Balduin Groller
Ganz zufällig und andere humoristische Novellen
Balduin Groller

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Der gute Rat.

So geht das nicht weiter! sagte sich Maxime Olbricht, Kustos an der Wiener Hofbibliothek, und sandte seinem Arzte Dr. Moritz Ständer eine pneumatische Karte, er möchte doch so gut sein, ihn zu besuchen. So ging das entschieden nicht weiter und es mußte etwas geschehen. Maxime hatte wieder einmal die ganze Nacht nicht geschlafen; das Hochgefühl, eine Nacht bumfest durchzuschlafen, hatte er überhaupt schon seit langer Zeit nicht genossen; das Essen schmeckte ihm nicht; den rechtschaffenen Hunger kannte er gar nicht. Er aß zu bestimmten Zeiten, weil das einmal so Brauch ist, aber er freute sich nie auf eine Mahlzeit, und er hätte auch, wie er meinte, eine solche gelegentlich einmal überspringen können, ohne sie sonderlich zu vermissen. Bei alledem ein unerquickliches Allgemeinbefinden, beängstigende, deprimierende Sensationen, Zittern in den Händen, Herzklopfen, Neigung zu Schwindel- und Ohnmachtsanfällen – so ging es wirklich nicht weiter. Wohin sollte das führen? Maxime war sechsundzwanzig Jahre alt; wie würde er, wenn er es überhaupt erlebt, in zwanzig Jahren aussehen? Wie die Ruine eines Mannes. Hm, es mußte, kein Zweifel, es mußte etwas geschehen, und darum setzte er sich hin und schrieb seinem väterlichen Freunde Dr. Moritz Ständer eine pneumatische Karte.

Dr. Ständer war schon in Maximes Elternhause Hausarzt gewesen; er war dabei, als Maxime das Licht der Welt erblickte; er hatte den zarten Knaben durch alle Kinderkrankheiten behandelt; er kannte seine Konstitution genau, er mußte auch jetzt helfen können. Er stand vielleicht nicht ganz auf der Höhe der modernen Wissenschaft, er gehörte ja 28 auch zur alten Schule, aber er hatte in seiner weitausgedehnten, zum großen Teile den Armen unentgeltlich gewidmeten Praxis viel erfahren und viel gesehen und sich einen sicheren Blick erworben. Er hatte auch seinen gesunden Menschenverstand; man durfte schon Vertrauen zu ihm haben. Maxime hatte denn auch Vertrauen zu ihm, und schon als der Arzt bei ihm eintrat, empfand er es wie eine Erleichterung seiner Leiden.

Maxime hatte sich zu seinem Empfange gebührend vorbereitet. Eine Flasche Cognac, ein Kistchen Cigarren und eine Schachtel Cigaretten standen auf dem Tische. Er kannte die kleinen Schwächen Dr. Ständers, der die armen Leute umsonst kurierte, der aber auch dafür bei den solventen Patienten sich's wohl sein ließ. Nicht etwa, daß er übertriebene Honorarforderungen gestellt hätte, darin war er von merkwürdiger Sorglosigkeit, er wollte sich's nur in den Krankenstuben gut geschehen lassen, er wollte sein Leben genießen. Mit Vorliebe citierte er den Spruch aus dem Faust: »Denn wenn ich judizieren soll, verlang' ich auch das Maul recht voll!« Ein kleiner feiner Imbiß und ein guter Trunk mußten für ihn stets in Bereitschaft sein, ebenso eine ägyptische Cigarette während des Besuches, wenn der Krankheitsfall das Rauchen zuließ, und eine Havannacigarre für die »Reise«. Er war auch dort, wo man seine Eigenheiten nicht kannte, durchaus nicht blöde, und wenn nichts vorbereitet war, verlangte er sein Deputat.

»Warum soll ich ihnen den Cognac und die Cigarren schenken?« pflegte er in solchen Fällen zu sagen. »Wer schenkt denn mir etwas?!«

Und wenn man irgendwo harthörig war oder nicht Deutsch verstehen wollte, da war er doch nicht so leicht aus dem Concept zu bringen. Da verschrieb er, ob sich nun ein dreijähriges Mädchen eine Erkältung zugezogen oder ein Großes den Arm verstaucht hatte, aus der Hof-Apotheke eine Flasche Malaga, Madeira oder Cypro, und verordnete sehr kleine 29 Dosen davon, alle zwei Stunden einen Kaffeelöffel voll, so daß auch für ihn etwas blieb. Wenn er dann wiederkam, dann prüfte, untersuchte und kostete er die Medizin, äußerte sich in Ausdrücken hoher Achtung über die Hof-Apotheke, und das Resultat war, daß eigentlich immer er die Medizin austrank.

»Na, wo fehlt's denn meinem Maximus?« rief Dr. Ständer bei seinem Eintritt. »Ah, da steht ja schon der Cognac, das ist gescheit! Weißt, Maximerl, was jetzt gut wär'? Ein Bissen Gänseleberpastete wär' jetzt gut. Du hast keine Ahnung, wie das zum Frühstück gut thut.« Der alte Hausarzt duzte seinen Patienten noch immer von dessen Kinderzeit her.

»Morgen wird sie da sein,« versprach Maxime.

»Gut, gut, dann brauche ich sie dir also nicht erst besonders zu verschreiben. Und jetzt ans Geschäft! Wo fehlt's? Trüffeln sollen auch dabei sein, weißt? Ich möcht' nur wissen, was an den Trüffeln eigentlich daran ist! Eigentlich ist wirklich nichts an ihnen. Sie schmecken nur gut; das ist alles; – aber warum?«

Maxime konnte keine Auskunft geben, aber er konnte sich der Sorge nicht entschlagen, daß mit dem guten Doktor nicht zu reden sein werde, wenn man ihn selbst ins Reden kommen lasse. Dr. Ständer war ein guter, aber nicht in allen Fällen ein kluger Arzt. Die Patienten sind gewöhnlich sehr redselig und haben immer das Bedürfnis, ihre Krankheitsgeschichte sehr umständlich und sehr gewissenhaft zu erzählen. Ständer war aber ein schlechter Zuhörer. Die Krankengeschichten langweilten ihn; sie hatten den Reiz der Neuheit für ihn vollständig eingebüßt. Er brauchte sie nicht; er sah sich seine Leute an und wußte, woran er war. Er unterbrach also diese Geschichten immer und begann dann immer selbst zu erzählen, daß er während seiner täglichen Fahrten durch die Wiener Stadt in seinem Wagen erst Dänisch und dann Schwedisch gelernt habe, daß er in jedem 30 Jahre die Sprache des Landes erlerne, das zu bereisen er im nächsten Sommerurlaube vorhabe. Dann lese er immer im Wagen die Romane der betreffenden Litteraturen in der Ursprache; jetzt habe er gerade die Russen in der Arbeit, das sei alles sehr unterhaltend.

Die Kranken fanden das nicht immer so von ihrem Standpunkt. Das genierte ihn aber nicht, und er setzte ihnen weiter zu mit Fragen, ob sie den oder jenen schwedischen oder dänischen Roman schon gelesen hätten und was sie dazu sagten. Ganz anders war Ständer freilich, wenn der Ernst des Falles seine volle persönliche Anteilnahme erforderte. Da war er imstande, auch auf Cognac und Cigarre zu verzichten, da sprach er im Tage auch mehrmals vor und wo es nötig war, wich er auch die ganze Nacht nicht vom Bette des Leidenden. Insbesondere hatte er den Ruf, daß er die Diphtheritis, dieses gräßliche Schreckgespenst für alle Mütter, durch eine wahrhaft aufopferungsvolle Arbeit und Hingebung, mit fast unfehlbarem Erfolg zu bekämpfen wisse. Einem solchen Arzt verzeiht man dann schon gerne manche Eigenheit.

Wenn er im Krankenzimmer ernsthaft an der Arbeit war, dann brachte er, so düster es sonst auch in demselben aussehen mochte, doch immer ein erhellendes Element des Humors hinein, und auch das ward ihm, wenn die schweren Stunden einmal überwunden waren, dankbar und treu angerechnet.

Maxime kannte die Eigenheiten seines Arztes, aber er ward doch sehr unzufrieden, als dieser, anstatt seine Aufmerksamkeit ihm und seinen Leiden zu widmen, richtig wieder von einem dänischen Roman begann und wissen wollte, was er von demselben halte.

»Ich bin krank, Herr Doktor!« unterbrach ihn Maxime ziemlich unliebenswürdig und ohne auf seine litterarische Frage einzugehen.

»Es wird nicht so arg sein,« entgegnete der Arzt, indem 31 er mit seinen glänzenden kleinen Augen über seine goldberänderten Brillengläser einen prüfenden Blick auf den jungen Mann warf.

»Es ist arg genug für mich,« sagte Maxime und begann dann die unerfreulichen Symptome seines Zustandes herzuzählen. Ständer strich sich seinen rötlichen Bart während dieser Erzählung, der er nur mit halber Aufmerksamkeit folgte.

»Bist du noch nicht fertig?« fragte er endlich ungeduldig über die lange Litanei.

»Aber ich muß Ihnen doch alles sagen, wenn Sie sich auskennen sollen!«

»Das ist gerade so, als wenn die Hausfrau einen Pudding, den sie eigentlich verpantscht hat, der Köchin erst wissenschaftlich erklären wollte. Das ist ganz überflüssig. Die Köchin sieht schon selbst, woran es liegt. Da hat man entweder zu viel Butter oder zu wenig Eier genommen. Was braucht's da einer großen Rede? Wir werden die Geschichte gleich haben. Zieh' dich aus, mein Sohn!«

Maxime legte Rock und Weste ab, und dann wurde er von Ständer gründlich untersucht; der Schlag seines Herzens und die Arbeit seiner Lunge wurden belauscht, aber alles Aushorchen und Abklopfen nützte nichts; der Arzt fand nichts Verdächtiges.

