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Anonyme Briefe.

Seit einiger Zeit ward Andreas Grumbach, der Präsident des Klubs der Industriellen, durch häufig wiederkehrende anonyme Briefe behelligt, die indessen ihren Zweck nur in recht unvollkommenem Maße erfüllten. Andreas Grumbach zählt, vermöge seines Reichtums, seines Ansehens in geschäftlichen Kreisen und seiner gesellschaftlichen Stellung zu den Großen dieser Welt, und diese lassen sich durch Briefe so leicht nicht ins Bockshorn jagen. Wenn man täglich seine hundert und mehr Briefe empfängt und durchfliegt, so wird man bald doch recht abgestumpft, und mancher Absender würde sehr enttäuscht sein in seinen Erwartungen und etwaigen Hoffnungen, wenn er selber sähe, wie wenig tief die moralische Wirkung geht, die er mit seinem Schreiben zu erzielen gedachte. Da ist keine Spur mehr von jenen Gemütsbewegungen, welchen der beim Anblick eines Briefträgers unterworfen ist, der alle heiligen Zeiten einmal einen Brief erhält.

Andreas Grumbach kannte die Briefe bald. Es war immer dasselbe eigentümliche Papier und sie wiesen immer dieselbe eigentümliche steile Handschrift auf, und er warf sie nun immer uneröffnet in den Papierkorb. Damit wäre die Sache abgetan gewesen. Es kam aber etwas dazu, was den Fall einigermaßen komplizierte. Auch Grumbachs Gemahlin wurde mit derartigen Briefen förmlich überschüttet und sie brachte ihnen gegenüber nicht dieselbe kühle Philosophie auf, wie ihr Mann. Sie war unglücklich, weinte viel, ward nervös und getraute sich gar nicht mehr unter die Leute. Alles Zureden half nichts. Sie kam aus den Erregungen gar nicht mehr heraus, sie hatte keine frohe Stunde mehr und ihr Leben war geradezu zerstört.

Auch Frau Grumbach nahm eine hervorragende Stellung in der Gesellschaft ein und sie war auf sie ängstlicher bedacht, als es wohl unumgänglich nötig gewesen wäre. Denn niemand dachte daran, sie zu bestreiten oder gar zu untergraben; aber in ihr selbst wirkte noch ein Gefühl der Unsicherheit. Sie war die kleine Schauspielerin Violet Moorlank, als Grumbach sie nahm, und daher noch die Unsicherheit. Nie hatte sich zwar die üble Nachrede an sie herangewagt, aber die heimliche Angst, daß die Gesellschaft sie nicht werde anerkennen und für voll nehmen wollen, war sie doch niemals ganz los geworden. Diese Angst war nun ganz überflüssig; denn ihres Gatten Ansehen war gefestigt und stark genug, um auch ihre Stellung zu einer durchaus unangefochtenen zu machen, aber sie bestand einmal, war nie ganz auszutilgen und ward nun natürlich maßlos gesteigert durch jene infamen Briefe mit ihrem tückischen, hämischen und unsäglich gemeinem Inhalt.

Da entschloß sich denn Andreas Grumbach, doch alles daranzusetzen, um der Sache womöglich ein Ende zu machen. Er hatte ja seinen Freund Dagobert Trostler, den gedienten Lebemann, dessen große Passion es war, sich in der ihm reichlich zugemessenen Zeit der Muße als Amateurdetektiv zu betätigen. Der hatte ihm schon in manchen schwierigen und heiklen Fällen mit seiner Findigkeit und Kunst der Kombination wesentliche Dienste geleistet, er würde sicherlich auch da Rat schaffen können.

Dagobert war Hausfreund bei Grumbachs, und als sie nun wieder einmal zu dritt bei Tische saßen, setzte ihm Grumbach den Fall auseinander, indem er ihm zunächst nur von jenen Briefen sprach, die ihm gesandt worden waren.

»Also das ist es, Frau Violet!« entgegnete Dagobert, sich an die Hausfrau wendend. »Wissen Sie, Gnädigste, daß ich schon ernstlich böse war auf Sie! Sie haben einen Kummer und halten ihn geheim vor mir, sagen mir kein Sterbenswörtchen. Gehört sich das?«

»Wer spricht denn von mir?«

»Wir sprechen nur von Ihnen. Ihr Mann ist ein – Mann und ein Mann setzt sich leicht über gewisse Bübereien hinweg. Ich müßte mich aber schlecht verstehen auf die Psychologie jener anonymen Bestien, wenn ich annähme, daß sie sich damit begnügten, nur den Mann zu quälen, wo sich ihnen eine so schöne Gelegenheit darbietet, auch die Frau zu malträtieren. Das ist ja immer noch das dankbarere und sicherere Unternehmen.«

»Dagobert, vor Ihnen kann man wirklich nichts geheimhalten!« entgegnete Frau Violet. »Nun denn – ja; ich werde malträtiert mit diesen fürchterlichen Briefen, und sie werden mich noch zur Verzweiflung treiben.«

»Es war mir nach den Andeutungen Ihres Mannes nicht schwer, Ihrem Kummer auf den Grund zu kommen. Daß ein Kummer bestand, wußte ich und habe ich Ihnen längst angesehen. Da Sie aber fortgesetzt schwiegen, durfte ich nicht fragen. Wollen Sie mir die Briefe zeigen?«

»Nicht um die Welt!«

»Ich begreife; sie sind zu unflätig, aber schließlich – es wird doch nötig sein, wenn wir versuchen wollen, den Täter oder – die Täterin zu entdecken.«

»Die Täterin? So schreibt keine Frau!«

»Hüten wir uns vor vorgefaßten Meinungen! Sie kennen meine Anschauungen, Frau Violet. In allem Guten und Großen stelle ich die Frau höher als den Mann; in allem Bösen, oder sagen wir lieber in aller Bosheit stelle ich sie tiefer. Jedenfalls geben Sie mir die Briefe und zwar alle, die Sie haben. Grumbach hat die seinigen weggeworfen. Das war übereilt und ist sehr schade. Je mehr Material ich habe, desto eher kann ich hoffen, eine Spur zu entdecken.«

Frau Violet brachte die Briefe, einen ganzen Stoß, wohl an sechzig oder achtzig Stück.

»Sie dürfen sie aber nicht in meiner Gegenwart lesen,« verwahrte sich Frau Violet, »ich müßte vor Scham in die Erde sinken.«

»Ich werde sie zu Hause studieren,« beruhigte sie Dagobert. »Untersuchen wir also hier zunächst nur einige Äußerlichkeiten. Die Briefe sind alle vollkommen gleichförmig. Resedagrünes Papier mit der Ambition elegant zu sein, und dabei doch nur eine billige und schlechte Imitation des gediegenen geschöpften holländischen Büttenpapieres – leider!«

»Warum – ›leider‹, Dagobert?«

»Weil ich schon im stillen gewisse Hoffnungen gehegt hatte. Ich hatte nämlich schon einmal einen Fall mit anonymen Briefen. Der war aber kinderleicht. Der vorliegende scheint weitaus schwieriger zu sein.« »Was war das für ein Fall? Das müssen Sie erzählen, Dagobert!«

»Mit Vergnügen, meine Gnädigste, aber vorläufig wollen wir bei der Sache bleiben. Alles deutet darauf hin, daß der Absender oder die Absenderin mit großer Vorsicht arbeitet. Die Schrift nämlich läßt einen Schluß auf das Geschlecht nicht zu. Ich darf das sagen; denn was in Sachen der Graphologie durch Studium und Beobachtung zu erlernen ist, das habe ich zu lernen mich redlich bemüht.«

Dagobert prüfte die Adressen mit einer Taschenlupe und dachte dann intensiv nach. Dabei drehte er ganz in sich versunken an seinem Petrusschöpfchen, daß es sich bald in die Höhe reckte fast wie der Schopf eines Clowns.

