Agnes Günther
Die Heilige und ihr Narr
Agnes Günther

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Zweites Kapitel: Das Ehrenwort.

Vor dem langen Kaliban in seiner Wolljuppe, der eben mit der Schneeschippe einen Weg bahnt schnurgerade vom Tor zur Ruine, steht ein schokoladebrauner Lakai mit einem Billett und schnarrt: »Sogleich abgeben.« Der Kaliban nimmt das Billett in seine hornenen Riesenhande und geht zu der Türe und damit sofort ins Innerste des Thorsteiner Schlosses. Der Haus- und Schloßherr hantiert an seiner Staffelei mit farbigen Kreiden auf einem großen grauen Tonbogen. Auf seiner Stirne entsteht eine senkrechte Falte, als er den Brief liest. Es ist eine in die liebenswürdigsten Worte gekleidete Einladung zu der heutigen Weihnachtsbescherung... »Meine Kleine scheint Ihr Kommen sehr zu erhoffen.« Der lange Thorsteiner dreht die Karte in grimmiger Verlegenheit in den Händen. »Donnerwetter.... mein alter grünschwarzer Rock da drüben!« Seine Hand fährt in seinen kurzen braunen Lockenschopf. »P. S. Wir werden nach der Bescherung ganz unter uns sein ...« Und zwischen den Zeilen sehen ihn bittende Augen an. »Da ist nichts zu wollen,« murmelt er, »... trotz dem Schwarzgrünen.« Und mit seinen langen Schritten eilt er hinaus in den Hof, wo der Schokoladebraune, mit der dieser Menschenrasse eigentümlichen Mischung von Verachtung und Herablassung, sich mit dem Kaliban zu verständigen sucht. Vor der hohen Gestalt des Grafen schnellt er aber sofort in seine korrekte Haltung zurück.

»Melden Sie Seiner Durchlaucht, daß ich kommen werde.«

Denn der Thorsteiner gibt sich nicht unnötig mit Papier und Tinte ab. Kaum ist der Schokoladene verschwunden, so ruft er mit Donnerstimme:

»Märt, die Kiste 4 + 6.« Was den musikalischen Brunnen zu einem beifälligen Gemurmel veranlaßt. Denn Kaliban ist schwerhörig.

Früher, als sein Übel sich noch nicht so fühlbar machte, war er Bursche gewesen bei des Grafen Vater, dann war er Bauernknecht geworden, und obgleich ihn seine Herren wegen seiner Riesenkräfte und seiner treuen Arbeit wohl schätzten, hatte seine zunehmende Schwerhörigkeit es ihm immer schwerer gemacht, mit seinen Mitknechten auszukommen. Er wurde gehänselt, oder kam sich so vor, – ein kleines rotköpfiges Minele wollte nur Spott mit seiner scheuen Liebe treiben, und so wäre er, den seine Riesenkräfte und sein schnell auflodernder Zorn fast zu einem gefährlichen Menschen machten, schier in eine schlimme Sache hineingekommen.

Eines Abends, als er in der halbdunkeln Scheune saß, neben dem letzten noch nicht abgeladenen Heuwagen, und zu seinem immer mehr umsponnenen Ohr die gedämpften Stimmen der Knechte und Mägde drangen, wie sie schäkerten und lachten, und er die hohe Stimme des roten Minele und die krähende des schönen Beckenkarl und dazu seinen Namen zu verstehen glaubte, da hatte sich sein einsamer dumpfer Schmerz plötzlich in einen aufsteigenden heißen Zorn verwandelt.

An dem Abend war er nicht zum Nachtmahl erschienen, und die Nacht hatte ihm einen furchtbaren Traum gebracht. Die Hecke mit den alten Eichenknüppeln, einen Menschen auf dem Gesicht in einer roten Lache liegend, daneben steht seine alte Mutter mit der schwarzen Florhaube, das große silberbeschlagene Gesangbuch im Arm, ganz so, wie sie ihm sein Erinnerungsguckkasten am liebsten zeigt, und hebt entsetzt ihre Hände auf.

Am andern Morgen hatte er seinen Dienst gekündigt mit so wilden Gebärden, daß der Bauer den unheimlichen Menschen trotz der dringenden Arbeit hatte ziehen lassen. Er war dann in seine Heimat gegangen, obgleich er das alte Mütterlein nur an dem Hügel mit dem schwarzen Holzkreuz darauf besuchen konnte, und hatte getaglöhnert. Ein finsterer und unzugänglicher Geselle, dem die Kinder scheu aus dem Wege liefen.

Da war er eines Tages im Holzschlag dem Sohn seines früheren Herrn begegnet, der mit seiner Staffelei vor einer Waldwiese saß. Der hatte ihn sofort erkannt und ihn freundlich angeredet. Die Stimme erweckte die schönsten Erinnerungen aus seiner Dienstzeit, wo er noch ein ganzer Mensch, ein vorzüglicher Soldat gewesen war. Wenige Tage darauf erschien er nach Feierabend in der Ruine und begann an einem Steinhaufen abzutragen, Schutt auszulesen und ihn in den tiefen Graben zu werfen. Als der Graf heraustrat, grüßte er militärisch und fuhr in seiner Arbeit bis zum Dunkelwerden fort. Eine Belohnung wollte er nicht dafür annehmen, da es nach Feierabend sei. So war er eine Zeitlang gekommen, kaum daß er einen Trunk oder ein Stück Brot dafür annahm. Es schien ihm zu genügen, daß er nur in der Nähe eines Menschen war, der ihn in seiner früheren guten Zeit gekannt.

