem Zögern. »Sie verließ das Haus, als ich heimkam.«
Ihre unruhigen Blicke huschten von einem Gegenstand zum andern; mit einemmal hafteten sie auf der blonden Schildkrothaarnadel, die Armand vom Schreibtisch seines Vaters genommen, in seinem Zimmer auf den Kaminsims gelegt und seither vollständig vergessen hatte.
»Diese Haarnadel!« sagte sie leise mit einem Ausdruck des Abscheus.
»Die muß dir gehören, liebe Mama,« sagte Armand bestimmt, um nur ja keinen Verdacht aufkommen lassen.
»Mir?« hauchte sie tonlos. »Ja, sie kann nur mir gehören ...«
Er reichte sie ihr und bemerkte dabei, daß sie jetzt nur schwarze Haarnadeln trug.
»Schildkrot geht nicht zur Trauer,« warf sie, seinen Blick auffangend, hin. »Gib sie her.«
Sie nahm die Nadel, hielt sie einen Augenblick in der Hand und wickelte sie dann in ihr Taschentuch, als ob ihr die Berührung schmerzhaft wäre.
»Man hat also diese Person nicht festgenommen?«
»Miß Liona? Nein, Mama! Beschäftige dich doch nicht mit ihr. Wie kann sie dich interessieren?«
»Sie war die letzte ... die letzte, die ...«
»Gewiß, Mama, die letzte Klientin, die Papa empfangen hat, nicht die letzte Person, mit der er sprach. Nachdem sie fort war, ging er noch in die Schreibstube, um den Gehilfen einige Aufträge zu erteilen.«
»Ach!« stieß Frau Loysel sichtlich schwer enttäuscht heraus. »Weißt du das gewiß?«
»Ganz gewiß.«
»Ach!« seufzte sie noch einmal. »Nun denn ... bist du fertig?«
»Ich stehe ganz zu deinen Diensten, Mama!«
»Gut ... das heißt, es ist unnötig ... ich fahre heute nicht.«
Kein Zureden half, sie blieb bei ihrem Entschluß. Armand mußte den Wagen fortschicken, und seine Mutter setzte sich wieder unbeweglich ans Fenster in ihrem Zimmer. Auch Berthildes späterer Besuch hatte seinen günstigen Einfluß, und Armand ließ den Arzt holen, dem er die seltsame Unterredung wortgetreu berichtete.
»Die Sache ist sehr einfach!« bemerkte der Doktor. »Frau Loysel hat angenommen, diese Miß Liona sei des Mordes verdächtig, das ist ja klar. Ihnen ist der Gedanke befremdlich, weil Sie die Beweise gegen diese Möglichkeit zum voraus kannten, für Frau Loysel dagegen lag er sehr nahe.«
»Aber wie hätte diese Miß Liona oder vielmehr Frau Fort dazu kommen sollen, meinem Vater nach dem Leben zu trachten?«
»Weiß ich's? Mir schwirrt immer der Gedanke durch den Sinn, es könnte Herr Fort gewesen sein!«
»Sie glauben, daß er Gründe gehabt hätte?«
»Triftige! Oder wenn er sich der von seiner Frau niedergelegten Summen hätte bemächtigen wollen? Unter uns gesagt, es muß ein sauberer Patron sein, dieser Herr Fort.«
»Was mir am meisten zu denken gibt,« fuhr Armand nach einer Pause fort, »ist auch nicht, daß meine Mutter auf diese Vermutung kam, sondern daß es ihr eine Enttäuschung zu bereiten schien, Miß Liona von jedem Verdacht befreit zu wissen.«
»Auch das ist nicht so absonderlich,« erwiderte der Arzt. »In dem Schweigen, worin Frau Loysel beharrt, muß ihr Gehirn unausgesetzt stark arbeiten, und ohne Zweifel wäre es ihr tröstlich, den Mörder ihres Gatten ergriffen und bestraft zu wissen ... an die Möglichkeit eines Selbstmordes hat Ihre Frau Mutter wohl nie gedacht?«
»Sie hat bisher überhaupt kein Wort über die Katastrophe geäußert, heute zum erstenmal berührte sie die Sache.«
»Das ist der Anfang einer Aussprache und ein entschiedener Fortschritt,« versicherte der Arzt, der ein gründlicher Optimist war.
»Ach! Dieses Mitteilungsbedürfnis läßt lange auf sich warten, und ich habe immer noch Angst vor einer Wiederholung des Krampfzustandes! Auch heute bin ich sehr erschrocken ... als meine Mutter einer Haarnadel ansichtig wurde, die ich in meines Vaters Zimmer gefunden hatte, war sie einer Ohnmacht nahe.«
»Vermutlich weil sie diese Nadel beim letzten ahnungslosen Lebewohl von Ihrem Vater dort verlor! Die Erinnerung wird sie erschüttert haben; Sie müssen aber derartige Mahnungen nach Kräften zu vermeiden suchen. Ueberm Berg sind wir ja noch lange nicht, und wir könnten den erreichten Fortschritt leicht wieder einbüßen.«
In den nächsten Tagen sah es fast aus, als ob dieser Fall eingetreten wäre. Frau Loysel weigerte sich zwar nicht mehr, in Berthildes Begleitung auszufahren, aber sie versank wieder in die gänzliche Wortlosigkeit der ersten Tage.
Selbstverständlich war die Aufmerksamkeit von ganz Clermont auf das Haus des Notars gerichtet, mit dessen Gedächtnis man nicht eben glimpflich umsprang. Ein spöttischer, fast grausamer Ausdruck war verschiedenen an dem Leichnam aufgefallen, und die alte Frau Firminy war sehr bekümmert, weil man ihr sagte, der Notar müsse in einer Stimmung gestorben sein, die das Heil seiner Seele in Frage stelle. Die gute alte Dame widmete daher dem Verstorbenen eine große Zahl ihrer Gebete, konnte aber selbst dadurch nicht zur Ruhe gelangen und forschte immer wieder ihre Nichte aus, um Näheres über das tragische Ereignis zu erfahren.