»Da geht Männliches und Weibliches durcheinander, daß man förmlich verrückt werden könnte,« sagte er vor sich hin. »Das ist entweder ein sehr männliches Frauenzimmer oder ein weibischer Mann. Haben Sie gar keinen Verdacht, Frau Violet?«

»Nicht die leiseste Ahnung!«

»Auf die Graphologie dürfen wir hier also keine besonderen Hoffnungen setzen. Bei verstellter Handschrift – und hier ist sie mit System und Konsequenz verstellt – muß sie versagen. Hier können wir nur annehmen, daß die Hand, die das schrieb, für gewöhnlich eine schräge Schrift schreibt. Das ist alles. Durch die steile, aufrechte Stellung hier ist der Schriftcharakter natürlich völlig verändert, und es ist sehr die Frage, ob die Briefe mir genügende Anhaltspunkte bieten werden, den Originalcharakter zu rekonstruieren.«

»Sie haben also keine Hoffnung, Dagobert, den Schurken zu entlarven?«

»Der Fall interessiert mich, und ich werde mir Mühe geben. Vor allen Dingen muß ich das Material studieren. Es wäre ja auch möglich, daß aus dem Inhalt der Briefe, aus dem Stil, aus einzelnen Wendungen, aus der Orthographie Anhaltspunkte zu gewinnen wären. Im vorhinein läßt sich da gar nichts sagen. Wie vorsichtig gearbeitet wird, das können Sie beispielsweise aus den Poststempeln ersehen. Da sehen Sie, fast jeder Brief trägt einen anderen Stempel. Hier Postamt 66, hier Postamt 125, hier Postamt 13, 47, 59 – die Briefe wurden auf weiten Spaziergängen oder Spazierfahrten aufgegeben. Da geht es freilich nicht an, ein bestimmtes Postamt oder einen bestimmten Briefkasten zu überwachen.«

»Sie haben also wirklich keine Hoffnung?«

»Ich sagte, daß ich mir Mühe geben werde, also habe ich Hoffnung.«

»Das klingt recht zuversichtlich, Dagobert.«

»Schließlich darf man sich ja auch etwas zutrauen!«

»Sie sagten, daß Sie schon einen ähnlichen Fall gehabt hätten, Dagobert. Wie war es damit?« Frau Violet war begreiflicherweise sehr neugierig, darüber Näheres zu erfahren.

»Der Fall war, wie ich schon erwähnte, sehr einfach, aber er hat mir gleichwohl viel Vergnügen gemacht. Eines Tages erscheint der Adjutant des Erzherzogs Othmar bei mir und bescheidet mich in das erzherzogliche Palais. Ich gehe also gleich mit, und in einer Privataudienz macht mir der Erzherzog die schmeichelhafte Eröffnung, daß er mit ganz besonderem Interesse von einigen meiner Leistungen als Amateurdetektiv gehört habe. Auch er hätte nun einen Auftrag, beziehungsweise eine Bitte. Natürlich stellte ich mich sofort zur Verfügung und bemerkte, daß Seine Kaiserliche Hoheit nur zu befehlen hätte.

Der Fall lag wie hier. Es handelte sich um anonyme Briefe, und auch hier war nicht nur der Herr des Hauses, sondern auch seine durchlauchtigste Gemahlin mit ihnen bedacht worden. Der Erzherzog sagte mir, daß ihm viel daran läge, den Schreiber zu ermitteln, daß es ihm aber widerstrebe, sich an die Polizei zu wenden. Nach allem, was er gehört, hätte er in dieser Sache mehr Vertrauen zu mir.

Schön. Ich ließ mir die Briefe geben. Das war erstaunlich; es waren ihrer Hunderte! Ich nahm sie mit.«

»Waren sie auch so gemein?« fragte Frau Violet gespannt.

»O, meine Gnädigste, was man Ihnen auch geschrieben haben mag, es ist unmöglich, daß die Unflätigkeit und Gemeinheit, die dort aufgestapelt ward, erreicht, geschweige denn überboten worden ist.«

»Und Sie haben diese Schufterei enthüllt?!«

»Ich hatte Glück. Die Sache war in vierundzwanzig Stunden erledigt.«

»Erzählen Sie, Dagobert!«

»Als ich die Briefe an mich nahm, war auch dort meine erste Frage natürlich, ob die Hoheiten etwa schon einen Verdacht oder einen Anhaltspunkt hätten. Die Frage wurde verneint. Ich nahm also die Briefe mit nach Hause, las sie aufmerksam durch und überlegte dann reichlich zwei Stunden, ohne jedoch zu irgendeinem nennenswerten Resultat zu kommen. Der erste halbe Tag verging, ohne daß mir eine halbwegs vernünftige Idee eingefallen wäre. Erst in der Nacht, förmlich im Schlafe kam mir die Erleuchtung. Ich hatte mich zu Bett begeben, und nach langen fruchtlosen Bemühungen einzuschlafen, war endlich der erste Schlummer über mich gekommen, aus dem ich aber bald wie im Schrecken auffuhr. Nun war mit einem Male die Idee da, auf der sich weiter bauen ließ. Die Briefe lagen auf meinem Nachtkästchen. Ein feiner Chypreduft war von ihnen aus mir in die Nase gefahren. Chypre ist ein vornehmes Parfüm. Ich machte Licht, so viel Licht, als überhaupt möglich war und nahm die Briefe wieder vor. Da wurde mir sofort eines klar: das ganze intensive Studium der Schrift und des Inhalts der Briefe war vorderhand vollkommen überflüssig und nutzlos gewesen. Ich mußte mich da nur an Äußerlichkeiten halten und konnte nur von diesen ausgehen. Bei aller Niedrigkeit des Inhalts umgab doch eine gewisse vornehme Atmosphäre die Briefe. Gewiß, auch da konnte bewußte, auf Täuschung und Irreführung gerichtete Absichtlichkeit mitspielen, aber immerhin – sie wies auf ein vornehmes Haus, wenn schon nicht auf vornehme Provenienz überhaupt. Es konnte ja ein tückischer Lakai oder eine boshafte Zofe die Hand im Spiele haben. Sie konnten das parfümierte Papier der Herrschaft entwendet haben. Von dem Parfüm erhoffte ich allerdings keine Aufklärung, aber – das Papier! Ich bin Kenner in Papiersorten. Es war das köstlichste und, ich kann sagen, das kostbarste Luxuspapier, das mir je in die Hände geraten war. Es war also ein ziemlich kostspieliger Luxus, solche Briefe massenhaft in die Welt zu senden, und wenn der Absender das Papier nicht stahl, dann mußte er wohl in der Lage sein, sich diesen Luxus zu gönnen.

In aller Frühe setzte ich mich in meinen Unnumerierten und fuhr bei einigen besseren Papierhandlungen vor. Ich legte ein abgerissenes, unbeschriebenes Blatt eines Briefes vor und verlangte jene Sorte. Auf die Auskunft, die ich erhielt, war ich von vornherein gefaßt gewesen. Diese Sorte führten sie nicht: sie sei zu teuer und fände wohl keinen Absatz. Die Auskunft freute mich. Damit war der Kreis für meine Nachforschungen schon bedeutend enger gezogen.

Nun betrat ich mit einiger Spannung den Laden ›L. Wiegand, k. k. Hoflieferant‹ am Graben. Ich wußte, daß dieses Geschäft zweifellos die vornehmste Kundschaft der Stadt habe. Ich zeigte das Muster, und der Chef, der mich persönlich bediente, legte mir sofort die gewünschte hochelegante Kassette mit hundert Bogen und den dazu gehörigen Umschlägen vor. ›Sechzig Kronen!‹ Ich kaufte, erbat aber eine Unterredung unter vier Augen.

Der Mann führte mich in das kleine Kontor, das sich hinten an seinen Laden schloß.

Ich möchte von Ihnen erfahren, Herr Wiegand, begann ich, ob dieses Papier auch noch in einem anderen Geschäft in Wien verkauft wird.

Ganz bestimmt nicht, erwiderte er selbstbewußt. Die Bezugsquelle ist mein Geheimnis.

Es ist englisches Fabrikat, schaltete ich ein, um ein wenig mit meiner Sachkenntnis zu protzen.

Allerdings, aber es gibt nur eine Fabrik, die es erzeugt. Für die anderen Geschäfte, fügte er geringschätzig hinzu, ist das auch kein Artikel. Es würde ihnen liegen bleiben.

Verkaufen Sie viel davon?

O, sehr viel! Ich bin zufrieden.

Ich sah, daß ich die Geschichte nicht ganz richtig angepackt hatte. Wenn ich den jetzt noch weiter renommieren ließ, dann kam ich von meinem Ziele nur immer mehr ab. Ich nahm also, gewissermaßen um mich zu legitimieren, ein Dutzend Briefe aus der Tasche und zeigte ihm die Aufschriften. Die Wirkung war eine befriedigende; sein Gesicht nahm sofort einen ehrfürchtigen Ausdruck an.

Herr Wiegand, sagte ich, Sie sind Hoflieferant und sicher muß Ihnen daran gelegen sein, sich den Hof zu verpflichten.

Er verbeugte sich sehr devot und legte die Hand aufs Herz, um anzudeuten, daß – für den Hof! – er bereit sei, auch sein Leben zu lassen.

Also, Herr Wiegand, fuhr ich fort, Sie werden sich die höchsten Herrschaften zu Danke verbinden, wenn Sie mir einige Fragen beantworten. Verkaufen Sie wirklich viel von dem Papier?