»Halte du andere Leute zum Narren,« rief Ständer endlich, »aber nicht mich. Dir fehlt nichts.«

»Das muß ich doch besser wissen, lieber Herr Doktor. Ich bin wirklich krank.«

»Das bildest du dir nur ein.«

»Und wenn es nur das wäre, so wäre es doch Ihre Pflicht, mich davon abzubringen. Denn wenn ich mir einbilde, krank zu sein, so bin ich es; gerade so, wie ich wirklich unglücklich bin, auch wenn ich mir nur einbilde, es zu sein.«

»Ja, dann gehört aber nicht ein Arzt her, sondern eine Kindsfrau oder eine Erzieherin oder ein Hofmeister, der dir etwas Vernunft beibringt.«

32 »Ich danke für das Kompliment. Sie glauben also, daß ich mir die qualvolle Schlaflosigkeit nur einbilde, daß ich die Appetitlosigkeit nur zum Spaße vorschütze, daß ich –«

»Ach nein, das glaube ich nicht. Du bist einfach ein Neurastheniker.«

»Nun, das wäre doch schon etwas!«

»Ein Unsinn ist's! Kaufe dir eine Flasche Altvater und trinke früh und abends ein Gläschen davon.«

Aha! Der Doktor hatte eine neue Schwäche!

»Sonst nichts?«

»Wir werden dann weiter sehen. Morgen komme ich wieder, dann können wir weiterreden. Vergiß nicht: Gansleber – Altvater! Guten Morgen!«

Damit wandte er sich zum Gehen, bei der Thür machte er aber noch einmal kehrt. »Eines kann ich dir übrigens heute schon sagen. Dir fehlt es an ernsthaften Sorgen. Du solltest heiraten!«

* * *

Heiraten! Das war nun wieder einmal so eine Verrücktheit von dem alten Doktor, das heißt – ganz eigentlich war die Idee nicht einmal gar so verrückt; hatte sich doch Maxime gelegentlich selbst schon mit ihr beschäftigt, wenn auch nur vorübergehend, aber im vorliegenden Falle war das Auskunftsmittel doch ein zu bequemes und der Rat ein zu billiger. Du solltest heiraten! Damit kommt man bleichsüchtigen jungen Mädchen, aber man versucht nicht, einen Mann so zu kurieren, der doch vorläufig ganz andere Sorgen hat. Maxime arbeitete jetzt an einer »Geschichte der Satire«, und man kann nicht an einem dreibändigen Werke arbeiten und dabei ans Heiraten denken. Eines oder das andere! Seine Arbeit wird er auf keinen Fall unterbrechen, und die kann ihn, da er ihretwegen sehr viel, und darunter auch sehr viel Langweiliges, lesen muß, noch gut zwei Jahre und vielleicht darüber in Anspruch nehmen.

33 Und wo steht es denn geschrieben, daß er, wenn er schon geheiratet hat, mit mehr Lust essen und besser schlafen werde? Das könnte ein schöner Reinfall werden! Er heiratet, seine Leiden bleiben – und dann sitzt er da und ist verheiratet!

Als Dr. Ständer am nächsten Tage wiederkam, war für seine leiblichen Bedürfnisse in der von ihm gewünschten Weise gesorgt, und das befriedigte ihn dermaßen, daß er für dieses Mal gar nicht erst mit der nordischen Litteratur begann, sondern gleich zur Sache kam.

»Gut geschlafen?« fragte er.

»Schlecht, elend, niederträchtig!« klagte Maxime.

»Ja, dann müssen wir dich ein bißchen aufpulvern, mein Sohn. Sage 'mal, hast du gar keine Liebhaberei?«

»Meinen Sie, ob ich eine tiefe Leidenschaft für Laubsägearbeiten oder fürs Briefmarkensammeln habe?«

Das meinte Dr. Ständer nicht, aber der Gegenstand interessierte ihn und er verbreitete sich behaglich über das angeregte Thema. Es sei doch psychologisch bemerkenswert, daß die meisten Menschen irgend ein Steckenpferd hätten. Der eine sammle Briefmarken, der andere Gemälde, der dritte Waffen, dieser Bücher, jener Theaterzettel, Eisenbahnbillets, Tramwayfahrkarten, Ansichtskarten, Autographe, alte Schlüssel, Edelsteine, Münzen, Raritäten, Kuriositäten –

»Lieber Herr Doktor,« unterbrach ihn Maxime seufzend, »ich warte sehnsüchtig auf Ihren ärztlichen Rat und Sie erzählen mir von Briefmarkensammlungen!«

»Wer hat denn angefangen von den Briefmarken? Red' nicht so dumm! Ich habe dich gefragt, ob du eine Liebhaberei hast, irgend einen Sport?«

Einen Sport! Maxime seufzte wieder auf. Jetzt war der Doktor glücklich beim Sport. Maxime kannte das. Der Sport war Ständers Steckenpferd; wenn er einmal auf diesem ritt, war er nicht so bald wieder herunterzukriegen.

»Du mußt nämlich wissen, mein lieber Maxime, daß der Sport die stille, leider unerwiderte Liebe meines Lebens ist. 34 Eine platonische Liebe, wenn man jene Liebe so nennen will, der nie die Erfüllung ihrer Wünsche wird. Was habe ich nicht alles treiben wollen – und zu nichts bin ich gekommen. Seit fünfundzwanzig Jahren sitze ich von früh bis in die Nacht hinein in meinem Wagen und fahre von einem Patienten zum andern. Was hatte ich als Bub und als Student für prachtvolle Muskulatur, und was für ein alter Schwachmatikus ist aus mir geworden! Hüte dich, mein Sohn, das ist alles, was ich dir sagen kann.«

»Ich hüte mich so schon,« erwiderte Maxime resigniert.

»Den Teufel hütest du!« polterte Ständer weiter. »Jedermann, hörst du, jeder Mann sollte irgend einen Sport treiben. Es macht sich übrigens. Ich komme viel herum und sehe, daß heutzutage doch fast in jedem Hause schon irgend etwas Athletisches getrieben wird. Was ich dazu thun konnte, habe ich übrigens redlich gethan.«

»Und nun soll auch ich daran, nicht wahr?«

»Allerdings; ohne Leibesübungen geht es einmal nicht. Es geht zwar dabei mancher gesunde Knochen in die Brüche, es wird dabei aber auch so mancher schlaffe Muskel gefestigt, so manches Herz gekräftigt und manches trübe Auge klar. Die Jugend wird dadurch gehärtet und aus der Jugend rettet sich das Alter sein Teil von Frische und sehniger Zähigkeit herüber. Das ist gut so. Denn wenn einmal die Riesenlast der stehenden Heere, welche nur als die großen Turnschulen für die Völker einen Wert haben, und sonst nicht, in sich zusammenbrechen wird, wozu es ja früher oder später doch kommen muß, dann werden – siehe das Beispiel Englands – jene sportlichen Liebhabereien den Völkern den notwendigen Ersatz bieten und für den notwendigen Massendrill der Jugend sorgen.«

Maxime fing an einzusehen, daß es da für ihn nicht ohne irgend etwas Sportliches abgehen werde, und er erkundigte sich, welche Art von Leibesübung der Doktor für ihn wohl empfehlen wolle.

35 »Das ist einerlei,« erwiderte der Doktor. »Treibe, wozu du Lust hast, aber treibe etwas. Das einfachste und natürlichste wäre, daß man dich täglich für einige Stunden spazieren laufen schickte, aber gerade das ist es, was ich dir ausdrücklich verbieten möchte.«

»Das verstehe ich nicht. Das Gehen ist gesund, es bringt die Gedanken in Fluß – das leuchtet mir vollkommen ein, warum soll ich nun mir nicht Bewegung machen dürfen?«

»Es bringt die Gedanken in Fluß – darin steckt es. Für dich würde diese Bewegung keine körperliche Erholung, sondern eine Fortsetzung der geistigen Arbeit sein, und das taugt nichts. Du würdest einfach an deiner Geschichte der Satire weiterarbeiten, und so 'was Dummes verordne ich nicht.«

»Was also sonst?«

»Hast du denn gar keine Passion, du Jammermensch!? Wenn die Leute, die einen Sport betreiben, von ihrer Liebhaberei erzählen, dann leuchten ihre Augen; es muß also doch etwas daran sein; aber freilich – Passion gehört dazu. Wie wär's, wenn du es mit dem Eislaufen versuchen wolltest? Die Eissaison läßt sich gut an. Kommt uns kein Thauwetter in die Quere, so bist du in vierzehn Tagen von allen deinen Leiden erlöst, oder du kannst mir mein wohlverdientes Honorar ratenweise abstreiten. Du mußt dir nur eine rechtschaffene Müdigkeit holen. Du wirst des Abends müde sein wie ein Hund, hungrig wie ein Wolf und schlafen wie ein Gott! Dafür stehe ich dir gut.« – –

So war es denn entschieden, Maxime mußte aufs Eis. Am ersten Tag kam er mißmutig nach Hause, er war ganz durchgefroren und es thaten ihm alle Knochen im Leibe weh. Aber schon am zweiten Tage ging es besser, und am dritten noch besser, und nach Ablauf der ersten Woche – er hatte entschieden natürliche Anlage zur Sache – konnte er sich schon dem Studium des Bogenlaufens widmen, und damit begann der eigentliche Hochgenuß. Dr. Ständer hatte recht 36 behalten. Maxime aß jetzt mit einem rasenden Appetit und abends sank er wie ein Stück Holz ins Bett.