»Ich weiß nichts darüber, liebe Tante, und habe keine Ahnung, wie es gekommen sein kann,« war Berthildes Antwort. »Ich weiß nur, daß Armand in einem trostlosen, verzweifelten Zustand ist, und seine arme Mutter fast noch mehr.«
Als sie eines Morgens nach ihrer Spazierfahrt mit Frau Loysel ihre Tante begrüßen wollte, rief ihr diese entgegen: »Berthilde! Was soll denn nur aus der armen alten Großmutter werden? Grésil ist verhaftet!«
Von Schmerz und Angst erfaßt, stand das junge Mädchen wie versteinert da.
»Ich gehe zu ihr,« sagte sie dann ruhig, wieder nach Schirm und Handschuhen greifend.
Die alte Frau Grésil bewohnte in einem der engsten Gäßchen der Altstadt ein düster aussehendes Haus, das aber nach hinten auf ein sonniges Gärtchen ging, worin der Enkel zur Augenweide für die gelähmte Großmutter die schönsten Blumen zog. Berthilde fand sie auch heute am gewohnten Platz im Lehnstuhl am sonnbeschienenen Fenster, doch das grobe wollene Strickzeug, das ihr sonst die Zeit verkürzte, lag heute unberührt im Korb, und die zitternden alten Hände ruhten müßig auf ihren Knieen.
»Heute früh haben sie ihn geholt, liebes Fräulein,« erzählte die Gelähmte. »Ich lag noch im Bett, er machte mir eben den Kaffee ... Das haben sie noch erlaubt, daß er mir wie gewöhnlich in meinen Lehnstuhl half, dann mußte er fort, der arme, arme Junge!«
»Was sagte er dazu?« fragte Berthilde, die kalten gichtischen Hände des Mütterleins sanft streichelnd.
»Gar nichts als: ›Hab' mir's ja gedacht!‹ ... Das war alles. Geküßt hat er mich, als ob's zum Sterben ginge, dann ging er fort ohne Widerstand, ohne Groll!«
»Von seiner Unschuld sprach er nicht?«
»O nein! Wozu auch? Ich weiß ja wohl, daß er's nicht gethan hat; und wenn die andern an seine Unschuld glauben möchten, hätte man ihn dann verhaftet? Was uns Not thäte, Fräulein Berthilde, wären Zeugen dafür, daß er um die Zeit von Loysels Tod überhaupt nicht in Clermont war ...«
»Er war nicht in Clermont?« fragte Berthilde.
»Nein, gnädiges Fräulein, er war, als der Waldbrand ausbrach, auf dem Wege zum nächsten Dorf. Die halbe Nacht hat er beim Löschen mitgearbeitet, und noch voll Brandgeruch kam er heim. Sollte denn wirklich keiner von den Männern, die löschen halfen, ihn erkannt haben und für ihn einstehen wollen?«
»Wie kam's denn, daß er um diese Zeit unterwegs und nicht in der Werkstatt war?«
»Ach, gnädiges Fräulein! Er war ja am selben Morgen aus dem Gefängnis gekommen und nicht mehr angenommen worden im Geschäft! O, dieses Gefängnis, das ist unser Verderben! Ohne das wäre nie ein Verdacht auf mein armes Kind gefallen! Ohne das hätte er nie die unbesonnenen Reden geführt gegen den Herrn Notar, die ihn jetzt ins Unglück bringen!«
Die matten, verweinten Augen der Greisin hefteten sich fest auf Berthilde.
»Sehen Sie, Fräulein Berthilde, das ist eine ganze Reihe himmelschreiender Ungerechtigkeiten! Der damit begonnen hat, steht jetzt vor seinem ewigen Richter ...«
»Wen meinen Sie denn?« fragte Berthilde beunruhigt.
»Herrn Loysel. Er hat meinen armen Ludwig angegeben, er allein hat ihn ins Gefängnis geliefert!«
»Aber weshalb denn?«
Die alte Frau blickte auf ihr Gärtchen hinaus.
»Ihnen ... Ihnen kann ich das nicht erklären, Fräulein Berthilde ... aber wenn der Herr Armand mich besuchen wollte ... dem ... dem müßte ich's sagen, so schwer mich's ankäme.«
Eine Weile herrschte tiefe Stille in dem armseligen, aber sauberen Stübchen.
»Fräulein Berthilde,« begann die alte Frau dann mit leiser Stimme, »Sie sind immer gut gegen uns gewesen, Sie und Ihre selige Frau Mutter, und Ihr Bräutigam ist meines armen Jungen bester Freund, obwohl er ein feiner Herr ist, und wir geringe Leute sind ... Drum würde ich lieber auf der Stelle sterben, als Ihnen oder ihm wehe thun. Was macht mir auch der Tod! Meine Beine sind längst gestorben, das übrige kann ihnen nachfolgen, wann unser Herrgott will! Aber die Schande, Fräulein Berthilde, die Schande und die Ungerechtigkeit, die schmerzen mehr als der Tod, und was wir leiden, mein Enkelsohn und ich, das haben wir nicht verdient. Wir leiden schwer, aber unsre Herzen sind darum nicht verhärtet. Das erste Mal, ja, da war mein armer Junge rasend, aber jetzt hat er sich darein ergeben. ›Es ist meine Schuld, Großmutter,‹ sagte er. ›Was hatte ich zu Herrn Loysel zu gehen und ihm zu sagen, er werde es bereuen? Das war dumm und schlecht!‹ Nun, liebes Fräulein, ich bin nur eine arme, alte, unwissende Frau, aber das sag' ich Ihnen, wenn ein Mensch lebt, der durch Nachforschungen, Beweise ... was weiß ich ... meiner Jungen retten kann, und dieser Mensch thut es nicht, dann wird unser Herrgott am jüngsten Gericht wohl einen Unterschied machen zwischen dem armen Grésil, den sie unschuldig verurteilt haben, und den Leuten, die ihn köpfen ließen!«
»Armand wird heute noch zu Ihnen kommen, Mutter Grésil,« versetzte Berthilde, »und ich schwöre Ihnen, er wird ihn retten ... die Ungerechtigkeit der Welt müßte denn mächtiger sein, als er und ich miteinander.«
»Das hab' ich von Ihnen erwartet, Fräulein Berthilde,« sagte die alte Frau einfach.