Herr, ich mache mein Geschäft damit. Es geht mit dem übrigen. Davon allein könnte ich natürlich nicht leben.

Das kann ich mir denken. Sind Sie in der Lage, die hauptsächlichsten Abnehmer für diesen Artikel namhaft zu machen? Merken Sie wohl auf, Herr Wiegand, den Kaiserlichen Hoheiten ist die präzise Beantwortung dieser Frage von besonderer Wichtigkeit!

Der Mann war ganz Bereitwilligkeit und Ergebenheit. Er knickte förmlich zusammen, so oft ich der hohen Herrschaften Erwähnung tat. Er dachte nach und gestand dann, daß er für dieses Papier eigentlich nur drei Kundschaften habe. Er liefere das Papier für den serbischen Hof, dann sei Lady Primrose von der englischen Botschaft Abnehmerin, die stärkste Kundschaft sei aber Gräfin Tildi Leys, die monatlich mindestens einmal erscheine, um eine Kassette zu kaufen. Ich danke Ihnen, Herr Wiegand, ich werde nicht ermangeln, Ihre gütige Bereitwilligkeit hohen Orts entsprechend hervorzuheben.

Dann ging ich. Ich war befriedigt. Denn nun war der Kreis doch schon recht eng gezogen. Also drei Ausgangspunkte und alle drei eigentlich gleichwertig. So mußte ich sie einschätzen. Denn ich habe es mir bei meinem Metier zum Grundsatz gemacht, von vornherein gar nichts als unwahrscheinlich anzunehmen, wenn ich nicht gute Gründe für eine solche Annahme hatte.

Anzufangen war hier zweifelsohne mit der Gräfin Leys. Nicht nur weil da die Nachforschung am leichtesten und bequemsten schien, sondern weil da schon eine bestimmte, vielversprechende Angabe vorlag. Der starke Verbrauch war doch auffällig.

Ich sah auf die Uhr: zehn Uhr. Aus den Poststempeln der Briefe hatte ich erkundet, daß sie an verschiedenen Stellen zwar, aber doch fast ausnahmslos zur selben Zeit, so gegen zwölf Uhr mittags aufgegeben worden waren.

Meinen Wagen dirigierte ich in die Reisnerstraße und ließ gegenüber von dem Palais Leys halten, und da blieb ich nun in den Wagen zurückgelehnt als Beobachtungsposten. Bei meinem Geschäft muß man Geduld haben. Ich ließ mich's nicht verdrießen und hatte ein scharfes Auge darauf, wer aus dem Hause ging. Die Dienerschaft interessierte mich nicht. Denn zweierlei war mir schon klar geworden: erstens daß die Briefe nicht aus dem Kreise der Dienerschaft hervorgegangen waren. Wenn die Gräfin monatlich ungefähr nur eine Kassette verbrauchte – was freilich unter normalen Verhältnissen schon sehr viel war – so war es doch unmöglich, daß ihr unbemerkt so viel von dem Papier gestohlen werden konnte, als für jene massenhaften Briefe nötig war. Und zweitens: Wenn man schon solche Briefe schreibt, dann vertraut man ihre Aufgabe nicht der Dienerschaft an. Derlei besorgt man schon selber und höchst persönlich.

Ungefähr eine Stunde hatte ich gewartet, als aus dem Palasttore ein pompöser Portier heraustrat, um die Ausfahrt einer Equipage zu sichern. Ich gab meinem Kutscher einen Wink. Wir fuhren dem Wagen nach.

So lange wir fuhren, blieb ich ruhig sitzen; da konnte nichts geschehen. Als aber nach einer ausgiebigen, etwa halbstündigen Spazierfahrt haltgemacht wurde, sprang ich rasch aus dem Wagen. Wir waren auf dem Schottenring, und der schönste Frühlingssonnenschein beleuchtete die Szenerie.

Ein rascher Blick belehrte mich, daß ein Briefkasten in der Nähe war. Aus der Equipage stieg, unterstützt von einem am Schlag stehenden Bedienten, eine elegante junge Dame von ganz außerordentlicher Schönheit, blond, das reine Madonnengesicht. Sie schritt zum Briefkasten. Ich war rascher dort, öffnete die Klappe und hielt sie, als wolle ich ihr den Vortritt lassen oder gar behilflich sein. Sie dankte mit einer leichten Neigung des Kopfes und einem verbindlichen Lächeln. Als sie dann ihren Brief in den Spalt schieben wollte, entriß ich ihn mit einem raschen Schwung ihren Fingern und brachte ihn in meiner Tasche in Sicherheit.

Entsetzt und wie gelähmt blickte sie auf mich; sie brachte zunächst kein Wort hervor und war dem Umsinken nahe.

Verzeihen Sie, Gräfin, sagte ich, das mußte sein!

Nun erst fand sie wieder Worte.

Wer sind Sie? Was wollen Sie? Sie haben da eine Infamie begangen. Geben Sie nur meinen Brief wieder, oder ich nehme die Hilfe der Polizei in Anspruch.

Das wäre das beste, was Sie tun könnten. Gräfin. Ich mache darauf aufmerksam, daß wir gerade vor der Polizeidirektion stehen – wenn es also gefällig ist –! Ich habe hier noch einige Briefe, die wir zur Vergleichung mit heranziehen könnten.

Ich zog ein Päckchen Briefe aus der Tasche und zeigte sie ihr. Sie wurde sehr bleich und war nun nahe daran, ihre ganze Fassung zu verlieren. Der Bediente, der jetzt erst zu bemerken schien, daß da nicht alles ganz in Ordnung sei, rückte nun heran, gleichsam zu ihrem Schutze.

Vor allen Dingen, Gräfin, schaffen Sie uns den Bengel vom Halse. Er braucht nicht zu hören, was wir verhandeln.

Ein Blick von ihr beorderte die Bedientenseele zurück.

Und nun, Gräfin, gestatten Sie, daß ich mich vorstelle. Ich heiße Dagobert Trostler, bin, was Sie vielleicht beruhigen wird, keine Amtsperson, bin aber von den Hoheiten beauftragt, dem häßlichen Spuk ein Ende zu machen. Es war der letzte derartige Brief, den Sie geschrieben haben.

Sie nickte stumm, und wie sie so völlig vernichtet dastand, begann sie mir leid zu tun. Was wollen Sie? Man hat seine kleinen Schwächen, und vor Frauenschönheit habe ich nie recht standhalten können. Ja doch, sie war eine schwer Schuldige, aber sie war reizend. Wir können da nicht stehenbleiben, redete ich weiter auf sie ein. Wollen Sie mich in Ihrem Wagen mitnehmen, oder ziehen Sie es vor, mit mir zu promenieren und uns unsere Wagen nachfahren zu lassen?

Sie zog das letztere vor, und so marschierten wir denn traulich nebeneinander.

Was werden Sie jetzt tun, Herr Trostler? fragte sie.

Was ich muß, Gräfin. Ich werde meinen hohen Austraggebern Bericht erstatten.

Sie werden meinen Namen nennen?

Ich muß wohl.

Damit werden Sie ein Todesurteil gesprochen haben.

Ein gesellschaftliches Todesurteil – vielleicht. Es wäre kein unverdientes.

Nicht nur gesellschaftlich. Wenn Sie das tun, dann lebe ich heute meinen letzten Tag.

Ich sah sie an. Das war nicht phrasenhaft gesprochen. In ihren Augen flimmerte etwas, was auf einen unerschütterlichen Entschluß deutete. Nun, wissen Sie, Frau Violet, man ist schließlich doch kein Unmensch. Es war ein schmähliches, ein häßliches Verbrechen, das da begangen worden war. Diese ideale Mädchenschönheit hatte Tag für Tag Worte niedergeschrieben, die einen Wachtmeister von den Dragonern hätten zum Erröten bringen müssen, aber ein Selbstmord – das hätte ich doch nicht gern aufs Gewissen genommen!«

»Sie haben sie doch nicht etwa straflos laufen lassen, Herr Dagobert?« rief Frau Violet mit kaum verhohlener Entrüstung.