Er wußte jetzt, er war überzeugt, es zu wissen, der schönste Sport ist doch der Eislaufsport. Er hatte es sich wohlgemerkt, es hatte Eindruck auf ihn gemacht, was Dr. Ständer von den leuchtenden Augen derer gesagt hatte, die sich einer besonderen Liebhaberei widmen. Er stellte Beobachtungen an auf dem Eislaufplatze und er fand, daß da die Augen aller glänzten und von den Gesichtern aller strahlte sichtbar die Freude an dem edlen winterlichen Vergnügen.

Er kam der Sache auf den Geschmack. Oft stand er selbstvergessen da und sah mit einer Freude, die alle Merkmale eines reinen Kunstgenusses hatte, zu, wie die Paare nach den rauschenden Klängen einer Militärmusik in der Mitte des großen Platzes tanzten. Da schienen die Gesetze der Schwere förmlich aufgehoben zu sein. Dieses rhythmische Gleiten und Schweben, Neigen und Wiegen, dieses Fliegen und Biegen und Schwenken, alles so federleicht, mühelos und harmonisch – er konnte sich daran nicht satt sehen, und er war von der Überzeugung durchdrungen, daß auch das berühmteste Ballett auf der berühmtesten Bühne nicht einen solchen künstlerischen Eindruck vermitteln könne, wie hier der Tanz auf dem Eise. Wie schwerfällig und wie reizlos waren die kühnsten Pas und die verwickeltesten Entrechats der geübtesten und deshalb auch meist ältesten Ballerinen, gegen die leichten, aller irdischen Schwere scheinbar entkleideten Bewegungen der tanzenden Damen auf dem Eise. Es war klar, eine Ballerine konnte gar nicht eine solche Grazie entwickeln.

Da war ihm besonders eine junge Dame aufgefallen – was war doch das für ein herztausiger Schatz! Die gab ihm etwas aufzulösen, und er hatte hinreichend Anlaß, sich tiefsinnigen Betrachtungen hinzugeben, während er sich mit heißem Bemühen dem Studium der Schlangenbogen, 37 Rückwärtsbogen, Dreier, Achter, Herzerl, kurz der ganzen propädeutischen Wissenschaft für den Tanz auf dem Eise widmete.

»Da sieht man wieder einmal,« philosophierte er, »welche hohe Rangstufe der Mensch (homo sapiens L.) einnimmt. Der Esel, wenn er aufs Eis tanzen geht, lernt nicht erst die Dreier und die Herzerln. Ich aber bin kein Esel und lerne erst brav meine Sache, bevor ich mir die eine, die Kleine herauslange und zum Tanz auffordere.« Und er studierte weiter, bis es ihm schließlich ganz heiß dabei wurde.

Es hieß allerdings fleißig sein, wenn er bald die Würdigkeit erlangen wollte, die eine, die Kleine zum Tanze zu bitten. Denn sie zählte zu den allergeschicktesten und allergraziösesten Tänzerinnen, und vorläufig lagen noch Welten zwischen ihnen, aber – die Hoffnung ist auch etwas wert.

Die Kleine interessierte ihn und sie beschäftigte ihn immer, während er sich im Schweiße seines Angesichtes abplagte. Das blaue, enganschließende Kleid, die schwarzen Stulphandschuhe, und nun gar das kecke Pelzkäppchen und die blitzblanken Jackson-Haynes-Schlittschuhe an den prächtigen Füßchen – das stand ihr ja alles sehr gut und das wog ja alles mit in der Wagschale, aber es war doch nicht das Ausschlaggebende. Auch die unvergleichliche Grazie ihrer Bewegungen war es nicht; da spielte noch etwas anderes mit herein. Sollte es am Ende das Gesicht gewesen sein? Möglich, wahrscheinlich sogar, jedenfalls gehörte es ganz bestimmt mit dazu und doch blieb noch ein unaufgelöster Rest zurück. Da muß man analysieren.

Die Augen? Sie leuchteten wie die der anderen, aber es steckte noch mehr dahinter, es waren blitzende, lachende Kinderaugen und dazu lachte der frische Mund mit, ein etwas trotziger Dornröschenmund, wenn er geschlossen war, und ein blinkender Sonnenschein, wenn die Fröhlichkeit die Zähne und ihren rosigen Halt für Momente ausstellte. Aber alles war auch damit nicht erklärt. Es wird wohl die Nase gewesen sein. Das Näschen – er hatte sich's gleich gedacht, 38 daß es daran liegen müsse; das war ihm nun förmlich zu einem wissenschaftlichen Problem geworden, das Näschen. Sie trug es etwas hoch, das Näschen, etwas – wie sollte er nur sagen – etwas, so gewissermaßen horizontal, und es stimmte merkwürdig gut zu dem kecken Pelzkäppchen.

Wenn ihm noch vor vierzehn Tagen jemand von einem spitzen Stumpfnäschen gesprochen hätte, so hätte er ihn einfach ausgelacht. Ein spitzes Stumpfnäschen ist eine contradictio in adjecto; was stumpf ist, kann nicht spitz und was spitz, nicht stumpf sein. Nun zeigte es sich wieder einmal, wie doch die Praxis immer über alle Theorie hinaus recht behält. Er nahm alle seine Kenntnisse aus der Geometrie und der Stereometrie zusammen, um sich die Sache klar zu machen. Eine Spitznase muß allerdings spitzig sein, aber eine Stumpfnase nicht stumpf; da entscheidet der Winkel, in welchem sie zur Oberlippe aufgesetzt ist. So ist es, der Winkel – nicht die Form! Was die Form betraf, so wußte er nicht recht, ob er es da mit einem seitlich abgestutzten Kegel oder mit einer Pyramide zu thun hätte, aber das wußte er, daß Geometrie nicht minder als die Stereometrie etwas furchtbar Langweiliges sei, während das fragliche Näschen etwas ungemein Unterhaltendes war.

Trotz aller Grübeleien kam er aber doch nicht hinter das letzte. Das Gesichtchen gab ihm noch immer ein Rätsel auf, das er nicht zu lösen vermochte. Es grüßte ihn etwas aus demselben wie etwas Uraltvertrautes, wie aus einer Zeit, da das Gesichtchen noch unmöglich auf der Welt sein konnte, kurz, er wußte durchaus nicht, »wo er es hinthun sollte«.

Eines Tages, als sich Maxime wieder mit rastlosem Eifer abmühte, seine Kreise zu ziehen, geschah es ihm, daß er bei einer verunglückten Wendung seiner ganzen Länge nach hinschlug auf den Bauch. Während er sich nun wieder aufzurichten suchte, nahte von der Seite das Verhängnis. In kühngeschwungenem Rückwärtsbogen kam eine junge Dame dahergeschwebt, und als ihr Spielfuß Maxime als ein am 39 Boden liegendes Hindernis berührte, da that sie, was in solchen Fällen die geschickten und sicheren Eisläuferinnen gewöhnlich zu thun pflegen. Um nämlich nicht ins Ungewisse und Unberechenbare zu fallen, setzte sie sich bei der ersten Wahrnehmung der Gefahr sofort freiwillig nieder, und das allerdings auch mit einer gewissen Plötzlichkeit und Heftigkeit, die sie übrigens nicht weiter störte, weil sie bei dieser Gelegenheit auf Maxime zu sitzen gekommen war, der nun wieder etwas unsanft aufs Eis gedrückt wurde und zwar so, daß auch seine Nase in eine durchaus nicht sanfte Berührung mit der Eisfläche geriet. Er kam da auf einen Moment sogar selbst zu einer Stumpfnase.

Er war sehr ärgerlich über das Abenteuer und rief in seiner gedrückten Lage etwas unwirsch herauf: »Erlauben Sie gefälligst – man setzt sich doch nicht gleich so auf die Leute!«

»Wenn man das nicht liebt, dann sollte man sich auch nicht den Leuten vor die Füße legen!« tönte es mit heller, etwas impertinenter Stimme zurück, während die Persönlichkeit, von der sie ausging, sich nicht einmal sonderlich zu beeilen schien, ihren improvisierten Thron zu verlassen. Denn sie brachte erst gemütlich eine Riemenschnalle wieder in Ordnung, die sich am Schuh verschoben hatte.

Maxime war wütend, und er begann von unten zu drücken und zu schieben, kurz, eine revolutionäre Schilderhebung vorzubereiten. Da – es war, als ob eine Taube plötzlich aufgeflogen wäre, ein kleiner Rummel, Maxime sah noch den blauen Schein eines Kleides vor seinen Augen flattern und dann war alles vorbei. Als er sich umsah, wußte er nicht einmal, nach welcher Richtung das Täubchen geflogen war; und wer seine Bedrückerin gewesen war, das wußte er erst recht nicht.

Nur die Stimme, die Stimme hatte ihm so merkwürdig bekannt und dabei doch so merkwürdig fremd geklungen. Er sann und sann und wußte nicht, wo er die Stimme hinthun solle.

* * *

40 Es giebt nichts Schöneres auf der Welt als Mädchenfreundschaften. Sie dauern, wenn nichts dazwischenkommt, ewig und sie bleiben, immer vorausgesetzt, daß nichts dazwischenkommt, ewig von gleicher selbstloser, aufopfernder Begeisterung getragen. Die Freundschaft zwischen Olga und Mizzi war in ihren Kreisen berühmt; ihnen war noch nichts dazwischengekommen und ihre gegenseitige Liebe währte nun schon seit einem Decennium von mindestens sechs Monaten.