Wie oft hatten sie und Armand als Kinder auf dem Schoß der Greisin gesessen, wie manche Kinderthräne hatte sie ihnen getrocknet, wie manchmal kleine Schäden an ihren Kleidern ausgebessert, wunde Kniee gewaschen, schmerzende Beulen geheilt, und durch lustige Geschichten und Märchen den Kummer verscheucht. Jetzt nahm Berthilde das weiße Haupt zwischen ihre Hände und drückte es mit tröstendem Zuspruch zärtlich an ihre junge Brust. Fast erfüllte sie der Gedanke mit Wonne, hier Hilfe zu schaffen und Wohlthaten erwidern zu können.
Auf die Nachricht von Grésils Verhaftung stürzte Armand zum Hilfsstaatsanwalt.
»Das ist eine himmelschreiende Ungerechtigkeit!« war sein erstes Wort.
»Die Drohungen, die Grésil vor Zeugen ausgestoßen hat, berechtigen uns durchaus, das Verfahren gegen ihn einzuleiten.«
»Man kann also jeden anständigen Menschen verhaften, wenn es ein paar Lästermäulern beliebt, ihn anzuschwärzen.«
»Von Lästermäulern ist hier nicht die Rede!« entgegnete der junge Beamte mit Würde. »Der Verhaftete zieht auch seine Aeußerungen gar nicht in Abrede, er hat sich die Verhaftung selbst zuzuschreiben.«
»Ach! Warum hab' ich ihn nicht begleitet an jenem Abend, wie ich's einen Augenblick im Sinn hatte!« rief Armand außer sich. »Dann könnte ich ihm sein Alibi liefern! Doch ... das kann ja geschehen ... er traf ja dort mit jemand zusammen, von dem er Aufklärung haben wollte ... ha, ha, ... das Alibi soll hergestellt werden.«
»Gewiß!« versetzte Brécourt, mehr und mehr den Beamten herauskehrend. »Wenn diese Persönlichkeit derart ist, daß ihr Zeugnis für das Gericht Wert hat, eine unbescholtene bekannte Persönlichkeit, so kann sich der Angeklagte darauf berufen. Der Name ist Ihnen bekannt, Herr Loysel?«
»O ja ... es ist eine Frau ...« sagte er stockend, denn es tagte ihm mit einem Male, daß Karoline schwerlich ein Zeugnis ablegen würde, wodurch die Art ihrer Beziehungen zu Grésil ruchbar würde. »Ich hoffe, sie wird sich auf ihre Pflicht besinnen,« setzte er hinzu. »Wenn es ein Menschenleben gilt ...«
»Ein Menschenleben, ist wohl etwas zu viel gesagt,« bemerkte der junge Jurist mit überlegenem Lächeln. »Um ein Todesurteil wird es sich schwerlich handeln, die Einzelheiten der That müßten denn besonders empörend, der Druck der öffentlichen Meinung sehr stark sein ... Der Verstorbene hat, wenn ich mich nicht täusche, dem jungen Mann viel Gutes erzeigt. Da läge allerdings ein Undank vor, der die Geschworenen gegen ihn einnehmen müßte ...«
»Mein Vater hat sich nie viel um Grésil bekümmert, sondern meine Mutter. Uebrigens hat er seinen Weg, sobald er die Kinderschuhe vertreten hatte, ganz allein gemacht und war immer sehr anstellig und anständig. Wenn ich ihm auch nicht begegnet wäre, nicht mit Gewißheit wüßte, daß er vom Ort der That um diese Zeit meilenweit entfernt war, ich würde nimmermehr an seine Schuld glauben!«
»Und doch ist die That begangen worden,« erwiderte Brécourt mit einem forschenden Blick auf den jungen Mann, »und irgend jemand muß der Thäter sein ... sollten Sie etwa einen andern im Verdacht haben?«
»Ich weiß nicht,« versetzte Armand mutlos, »alles Nachgrübeln führt zu keinem Ergebnis, alles in mir und um mich ist Jammer, Wirrsal und undurchdringliches Dunkel!«
»Und doch wehren Sie der Hand, die Licht in dieses Dunkel bringen will? Lassen Sie die Gerechtigkeit ihres Amtes walten, Herr Loysel! Sie hinkt ja mitunter, das ist richtig, aber sie erreicht ihr Ziel doch. Ihr Vater und das sittliche Bewußtsein der Gesellschaft sollen gerächt werden, müßte es auch auf Kosten Ihrer Großmut und Ihres vielleicht irregeleiteten Gefühls geschehen.«
Mit diesen Worten, die ihm selbst ungemein erhebend und klangvoll vorkamen, verabschiedete Brécourt den jungen Loysel, der gedrückt und mißmutig nach Hause ging, wo er seine Braut nicht wie sonst im Zimmer der Mutter, sondern unten im Wohnzimmer antraf.