»Nein; Strafe muß sein. Ich war nur schwankend, ob es gleich die Todesstrafe sein müßte. Ich hatte in meinem Gedächtnis einige Notizen über die gräfliche Familie Leys aufgespeichert. Der Vater der jungen Dame war Alkoholiker gewesen und ist im Delirium gestorben, ein Bruder war Epileptiker. Ohne Zweifel lag da eine erbliche Belastung vor, durch welche allein die perverse Neigung, so schändliche Dinge niederzuschreiben, bei diesem jungen Mädchen zu erklären war.«

»Die erbliche Belastung!« rief Frau Violet unmutig. »Das ist die übliche Ausflucht. Sagen Sie lieber ehrlich, Dagobert, Sie haben die Milderungsgründe gesucht!«

»Nicht die Milderungsgründe, nur die psychologische Erklärung für das scheinbar völlig Ungereimte. Lassen Sie mich's kurz machen. Nach langem Hin- und Herreden gab ich zwar kein festes Versprechen, aber ich sagte zu, es zu versuchen, ihren Namen, wenn es halbwegs ginge, nicht preiszugeben. Da nahm sie aus ihrem Reticule eine zierliche kleine goldene Dose, öffnete sie und zeigte mir ihren Inhalt. Es waren ansehnliche Brocken von Cyankali. Ich kenne das. Das war genug, um ein ganzes Geschlecht mit Stumpf und Stiel auszurotten. Sie sagte, durchaus nicht pathetisch, aber überzeugend, daß sie sich damit noch an demselben Tage vom Leben befreien werde, wenn ich ihren Namen bekanntgeben würde.

Ich nahm ihr das Döschen aus der Hand, um die wundervoll zarte Arbeit besser bewundern zu können. Es war ein Meisterwerk der Kleinkunst im Barockstil. Natürlich gab ich es ihr nicht zurück. Ich schloß einen Pakt mit ihr. Ich würde heute noch ganz bestimmt bei ihr vorsprechen und dann auch ihr die Dose samt Inhalt zurückgeben. Sie verspricht dagegen, bis dahin keinerlei Unbesonnenheit zu begehen und die Selbstmordidee definitiv aufzugeben, wenn es mir gelingen sollte, die ganze Angelegenheit zum Abschluß zu bringen, ohne ihren Namen zu verraten.«

»Haben Sie ihr nicht auch noch eine besondere Belohnung für ihre schöne Leistung versprochen?« fragte Frau Violet recht unmutig.

»Im Gegenteil, ich habe ihr eine Strafe diktiert. Unser Pakt war sehr klar. Ich liebe die Klarheit bei allen Abmachungen. Gelang es nur nicht, sie durch Geheimhaltung ihres Namens zu decken, dann – vogue la galère, dann war sie frei, zu tun, was sie für gut hielt. Sollte es mir aber gelingen, ihr den Dienst zu erweisen, dann hatte sie eine Buße auf sich zu nehmen.«

»Welche Buße?« forschte Frau Violet.

»Ich glaube streng genug gewesen zu sein. Das feierliche Versprechen, nie wieder so etwas zu tun, rechne ich natürlich nicht zur Buße. Das war selbstverständlich. Ich verlangte also entweder zwei Jahre Kloster oder fünfjährige, sofort anzutretende Verbannung aus Wien – widrigenfalls!! Sie entschied sich für das letztere. Wir schieden mit einem recht freundschaftlichen shake hands.

Ich fuhr nun ins erzherzogliche Palais und wurde sofort vorgelassen, obschon die hohen Herrschaften gerade beim Dejeuner saßen und ich durchaus nicht vollkommen etikettemäßig angezogen war. Das erzherzogliche Paar frühstückte allein. Auf einen Wink der hohen Hausfrau wurde auch für mich ein Gedeck aufgelegt, und ich hielt tapfer mit. Denn meine Expedition hatte mir Appetit gemacht.

So lange die aufwartende Dienerschaft ab und zu ging, wurde der Angelegenheit, die mich hergeführt hatte, keine Erwähnung getan. Erst als abgeräumt und die Luft rein war, kam Se. Kaiserliche Hoheit auf unsere Sache zu sprechen.

Nun, lieber Herr Dagobert, begann der Erzherzog lächelnd – beachten Sie wohl, meine Gnädigste, er sagte Dagobert, weil er gehört haben mochte, daß ich im Freundeskreis nur so genannt werde. Er wollte mir also damit einen Beweis seiner Huld geben. Sie kommen ohne Zweifel, um sich weitere Informationen zu erbitten. Leider können wir Ihnen aber mit solchen nicht dienen.

Ich komme zunächst nur als Briefbote, erwiderte ich, nahm den abgefangenen Brief aus der Tasche und überreichte ihn ehrfurchtsvoll der Frau Erzherzogin, an die er adressiert war.

Sie können sich denken, daß sie kein sehr gnädiges Gesicht dazu machte. Von solchen Briefen hatte sie nun schon gerade genug.

Ich bitte Ihre Kaiserliche Hoheit, fuhr ich fort, höchstihre Aufmerksamkeit auf einen Umstand zu lenken: der Brief trägt keinen Poststempel!

Es war der Erzherzog, dem zuerst ein Licht aufging.

Ja, aber dann – Herr Dagobert – schon wieder! dann müßten Sie ja eigentlich den Täter schon kennen! Oder was soll es sonst heißen?!

Es soll heißen, Kaiserliche Hoheit, daß ich der trüben Quelle auf den Grund gekommen bin und sie verstopft habe. Das war der letzte dieser Briefe und es wird kein weiterer folgen. Auch für diesen konnte schon die Vermittlung der Postanstalt umgangen werden. Ich verbürge mich dafür, daß keine Fortsetzung folgen wird.

Vielen, vielen Dank, Herr Dagobert!

Auch die Erzherzogin dankte bewegt und fragte: Wer also ist der Absender?

Eine Dame.

Eine Dame? Das ist unglaublich!

Es ist so, Hoheit – eine Dame der Gesellschaft.

Die Herrschaften mußten sich erst fassen, um daran glauben zu können. Dann forschten sie natürlich sehr eifrig nach dem Namen.

Ich erstattete zunächst Bericht über die Einzelheiten meiner Untersuchung, soweit ich es im gegebenen Falle für rätlich und zulässig hielt, und man kargte dabei nicht mit Lobsprüchen. Schließlich – man kann ja sagen, daß ich nicht frei bin von Eitelkeit, aber ich bin einmal nicht der Mann, der sein Licht unter den Scheffel stellt.

Was nun den Namen betrifft, schloß ich meinen Bericht, so möchte ich die Entscheidung, ob ich ihn wirklich nennen soll oder nicht, der Weisheit und der Gnade Eurer Kaiserlichen Hoheiten selbst überlassen.

Ich schilderte die Dinge, wie sie lagen, und verschwieg nicht, daß die Preisgebung des Namens meinerseits aller Wahrscheinlichkeit nach eine Katastrophe zur Folge haben würde.

Der Erzherzog runzelte die Brauen. Hier sei doch wahrhaftig kein Anlaß, besondere Gnade walten zu lassen.«

»Das glaube ich auch!« fiel hier Frau Violet dem Erzähler ins Wort. Sie war in sehr grausamer Stimmung gegen die feigen Absender von anonymen Briefen, und sie hatte ja guten Grund dazu.

»Ich plädiere dennoch für Milde, fuhr ich fort, und entwickelte auch meine Gründe dafür. Ich war überzeugt, daß die Androhung des Selbstmordes keine leere Redensart gewesen war. Ich wies zur Bekräftigung meiner Auffassung die goldene Dose mit den Cyankalistücken vor und fügte hinzu, daß ich versprochen hätte, sie heute noch zurückzustellen.

Das dürfen Sie nicht, Herr Dagobert! rief der Erzherzog.

Ich habe es versprochen. Kaiserliche Hoheit. Und dann – wenn einmal ein solcher Entschluß feststeht, dann weiß man sich auch ohne eine solche Dose zu behelfen. Ich werde den Namen nennen, wenn Ihre Hoheiten darauf bestehen, allein ich möchte zuvor einen Umstand der gnädigen Erwägung anheimgeben. Hoheiten haben gewünscht, daß die Angelegenheit in aller Stille und ohne Aussehen erledigt werde. Bei einem Selbstmord kann man nie wissen, ob nicht ein Brief zurückgelassen wird, der dann zu aufsehenerregenden und unerfreulichen Weiterungen führen könnte. Ich habe, Ihre gütige Zustimmung vorausgesetzt, der Verbrecherin die Strafe der fünfjährigen Verbannung von Wien auferlegt.

Der Erzherzog stimmte sofort zu, und seine rasche Sinnesänderung überraschte mich einigermaßen.

Übrigens glaube ich, sagte er mit einem Blick auf seine Gemahlin, daß wir hier das Urteil der Erzherzogin zu überlassen haben.

Die Erzherzogin hatte sinnend das tödliche Gift in der Dose betrachtet, die sie mir aus der Hand genommen hatte. Nun blickte sie auf und sagte: Es kommt mir nicht zu, ein Todesurteil zu sprechen.

