Brüder Grimm
Deutsche Sagen
Brüder Grimm

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König Karl

Das Reich stund leer, da nahmen die Römer die Krone, setzten sie auf St. Peters Altar nieder und schwuren vor all dem Volke, daß sie aus ihrem Geschlechte nimmermehr Könige erwählen wollten, sondern aus fremden Landen.

Damals war Sitte, daß die Römer Jünglinge aus andern Reichen an ihrem Hofe fleißig und löblich auferzogen. Kamen sie zu den Jahren, daß sie das Schwert führen mochten, so sandten die Römer sie wieder fröhlich heim in ihr Land, und darum dienten ihnen alle Reiche in großer Furcht.

Da geschah, daß Pippin, ein reicher König zu Kerlingen, zwei Söhne hatte; der eine hieß Leo, der wurde zu Rom erzogen und saß auf St. Peters Stuhl. Der zweite hieß Karl und war noch daheim.

Eines Nachts, da Karl entschlief, sprach eine Stimme dreimal zu ihm: »Wohlauf, Karl, Lieber! Fahr gen Rom, dich fordert Leo, dein Bruder.«

Schier bereitete er sich zu der Fahrt, offenbarte aber niemand, was er vorhatte, bis er den König, seinen Vater, um Urlaub bat; er sprach: »Ich will gerne den Papst sehen und zu Rom in der Hauptstadt beten.«

Mit reicher Gabe ausgerüstet, hob sich Karl auf den Weg und betete mit nassen Augen zu Gott, still, daß es niemand innenwurde. Zu Rom ward er von Alten und Jungen wohl empfangen; der Papst sang eine heilige Messe; alle Römer sprachen, daß Karl ihr rechter Vogt und Richter sein sollte.

Karl achtete ihrer Rede nicht, denn er war, um zu beten, dahin gekommen und ließ sich durch nichts irren. Mit bloßen Füßen besuchte er die Kirchen, flehte inniglich zu Gott und dingte um seine Seele. So diente er Gott vier Wochen lang; da warfen sich der Papst, sein Bruder, und all das Volk vor ihm nieder, er empfing die teure Krone, und alle riefen Amen.

König Karl saß zu Gericht; der Papst klagte ihm, daß die Zehenden, Wittümer und Pfründen von den Fürsten genommen wären. »Das ist ja der Welt Brauch«, sagte Karl, »was einer um Gottes willen gibt, nimmt der andere hin. Wer diesen offenen Raub begeht, ist kein guter Christ. Ich kann jetzt diese Klage noch nicht richten; erlebe ich aber den Tag, daß ich es tun darf, so fordre es mir St. Peter ab.«

Da schieden sich die Herren mit großem Neid; Karl wollte nicht länger in diesem Lande bleiben, sondern fuhr nach Riflanden. Die Römer hatten wohl erkannt, daß er ihr rechter Richter wäre; aber die Bösen unter ihnen bereuten die Unterwerfung. Sie drangen in St. Peters Münster, fingen den Papst und brachen ihm beide Augen aus. Darauf sandten sie ihn blind nach Riflanden dem Könige zum Hohn. Der Papst saß auf einen Esel, nahm zwei Kapellane und zwei Knechte, die ihm den Weg weisen sollten; auf der Reise stand er Kummer und Not aus. Als er zu Ingelnheim in des Königs Hof ritt, wußte noch niemand, was ihm geschehen war; still hielt er auf dem Esel und hieß einen seiner Kapellane heimlich zu dem König gehen: »Schone deiner Worte und eile nicht zu sehr; sage den, König nur, ein armer Pilgrim wollte ihn gerne sprechen.«

Der Priester ging und weinte, daß ihm das Blut über den Bart rann. Als ihn der König kommen sah, sagte er: »Diesem Mann ist großes Leid getan; wir sollen ihm richten, wo wir können.«

Nieder kniete der Priester, kaum vermochte er zu sprechen. »Wohlan, reicher König! Komm und rede mit einem deiner Kapellane, dem große Not geschehen ist.« Karl folgte dem Priester eilends über den Hof und hieß die Leute vor sich weichen. »Ihr guten Pilgrime«, sprach er, wollt ihr hier bei mir bleiben, ich beherberge euch gerne; klaget mir euer Leid, so will ich's büßen, wo ich kann.«

Da wollte der arme Papst zu dem König sich kehren, sein Haupt stand zwerch, sein Gesicht scheel; er sprach: »Daß mir Gott deiner Hilfe gönne! Es ist erst kurze Zeit, daß ich dir zu Rom die Messe sang; damals sah ich noch mit meinen Augen.« An diesen Worten erkannte König Karl seinen Bruder, erschrak so heftig, daß er zu Boden fallen wollte, und raufte die Haare aus. Die Leute sprangen herzu und hielten ihren Herrn. »Zu deinen Gnaden«, klagte Leo, »bin ich hierhergekommen, um deinetwillen hab ich die Augen verloren; weine nicht mehr, lieber Bruder, sondern loben wir Gott seiner großen Barmherzigkeit!« Da war großer Jammer unter dem Volke, und niemand mochte das Weinen verhalten.