»Armand,« sagte sie, als er eintrat, »Grésil ist verhaftet!«
»Ich weiß es, Berthilde, und komme eben vom Hilfsstaatsanwalt!« erwiderte er, indem er die von uneigennützigem Zorn glühende Wange des jungen Mädchens brüderlich küßte. »Die Leute vom Gericht sind mir unverständlich. Kaum steigt ein Verdacht auf, so ist ihnen der davon Betroffene schon ein Verbrecher und wird demgemäß behandelt!«
»Ja, und das ist eine Niederträchtigkeit! Was sollen wir beginnen? Gerettet muß er werden ... um jeden Preis!«
»Gewiß, Berthilde ... um jeden Preis ...«
Er wiederholte das Wort mit einem schmerzlichen Ton, der ihr zu Herzen ging.
»Armand ... woran denkst du?«
»An meine eigene Lage, die höchst sonderbar ist. Ueberlege dir nur ... mein Vater ist ermordet worden ... wir haben von den Beweggründen zu dieser That nicht die leiseste Ahnung ... niemand kann die Person des Mörders auch nur vermuten. Nun ergreift das Gericht einen Verdächtigen. Dieser hat kurz vorher Drohungen ausgestoßen ...«
»Drohungen waren es nicht, Armand! Der arme Grésil wollte nur sagen, deinem guten Vater werde es nachher selbst leid thun, daß er ihm nicht beigestanden hat.«
»Davon bin ich überzeugt, gerade wie du, aber die Welt ist nicht unsrer Meinung! Grésil hat also einmal Drohungen ausgestoßen; er war zur Zeit der That weder in seiner Wohnung noch in der Werkstatt. Ich in erster Linie sollte mich freuen, daß einige Aussicht vorhanden ist, meines Vaters Mörder ausfindig zu machen, und statt dessen suche ich der Gerechtigkeit in den Arm zu fallen!«
»Weil sie ihn nach einem Unschuldigen ausstreckt!«
»Ganz gewiß! Aber du siehst doch ein, daß die Richter und alle Außenstehenden mein Verhalten wunderlich finden müssen.«
Berthildes offener Blick suchte das Auge des Verlobten.
»Und wirst du vor der Meinung der Welt zurückschrecken?« fragte sie ernst.
Armand sah ihr mit gleicher Aufrichtigkeit in die Augen.
»Traust du mir das zu?« fragte er leise.
Sie sanken sich wortlos in die Arme.
»Wir sind einig,« sagte Berthilde, sich mit Thränen in den Augen von ihm losmachend, »was auch geschehen möge, Armand, nicht wahr? ...«
»Was auch geschehen möge, einen Unschuldigen lassen wir nicht verurteilen!« sagte er festen Tones. »Heute nachmittag suche ich noch jemand auf, der Zeugnis für ihn ablegen kann ... es fragt sich freilich, ob sie will ...«
»Wer ist es denn?«
»Ach, eine gleichgültige Person ... ich kann dir's nicht sagen ...« warf er, seinen Gedanken nachhängend, hin.
»Aber ich will dir etwas sagen!« rief Berthilde plötzlich mit Ungestüm. »Wir müssen unbedingt heiraten.«
Er starrte sie verständnislos an.
»Ja, ohne Verzug, trotz der Trauer, trotz der Untersuchung, trotz aller Schicklichkeitsrücksichten oder vielmehr gerade diesen zuliebe! Es gibt so vieles, was du mir jetzt nicht sagen kannst, weil es nicht passend ist ... vielleicht weiß ich mehr davon, als du denkst, denn schließlich ... man hat ja Dienstboten, und die reden frei, höchst ungezwungen sogar ... Ich wette, daß ich weiß, wer Grésil retten kann ... eine Karoline Brichol?«
Armand nickte.
»Nun, siehst du, über diese Frau zum Beispiel willst du nicht mit mir sprechen, weil sich's nicht schickt, weil ich ein junges Mädchen bin. Und so gibt es noch tausenderlei Dinge, die wir miteinander bereden sollten ... Ja, wenn wir verheiratet wären! Was hindert uns, es zu sein? Ein Vorurteil! Würdest du deinen Vater weniger betrauern, wenn ich deine Frau wäre? Nein! Also denn, wir müssen heiraten!«
»Ich wäre ja am glücklichsten darüber, denn wahrhaftig, Berthilde, ich bin übel dran ... Sobald du gehst, bin ich allein, die Mutter verschließt mir ihre Thüre ... Ach! Für sie wäre es die allergrößte Wohlthat, dich immer um sich zu haben, aber ...«
»Wir wollen's mit deiner Mutter besprechen,« erklärte Berthilde. »Meine Tante von dieser Notwendigkeit zu überzeugen, wäre vorderhand vergebene Liebesmüh', sobald jedoch deine Mutter eingewilligt hat, liegt die Sache anders. Die Tante fügt sich immer den Beschlüssen andrer, sie will nur selbst keine fassen.«
»Ob sie sich diesem fügt, ist mir denn noch fraglich,« bemerkte Armand. »Indes muß ich aber ernstliche Schritte für Grésil thun.«
Ein leichtes Geräusch ward vernehmbar; Frau Loysel war ins Zimmer getreten und sah die jungen Leute fragend an.
»Grésil?« fragte sie mit ihrer erloschenen Stimme.
Armand und Berthilde verständigten sich durch einen Blick. Wenn sie sich aus freien Stücken wieder mit der Wirklichkeit beschäftigen wollte, warum sie davon fernhalten?
»Grésil wurde heute früh verhaftet,« berichtete Armand mit einigem Zögern.
Eine Purpurglut schoß in die Wangen der armen Frau, um rasch tiefer Blässe zu weichen.
»Aber schuldig ist er nicht, dessen bin ich gewiß, und ich biete alles auf, um ihn aus der Haft zu befreien,« fuhr Armand fort.
Frau Loysel starrte schweigend auf ihre schmale Hand und den Ehering, der ihr viel zu weit geworden war.