Dann gab sie mir die Dose zurück, dankte noch einmal mit vieler Wärme und reichte mir die Hand zum Kusse. Während sie sich zurückzog, tippte mich der Erzherzog heimlich auf die Schulter. Ich nahm das als ein Zeichen, daß ich noch verweilen solle, um eine vertrauliche Mitteilung entgegenzunehmen, und hatte mich nicht getäuscht.

Einen Augenblick noch, Herr Dagobert; sagte er dann, als seine Gemahlin das Zimmer verlassen hatte, ich möchte Ihnen noch etwas sagen. Ich kenne die Täterin. Denn ich habe mit einem Blicke bemerkt, was sowohl Sie als meine Frau übersehen hatten. In den verschlungenen Ornamenten auf dem Deckel der Dose ist in winziger Ausführung und förmlich versteckt ein Wappen angebracht, das ich kenne.

Ich überzeugte mich und schämte mich. Das hatte ich wirklich übersehen!

Und doch waren Sie viel klüger als ich, Herr Dagobert. Es ist eigentlich eine sehr traurige Geschichte. Ich habe diese Dame geliebt, und ich darf annehmen, daß auch sie für mich gefühlt hat. Es ist wohl möglich, daß es die Liebe war, die hier in ihr häßlichstes Zerrbild umschlug, und es wird ganz gut sein, wenn der Dame nun einige Jahre Muße gegönnt werden, auf ihren Schlössern oder meinetwegen in London oder Paris über ihre schmähliche Verirrung nachzudenken. – – –

Das, Frau Violet, ist die Geschichte meines ersten Falles mit anonymen Briefen.«

»Sie haben doch die Gräfin wiedergesehen, Dagobert?«

»Natürlich; noch an demselben Tage; wie ich es versprochen hatte.«

»Nun – und?«

»Sie war gefaßt, auf alles gefaßt. Sie bereute und nahm die Strafe auf sich.«

»Eine schöne Strafe – auf den Schlössern oder in Paris!«

»Immerhin eine Strafe, Gnädigste, die Einkehr und Umkehr, vielleicht völlige Besserung möglich erscheinen ließ, während –!«

»Sie würden nicht so von Humanität triefen, lieber Freund, wenn sie vielleicht weniger hübsch gewesen wäre!«

»Wohl möglich; man soll nichts verschwören,« erwiderte Dagobert, indem er wieder an seinem Petrusschöpfchen drehte. »Jedenfalls war und bin ich auch mit mir in dieser Sache vollkommen zufrieden. Die Gräfin bat mich, die kleine Dose zum Andenken an sie und als Pfand ihrer Umwandlung zu behalten. Auch ich solle an sie denken, da sie in unauslöschlicher Dankbarkeit immer meiner gedenken werde. Ich behielt das Kleinod und habe es meiner Sammlung einverleibt.«

»Es fällt mir nur auf, Dagobert, daß ich in meinem Leben noch nichts von einem gräflichen Geschlecht der Leys gehört habe!.«

»Ja, haben Sie denn wirklich vorausgesetzt, meine Gnädigste, daß ich irgendeinem Menschen auf der Welt den wahren Namen verraten würde? Der Name war natürlich erfunden.«

»Aber die Person lebt?«

»Sie lebt, und sie hat ihr Versprechen bisher gehalten. Es ist auch wenig Aussicht vorhanden, daß sie bald oder überhaupt jemals wiederkehren sollte. Sie ist jetzt die Gattin eines Pairs im Auslande und soll dort eine große Rolle spielen.«

»Mich interessiert vornehmlich,« nahm nun Herr Grumbach, der bisher schweigend zugehört hatte, das Wort, »wie eine feingebildete, hochstehende junge Dame zu einer so entsetzlichen und entehrenden Verirrung kommen kann.«

»Da sind wir ja wieder beim Ausgangspunkt,« entgegnete Dagobert. »Ich habe die ganze Geschichte nur erzählt, um darzutun, daß wir uns vor vorgefaßten Meinungen zu hüten haben. ›So schreibt keine Frau!‹ hat Frau Violet in kategorischer und fast jeden Widerspruch ausschließender Weise ausgerufen. Ich habe gezeigt, daß allerdings eine Frau und sogar ein zartes Mädchen so schreiben kann und noch ärger. Damit will ich ja nicht sagen, daß auch diese Briefe von einer weiblichen Hand herrühren müßten, ich wollte nur zur Vorsicht mahnen und vor vorschnellem Urteil warnen.«

»Jetzt begreife ich auch,« rief nun Frau Violet, »warum Sie die schäbige Eleganz unserer Briefe gar so sehr bedauert haben, Dagobert.«

»Sehr mit Recht, Gnädigste, wie Sie sehen. Ja, so bequem hat man es nicht immer! Auf diesem Papier schreiben in Wien zehn- oder zwanzigtausend Leute. Da kann ich nicht die Papierhandlungen ablaufen.«

»Aber Sie werden sich doch Mühe geben, Dagobert?«

»Gewiß, Gnädigste, ich werde mir Mühe geben.«

»Sie versprechen es?«

»Ich verspreche es.«

Dagobert nahm die Briefe mit sich und er bat sich bei Grumbach entschieden aus, daß nun von den etwa noch einlangenden, ja mit Bestimmtheit zu erwartenden, keiner mehr in den Papierkorb geworfen werde. Ungelesen mochten sie immerhin bleiben von Grumbach, auch Frau Violet täte am klügsten, wenn sie sie nicht läse, aber er müßte sie alle in die Hände bekommen. Je mehr Material, desto besser. Der Fall war entschieden schwieriger als der, von dem er erzählt hatte, und es mußte nun mit aller Sorgfalt nach Anhaltspunkten geforscht werden. Dazu mußte jeder einzelne Brief genau durchstudiert werden. Nicht einer durfte unbeachtet bleiben.

Frau Violet war recht ungeduldig. Sie hätte womöglich auch schon am nächsten Tage das Geheimnis gern enthüllt gesehen. Dagobert wiegelte aber ab und mahnte zur Geduld. Er konnte keine bestimmte Zusage machen, ob es ihm überhaupt gelingen werde, den Schleier zu lüften, unter allen Umständen würden aber darüber Wochen, wenn nicht Monate vergehen. Schließlich, um Ruhe zu haben, verbot er Frau Violet überhaupt, von der Angelegenheit zu sprechen. Er würde schon selber anfangen, wenn es etwas zu berichten gäbe. Früher hätte alles Reden keinen Zweck, und könnte gar nichts nützen.

Frau Violet hielt auch brav Disziplin. Sie fragte nicht mehr, aber es fiel ihr furchtbar schwer. Denn sie war sehr neugierig und wenn sie auch die Vereinbarung getreulich einhaltend, nicht fragte, so richtete sie doch manchen verlangenden Blick auf Dagobert, wenn sie nach Tisch in gewohnter Weise im Rauchzimmer plaudernd beisammensaßen, sie auf ihrem Lieblingsplätzchen beim Marmorkamin. Dagobert ihr gegenüber und Grumbach auf seinem bequemen Lehnsessel mehr in der Mitte des Zimmers.

Nachdem sie so mehrere Tage tapfer ausgehalten hatte, ließ sich Dagobert durch ihre sehnsüchtigen Blicke doch rühren.

»Es geht langsam, Frau Violet,« begann er, »aber es geht doch vorwärts. Einige leichte Spuren hätten wir doch schon.«

»Haben Sie wirklich schon etwas herausgebracht, Dagobert?« fragte sie in höchster Spannung.