Es gab allerdings Leute – die Welt ist schlecht – welche die beiden Mädchen noch als Backfischchen ansahen und ihre Gefühlsäußerungen nicht allzu ernst auffaßten, aber die Mädchen wußten es besser. Sie wußten es und hätten es durch tausend Eide bekräftigt, daß ihre Liebe ewig sei und daß ihre Freundschaft nie enden würde. Sie mußten es ja wissen; sie kannten sich und wie hätte ein anderer auch in ihren Seelen lesen können. Eines Tages erhielt Mizzi auf oblongem »Ivory Paper« folgende Zuschrift: »Mein süßer Schatz! Es thut mir so leid, daß du noch immer unwohl bist und daher auch gestern noch nicht aufs Eis kommen konntest. Es war himmlisch! Man erzählte, daß die Klara sich nun doch mit dem Ölfabrikanten verloben soll – unser Geschmack wäre das nicht, aber was geht das uns an? Das geht uns gar nichts an. Ich schreibe dir auch nicht deshalb – vorläufig glaube ich es gar nicht – sondern weil ich dir etwas gräßlich Interessantes mitteilen muß. Ich habe mich auf mein, auf unser Ideal gesetzt – ach, Mizzi, wenn du wüßtest, wie es sich auf so einem Ideal sitzt! Es war himmlisch! Er hatte sich mir zu Füßen geworfen und ich setzte mich auf ihn – es ist von uns beiden nicht gern geschehen, aber schön war es doch. Du hast ja mit mir den Fortgang seiner Studien auf dem Eise beobachtet und ich kann dir sagen: er kann noch immer nichts. Seine Bogen sind noch immer keine Bogen, er bildet sich das nur ein. Anstatt die innere Schulter zurückzudrücken, schiebt er sie vor; vom »Kreuz hohl« hat er noch keine 41 Ahnung, und sich so recht hineinlegen, bis er auf der Kante liegt, das versteht er auch noch nicht. Du kannst dir also die Figur denken! Aber ein hübscher Mensch ist er doch, er sieht, trotz seines schwarzen Schnurrbärtchens, so unschuldig aus. Ich konnte nichts dafür, als ich mich auf ihn setzte, er lag eben gerade da. Meine Gefühle sprachen da nicht mit, und wenn es ein anderer gewesen wäre, so hätte ich mich auf diesen anderen setzen müssen, es ging nicht mehr anders. – Ob er eine Ahnung gehabt hat, wer auf ihm sitzt? Ich glaube nicht. Du weißt ja, wie die Männer sind. Ahnungen sind nicht ihre starke Seite. Ich hätte mich auch sehr geschämt, es hätte so aufdringlich ausgesehen. Er hat aber ganz gewiß keine Ahnung gehabt. Deine dich liebende Olga. – P. S. Verbrenne diesen Brief.«

Mizzi suchte ihr schönes »Margareth Mill-Paper« hervor und antwortete sofort: »Mein süßes Herz! Es war so lieb von dir, daß du meiner in meiner Krankheit gedacht hast. Ich werde schon morgen ausgehen dürfen und da werde ich dich natürlich sehen, aber ich möchte nicht so lange warten, ohne über einen sehr, sehr wichtigen Punkt aufgeklärt zu sein. In der Hast des Schreibens hast du dich doch etwas zu unklar ausgedrückt. Das Ideal? Welches denn? Meinst du den O. oder den B.? Können – können beide nichts, also das wäre kein genügendes Merkmal und schwarze Schnurrbärtchen haben auch beide. Ich zittere bei dem Gedanken, daß es B. gewesen sein könnte, aber du weißt, daß meine Liebe zu dir zu jedem Opfer bereit wäre, selbst für den Tod. Doch das nur nebenbei. Zu schämen hättest du dich unter keinen Umständen gebraucht; denn von Aufdringlichkeit konnte da keine Rede sein. Wenn man noch so aufdringlich sein möchte, so wird man sich doch nicht aus freien Stücken gleich auf den Gegenstand seiner Verehrung setzen. Darüber sei also unbesorgt und antworte umgehend deiner dich ewig liebenden Mizzi. – P. S. Vernichte diese Zeilen sofort!«

42 Dieses »par bonté,« durch einen Dienstmann, bestellte Schreiben erforderte eine sofortige Antwort und diese wurde auch ohne Verzug abgefertigt. Sie lautete: »Meine einzige Mizzi! Ich müßte böse auf dich sein, wenn ich dich nicht so liebte. Wie hast du nur einen Augenblick glauben können, daß es B. gewesen sei! Hättest du mir das wirklich zugetraut und denkst du wirklich so gering von unserer Freundschaft? O, lieber den Tod, als so etwas! Ich kenne deine Gefühle für B., und doch sollte ich – o, schon der Gedanke an einen solchen Verdacht thut weh. Heilig ist das Eigentum! Ich würde lieber ins Kloster gehen und der Welt für immer entsagen, als dir dein Heiligstes rauben wollen. Also natürlich war es O., und daß du nur einen Augenblick zweifeln konntest, das ist die Strafe für mich, daß ich selbst vor dir ein Geheimnis hatte, aber es ging nicht anders, da du krank warst. Doch darüber mündlich mehr. Deine tief unglückliche Olga. – P. S. Ich brauche dich wohl nicht erst zu bitten, diesen Brief sofort zu verbrennen. O, das Leben ist doch schön! Es küßt dich Obige.«

Mizzi durfte auch am nächsten Tage noch nicht ausgehen, und da, wie sie wußte, Olga vormittags durch ihre Klavierstunde und nachmittags durch ihren Jour am Ausgehen verhindert war, wurde der Briefwechsel schon früh am Morgen wieder begonnen. Sie schrieb: »Meine einzig geliebte Olga! Man läßt mich auch heute noch nicht hinaus, trotzdem ich dich eigentlich sprechen müßte. So neugierig war ich in meinem ganzen Leben noch nicht, und gerade da muß ich zu Hause wie in einem Kerker schmachten. Teile mir umgehend dein Geheimnis mit. Du weißt, es ruht bei mir sicher wie in einem Grabe, und wenn ich auch furchtbar neugierig bin auf das Geheimnis, so frage ich doch nicht aus Neugierde, sondern aus liebender Teilnahme, weil ich mit dir fühlen möchte. Deine Freude ist meine Freude und dein Schmerz ist mein Schmerz. Haben wir uns nicht ewige Treue geschworen? Ich halte meinen Schwur. Auf ewig dein. – Mizzi

43 Darauf mußte sofort geantwortet werden, und das geschah in folgender Weise: »Du meine einzige Herzensfreundin! Worte können das nicht ausdrücken, wie leid es mir thut, daß ich dich auch heute noch nicht sehen und sprechen und küssen soll. Also höre: Als im Burgtheater das Trauerspiel von Olbricht ›Tod dem Verräter!‹ aufgeführt wurde, da waren wir bei der Premiere. Das Stück wurde leider nur einmal hintereinander aufgeführt. Mit Unrecht. Ich habe das Publikum und die Kritik nicht verstanden. Das Stück ist ganz gut, ich versichere dir und du darfst mir glauben. Als er nach dem ersten Akte gerufen wurde und sich mit einem solchen Ausdruck von Glück im Gesichte verneigte, da hatte er mein Herz gewonnen und ich fühlte, daß es für keinen Unwürdigen schlug, und als es dann bei den späteren Aktschlüssen still blieb und zuletzt gar gezischt und gelacht wurde, da bin ich ihm doch treu geblieben. Du hast ja dann die Kritiken gelesen. So behandelt man Einbrecher oder Leute, die silberne Löffel gestohlen haben, aber doch nicht einen gottbegnadeten Dichter, und das ist er, ich gebe dir mein Ehrenwort. Einige Tage überlegte ich nun, wie ich ihm für den ausgestandenen Kummer doch eine rechte Freude machen könnte und da schrieb ich ihm – natürlich anonym – einen begeisterten Brief und bat ihn um ein Autograph. (Sagt man der Autograph oder das Autograph; da kennt sich kein Mensch mehr aus. Man sagt der Hektograph und der Photograph, aber ich glaube bestimmt, daß es das Autograph heißt.) Und – wer war glücklicher als ich? – er schickte mir wirklich unter »Ewig treu; postlagernd«, einen Brief mit einem Apho – (ich kenne Aphorismen nur im pluriel. Wie sagt man denn im singulier – der Aphorismus, die Aphorisme, das Aphorismum oder gar Aphorismon? Da kann sich kein Mensch auskennen). Jetzt kannst du dir denken, wie interessant mir die »Begegnung« mit ihm auf dem Eise sein mußte. Er war allerdings nicht sehr höflich, aber er konnte ja nicht wissen –! Nun weißt du 44 alles, du Süße, und du wirst mich nicht verraten. – Mit Klaras Verlobung soll es doch seine Richtigkeit haben. Ich habe nie gar so viel an ihr finden können. Es küßt dich tausendmal deine dich ewig liebende Olga. P. S. Verzeihe die schlechte Schrift, aber ich habe so viel zu thun und mußte in großer Eile schreiben. – Obige.«

* * *

Es ist kein Verlaß auf den Wiener Winter. Maxime war so schön im Zuge gewesen, es zu etwas zu bringen auf dem Eise, da brach der Föhn und mit ihm das Thauwetter herein und aus war's wieder mit dem Studium. Es regnete ganz sommerlich durch mehrere Tage und dann fiel Schnee vom Himmel, der aber nicht liegen blieb, dann fegte ein neutraler Westwind durch die Straßen, die in einen bejammernswürdigen Zustand geraten waren und legte sie wieder trocken, aber frieren wollte es nicht, und als es nach drei Wochen doch wieder in der Nacht scharfen Frost gab, da hatten bei Tage die Sonnenstrahlen doch schon zu viel Kraft, als daß ihnen die Eisflächen hätten erfolgreich Widerstand leisten können.

Maxime bedauerte das übrigens nicht nur unter dem Gesichtswinkel seiner sportlichen Bestrebungen; er hätte sich so gerne wieder durch womöglich täglichen Augenschein davon überzeugt, ob ein gewisses Gesichtchen mit einem gewissen, ganz merkwürdigen Näschen in Wirklichkeit genau dem Bilde entspreche, das sich so tief in seine Vorstellung eingeprägt hatte. Wenn die Wirklichkeit da wirklich standhielt, da war das doch ein ungemein reizendes Gesichtchen, und die Wahrscheinlichkeit, daß es das war, war eine sehr große. Ja, die Sache schien sogar gewiß, wenn er auch auf dieses Gesichtchen nicht immer gut zu sprechen war.