»Du weißt doch auch, daß er nicht schuldig sein kann, Mama?«
Wieder huschte eine flammende Röte über Frau Loysels Gesicht. Gesenkten Hauptes schritt sie den jungen Leuten voran ins Speisezimmer, wo die Mahlzeit an diesem Tag noch trübseliger verlief als sonst. Es lastete eine peinliche Verlegenheit auf den Tischgenossen, und auch die helle Septembersonne vermochte den trüben Raum nicht aufzuheitern.
»Wir müssen aus diesem Haus hinaus!« rief Armand endlich in nervöser Erregung. »Mir ist, als ob wir alle drei hier den Verstand verlieren! Ich werde irgendwo in der Nachbarschaft ein sonniges Landhaus mieten, wo wir wohnen können, bis ... alles vorüber ist. Bist du damit einverstanden, Mama?«
»Mir ist's einerlei,« versetzte die Witwe, ohne ihn anzusehen.
»Ich habe dir noch andre Vorschläge zu machen, Mama,« fuhr er, kühner werdend, fort. »Findest du es nicht auch unbequem und peinlich für Berthilde, den Tag über hier zu sein und immer wieder nach Hause zu müssen? Es wäre doch viel angenehmer, sie könnte ganz bei uns sein ... als meine Frau ...«
Frau Loysel sah die Verlobten an.
»Ihr wollt heiraten?« fragte sie ohne Verwunderung.
»Wenn du nichts dagegen hast, ja, Mama! Du wirst einsehen, daß es ein Unding wäre, das Trauerjahr abzuwarten ... und wenn es sich einrichten läßt, wäre es am besten, uns nächste Woche trauen zu lassen ... was hältst du davon, Mama?«
»Berthilde muß ihre Tante fragen!«
»Für mich liegt die Entscheidung in deiner Hand, Mama,« entgegnete Berthilde. »Du mußt darüber entscheiden, ob es dich nicht verletzt, wenn wir jetzt noch einen Schritt thun, der den Leuten zu reden geben wird ...«
Frau Loysel starrte auf ihren Trauring.
»Ob sie etwas mehr oder weniger schwatzen, ist mir einerlei ...«
Das war gewissermaßen eine Zustimmung, wofür ihr der Sohn und die Braut mit einem innigen Kuß dankten.
»Es versteht sich von selbst, daß wir uns in aller Stille trauen lassen ... wenn du willst, spät am Abend,« sagte Armand.
Seine Mutter nickte zustimmend.
»Ich gehe dann ins Kloster,« erklärte sie ruhig.
»Ins Kloster?« rief Armand bestürzt. »Welch ein Gedanke! Davon kann keine Rede sein!«
Wieder wechselte Frau Loysel die Farbe, und ihre Augen irrten unstät im Zimmer umher.
»Ich denke schon lange dran,« sagte sie. »Hier bin ich zu unglücklich ... Die Luft dieses Hauses drückt mich zu Boden und ich ... ich fürchte mich ...«
»Fürchten? Wovor sollte sich mein Herzensmütterchen fürchten?« fragte Armand zärtlich.
»Ich fürchte mich!« wiederholte die Mutter zögernd. »In einem Kloster werde ich Ruhe haben ... da ist alles hell und weiß ... da sind große Fenster ... Wenn ich mich nicht gescheut hätte, dich allein zu lassen, wäre ich längst dort. Mir graut vor diesem Haus ... mein Zimmer ...«
Sie schreckte fröstelnd zusammen.
»Mein Zimmer,« fuhr sie fast unhörbar fort, »ist ein Ort, wo ich lieber sterben als wohnen möchte ... es wundert mich, daß ich noch nicht gestorben bin ... Ach, ich wollte, ich wäre tot!«
»Wir reisen ab, Mama, gleich morgen.«
»Nein! So lange die ... die Sache nicht abgeschlossen ist, müssen wir bleiben. Ich will bleiben!«
»Warum?«
»Ich will es!« wiederholte sie mit einem Anflug von Gereiztheit.
Berthilde bedeutete ihrem Verlobten durch einen Blick, daß man der armen Frau nicht widersprechen dürfe.
»Wann können wir uns trauen lassen, Mama?« fragte er, um sie auf andre Gedanken zu bringen.
»Wann ihr wollt. Angemeldet seid ihr ja schon auf dem Standesamt. Ihr könnt alles einrichten, wie ihr wollt.«
Sie stand auf; all ihre Bewegungen waren scheu, ängstlich, unstät. Im Vorübergehen warf sie einen Blick ins Wohnzimmer.
»Du mußt dir andre Möbel anschaffen, Armand,« bemerkte sie. »Nichts vom alten Leben darfst du in dein neues hinübernehmen ... auch mich nicht.«
Dann glitt die schwarze Gestalt schattenhaft hinaus.
»Sie ist geistig gestört!« seufzte Armand.
»Das weiß ich denn doch nicht,« bemerkte Berthilde nachdenklich.
Frau Firminy geriet außer sich, als ihr der Heiratsplan vorgelegt wurde. Heiraten, während die Seele des unvorbereitet, jedenfalls im Stand der Sünde, wenn nicht gar der Todsünde, Verstorbenen noch in den finstersten Regionen des Fegefeuers umherirrte! Das war ja unsittlich oder, was schwerer wiegt, höchst unschicklich! Nein, in diesem Punkt war sie unerbittlich! Nur zwei- oder dreimal im Leben hatte sie einen eigenen Willen geltend gemacht, dies war ein weiterer Fall, wo es geschah.
Als Berthilde ihrem Verlobten diese Nachricht brachte, konnte er seinen Groll nicht verhehlen; er kam auch eben vom Hilfsstaatsanwalt, der ihm die Erlaubnis, Grésil zu sprechen, verweigert hatte, was ihn tief verstimmte.