Als nun der König alles von dem Papst erfahren hatte, sagte er: »Deine Augen will ich rächen oder nimmermehr das Schwert länger führen.« Er sandte Boten zu Pippin, seinem Vater, und den Fürsten in Kerlingen. Alle waren ihm willig, die Boten eilten von Lande zu Lande, von Herren zu Mannen; Bauleute und Kaufmänner, die niemand entbieten konnte, ließen freiwillig Hab und Gut und folgten dem Heere. Sie zogen sich zusammen wie die Wolken. Der Zug ging über die Alpen durch Triental, eine unzählige Schar und die größte Heerfahrt, die je nach Rom geschah.

Als das Heer so weit gekommen war, daß sie Rom von ferne erblickten, auf dem Mendelberg, da betete der werte König drei Tag und drei Nacht, daß es den Fürsten leid tat, und sie sprachen: wie er so lange ihre Not ansehen möchte, nun sie so weit gekommen wären? Der König antwortete: »Erst müssen wir zu Gott flehen und seinen Urlaub haben, dann können wir sanft streiten; auch bedarf ich eines Dienstmannes in dieser Not, den sende mir Gott gnädiglich.«

Früh am vierten Morgen scholl die Stimme vom Himmel, nicht länger zu warten, sondern auf Rom loszuziehen; »die Rache soll ergehen, und Gottes Urteil sei erfolgt.«

Da bereitete man des Königs Fahne. Als das Volk den Berg herabzog, ritt Gerold dem König entgegen. Herrlich redete ihn der König an: »Lange warte ich dein, liebster unter meinen Mannen!« Karl rückte den Helm auf und küßte ihn. Alle verwunderte es, wer der Einschilde wäre, den der König so vertraut grüßte. Es war der kühne Gerold, dem das schwäbische Volk folgte in drei wonnesamen Scharen. Da verlieh ihnen Karl, daß die Schwaben dem Reich immer vorfechten sollten.

Sieben Tage und sieben Nächte belagerte das Heer Rom und den Lateran, an denen niemand wagte, mit ihnen zu streiten. Den achten Tag schlossen die Römer das Tor auf und ließen den König ein. Karl saß zu Gerichte, die Briefe wurden gelesen, die Schuldigen genannt. Als man sie vorforderte, so leugneten sie. Da verlangte der Kaiser Kampf, daß die Wahrheit davon erscheine. Die Römer sprachen: das wäre ihr Recht nicht, und kein König hätte sie noch dazu gezwungen; ihre Finger wollten sie recken und schwören. Da sagte er. »Von eurem Rechte will ich keinen treiben, aber schwören sollt ihr mir auf Pankratius, dem heiligen Kinde.«

Sie zogen in Pankratius' Stift und sollten die Finger auf das Heiligtum legen. Der erste, welcher schwören wollte, sank zu Boden. Da verzweifelten die andern, wichen zurück und begannen zu fliehen. Zornig ritt ihnen der König nach, drei Tage ließ er sie erschlagen, die Toten aus St. Peters Dome tragen, den Estrich reinigen und den Papst wieder einführen. Darauf fiel Karl vor dem Altar nieder und bat um ein Wunder, damit das böse Volk der Römer zum Glauben gebracht würde. Auch forderte er St. Peter, den Türhüter des Himmels, daß er seinen Papst schauen sollte: »Gesund ließ ich ihn in deinem Hause; blind hab ich ihn gefunden; und machst du ihn nicht wieder sehend heut am Tage, so zerstöre ich deinen Dom, zerbreche deine Stiftung und fahre heim nach Riflanden.«

Da bereitete sich Papst Leo, und als er die Beichte ausgesprochen, sah er ein himmlisches Licht, kehrte sich um zu dem Volk und hatte seine beiden Augen wieder. Der König samt allem dem Heer fielen in Kreuzesstellung und lobten Gott. Der Papst weihete ihn zum Kaiser und sprach allen seinen Gefährten Ablaß. Da war große Freude zu Rom.

Karl setzte sein Recht und Gesetz mit der Hilfe des himmlischen Boten, und alle Herren schwuren, es zu halten. Zuerst richtete er Kirchen und Bischöfe und stiftete ihnen Zehenden und Wittümer. Alsdann verordnete er über die Bauleute (Bauern): Schwarz oder Grau sollten sie tragen und nicht anders, einen Spieß daneben, rinderne Schuhe, sieben Ellen zu Hemd und Bruch rauhes Tuches; sechs Tage bei dem Pfluge und der Arbeit, an dem Sonntag zur Kirche gehen mit der Gerte in der Hand. Wird ein Schwert bei dem Bauern gefunden, so soll er an den Kirchzaun gebunden und ihm Haut und Haar abgeschlagen werden; trägt er Feindschaft, so wehre er sich mit der Gabel. Dieses Recht setzte König Karl.