Wie kam er denn dazu, sich durch dieses Gesicht immer bei der ernstesten Arbeit gestört zu sehen?! Die alten Satiriker, mit welchen er sich zu beschäftigen hatte, vertrugen 45 diese Gesellschaft nicht und wurden dabei noch lederner, als sie es ohnedies schon waren. Nicht einmal Lucian konnte ihn trösten; der alte Grieche war entschieden nicht so lustig wie das junge Näschen.

So geschah es ihm denn oft, daß er seine Arbeit Arbeit sein ließ und sich aufmachte ins Ungewisse, Unsichere, Unwahrscheinliche. Er ging auf die Straße hinaus und dachte sich, wenn er Glück hätte, würde er ihr doch einmal begegnen. Aber er hatte kein Glück. Wer hat denn überhaupt Glück? Man frage doch einmal herum. Niemand wird zugeben, daß er Glück habe, jeder aber darauf schwören, daß er und nur gerade er ein ausgemachter Pechvogel sei. Darauf schwur auch Maxime. Die tiefe Durchdrungenheit von der Überzeugung, daß er Pech habe, er möge unternehmen, was er wolle, hinderte ihn aber nicht, seine planlosen Expeditionen fortzusetzen. So bedeutend er auch als Philosoph war, das wußte er doch nicht, daß nämlich die Dinge immer anders kommen, als man erwartet oder es sich vorher ausrechnet, anders als man hofft und anders als man fürchtet. Er lief also durch die Straßen und bekam die kleine Olga doch nie zu Gesicht. Wien ist nämlich so groß, daß man Leute, denen man auf der Straße begegnen möchte, auch wohl in zehn Jahren nicht zu Gesichte bekommt, und Wien ist so klein, daß man Leute, denen man nicht begegnen möchte und die einem recht zuwider sind, täglich antrifft, und zwar gewöhnlich da, wo es einem am allerunangenehmsten ist. Ja, so ist Wien.

Der Winter verging und der Frühling zog ins Land, wie er es gewöhnlich macht, erst brausend und heulend und ungebärdig, der richtige Struwwelpeter, der sich dann plötzlich zu einem ungemein wohlerzogenen und gesitteten Knaben entwickelt.

Maxime war nunmehr überzeugt, daß er die Kleine überhaupt nie wieder erblicken würde, und da – da stand sie gerade vor ihm. Er war, ohne an Olga, also ohne an etwas 46 Schlimmes zu denken, in Begleitung eines befreundeten Landschaftsmalers in die Jahresausstellung im Künstlerhause gegangen, die manchmal recht sehenswert ist, die aber immer vom Wiener Publikum vernachlässigt wird. Und da sah er vor einem großen Historienbilde ein Figürchen stehen, und das Figürchen las in dem Kataloge, und das war Olga.

Wie wenn der Löwe in der Wüste ein Lamm erblickt, von dem er bestimmt weiß, daß es ihm nicht entkommen werde – (der freundliche Leser: »Aber, Herr Groller! In der Wüste giebt es ja gar keine Lämmer.« – Herr Groller: »Lassen Sie mich in Ruhe, wenn ich dichte! Übrigens haben Sie die Wüste auch noch nicht überall untersucht. Es wird sich auch dort schon irgendwo ein Lamm finden.«) – Mit großer Befriedigung also nahm Maxime wahr, daß sie ihm jetzt nicht entkommen könne. Entränn' sie jetzo seinen Händen, so müßte er ein rechter Esel sein. Der Arme wußte nicht, daß er das wirklich war.

Plötzlich ward ihm nun die Gesellschaft seines geschätzten Freundes recht unbequem. Der war aber nicht anzubringen. Man wird zugeben, daß es einigermaßen schwierig ist, einen Künstler unter einem halbwegs plausiblen Vorwande von einer Kunstausstellung wegzuschicken und das, nachdem man ihn erst um seine Begleitung ausdrücklich gebeten. Maxime hatte zwar die Idee, seinem Freunde durch die Mitteilung eine sinnige Überraschung zu bereiten, daß in seinem Atelier ein Brand ausgebrochen sei und daß er daher sofort nach Hause eilen solle, aber eine reiflichere Überlegung brachte ihn dann doch von dieser wenig glücklichen Idee ab.

So ging das also nicht, es mußte daher anders gehen. Der vortreffliche Landschaftsmaler Windler sollte nun, ohne daß der Arglose davon eine Ahnung gehabt hätte, seine Verwendung finden als »Elefant« und als »Maurer«, wie sie die Taschendiebe brauchen.

Maxime drehte vorläufig einmal den Spieß um. Er faßte Windler unter dem Arm und begann ihn zu führen, 47 anstatt sich von ihm führen zu lassen. Maximes künstlerisches Interesse hatte aber einen etwas sprunghaften Charakter. Erst schien ihn die große Historie mächtig anzuziehen, kaum hatte aber Windler seinen Vortrag über die Berechtigung dieser »Richtung« begonnen, als er von Maxime auch schon weitergezogen wurde, weil für diesen jetzt plötzlich die Blumenmalerei eine enorme Wichtigkeit gewonnen hatte. Windler äußerte nun allerdings, daß man so eine Ausstellung nicht ansehe, und daß man auf diese Weise nicht zu einem vernünftigen Meinungsaustausch gelangen werde. Das war aber unserem Maxime jetzt ganz egal; der gute Windler hatte eben nicht bemerkt, daß Fräulein Olga von dem Geschichtsbilde weg zu einigen Blumenstücken getreten war.

Maxime hatte geschickt operiert; sie standen jetzt knapp hinter Olga und hatten förmlich den Belagerungszustand über sie verhängt, und jetzt führte auch Maxime das große Wort.

»Wie schön!« rief er mit Innigkeit.

»Ich dachte, du seist kein Freund von Blumenstücken?« erwiderte der unschuldige Windler.

»Hier muß jeder entzückt sein!« versicherte Maxime mit Überzeugung und nicht ohne Beziehung.

»Nun, ja doch,« entgegnete harmlos Windler, »es sind gute Sachen; sie sind von der Olga.«

»Von der – wem?« fragte Maxime zerstreut, er hatte nämlich mit Entzücken bemerkt, wie ein zartes Rot sich über die Wangen der jungen Dame vor ihm breitete und wie sich dieses Rot bis unter die köstlichen kleinen Nackenlöckchen zog.

»Nun, von unserer Olga Florian-Wisinger,« erläuterte Windler weiter. »Ein kolossal talentvolles Frauenzimmer!«

»Wie sie schön ist!«

»Wer – die Olga?« fragte der gute Windler etwas betreten.

»Die Olga! Nein, die kenn' ich gar nicht, ich meine die Rose vor uns.«

»Ja, sie ist gut gemacht,« bestätigte Windler. »Sie ist 48 fein in der Farbe und hat eine gewisse Plastizität. Famose Mache!«

»Ganz meine Ansicht. Sie ist zum küssen!«

»Erlaub du mir, lieber Freund, so phantasiert man doch nicht vor einem Bilde!«

»Laß du das nur gut sein. Ich weiß schon, wie man da zu phantasieren hat! Ich werde mir dieses Bild kaufen.«

»Geschmackssache! Die Olga ist nicht billig!«

»Es soll für mich eine teure Erinnerung sein.«

»Mir scheint, du schwärmst!«

»Ja, ich schwärme! Übrigens, weißt du, was mir vor diesem Bilde einfällt? Es giebt Näschen auf der Welt, welche nur dazu geschaffen scheinen, den Blumenduft in sich aufzunehmen!«

»Das ist sehr tiefsinnig bemerkt,« antwortete Windler achselzuckend, der gar nicht bemerkte, daß die junge Dame vor ihnen sich anscheinend etwas ungeduldig von ihrem bisher innegehabten Platze entfernte.

Maxime wollte die Verfolgung sofort wieder aufnehmen, aber das edle Wild hielt nicht stand. Das Fräulein gesellte sich zu einer älteren Dame in einem Nebensaale, mit der sie dann sofort aufbrach. In gemessener Entfernung schleifte Maxime ihnen seinen Freund nach, und er traf mit diesem gerade beim Ausgang ein, als die Damen einen Wagen bestiegen und davonfuhren.

»Mir scheint,« hub da der erst jetzt zur Besinnung kommende Landschaftsmaler an, »ich bin nur darum dein Freund, weil du verliebt bist.«

Noch am selbigen Tage ging ein sehr dringliches Schreiben an Mizzi ab. Es lautete: »Du teure Herzensfreundin! Ich habe dir etwas sehr Wichtiges mitzuteilen, oder eigentlich eine sehr wichtige Frage an dich zu richten. Ich habe ihn gesehen! Es war im Künstlerhause. Mama hatte sich ermüdet auf einen Diwan gesetzt, während ich gewissenhaft die noch nicht gesehenen Nummern ablief. Plötzlich stand 49 er mit einem Herrn hinter mir und ich mußte alles anhören, was sie miteinander sprachen. Ich kann dir nicht sagen, wie mir das Herz klopfte! Und nun zu der Frage! Du weißt, daß meine Nase den großen Kummer meines Lebens bildet, und wie ich mich kränke, daß sie nicht um einen Gedanken größer ausgefallen ist, und daß, so wie sie ist, es eigentlich beinahe in sie hineinregnet, aber das läßt sich ja nicht mehr ändern. Nun hat er eine Bemerkung über gewisse Nasen gemacht und ich weiß nicht, ob das Ernst oder Spaß und wie es gemeint war. Er sagte, es giebt Nasen, die nur dazu geschaffen scheinen, an einer Blume zu riechen. Hat er mich damit verhöhnen wollen, oder wollte er damit etwas Angenehmes für mich sagen? Letztes kann ich nicht glauben und ersteres wäre doch eine solche Gemütsroheit, daß ich sie ihm nicht zutrauen darf. Was glaubst du? Beruhige umgehend durch eine Antwort deine dich in Eile liebende