»Wenn wir's ohne ihre Zustimmung thäten?« sagte er. »Schließlich hat Frau Firminy rechtlich nichts dreinzureden.«
»Ich würde ihr aber nicht gern wehthun,« versetzte Berthilde traurig. »Vielleicht gelingt mir's, sie doch noch umzustimmen ... gedulden wir uns.«
Armand ging zu seiner Mutter, um ihr Frau Firminys leidige Einsprache mitzuteilen. Gleich beim Eintreten fiel ihm auf. daß ihr Zimmer verändert aussah, er wußte aber nicht recht, worin die Veränderung bestand.
»O Mama,« rief er mitten in der Erörterung über die Trauung, »du hast alle Bilder von Papa weggenommen!«
In der That fehlten sowohl die Bilder, als eine Menge Nippessachen, die der Notar seiner Frau im Lauf der Zeit geschenkt hatte.
»Ja, ich habe sie eingepackt,« erwiderte die Mutter.
Diese Mahnung an ihren Plan einer Abreise betrübte Armand noch mehr und ließ ihn doppelt scharfe Worte für Frau Firminys Härte finden.
»Sie hat aber ganz recht,« entgegnete die Mutter zu seiner Verblüffung. »Sie hat recht von ihrem Standpunkt aus, wie ihr vom eurigen recht habt. Mir ist es gleichgültig ... das heißt, nein, ich wüßte euch lieber verheiratet ... wenn es aber nicht sein kann ... O Armand!« rief sie plötzlich, vom Schmerz überwältigt, »ich möchte fort von hier! O bringe mich weg, Armand!«
Dieser Aufschrei des gequälten Herzens erschütterte den Sohn aufs tiefste. Er schloß die Mutter in seine Arme und bedeckte ihr Gesicht mit Küssen, aber schon war wieder die alte Stumpfheit über sie gekommen.
»Ach, wenn ich könnte, wie ich wollte, meine Herzensmama, da würden wir ja auf der Stelle miteinander abreisen, aber ich muß bleiben, um dem armen Grésil aus der Not zu helfen.«
Sie löste sich fast heftig aus seiner Umarmung.
»Dieser Bursche ist dir also lieber als deine Mutter?« warf sie trocken hin.
»Was für eine Idee, Mama! Aber es ist eine Pflicht, deren Erfüllung ich mich nicht entziehen darf. Es soll nicht heißen, dieser Unglückliche sei zweimal durch unsre Schuld unschuldig verurteilt worden!«
»Bist du ganz gewiß, daß er damals unschuldig war?« fragte sie mit brennendem Blick.
»Unbedingt.«
»Und in diesem Falle auch?«
»In diesem Falle ebenso.«
Sie kehrte ihm den Rücken zu, und als er nach ihrer Hand griff, rief sie ungestüm: »Laß mich! Laß mich in Ruhe! Ich brauche dich nicht!«
»Aber Mama,« sagte er, betroffen und traurig über diese Abweisung, »du weißt ja selbst, daß er nicht schuldig ist ...«
»Er oder ein andrer!« herrschte sie ihn mit ihrer seltsam veränderten Stimme an. »Warum er nicht, so gut wie ein andrer?«
Es geschah zum erstenmal, daß Armand die Mutter heftig sah. Der Notar und in früheren Zeiten Dienstboten, die dann sofort entlassen wurden, hatten allerdings die Ausbrüche dieser verschlossenen Natur kennen gelernt.
»Was du da sagst, ist gräßlich!« stammelte er, von der entsetzlichen Vorstellung geängstigt, seine Mutter werde wahnsinnig. »Ich weiß aber wohl, daß du gar nicht so denkst, Mama. Sprechen wir lieber nicht mehr über Grésil, es scheint dich aufzuregen.«
Seine Mutter starrte ihn immer noch mit flammenden Augen an, und er schämte sich fast, etwas wie Grauen vor ihr zu empfinden. Würde er denn die Aermste nicht mehr lieben, wenn sie krank, geisteskrank wäre? Ein abscheulicher Gedanke! Er trat auf sie zu und küßte sie zärtlich, was sie unerwidert ließ, und nach ein paar gleichgültigen Bemerkungen verließ er verstörten Sinnes das Zimmer.
Am Tage darauf erhielt Armand die Mitteilung, daß sein Besuch bei Grésil zulässig sei. Er freute sich darüber; aber als er die kahle Zelle des armen Burschen betrat, schnürte sich ihm das Herz so schmerzlich zusammen, daß er keine Worte fand. Grésil war nicht niedergeschlagen, aber die Fassung, die er zur Schau trug, berührte Armand schmerzlicher als die bittersten Anklagen es vermocht hätten.
»Sehen Sie, Herr Armand, es ist des Schicksals Wille,« sagte der Gefangene. »Es hat so kommen müssen ... Hat mich nicht der Teufel geritten, daß ich zu Ihrem Vater gehen und ihm sagen mußte, er werde sein Unrecht bereuen? Nein, nein! Das ist nun einmal Schicksal, und dagegen ...«
»Grésil! Ich bitte dich!« rief Armand, ihm herzlich die Hand drückend. »Meine Braut und ich sind fest entschlossen, alles ... hörst du wohl, alles an deine Befreiung zu setzen! Wenn's nötig ist, trete ich vor den Geschworenen öffentlich als Entlastungszeuge für dich auf ... obwohl das für den Sohn des Ermordeten hart wäre!«
»Ich weiß, wie Sie's meinen, Herr Armand, und ich danke Ihnen,« sagte Grésil, mit Thränen in den Augen.