»Es ist sehr wenig, aber immerhin ein Ausgangspunkt, vielleicht der archimedische Punkt.«

»Was für ein Punkt?«

»Der archimedische. Den braucht man nämlich, um die Welt aus den Angeln zu heben. Sie wissen ja, Gnädigste, daß Archimedes – «

»Ja, ich weiß, aber nur jetzt keine Mythologie, Dagobert!«

»Erlauben Sie, Gnädigste, Archimedes gehört doch nicht – «

»Ja doch meinetwegen! Lassen Sie jetzt nur die Archimandriten, oder wie sie heißen, in Ruhe. Ich glaube Ihnen alles unbesehen, aber jetzt erzählen Sie nur, was Sie herausgebracht haben!«

»Einige Kleinigkeiten. Also: der Schreiber – ich bin nämlich nun ziemlich sicher, daß es ein Schreiber und keine Schreiberin ist – ist glattrasiert und raucht Zigaretten. Belieben ein enttäuschtes Gesicht zu machen. Gnädigste? Es ist in der Tat recht wenig, aber man kann weiterbauen darauf.«

»Sie können doch unmöglich alle Leute stellen, Dagobert, die glattrasiert gehen und Zigaretten rauchen!«

»Das wäre allerdings einigermaßen umständlich, wenn auch nicht gar so sehr, wie Sie sich das vorstellen, Frau Violet. Der Briefschreiber – das ist erwiesen – kennt Sie sehr genau. Sie sehen also, daß wir da schon einen Kreis mit ganz bestimmten Grenzen haben. Also gar so umständlich wäre es nicht, mir wäre es nur nicht sicher genug.«

»Also – warum glattrasiert?«

»Es ist nur eine Vermutung und noch keine Gewißheit. Darum möchte ich mich auch darüber jetzt noch nicht äußern. Ich erbitte also noch acht Tage Frist. Da werde ich Ihnen schon mehr, vielleicht alles sagen können.«

»Und warum – Zigarettenraucher?«

»Darüber läßt sich reden. Zigarettenraucher allein, das wäre auch mir als Anhaltspunkt zu wenig. Ich bin in der Lage, in meinen Schlüssen etwas weiter zu gehen. Es ist einer, der die Gewohnheit hat, selbstgedrehte Zigaretten zu rauchen. Auch damit ist ja noch nicht viel erreicht, aber jeder Umstand ist von Wert, der den Kreis enger zieht.«

»Wie sind Sie darauf gekommen, Dagobert?«

»Bei meinem Geschäft muß man ein Kleinigkeitskrämer sein. In zweien der vielen Briefe fand ich je ein winziges Atom von Tabak, kaum größer als eine Stecknadelspitze, so viel eben an der eintrocknenden Tinte eines Buchstabenteils hängen bleiben kann. In Tabaken – das wissen Sie – bin ich Kenner. Ich nahm die Lupe, um mir zu bestätigen, was ich so schon wußte. Denn ich habe gute Augen. Das waren Partikelchen von Sultan flor

»Und mit dieser Wissenschaft ausgerüstet, wollen Sie auf den Räuberfang ausgehen, Dagobert?«

» Sultan flor ist ein lang- und feingeschnittener, lichtgelber türkischer Rauchtabak. Er wird nur zu selbstgerollten Zigaretten verwendet und höchstens noch aus dem Tschibuk geraucht. Darum muß ich mir auch noch vorbehalten, meine ursprüngliche Angabe zu berichtigen. Es könnte also auch ein Tschibukraucher sein, obschon solche bei weitem nicht so zahlreich sind, wie die Zigarettenraucher. Sultan flor ist ein ganz guter Tabak, und er ist insbesondere den Leuten zu empfehlen, die halbwegs anständig und dabei doch billig rauchen wollen. Man gibt nicht viel aus und hat doch etwas Ordentliches.«

»Sehen Sie, das beruhigt mich ungemein!« entgegnete Frau Violet ein wenig empfindlich über die Dürftigkeit der ihr gewordenen Enthüllungen, aber mehr war an jenem Tage aus Dagobert durchaus nicht herauszukriegen. Und da war eben weiter nichts zu machen.

Wahrend der nächsten acht Tage kam Frau Violet glücklicherweise nicht dazu, sich mit der unleidlichen Briefaffäre viel zu beschäftigen. Sie hatte den Kopf voll mit anderen Dingen, und alle Hände voll zu tun. Zwei große Soireen im Hause Grumbach in einer Woche! Dagobert hatte sie angeordnet und sich dabei hinter Grumbach selbst gesteckt. Frau Violet sollte von seiner Absicht gar nichts erfahren. Er wollte sich einmal den ganzen Grumbachschen Kreis bequem in der Nähe besehen. Es wären zu viel Leute geworden für einen Abend, und so wurden denn zwei veranstaltet. Man nahm eine Teilung vor. Erst kamen seine Freunde dran und dann ihre Leute. Zwei Soireen vorzubereiten und durchzuführen – natürlich hatte Dagobert in dieser Zeit Ruhe vor Frau Violet.

Als der Rummel glücklich vorüber war, saßen die drei eines Tages wieder traulich beisammen im Rauchzimmer, und Dagobert machte der Hausfrau Komplimente über ihre beiden schönen Feste.

»Man spricht in der Stadt davon,« sagte er, »und man ist einig in der Bewunderung Ihrer Hausfrauentugenden, Frau Violet.«

»Waren Sie auch zufrieden mit mir, Dagobert?«

»Ich war einfach entzückt.«

»Das freut mich. Denn ich weiß, Sie sind ein strenger Kritiker, Dagobert. Einen Verdacht aber werde ich doch nicht los. Mir ist nämlich nachträglich die Idee gekommen, daß ich diese Soireen eigentlich für Sie machen mußte?«

»Für mich?!«

»Jawohl, zu Studienzwecken. Mir ist, als hätten Sie die ganzen Veranstaltungen in irgendeiner Weise mit Ihren Untersuchungen in der Angelegenheit der Briefe in Zusammenhang bringen wollen.«

»Ich beuge mein Haupt, Gnädigste; Sie haben mich durchschaut.«

»Nun – hat es wenigstens etwas genützt?«

»Ich glaube wohl, daß wir um einen Schritt vorwärts gekommen sind. Aus dem Inhalt der Briefe geht hervor, daß ihr Absender zu den Bekannten, vielleicht zu den Intimen des Hauses gehört. Diese wollte ich nun gern einmal beisammen sehen. Ich hätte es auch schon als einen Erfolg angesehen, wenn das Ergebnis ein rein negatives gewesen wäre, und ich die Überzeugung gewonnen hätte, daß der Briefschreiber nicht in Ihrem engeren Kreise zu suchen sei.«

»Es wäre mir sehr lieb, Dagobert, wenn Sie zu dieser Überzeugung gelangt sein sollten, und ich hätte gar nichts dagegen, wenn meine Mühe eine vergebliche gewesen wäre.«

»Dann müßte ich mir Vorwürfe machen, daß ich sie Ihnen verursacht habe.«

»Haben Sie wirklich etwas gefunden, Dagobert?'

»Ich habe mich in einer Meinung bestärkt, und das ist schon etwas. Ich habe meine Spur, und ich glaube, daß sie die richtige ist.«

»Dagobert, das wäre großartig, wenn Sie uns diesen Dienst leisten könnten! Sagen Sie, wen Sie im Verdacht haben.«

»Das geht nicht so schnell, meine Gnädigste. Mit Vermutungen ist uns nicht geholfen. Wir müssen Beweise haben.«

»Quälen Sie mich nicht so, Dagobert! Sie wissen etwas; sagen Sie es!«

»Es tut nicht gut, vorzeitig zu plaudern. Ich setze voraus, Gnädigste, daß selbstverständlich auch Sie mit keinem Menschen über diese häßliche Affäre gesprochen haben.«

»Selbstverständlich nicht, das heißt, einem habe ich doch mein Herz ausgeschüttet, aber das ist so, als wenn ich es niemandem gesagt hätte. Walter Frankenburg –«

»Walter Frankenburg!«

»– ist mein ältester Freund noch von der Bühne her, und er war mir schon damals ein wahrhaft väterlicher Freund. Als ich heiratete, war er mein Beistand vor dem Altar. Das ist ein Mensch, dem ich alles sagen darf.«

»Ich habe Sie beobachtet, Gnädigste, als Sie mit ihm sprachen, und ich hätte vorhin meine Bemerkung nicht gemacht, wenn ich nicht vermutet hätte, daß Sie ihn ins Vertrauen gezogen haben.«

»Daraus können Sie mir keinen Vorwurf machen. Dagobert. Der Mann ist verläßlich.«

»Ich hätte es für besser gehalten, überhaupt nicht zu sprechen. Haben Sie ihm am Ende auch mitgeteilt, daß Sie mich mit den Nachforschungen betraut haben?«

»Sie wurden nicht erwähnt, Dagobert. Ich wiederhole, daß ich für Walter Frankenburg die Hand ins Feuer lege. Er ist ein wahrhaft edler und ehrenhafter Mensch, aber lassen wir das jetzt. Erzählen Sie lieber von Ihren Beobachtungen.«

»Wir hatten also zwei Gruppen von Gästen, die Gruppe Grumbach und die Gruppe Frau Violet. Auf die erstere hatte ich von Haus aus wenig Hoffnung gesetzt. All die Großindustriellen und Finanzbarone – die haben doch gemeiniglich andere Sorgen, als sich Tag für Tag hinzusetzen und anonyme Briefe zu schmieren. Sie haben auch nicht die Zeit dazu oder sie nehmen sich sie nicht. Mehr Aussicht bot schon die zweite Gruppe, das Künstlervölkchen.«