Olga

Maxime war in sehr ärgerlicher Stimmung. Wenn man es recht bedachte, so war die Sache doch zu dumm. Läuft da in der Wiener Stadt so ein unglaublich reizendes Mädchen herum, und man soll durchaus nicht dahinter kommen können, wer sie sei, wie sie heiße und wo sie wohne. Es vergingen wieder Wochen, ohne daß er ihrer ansichtig geworden wäre, und als er sie dann doch einmal in einem Pferdebahnwagen antraf, da mußte natürlich wieder sein ganz specielles Pech ins Spiel kommen. Es wäre so einfach gewesen, sich ihr nun an die Fersen zu heften und nicht eher zu weichen, als bis alles Wünschens- und Wissenswerte ausgekundschaftet war – mußte er da nicht gerade in unaufschiebbarer amtlicher Mission unterwegs sein! Es war kurz vorher etwas in der Hofbibliothek gestohlen worden, und da war er nun als Zeuge und Sachverständiger zum Gericht citiert worden. Da konnte er doch jetzt unmöglich einem jungen Mädchen nachlaufen! Er begnügte sich also damit, sich von seinem Sitze zu erheben und seinen Platz ihr 50 anzubieten. Olga nahm an, aber das Kopfnicken, mit dem sie dankte, fiel bei ihrem Bestreben, ihre Erregung nicht zu verraten, etwas hochmütig aus. Sie blickte angelegentlich zum Fenster hinaus, war sich aber dessen bewußt, daß Maximes Augen unverwandt auf ihr ruhten.

Er versuchte es nicht, unter diesen Umständen, vor den fremden Leuten und wo sie ja doch beide auf dem Sprunge standen, eine Anknüpfung herzustellen. Dazu lagen die Verhältnisse doch zu ungünstig. Er betrachtete sie also wortlos weiter so eingehend, als es nur immer möglich war, und machte sich seine Gedanken, ob sie denn wirklich so hochmütig sein möge, wie es den Anschein hatte. Daß sie das Näschen recht horizontal trug, darüber war kein Zweifel, aber – ob das nicht vielleicht nur so äußerlich war? Und wenn sie hochmütig war? Gar keinen Fehler sollte sie haben?! Bei solchem Reiz – in das Gesichtchen mußte sich doch jeder vernünftige Mensch verlieben – da durfte schon irgendwo irgendetwas nicht ganz klappen, was man gern und leicht mit in den Kauf nehmen konnte.

Olga stieg früher aus als er, und er kam dadurch in die angenehme Lage, ihr beim Aussteigen behilflich sein zu können. Dabei hatte er die Kühnheit, die Vorteile, die ihm dieser Anlaß bot, auch auszunützen, indem er unter dem Vorwand, ihr zu helfen, ihr einen sehr gefühlvollen Händedruck versetzte. Dieser Druck wurde nicht erwidert; Olga blickte auch nicht auf zu ihm und benahm sich überhaupt heldenmäßig brav, obschon ihr armes Herzchen auf ganz bedenkliche Art rebellierte. Er blickte ihr nach, wie sie so stolz und von seiner Huldigung so ganz unberührt dahinschritt, und er sagte sich, sie müsse hochmütig, impertinent hochmütig sein – oder schien das wirklich nur so, weil sie das Näschen gar so hoch trug?

Nachträglich – er gehörte auch zu jenen Leuten, welchen immer nachträglich die besten Ideen kommen – that es ihm leid, daß er nicht doch, trotz der Ungunst der Umstände, die 51 Feindseligkeiten eröffnet hatte. Er hätte doch seine Überlegenheit erweisen können. Er konnte ja sonst, wenn er wollte, ein gesellschaftlicher Schwerenöter sein, und nun hatte er dagestanden wie ein schmachtender Gymnasiast. Wohin sollte denn das eigentlich führen? Ein halbes Jahr war schon fast vergangen, seitdem er sich für dieses Kind interessierte – ach, wozu die Sache abschwächen und sich selbst belügen? seitdem er es liebte, und wie weit war er gekommen? Wahrhaftig. man darf den liebenden Gymnasiasten nicht unrecht thun; – jeder Gymnasiast wäre in dieser Zeit weiter gekommen; und wahrscheinlich hätte keiner, auch der schüchternste unter ihnen, weniger ausgerichtet als er.

Endlich kam aber doch auch für ihn die Gelegenheit, wie er sich sie nicht hätte besser wünschen können. Für jeden Menschen kommt ja einmal im Leben seine Stunde, die rechte Stunde der Entscheidung, wo es dann in seine Hand gegeben ist, den richtigen Gebrauch von ihr zu machen. Dem einen schlägt sie zum Glück aus, dem andern zum Unglück; viele ergreifen die rechte Gelegenheit, die entscheidende Dummheit ihres Lebens zu begehen. Das ist so Menschenrecht und daran ist nichts zu ändern.

Wieder hatte Maxime Wochen verbracht, ohne daß sich darin, was ihm nachgerade zur Hauptsache geworden war, irgend etwas Besonderes begeben oder gar geändert hätte. Dabei sah er doch mit einer gewissen Zuversicht in die Zukunft. Aus war die Geschichte ganz bestimmt noch nicht, das fühlte er, und er wartete von Woche zu Woche mit einem süßen Gefühl der Spannung auf die Lösung.

Der Hochsommer war da und Maxime nützte seinen Urlaub zu einer Reise durch das Salzburgische. Schon hatte er mehrere Seen absolviert, als er sich entschloß, die Eisenbahnfahrt auf den Gaisberg hinauf zu machen. Dieser Ausflug ließ sich unfreundlich an und hinterließ ihm auch keinen freundlichen Eindruck. Das Wetter war unwirsch, und so ward mancherlei Reiseärger in höherem Maße 52 stimmungsverderbend empfunden, als es wohl bei hellem Sonnenschein der Fall gewesen wäre. Auf dem Bahnhofe in Parsch, der Aufbruchsstation nach dem Gaisberg, wurde Maxime von einem reichsdeutschen Familienvater angegangen, sich ihm und den Seinigen aus praktischen Gründen anzuschließen. Der reisende Familienvater hatte nämlich in seinem Reisehandbuche gelesen, daß man sich die Gaisbergfahrt, die lächerlich teuer ist, dadurch billiger stellen könne, daß man sich in genügender Zahl zusammenthue, um Abonnementskarten kaufen zu können. Man rottete sich also zu diesem Zwecke zusammen und erfuhr dann am Schalter, daß es solche Abonnementskarten allerdings gebe, daß sie aber nicht an der Bahnhofskasse, sondern weit weg irgendwo in Salzburg zu kaufen seien. Maxime war der einzige Österreicher in der Gesellschaft und er glaubte sich über diese ganz ordinäre Fopperei des Publikums am meisten ärgern zu müssen. Die Stimmung wurde nicht besser, als sie dann doch hinauffuhren und oben zwar gar keine Aussicht, aber im übrigen in allen Stücken eine ganz und gar ungerechtfertigte Teuerung vorfanden. Schließlich war alles einig darin: »Na, einmal fällt man 'rein, aber der Gaisberg sieht uns nicht wieder!«

In das Fremdenbuch schrieb der deutsche Familienvater einen Stachelvers, dann unterzeichnete er ihn mit seinem Namen und dann unterschrieben seine Gattin, seine Töchter, seine Söhne und alle anwesenden Verwandten in auf- und absteigender Linie bis ins vierte Glied. Dann wollte Maxime unterschreiben, er sah sich aber erst mit der Feder in der Hand um, ob nicht noch jemand da sei, der sich unterfertigen wolle. Und richtig griff eine Hand nach der Feder, und das war – Maxime glaubte, er werde sofort umfallen – die Hand Olgas.

Kaum hatte er nun mit einer erschrockenen Verbeugung die Feder aus der Hand gegeben, als er auch schon von seinem Freunde, dem Familienvater, auf der einen und von 53 einem anderen zur Familie gehörigen fidelen Reiseonkel auf der anderen Seite unter den Arm gefaßt und davongeschleift wurde. Es war nämlich höchste Zeit zur Rückfahrt. Wie Maxime so geschleift wurde, warf er hoffnungslose Blicke zurück und sah, daß auch Olga und ihre Mutter zu dem Zuge kamen. Sie stiegen aber in die erste Klasse ein, während er mit den Familienangehörigen in der zweiten saß.

Als der Zug unten in Parsch angekommen war, wiederholte sich die dumme Geschichte, die Maxime schon einmal in Wien vor dem Künstlerhause erlebt hatte. Olga und die ältere Dame in ihrer Gesellschaft – es war offenbar ihre Mutter – setzten sich in einen Wagen und fuhren davon. Olga hatte noch einen Blick nach ihm geworfen, er hatte es wohl bemerkt, und es that ihm nur leid, daß er diesen Blick nicht photographieren konnte, um bei gelegener Zeit eingehende Studien über denselben anzustellen. Den Blick mußte man sich zerlegen und analysieren; denn er war nicht so einfach, dieser Blick. Es lag etwas Schnippisches darin, kein Zweifel, sogar etwas Hochmütiges. Oder war dem doch nicht so und half nur das hochgetragene Näschen zu diesem Eindruck mit? Wohl möglich! Denn in dem Blick lag noch mehr, auch etwas Liebes und Gutes, und – man kann sich ja leicht täuschen – auch etwas Humoristisches.