»Höre mich an ... die Zeit für meinen Besuch ist mir kurz zugemessen ... sage mir, ob du irgend einen Verdacht hast. Ein Thäter muß vorhanden sein, das predigen sie mir immerzu, und du darfst es nicht sein! Wenn du irgend eine Fährte hast, so sprich dich aus, ich werde sie verfolgen.«
»Nein, Herr Armand, ich weiß nichts. Einmal ist mir durch den Sinn gegangen, es könnte Brichol gewesen sein, aber wenn ich's recht überlege, ist's unmöglich. Eine Schlafmütze wie der, nein! Wer den Schuß abgefeuert hat, war ein Gewitzter, Herr Armand! Durchs Fenster habe er geschossen, sagen die Herren ... du liebe Zeit, solch eine kindische Idee!«
»Du glaubst nicht daran?«
»Weder geschossen hat man durchs Fenster, noch ist man eingestiegen! Die Gefahr, gesehen zu werden, war viel zu groß. Wer den Schuß abgefeuert hat, war im Haus, Herr Armand!«
»Im Haus? Aber wie hätte er hereinkommen sollen?«
»Das ist kein Hexenwerk; die Dienstboten lassen ja bei Ihnen alle Thüren offen. Ich bin wohl schon ein Dutzend Mal bis in Ihr Speisezimmer gelangt, ohne daß mir jemand in den Weg gelaufen wäre.«
»Ich weiß nicht, was ich denken soll,« sagte Armand, von der Richtigkeit dieser Bemerkung betroffen. »Brichol kann es also nicht gethan haben?«
»Er hätte gar keinen Grund gehabt, dem Notar übelzuwollen ... im Gegenteil! Was aus mir wird, weiß ich. Wenn sich nicht einer meldet und den Herren sagt: ›Ich bin der Mörder!‹ so ist's um mich geschehen. Wenn das Gericht einmal einen in den Klauen hat, so läßt's ihn nicht mehr los, solange es keinen andern fassen kann ... am liebsten wären ihm beide!«
»Mach keine Witze, Grésil, du thust mir weh. Es muß etwas für dich geschehen. Ich will Frau Brichol aufsuchen, sie kann dir ein Alibi verschaffen ...«
»Wenn sie mag! Ich weiß aber ebenso gewiß, daß sie keine Lust dazu haben wird.«
»Sie wird schwerlich einen Unschuldigen ins Zuchthaus liefern wollen!«
»Meinen Sie? Nun, Sie werden's ja erleben!«
Mit einem schmerzhaften Bewußtsein der Machtlosigkeit schied Armand von dem Gefangenen. Das naturgemäße Verlangen, den Mörder des Vaters bestraft zu sehen, wich mehr und mehr dem Wunsch, die Sache mit Schweigen zu bedecken; ja, so wenig er selbst an diese Möglichkeit glaubte, es wäre ihm am liebsten gewesen, das Gericht hätten einen Selbstmord des Notars angenommen.
Karoline Brichol wohnte im vierten Stock eines neuen Backsteinhauses in einer erst kürzlich angelegten Straße, deren Häuser in großen Abständen voneinander allmählich aus dem Boden wuchsen, und wo es immer nach frischem Kalk roch. Zwei Stuben und ein Kämmerchen, das als Küche diente, bildeten die ganze Behausung; aber am Fenster ihres Wohnzimmers hing ein Käfig mit Kanarienvögelchen, eine Blumenampel, und das war der Ort, wo sie Zukunftsträumen nachhing und heute eine Veränderung ihres Sonntagskleides vornahm.
Auf Armands Klopfen rief sie: »Herein!«, ohne sich von ihrem Platz zu rühren. Nachmittagsbesuche waren ihr keine Seltenheit; schwatzhafte Nachbarinnen oder auch Nachbarn sprachen gern bei der rundlichen Arbeiterin vor, die einen, um ihr Klatsch zuzutragen, die andern, um ihr ein wenig den Hof zu machen. Verschlossen fand man ihre Thüre nie; darin erblickte Karoline Brichol eine Bürgschaft ihres guten Rufs.
Als sie einen männlichen Schritt vernahm, drehte sie in angenehmer Erwartung einer Liebeserklärung oder Neckerei zierlich das Köpfchen; bei Armands Anblick aber erstarb das gewohnheitsmäßige Lächeln auf ihren lüsternen Lippen.
»Herr Armand!« rief sie, wobei ihr die Arbeit zu Boden glitt, die der Besucher aber nicht aufhob. »Eine solche Ehre ...«
»Ich habe mit Ihnen zu reden, Frau Brichol,« sagte Armand, gänzlich ungerührt von der holden Verwirrung. »Sind wir allein? Haben wir keine Störungen zu fürchten?«
»Allein sind wir,« erwiderte Karoline, von seinem kühlen Ton ernüchtert. »Was eine Störung betrifft, so kann ich dafür nicht gutstehen ... ich pflege meine Vorthüre nie abzuschließen.«
Die übertriebene Höflichkeit von vorhin war verflogen.
»Wollen Sie nicht heute eine Ausnahme machen?«
»Aber, Herr Armand, was würden die Leute denken?« rief sie mit einem Lächeln, das eher ein Grinsen zu nennen gewesen wäre.
»Was wäre denn dabei? Aber kommen wir zur Sache, Frau Brichol. Sie wissen, daß Grésil verhaftet wurde?«
»Zum zweitenmal in vier Wochen, ja,« versetzte sie frech.
»Gewiß, zum zweitenmal, und zwar abermals unschuldigerweise,« sagte Armand, in dem trotz aller guten Vorsätze der Zorn aufstieg.
»Was geht's mich an, Herr Armand?« fragte sie, ihre Vögel betrachtend.
»Einigermaßen doch, denn um die Zeit, wo das Verbrechen geschah, war Grésil mit Ihnen zusammen droben auf dem Berg.«
Karoline erschrak. Sprach er mit solcher Sicherheit, weil er sie dort gesehen hatte? Ach nein! Es hatte ja alles haarklein in den Zeitungen gestanden, er wollte sie nur ausforschen! Er wollte etwas herausbringen, sie aber wollte schweigen, folglich war sie im Vorteil.