»Ich danke im Namen der Künstler für das Kompliment!«

»Ich wollte Ihre Gefühle nicht verletzen, Frau Violet. Wenn Sie darauf bestehen, will ich Ihnen sogar bestätigen, daß Neid und Mißgunst und Gehässigkeit Untugenden sind, die in der Schauspielerwelt gar niemals vorkommen. So bin ich!«

»Ich bestehe nicht darauf.«

»Schön. Ich habe Ihnen schon neulich erwähnt, daß die Briefe wahrscheinlich von einem glattrasierten Manne geschrieben worden seien. Ich wollte damit nicht die Meinung erwecken, daß ich imstande sei, das aus der Schrift zu entdecken. Die Wahrheit ist, daß ich die Briefe sehr genau auch auf ihre stilistische Ausdrucksweise hin durchstudiert habe. Da waren mir gewisse wiederkehrende Wendungen und Ausdrücke aufgefallen. Es ist – um einige Beispiele anzuführen – es ist zum Schreien – ich freue mich diebisch – eine Bombenrolle – die talentlose Bestie – die Reklametrompete – die Beispiele ließen sich noch häufen. Nun, Frau Violet, finden Sie darin nicht doch einen Fingerzeig?«

»Allerdings, Dagobert, wenn man einmal aufmerksam gemacht wird!«

»Ich durfte also vermuten, daß ein glattrasierter Herr der Verfasser ist.«

»Warum gerade ein Herr?«

»Ich erinnere Sie an den Sultan flor

»Es gibt auch rauchende Damen!«

»Allerdings, aber sie rauchen nicht Tschibuk und gewöhnlich rollen sie sich auch die Zigaretten nicht selber. Ich habe mir also die Leutchen bei Ihnen gut angesehen und beim allgemeinen Aufbruch schloß ich mich einer Gruppe an, die mir einige Aussichten zu bieten schien.«

»Ich habe es wohl bemerkt, Dagobert. Auch Walter Frankenburg schloß sich Ihnen an.«

»Er kam auch mit, und ich bestätige Ihnen gern, daß er in seinen Kreisen ein hohes Ansehen genießt. Er ist auch außerhalb der Bühne ganz père noble Wir gingen nach gewohnter Sitte noch in ein Kaffeehaus. Natürlich wurde Ihr Abend besprochen und gründlich rezensiert, Frau Violet.«

»Bin ich sehr stark ausgerichtet worden?«

»Nicht im mindesten, ich versichere. Im Gegenteil. Einen Augenblick allerdings fühlte ich mich versucht, mit dem Ausrichten zu beginnen, um die anderen zur Fortsetzung zu animieren.«

»Ein schöner Freund!«

»Ich habe es nicht getan, ob schon ich mir wohl einen Erfolg davon versprechen konnte. In dem Briefschreiber muß sich doch ein starker Bodensatz von Gehässigkeit angesammelt haben, und davon mußte, wenn er sich in der Gesellschaft befand, in der Arglosigkeit etwas zum Vorschein kommen. Seien Sie ruhig, Frau Violet; ich habe es nicht getan. Man hat seine Grundsätze, und als Agent provocateur würde ich selbst im alleräußersten Notfall nicht auftreten.«

»Um den Preis hätten Sie es schon tun dürfen, Dagobert!«

»Niemals! Wir unterhielten uns natürlich ausgezeichnet. Das war noch auf Rechnung Ihres herrlichen Rheinweins und Ihres Heidsieck zu setzen, Frau Violet. Ich bot meine besten Havanna herum und erbat dafür eine Zigarette. Sofort wurden mir ein Dutzend Dosen entgegengestreckt. Ich lehnte ab. Ich hätte jetzt zu meinem kleinen Schwarzen gerade Gusto auf eine selbstgerollte. Nur einer in der Gesellschaft konnte dienen. Ich nahm die Dose – Sultan flor!«

»Ah!«

»Wir kamen ins Reden. Der Mann, der mir ausgeholfen hatte, erzählte eine Geschichte, und er leitete sie mit den Worten ein: Kinder, es war zum Schreien! Die Geschichte war recht abgeschmackt, aber die Einleitung hatte mich interessiert. Dann kam er auf Sie zu sprechen, und er erklärte, daß Violet heute einen Bombenerfolg gehabt habe.«

»Wer war das, Dagobert?«

»Lassen Sie mich auch weiterhin vorsichtig sein, Frau Violet.«

»Aber Sie scheinen nun doch schon wirklich nahe daran zu sein!«

»Vielleicht noch näher, als Sie glauben, Frau Violet. Ich werde morgen zu ungewohnter Zeit bei Ihnen sein, um zehn Uhr vormittags, und wenn wir morgen nicht zum Ziele kommen, auch die folgenden Tage zur selben Zeit. Ich bitte dich, Grumbach, auch so lange zu Hause zu bleiben, bis ich komme. Dein Bureau wird dir inzwischen nicht davonlaufen.«

»Und jetzt wollen Sie gar nichts mehr sagen, Dagobert?«

»Ich kann nicht. Nur eins noch: sollte inzwischen wieder einer der Briefe kommen, dann bitte, halten Sie den Umschlag schräg gegen das Licht. Ich hoffe, daß Sie da eine neue Nuance entdecken werden. Ich vermute nämlich, daß nun die Tinte einen Metallglanz ausweisen wird.«

Als Dagobert am nächsten Vormittag wiederkam, fand er Grumbachs schon eifrig damit beschäftigt, einen eben empfangenen Brief immer und immer wieder schräg gegen das Licht zu halten. Unverkennbar; die Tinte wies einen metallischen, grüngoldigen Glanz auf. Frau Violet war in großer Aufregung.

»Dagobert,« rief sie, »Sie sind ein Hexenmeister! Wie konnten Sie das wissen?«

»Verzeihung, Gnädigste, daß ich selbst ein wenig unpünktlich war. Ich wollte eigentlich gern selbst dabei sein, wenn der Briefträger kam. Ich wußte ja nun zur Genüge, mit welcher Post diese holden Briefe zu kommen pflegen, aber Sie wissen ja, ich bin ein unverbesserlicher Langschläfer. Es tut übrigens nichts. Lassen Sie mal sehen. Richtig – der schönste Metallglanz – womit ich die Ehre habe, mich hochachtungsvoll und ergebenst –«

»Was, Dagobert – Sie wollen doch nicht jetzt gleich wieder davonrennen! Erst müssen Sie erzählen.«

»Ich darf keine Zeit verlieren, um die Klappe zu schließen, Frau Violet. Es gibt noch viel zu tun. Ich lade mich aber heute zu Tische bei Ihnen ein, und dann werde ich Ihnen Rede stehen, so viel Sie wollen.«

Er eilte davon und erschien erst nachmittag um fünf Uhr pünktlich zum Essen, wie er es versprochen hatte. Er speiste mit gutem Behagen, während Frau Violet in ihrer Aufregung die köstlichen Gerichte fast unberührt ließ. Sie konnte es kaum erwarten, seinen Bericht zu vernehmen, aber sie wußte, daß er bei Tische von der Sache nichts reden würde, und sie konnte es auch mit Rücksicht auf die Dienerschaft nicht wünschen.

Als sie sich's aber nach dem Mahle im Rauchzimmer, Frau Violet auf ihrem Lieblingsplätzchen, bequem gemacht hatten, da erteilte sie ihm sofort das Wort.

»Die Arbeit ist getan, Frau Violet,« begann er. »Meine Mission ist erfüllt. Sie werden mit diesen elenden Briefen nicht mehr behelligt werden. Und auch du, Grumbach, wirst der Unannehmlichkeit enthoben sein.«

»Was mich betrifft,« erwiderte dieser, »so hätte es mich bei meiner Methode auch weiter nicht sonderlich gestört. Jedenfalls hast du mich aber wieder einmal tief zu Danke verpflichtet, Dagobert.«

»Erzählen Sie!« drängte Frau Violet.