Natürlich war nun für Maxime die deutsch-österreichische Allianz etwas sehr Gleichgültiges geworden. Mit verblüffender Raschheit empfahl er sich von der deutschen Familie, die, wenn er allen Berichten Glauben schenken durfte, sich nach dem Systeme des Sandes am Meere zu vermehren vorhatte, und stürzte auf den nächsten Wagen zu, um die Verfolgung der beiden Damen aufzunehmen. Vergebliche Liebesmühe! Ehe der Kutscher begriffen hatte, um was es sich handle – die Salzburger Kutscher sind langsame Denker – war der Wagen mit den Damen längst außer Gesichtsweite.

* * *

54 Am nächsten Morgen unterhandelte Maxime auf dem Marktplatz in Salzburg mit einem Fiaker wegen einer Fahrt nach dem Königssee. Die Unterhandlungen zogen sich in die Länge – Maxime war etwas genau – und endlich wurden sie ganz abgebrochen. Maxime erklärte ganz kategorisch, daß er sich nicht über das Ohr hauen lasse und machte wütend Kehrt. Da ward er erst gewahr, daß knapp hinter ihm zwei Damen gestanden und nur auf den Ausgang der Verhandlungen gewartet hatten, um nun, nachdem sich diese zerschlagen hatten, den Wagen selbst aufzunehmen. Olga und ihre Mama! Die Sache ist so: in Wien trifft man sich nämlich nie, in der weiten Welt draußen aber, auf der Reise täglich. Wer's nicht glaubt, der mache nur die Probe auf das Exempel.

»Sind Sie frei?« fragte die Mama den Kutscher.

»Zu dienen, gnädige Frau!« antwortete dieser dienstfertig und mit einem Seitenblick ehrlicher Verachtung auf Maxime.

»Dann fahren Sie uns nach dem Königssee,« ordnete die Mama an und machte Anstalten einzusteigen, ohne zu fragen, was die Geschichte wohl kosten werde.

Maxime stand da – ein Bild des Jammers. Unwillkürlich entrang sich ihm ein Seufzer: »Es ist der letzte Wagen!« Und richtig, es war weit und breit kein zweiter Wagen zu erblicken. Das Mutterauge hatte das auch entdeckt; darauf ein kurzes Besinnen und ein kurzer Kriegsrat im Flüstertone.

»Sollen wir ihn mitnehmen?«

»Jawohl!« flüsterte Olga zurück mit hochklopfendem Herzen, aber mit einer so strengen Miene, als wäre sie bereit, ein Todesurteil zu unterzeichnen zur selbigen Stunde.

»Wenn Sie mit uns fahren wollen – wandte sich nun das Mutterherz an Maxime.

Dieser, der soeben erst aus allen Himmeln gefallen war, fiel sofort wieder in alle Himmel zurück und dankte mit einem Augenaufschlag der Beseligung. Er erhob die Hand, 55 als wolle er irgend etwas ungemein Wichtiges beschwören, wahrscheinlich, daß es ihm ein ausnehmendes Vergnügen sein würde, sich für die geehrten Damen sofort hinrichten zu lassen, dann legte er diese selbe Hand ans Herz, um irgend etwas, er wußte selbst nicht was, zu beteuern, wahrscheinlich, daß es ihm eine außerordentliche Ehre sein werde, und dann richtete er einen fragenden Blick auf Olga, ob denn auch sie einverstanden sein werde.

Olga lud ihn mit einer Handbewegung ein, Platz zu nehmen, und dabei hatte ihr Gesicht einen so lieben und guten Ausdruck, daß er nicht begriff, wo er nur seine Augen gehabt haben müsse, daß er sie je für hochmütig halten konnte. Ach Gott, ach Gott, was war doch das Mädel für ein lieber, herziger Schatz!

Und so fuhr man denn endlich ab.

»Auf der Reise muß man sich gegenseitig aushelfen,« begann die Mama, die wie alle Mütter heiratsfähiger Töchter zu den allerliebenswürdigsten Exemplaren der Schöpfung zählte.

»Das Richtige wäre aber,« entgegnete Maxime, »daß die Herren den Damen zu Hilfe kämen.«

»Das geschieht ja, indem Sie uns Ihren Schutz angedeihen lassen.«

»Gut, ich werde Sie also beschützen. Leider aber, ich muß schon sagen leider, haust hier weder der Leu noch der Leopard mehr, und selbst was Banditen und Raubmörder betrifft, so habe ich nur sehr geringe Chancen, mit Glanz als Retter intervenieren zu können.«

Olga lachte; es war ein helles, silbernes Lachen und eine bessere Ermutigung, in diesem Tone fortzufahren, dem Tone des richtigen Schwerenöters, konnte sich Maxime gar nicht wünschen. Er war da der Hahn im Korbe, ganz allein der Hahn im Korbe, und er hatte ein so dankbares Publikum für seine guten und schlechten, seine alten und neuen Witze, daß er dem Himmel gar nicht genug danken konnte für das ganze gütige Arrangement. Das hätte er sich doch nie 56 träumen lassen, und es kommt also doch immer alles anders, als man es denkt.

Nur eine Erwägung drückte ihn. Er hätte sich nun von Rechts wegen und anstandshalber vorstellen müssen, und das ging ihm – er hatte seine guten Gründe dafür – doch wider den Strich. Sein Name war nämlich nicht unbekannt, aber er hatte ein kleines Malheur gehabt. Er hatte ein Trauerspiel »Tod dem Verräter!« geschrieben, und dieses Trauerspiel war von der Direktion des Burgtheaters – leider! – angenommen und vor einigen Monaten leider auch aufgeführt worden. Es gab einen kolossalen Durchfall – es war wirklich ein Trauerspiel! Und dann war er von der Kritik in einer Weise zugedeckt worden, daß jeder anständige Hund, sofern er nur etwas auf seine Hundeehre hielt, sich zehnmal hätte besinnen müssen, ob man von ihm auch die verführerischeste Wurst genehmigen könne. Und nun sollte er sich nennen – das war doch eine kitzliche Sache. Sind Sie derselbe Maxime Olbricht, der –? Jawohl, ganz derselbige! müßte er dann antworten, und dann würde man entweder mühsam ein Lächeln unterdrücken oder offenkundiges Mitgefühl bezeigen – beides wäre nicht angenehm. Sollte er einen falschen Namen angeben, wie ein Hochstapler? Das ging doch auch nicht an, zumal da er die Damen ja doch ganz gewiß wiedersehen werde. Sie sollten ja erfahren, wer er sei und wie er heiße, aber nicht gleich, nicht in dieser glücklichen Stunde und nicht so unvermittelt. Das mußte ihnen schonend beigebracht werden, daß sie leichter verzeihen konnten. Und noch etwas. Die Damen waren gerade dazugekommen, wie er mit dem Kutscher knickerte – jetzt freilich dachte er nicht mehr an Knickerei und es stand fest bei ihm, das niemand anders als er, und zwar er ganz allein den Wagen bezahlen werde. – Aber das konnte doch mitwirken, aus seinen durch den kläglichen Dichterruhm ohnedies schon sehr gedrückten Namen noch mehr zu drücken. Auch darüber mußte man erst Gras wachsen lassen.

57 »Es wäre nun,« begann er daher, »meine nächste Pflicht, mich den Damen vorzustellen –«

»Es wird uns sehr angenehm sein,« bemerkte die Mutter.

»Ich bitte aber um die Erlaubnis, das zu unterlassen.«

»Ah?!« sagte die Tochter.

»Ich bitte, zu glauben, daß nicht Mangel an Erziehung der Grund ist, der mich zu dieser Bitte veranlaßt. Es liegen noch andere Gründe vor.«

»Sie könnten ja auch ein Prinz sein, der inkognito zu reisen wünscht,« meinte die Tochter.

»So ist es,« bestätigte Maxime, »ein Prinz oder ein gefährlicher Verbrecher, dem die Polizei auf der Spur ist.«

»Wir können also ermordet werden,« mutmaßte die Mutter, »ohne dann zu wissen, mit wem wir das Vergnügen hatten.«

Maxime lachte pflichtschuldigst zu dieser Äußerung und fuhr dann fort: »Ich versichere, daß ich weder ein Prinz, noch ein anarchistischer Bombenwerfer, noch sonst irgend ein Verbrecher bin, daß ich aber meine wirklichen und triftigen Gründe habe, mich nicht zu nennen. Ich finde es auch so sehr hübsch. Wir sind einen Tag beisammen, ohne uns zu kennen, dann gehen wir wieder auseinander, und morgen haben Sie mich so wie so schon längst vergessen.«

»O, ich bitte!« meinte darauf die Tochter.

»Gnädige Frau, Sie sind mein Zeuge, daß das Fräulein sich dagegen verwahrt hat, wobei es meiner Ansicht nach nicht nötig wäre, gar so rot zu werden. Die Zukunft wird lehren, was von dieser Verwahrung zu halten ist.«

Wenn ein junges Mädchen darauf ertappt wird, daß es errötet, dann bleibt ihm nur noch eins übrig, und das ist, noch röter zu werden. Olgas Mutter war aber der Ansicht, daß sie da an einen zwar etwas konfusen, im übrigen aber recht angenehmen jungen Mann geraten seien. –

Zwischen Salzburg und Königssee liegt Berchtesgaden, und in Berchtesgaden muß man in das Salzbergwerk 58 einfahren. Das thaten auch unsere Reisenden, nachdem sie sich vorher in das entsprechende Bergwerkskostüm geworfen hatten. Man fährt da bekanntlich an, indem man, eines hinter dem andern, unter Führung eines Bergmannes rittlings in die Tiefe gleitet, worauf man sich dann nach einer kurzen Fahrt auf dem Grunde eines herrlichen gewölbten Domes aus Salzkrystallen befindet. Auch dieses Mal bildete der Führer die Spitze, hinter ihm saß Maxime, dann kam Olga und schließlich die Mutter.