»Wer Ihnen das gesagt hat, hat Ihnen einen Bären aufgebunden, Herr Armand,« erwiderte sie so sanft wie ein Lämmlein. »Ich habe mich gerade an diesem Tage früher auf den Heimweg gemacht, weil ich eine Freundin besuchen wollte, und bin unterwegs niemand begegnet.«
Sie sah Armand fest ins Gesicht bei diesen Worten.
»Reden wir ernsthaft, Frau Brichol,« entgegnete er ruhig. »Es handelt sich um keinen Scherz und kein Wortgeplänkel, sondern darum, daß Sie den Mann entweder befreien, oder in noch unabsehbare Gefahr stürzen können. Bedenken Sie dabei, daß Ihre Offenheit Ihnen selbst keinen Schaden bringen kann! Grésil ging ins nächste Dorf, weshalb, das weiß ich nicht, und das hat auch nichts mit der Sache zu thun; unterwegs traf er Sie, als Sie von der Arbeit nach Hause gingen. Sie haben ein paar Minuten geplaudert, das ist alles ... Besinnen Sie sich aber wohl, um welche Zeit es war. Damit ist der Beweis geliefert, den wir brauchen, um ihn in Freiheit zu setzen. Wenn Sie ihn zum Beispiel gegen halb sieben Uhr fünf oder sechs Kilometer von Clermont auf der Straße nach dem Puy de Dôme gesprochen haben, so kann er um diese Zeit nicht in einem Haus am Marktplatz gewesen sein.«
Karoline hatte ihm mit gespannter Aufmerksamkeit zugehört.
»Und damit wäre bewiesen, daß er nicht der Mörder des Herrn Notars sei?«
»Ganz gewiß. Ueberdies wird Ihre Aussage auch noch Unterstützung finden durch Leute, die mit ihm an jenem Abend beim Löschen des Waldbrandes thätig waren.«
»Aber wenn andre ihn auch gesehen haben, warum soll ich's denn gerade sein, die ihm begegnet ist?« fragte sie schlau.
»Weil diese Leute nicht bekannt sind ... Arbeiter, Taglöhner, die man erst ausfindig machen müßte, während Sie hier ansässig sind, eine bekannte, anständige Frau!«
Die »anständige Frau« hatte Armand einige Ueberwindung gekostet, aber was thut man nicht, um seinen Zweck zu erreichen.
»Das begreife ich,« bemerkte Karoline. »Es wäre freilich ein großes Glück für den armen Herrn Grésil, wenn ich ihm begegnet wäre! Schade, daß es nicht der Fall war.«
Sie blickte mit kindlicher Unbefangenheit zu dem jungen Mann aus, der ihr mit Vergnügen den Hals umgedreht hätte.
»Besinnen Sie sich doch darauf,« versetzte er, sich zur Ruhe zwingend. »Sie haben ja keinen Grund, Grésil zu zürnen.«
Ein spöttischer Blick zuckte in Karolinens Augen auf. Noch fühlte sie an ihrer Schulter den rauhen Griff, womit er sie geschüttelt hatte, noch lag ihr der Klang seiner verächtlichen Worte in den Ohren, noch empfand sie die Angst vor dem Feuertod in der Heide, und welche Gelegenheit zur Rache wurde ihr geboten! So bequem, so einfach, sie durfte ja nur schweigen!
»Da haben Sie ganz recht, Herr Armand,« sagte sie, »wie käme ich dazu, dem armen Herrn Grésil böse zu sein? Aber ihm zuliebe den Herren vom Gericht ein Geschichtchen erzählen, woran kein wahres Wort wäre, kann ich doch auch nicht! Das heißt man, glaube ich, falsches Zeugnis ablegen!«
So arglos diese Augen auch zu blicken versuchten, Armand sah doch die Bosheit darin blitzen, und bald sollte ein weiterer Kniff ihm Einsicht in Karoline Brichols Gutherzigkeit gewähren.
»Ich begreife ja wohl, daß Sie so an ihm hängen,« fuhr sie fort. »Das geschieht schon der Fräulein Braut wegen! Man sagt ja, sie hätte ihn als Kind all ihren andern Spielkameraden vorgezogen, sogar Ihnen, Herr Armand. Das ist natürlich mit den Jahren anders geworden, aber von so einer Kinderliebe bleibt immer etwas zurück ... man sieht's ja daran, daß Sie sich solche Mühe für ihn geben! Ja, ja, das hat seinen guten Grund, aber ich habe keinen, dem Gericht etwas vorzulügen, das sehen Sie doch ein?«
»Sie haben eine böse Zunge, Frau Brichol,« versetzte Armand, zwar äußerlich ruhig, aber innerlich bebend. »Etwas vorsichtiger sollten Sie doch sein ... vielleicht sind Sie selbst nicht so sicher vor Gerede ...«
»Aber Herr Armand, da thun Sie mir unrecht! Ihr Herr Vater, der kannte mich besser, denn er war immer sehr gütig gegen mich.«
Es war ein frecher, schamloser Blick, den sie jetzt auf den jungen Mann warf, der mit einer stummen Verbeugung auf die Thüre zuschritt. Sie lief ihm nach, begleitete ihn bis zur Treppe und rief mit schmetternder Stimme, daß es wie eine Fanfare durchs ganze Haus tönte: »Schönen Dank für Ihren Besuch, Herr Loysel! Mein Mann wird sehr bedauern, daß er nicht auch das Vergnügen hatte!«
Damit kehrte sie zu ihren Kanarienvögeln und ihrem Sonntagskleid zurück, während Armand von Zorn und Ekel erfüllt eiligen Schrittes nach Hause ging.