»Ich weiß nicht, Gnädigste, ob es nicht rätlicher wäre, daß Sie sich mit der Tatsache der Befreiung begnügten, ohne nach den einzelnen Umständen zu forschen.«

»O nein, Dagobert, ich will alles wissen!«

»Gut. Also – den Missetäter hätten wir!«

»Wer ist es?«

»Wie ich bereits bemerkt habe, ein Zigarettenraucher, der glattrasiert ist. Wie ich daraufgekommen bin, wissen Sie. Wir waren bis dahin gekommen, daß mir einer Ihrer Freunde von seinem bürgerlichen Sultan flor anbot.«

»Wer ist das?«

»Am nächsten Tage machte ich diesem Manne meinen Besuch, und zwar zu einer Zeit, wo ich bestimmt wußte, daß er nicht zu Hause sein werde. Ich konnte das wissen; denn ich hatte mich erkundigt. Er war zu jener Zeit bei einer Bühnenprobe beschäftigt. Mein Besuch war nötig und nützlich. Ich konnte meine Vorkehrungen treffen. Als ich Sie heute morgen verließ, fuhr ich zum Kriminalkommissär Dr. Weinlich. Das ist der einzige fähige Kopf bei unserer Kriminalpolizei. Wir sind befreundet und tauschen gelegentlich unsere Erfahrungen und Beobachtungen aus. Ich darf wohl sagen, ohne unbescheiden zu sein, daß wir uns gegenseitig anregen und gegenseitig voneinander lernen. Ich trug ihm den Fall vor und fragte ihn, ob er behilflich sein wolle, die bedrohte Ehre und den Frieden eines angesehenen Hauses zu schützen. Ich verlangte nicht ein amtliches Eingreifen, erklärte dieses sogar von vornherein für ausgeschlossen. Ich brauchte nur einen sachkundigen und eindrucksvollen Zeugen zu der Verhandlung, die ich vorhatte. Er war sofort mit von der Partie, und wir fuhren zu dem Manne, den wir diesesmal – dessen hatte ich mich schon versichert – zu Hause trafen. Der Schwarze ist heute übrigens wieder ganz vorzüglich, Frau Violet, und was Ihren Kognak betrifft, so wollte ich schon längst einmal fragen –«

»Ach, Dagobert, lassen Sie jetzt doch die Kognakfrage! Erzählen Sie weiter!«

»Nein, wirklich! Für Kognak, müssen Sie wissen, bin ich Kenner, und da –«

»Dagobert!«

»Also wir trafen den Mann zu Hause.«

»So sagen Sie doch endlich um Gottes willen, wer es ist!«

»Er empfing uns großartig. Auch zu Hanse ganz – père noble

»Dagobert! Sie wollen doch nicht sagen – –«

»Ich will.«

»Doch nicht Walter –«

»Walter Frankenburg, der grosse Mime und väterliche Menschenfreund.«

»Das ist entsetzlich!«

»Er empfing uns also großartig. Mich wollte er gleich nur umarme, ich winkte aber gelassen ab. Ich machte es kurz und entschieden. Ich stellte den k. k. Polizeioberkommissär Dr. Weinlich vor, den ich gleich mitgebracht habe, da wir einer ganz niederträchtigen Lumperei auf der Spur seien. Dann zog ich zwei Briefe aus der Tasche, den von vorgestern und den heutigen, beide noch uneröffnet.

Kennen Sie diese Briefe, Herr Frankenburg?

Nein. Man wird doch nicht glauben –

Was wird man nicht glauben?

Daß ich sie geschrieben habe!

Warum sollten denn Sie sie nun nicht geschrieben haben können? Es könnte ja ihr Inhalt zufällig auch ein hochanständiger sein!

Er merkte, daß er sich verfangen hatte, und erbleichte, immer war er aber noch ganz der Heldenvater. Er sei hier zu Hause und werde sein Hausrecht wahren. Er sei nicht gesonnen, sich in seiner Wohnung wegen einer ebenso schmählichen als unbegründeten Verdächtigung förmlich verhören zu lassen.

Ich war der Meinung, entgegnete ich, daß Sie ein Verhör hier dem im Gerichtssaale vorziehen würden.

Im Gerichtssaale, Herr, werden Sie sich zu verantworten haben!

Ich fürchte nur, daß Sie mir keine Gelegenheit dazu bieten werden. Also Sie leugnen. Das ist Ihr Recht. Sie wissen aber leider nicht, daß ich Sie mit meinen Beweisen wie in einem eisernen Schraubstock halte. Sie können zappeln, so viel Sie wollen, Sie kommen nicht mehr los.

Die Beweise möchte ich kennen!

Sofort. Ich hatte mir die Ehre gegeben, gestern bei Ihnen vorzusprechen. Sie haben meine Karte doch vorgefunden?

Ja.

Haben Sie sie noch?

Jawohl, hier ist sie.

Schade. Sie hätten sie vernichten sollen. Denn sie bildet nun ein starkes, vielleicht das stärkste Beweisstück gegen Sie.

Was soll die Karte gegen mich beweisen? Sie schreiben mir auf ihr, ob ich nicht in der nächsten Zeit im Klub der Industriellen etwas vortragen wollte. Ich habe bis jetzt weder zugesagt, noch abgelehnt. Wie soll ich da nun etwas verbrochen haben?!

Sie wollen noch immer nichts zugeben. Gehen wir also methodisch vor. Zunächst wäre ich also in der Lage, Ihnen nachzuweisen, daß sich dasselbe Briefpapier, das zu diesen anonymen Sudeleien verwendet worden ist, in Ihrem Schreibtische vorfindet.

Wer kann das behaupten?

Ich. Ich bin nicht umsonst fünf Minuten an diesem Schreibtisch gesessen, wenn auch unter den sorglichen Augen Ihrer Wirtschafterin, die mir die Honneurs machte. Hier, Herr Kriminalkommissär, was für Parfüm haben diese beiden Briefe?

Ich glaube, es ist ein leichtes Veilchenparfüm, erwiderte Dr. Weinlich, nachdem er die Briefe zur Nase geführt hatte.

Einerlei, was es ist, erklärte ich, jedenfalls billige Sorte. Für Parfüms bin ich Kenner. Die Hauptsache ist, wollen Sie einmal, Herr Kriminalkommissär zur oberen Schreibtischlade rechts riechen.

Es ist in der Tat genau dasselbe Parfüm.

Das ist die Hauptsache. Sie wollen uns die Lade nicht aufschließen, Herr Frankenburg. Ich nötige Sie nicht, obschon ich glaube, daß wir dort einen Beweis finden könnten. Allerdings keinen genügenden. Das gebe ich Ihnen zu. Sie können auch sonst beruhigt sein. Wir haben keinen Hausdurchsuchungsbefehl mit, können Sie also auch nicht zwingen. Wir könnten uns ja schließlich einen solchen Befehl verschaffen, aber wir brauchen ihn nicht. Ich habe etwas Besseres. Als ich an diesem Tische zu sitzen die Ehre hatte, habe ich die Gelegenheit benutzt, um aus diesem Vexierring, den Sie an meinem Finger sehen, drei Tropfen in Wasser aufgelöster Bronzefarbe in Ihr Tintenfaß zu träufeln. Sie konnten den kleinen Scherz nicht bemerken, Herr Frankenburg, er hat Sie aber festgemacht. Die Karte, die ich schrieb, war das letzte Dokument, das an diesem Schreibtisch mit glanzloser Tinte geschrieben wurde. Was später geschrieben wurde, mußte, wenn die Tinte einmal eingetrocknet war, den verräterischen und unwiderleglichen Metallglanz aufweisen. Vergleichen Sie gütigst diese beiden Briefe, Herr Kriminalkommissär. Der eine ist vor, der andere nach meinem Besuche geschrieben worden, wie die Poststempel ausweisen.

Auch das ist unverkennbar, bestätigte Dr. Weinlich.

Tatsache ist nun, daß Sie alle Schreibtische Wiens gerichtlich durchsuchen lassen können, auf keinem wird diese absonderliche Tinte wiederzufinden sein. Glauben Sie nun, Herr Walter Frankenburg, daß ich Sie festhalte?«

»Nun, hat er gestanden?« fragte Frau Violet in höchster Spannung.

»Er war gebrochen, gab jeden Widerstand auf und alles zu. Und nun, Frau Violet, rüsten Sie sich zur großen Gerichtsverhandlung!«

»Was fällt Ihnen ein, Dagobert?! Soll ich mich vielleicht als Zeugin hinausstellen und dann in den Sensationsberichten durch alle Zeitungen schleifen lassen!!«

»Ja, was soll ich sonst mit dem Manne anfangen?«

»Schaffen Sie ihn ab aus Wien, legen Sie ihm sonst eine Buße auf, was Sie wollen, aber mich lassen Sie aus dem Spiele!«

»Merkwürdig, wie man sich täuschen kann! Ich dachte, weil Ihnen diese Art der Strafe bei der Gräfin viel zu mild schien –«

»O, das war etwas ganz anderes!«

»Ich weiß nicht, ob es etwas ganz anderes war, aber für alle Fälle habe ich auch ihn vom Fleck weg verbannt. Er wird nie mehr eine Wiener Bühne betreten, außerdem schickt er diesen Betrag für Ihren Wohltätigkeitsverein, meine Gnädigste. Den Ausweis wird er in den Zeitungen finden. Das Schlagwort wird lauten: ›Von einem überwiesenen Schurken‹, und er wird sich erkennen.«


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