Sei es nun, daß die Fahrt zu rasch gegangen oder daß der Führer sich zu früh entfernt hatte, genug, zum Schlusse der Fahrt kam Maxime, am Boden des Domes angelangt, etwas unsanft auf den Bauch zu liegen und Olga auf ihn zu sitzen. Als nun Maxime dalag wie ein Frosch, durchzuckte ihn eine holde Erinnerung. Himmel, der Druck auf die Nase kam ihm so bekannt vor! So bekannt auch die süße Last, die er zu tragen hatte. Sie und keine andere hat schon einmal auf ihm gesessen! –

Die weitere Partie verlief so schön, wie eine Partie nach dem Königssee und noch dazu in solcher Gesellschaft überhaupt verlaufen konnte. Maxime hatte sich immer für einen großen Frauenkenner gehalten, und als solcher glaubte er sich zu seinem Entzücken zu der Annahme berechtigt, daß sich zwischen ihm und Olga ein stiller magischer Rapport etabliert habe, ein unausgesprochenes, beglückendes Einverständnis. Wohl an die zehnmal war er nahe daran, der Versuchung, sich zu nennen, zu unterliegen. Eine Vorstellung seinerseits hätte auch das Inkognito der Damen lüften müssen und die gegenseitige Annäherung wäre dadurch unzweifelhaft wesentlich gefördert worden. Immer aber hielt er sich im entscheidenden Augenblick doch zurück. Dieses schrittweise immer sich intimer gestaltende Bekanntwerden bei dem doch formell bestehenden gegenseitigen Unbekanntsein hatte doch seinen eigenen Reiz, der fast an das anregende Intriguenspiel eines Maskenfestes gemahnte. Die offizielle Vorstellung mußte eine neue 59 Annäherung und für Maxime dadurch eine neue, erhöhte Freude im Gefolge haben. Als richtiger Epikuräer wollte er die gegebenen Umstände gründlich ausnützen und auch die Vorfreude ganz auskosten, ehe die eigentliche Freude kam.

Jetzt war ihm nicht mehr bange, daß er die Damen in Wien werde zu finden wissen, wann er nun wollte.

Er war daher durchaus nicht in gedrückter und mutloser Stimmung, als es am Spätnachmittag ans Abschiednehmen ging, da die Damen eine Fortsetzung ihrer Tour vorhatten, während er nach seinem Reiseplane wieder nach Salzburg zurückmußte. Er besorgte den Damen den Wagen, brachte sie in diesem unter, und indem er sich empfahl, dachte er mit stillem Behagen daran, wie nun auch sie sich wohl die Köpfe darüber zerbrechen würden, wer wohl der liebenswürdige und im Grunde doch nicht geistlose junge Mann gewesen sein mag, der da im Hochsommer in ihre Vergnügungsreise hineingeschneit worden sei. Er küßte der Mama artig die Hand und Olga drückte er mit vieler Herzlichkeit beide Hände.

Die Mama aber riß die Augen erstaunt auf und er selbst machte ein durchaus nicht geistreiches Gesicht, als in dem Momente, da eben die Pferde anzogen, ihm Olga mit heller Stimme zurief: »Viel Glück, Herr – Maxime Olbricht!«

* * *

Das war nun ganz etwas anderes! Maxime hatte geschworen, daß ihn das Gaisberghotel nie wiedersehen werde; es hatte sich eine Art persönlicher Feindschaft zwischen ihm und dem Gaisberg entwickelt – aber nun war das etwas ganz anderes, und er ließ es sich was kosten, um noch zu dem letzten Gaisbergzug zurechtzukommen. Jetzt mußte, das ging gar nicht anders, jetzt mußte auch er und zwar sofort wissen, mit wem er es zu thun gehabt hatte. Er hatte es sich wohl gemerkt: nach dem deutschen Familiensegen hatten 60 sich die Damen ins Fremdenbuch eingetragen. Das Fremdenbuch mußte er sehen und zwar noch am selbigen Tage.

Er kam noch zurecht zu dem letzten Zug und eine halbe Stunde später saß er auf der Spitze des Gaisberges vor dem Fremdenbuche. Er fand die gesuchten lieben, krausen Züge und ein Meer von Licht strahlte ihm aus ihnen entgegen. Zunächst erkannte er in ihnen den Schriftcharakter eines ihm sehr wertvollen Briefes einer anonymen Korrespondentin. Das war doch wirklich schön von ihr, daß gerade sie es war, die ein Autograph von ihm erbeten hatte. Und der Name? Deshalb hätte er nicht auf den Gaisberg hinauffahren müssen. Daß er darauf nicht von selbst verfallen war – eigentlich war es doch zu dumm. Jetzt hatte er es da, sonnenklar und so ungeheuer einleuchtend, worauf er wahrhaftig auch von selbst hätte kommen können. Die Augen, das Näschen, das Organ – jetzt wußte er es, warum ihm das alles so vertraut, so merkwürdig bekannt vorgekommen war.

Er unterbrach seine Reise, fuhr nach Wien zurück und sandte sofort eine pneumatische Karte an Dr. Ständer. Bei dem Manne that Eile not, denn wenn der einmal seine große Sommerreise angetreten hatte, dann blieb er für sechs oder acht Wochen förmlich verschollen.

Dr. Ständer trat also bei Maxime ein und stellte die gewohnte Frage: »Nun, wo fehlt es denn wieder, mein Sohn?«

»Wollen Sie nicht erst ein Gläschen Cognac nehmen, Herr Doktor?«

»Mit Vergnügen! Brrr, der ist stark, aber gut, sehr gut! Zeige einmal deine Zunge her.«

»Gleich. Sagen Sie 'mal, Herr Doktor, Sie sind ja verheiratet, das wußte ich gar nicht.«

»Jeder richtige Mann soll verheiratet sein. In einem schwedischen Romane, den ich gerade lese –«

»Und eine Tochter haben Sie auch?«

61 Dr. Ständer öffnete ein goldenes Medaillon. das an seiner Uhrkette hing, und zeigte zwei Photographien, die in demselben untergebracht waren. Maxime sah die Bilder lange und mit einem Interesse an, das Dr. Ständer, dem Gatten und Vater, nur zur Befriedigung gereichen konnte.

»Ich möchte Ihrer Tochter nicht nahe treten, Herr Doktor,« sagte Maxime nach einer Weile, »aber sie sieht Ihnen sehr ähnlich.«

»Ich möchte es auch niemand raten, daß er meiner Tochter nahe trete!«

»Und doch habe ich so etwas Ähnliches vor. Ich möchte nämlich ganz ergebenst um ihre Hand gebeten haben.«

»Höre, Maxime, du bist ein dummer Bub. Mit meiner Tochter macht man keine Witze!«

»Fällt mir gar nicht ein, Witze zu machen. Ich meine es vollkommen ernst: Ich bitte um die Hand Ihrer Tochter Olga!«

»Eine solche Unverschämtheit ist mir doch noch nicht vorgekommen! Nur ruhig Blut, sitzen bleiben! Ich sage ja nicht nein, aber die Unverschämtheit ist doch kolossal! Anstatt, daß er sich in Unkosten stürzt, einen schwarzen Frack anzieht und mich aufsucht, wie sich's gebührt, bestellt er mich pneumatisch zu sich, um bei mir um die Hand meiner Tochter anzuhalten!«

»Ich wußte, daß Sie tagsüber nicht zu Hause zu treffen sind, ich hätte Sie rein in der Nacht aus dem Bette läuten müssen.«

»Das thut nichts, eine Unverschämtheit bleibt es doch. Meine Tochter kriegst du, vorausgesetzt natürlich, daß sie dumm genug ist, dich zu nehmen, aber deshalb kommst du mir doch nicht los. Meine heutige Visite wirst du mir bezahlen, macht zwei Gulden.« Er nahm ein Büchlein aus der Tasche und notierte sich den Vorfall.

»Wie ist denn die ganze Geschichte gekommen?« fragte der Doktor dann neugierig.

»Ich habe Ihre Ratschläge befolgt. Sie haben mir verordnet, aufs Eis zu gehen und zu heiraten.«

62 »Ach so!«

»Und wissen Sie, daß die Apotheker Sie auf Gewerbestörung klagen können?«

»Woso?«

»Sie verschreiben die Medizin nicht nur, Sie erzeugen sie auch.«

»Die Eisbahn habe ich nicht gemacht. Übrigens – will die Olga? Und was sagt die Alte dazu?«

»Das weiß ich nicht. Wissen Sie, wo die Damen jetzt sind?«

»Heute in Reichenhall.«

»Dann bitte ich, ihnen ein Telegramm zu senden.«

Dr. Ständer nahm eine Feder zur Hand und setzte folgendes Telegramm auf: »Frau Helene Ständer, Reichenhall. Soeben hält Maxime Olbricht bei mir um Olgas Hand an. Bin sehr einverstanden. Was sagt Ihr dazu? Gruß und Glückwunsch! Drahtantwort bezahlt. Dr. Ständer.«

Maxime übergab das Telegramm seinem Diener und schärfte diesem ein, daß er die dreifache Gebühr dafür bezahle, damit es als ein »dringliches« behandelt werde.

»Daß heiße ich doch eine promotio in absentia!« meinte der Doktor lachend.

»Und doch – sub auspiciis!« erwiderte Maxime.

Und dann trennten sie sich mit einem herzlichen Händedruck, nachdem sie noch besprochen hatten, daß sie sich zum Mittagessen wieder treffen wollten, um dann bei einer Flasche guten Weines die telegraphische Antwort, die voraussichtlich bis dahin eingetroffen sein würde, gemeinschaftlich zur Kenntnis zu nehmen.

Dr. Ständer kam noch einmal aus dem Vorzimmer zurück: »Weißt, Maxime,« sagte er, »was ich für mein Leben gern sehen würde?«

Maxime wußte nicht, was das sein könnte.

»Das Gesicht, das die Olga beim Lesen unseres Telegramms machen wird!«

 


 


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