Da wuchs die Ehre und der Name des Königs, seine Feinde besiegte er; Adelhart, Fürsten von Apulia, ließ er das Haupt abschlagen, und Desiderius, Fürst von Sosinnia, mußte auf seine Gnade dingen; dessen Tochter Aba nahm sich Karl zur Frauen und führte sie an den Rhein. Die Westfalen ergaben ihm ihr Land, die Friesen bezwang er, aber die Sachsen wollten ihn nicht empfangen. Sie pflogen ihre alte Sitte und fochten mit dem Kaiser, daß er sieglos wurde. Doch Wittekind genoß es nicht, denn Gerold schlug ihn mit Listen; es geschah noch mancher Streit, eh die Sachsen unterworfen wurden.

Darauf kehrte Karl nach Spanien und Navarra, focht zwei lange Tage und behauptete die Walstatt. Er mußte nun eine Burg, geheißen Arl, belagern, länger als sieben Jahre, weil ihnen Wein und Wasser unter der Erde zufuhr: bis endlich der König ihre List gewahrte und die Gänge abschnitt. Da vermochten sie nicht länger zu streiten, kamen vor das Burgtor und fochten mit festem Mut. Keiner bot dem andern Friede, und Christen und Heiden wurden so viel untereinander erschlagen, daß es niemand sagen kann. Doch überwand Karl mit Gott und ließ die Christen in wohlgezierten Särgen bestatten.

HieraufDen hier folgenden Teil der Sage von dem nassen Stein und dem Schäftenwald kennt auch Pomarius in seiner Chronik, S. 54. nahm er die Burg Gerundo ein, zwang sie mit Hunger und taufte alle Leute darin. Aber in Gallacia tat ihm der Heidenkönig großes Leid, die Christen wurden erschlagen, Karl allein entrann kaum. Noch heute ist der Stein naßKarl, 116 b. Er muß von dem Stein mit Gewalt weggetragen werden., worauf heißweinend der König saß und Gott seine Sünden klagte: »Gnade, o Herr, meiner Seele, und scheide meinen Leib von dieser Welt! Nimmer kann ich wieder froh werden.« Da kam ein Engel, der tröstete ihn: »Karl, du bist Gott lieb, und deine Freude kehret schier wieder; sende deine Boten eilends heim und mahne Frauen und Jungfrauen, daß sie dir deine Ehre wiedergewinnen helfen.«

Die Boten eilten in alle seine Länder und sammelten die Mägde und Jungfrauen, fünfzigtausend und drei und sechsundsechzig in allem. An einem Ort, geheißen Karles Tal, bereiteten die Mägde männlich sich zur Schlacht. Der Heiden Wartleute nahm es wunder, woher diese Menge Volkes gekommen war. »Herr«, sprachen sie zu ihrem Könige, »die Alten haben wir erschlagen, die Jungen sind hergekommen, sie zu rächen; sie sind stark um die Brüste, ihr Haar ist ihnen lang, schön ist ihr Gang; es ist ein vermessenes Volk, gegen das unser Fechten nicht taugen wird; und was auf diesem Erdboden zusammenkommen könnte, würde sie nicht bestehen, so vreisam sind ihre Gebärden.«

Da erschrak der Heide, seine Weisen rieten, daß er dem Kaiser Geisel gab, sich und sein Volk taufen ließ. So machte Gott die Christen sieghaft ohne Stich und Schlag, und die Mägde erkannten, daß der Himmel mit ihnen war.

Karl und die Seinen zogen heim. Die heermüden Heldinnen kamen zu einer grünen Wiese, steckten ihre Schäfte auf und fielen in Kreuzstellung, um Gott zu loben. Da blieben sie über Nacht; am andern Morgen grünten, laubten und blühten ihre Schäfte. Davon heißet die Stelle der Schäftenwald, wie man noch heutigestages sehen mag. Der König aber ließ, Christus und der heiligen Marien zu Ehren, daselbst eine reiche Kirche bauen.

Karl hatte eine Sünde getan, keinem Menschen auf Erden wollt er sie beichten und darin ersterben. In die Länge aber wurde ihm die Bürde zu schwer, und da er von Egidius, dem heiligen Manne, gehört hatte, so legte er ihm Beichte ab aller Dinge, die er bis dahin getan. »Außerdem«, sprach er, »habe ich noch eine Sünde auf mir, die mag ich dir nicht eröffnen und bin doch in großen Ängsten.« Egidius riet ihm, dazubleiben bis den andern Morgen; beide waren über Nacht zusammen, und keiner pflog Schlafes. Am andern Tage früh bat der König den heiligen Mann, daß er ihn dannen fertigte. Da bat Egidius Gott von Herzen und eröffnete ihm des Königs heimliche Not; als er die Messe endete und den Segen sprach, sah er einen Brief geschrieben ohne Menschenhand, vom Himmel gesandt. Den wies er dem Könige, und Karl las daran: »Wer seine Schuld inniglich bereut und Gott vertraut, die fordert er nimmermehr.«

Sollte man alle Wunder des Königs erzählen, so wäre lange Zeit nötig. Karl war kühn, schön, gnädig, selig, demütig, stet, löblich und furchtlich. Zu Aachen liegt er begraben.

 


 


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