Nun hatten aber bald einige günstig angebrachte Entwürfe den Herrn in den Stand gesetzt, für einige Zeit einen eigenen Taglöhner halten zu können. Da zimmerte sich der Märt aus noch wohlerhaltenen Balken, wie sie zuweilen doch aus dem Schutt hervorkamen, eine kühne spindelige Treppe vom Schutthügel aus bis zu einer Mauerlücke im Bergfried, die er verbreiterte, so daß er sich mühsam hineinzwängen konnte. Die Wendeltreppe führte noch hinauf zu einem Stübchen, in dem ein Taubenschlag gewesen war. Dort richtete er sich ein mit einem weißen Taubenpärchen, das er zärtlich liebte. In diesem etwas luftigen Ort hauste er nun, und an Sonntagen hämmerte, klopfte und bastelte er daran herum. Die Tauben bekamen ihr gesondertes Quartier; die Fensterluken aus alten bleigefaßten Scheibenstücken, die sich in Resten noch vorfanden, ergaben eine primitive Verglasung. Dann schaffte er, nicht ohne lebensgefährliche Turnkünste, sein Bett, seine Truhe, ein handgroßes Spiegelchen und ein großes gerahmtes Bild hinauf. Das Bild stellte ihn dar, wie er in kühner Haltung mit erhobenem Säbel auf einem prachtvollen Schimmel dahersprengte. Sein etwas windschiefer Dickkopf in Photographie auf den Halskragen geklebt. Dies war sein größter Schatz außer dem silberbeschlagenen großen Gesangbuch seiner Mutter, das er in ein rotes Taschentuch gewickelt in seiner Truhe geborgen hatte. Das Bild wurde mit großer Mühe an der rauhen Wand befestigt, Bett und Truhe aufgestellt, und die Einrichtung war im Rohen fertig. Der Graf warnte ihn freilich, er werde von da aus viel weiter an seine Arbeitsstätte haben, aber der Märt meinte, er wolle nur noch im Winter, wenn nichts mehr in der Ruine zu schaffen sei, in den Holzschlag gehen und sein frei Quartier in der übrigen Zeit mit Arbeit wett machen.

Zuerst wollte es dem Thorsteiner angst werden, wie er auch noch einen zweiten Menschen erhalten sollte, aber es mußte doch eine merkwürdige Kraft liegen im Heimatboden: hatte er in Berlin sich kaum selbst erhalten können, so trug es jetzt schon, daß zwei Menschen lebten und der Thorsteiner seinem Märt einen Knechtslohn auszahlen konnte.

Den zweiten Winter lebten sie schon so miteinander. Aus dem einen Taubenpärchen war ein Schwarm weißer Flügel geworden, die sich in anmutigen Kreisen über dem grauen Gemäuer und den dunkeln Waldwipfeln hoben und senkten. Märts Liebe hörte aber mit der weißen Farbe auf, jedes bunte Tierchen wanderte erbarmungslos in den Kochtopf. Der Märt kochte nun auch das spartanische Essen der beiden Schloßbewohner. Es gab immer eine Menge für ihn zu tun, und das Holzspalten gehörte zu den Feierabendbeschäftigungen, die sein Herr zuerst mit ihm teilte. Es wurden aus einem der halb eingestürzten Riesenkamine, der sich neben der Hofstube befand, eine Küche gebaut, die noch vorhandenen Ställe repariert. Darin stand nun die gute braune Kuh Selma in Gesellschaft mit dem zierlichen Rehzickchen, das Märt auf der Schutthalde gefunden und mit der Flasche aufgepäppelt hatte. Sie nährten sich von dem Gras der Schloßgräben und Hänge, wo Märt und sein Herr Heu und Öhmd machten. Seit die gute Selma mit ihrer Milch der Küche Märts einigen Hinterhalt verlieh, sahen der Herr und sein Knecht entschieden besser aus; auch das finstere Antlitz des tauben Märt war viel heller geworden. Seinem Herrn gegenüber behielt er vollständig die Allüren des Burschen wie bei seinem alten Oberst bei, nur zu notwendigen Botengängen verließ er die Ruine. Der Sonntagnachmittag war stets der Verschönerung seiner Wohnung gewidmet. Noch immer lief die spindelige, nur für absolut schwindelfreie Menschen zu gebrauchende Treppe hinauf, aber zu einem Mauerloche guckte ein Rohr heraus, dem an Wintersonntagen ein bläulicher Rauch entstieg. Dann bullerte in dem hohen, nun weiß getünchten Raum ein Kanonenöfchen, die Tauben in ihrem Revier glucksten und gurrten leise, und der Märt mit seiner Pfeife und irgendwelchem Bastelwerk unter den Händen bot dann das Bild eines wohlzufriedenen Turmwächters der guten alten Zeit dar.

Und jetzt erschien der Märt mit der Kiste, die aus früherer Zeit her noch die Regimentsbezeichnung trug, und entnahm ihr den einzigen Anzug des Grafen, für den die Bezeichnung Räuberzivil nicht gelten konnte. Einige kunstvolle Bürstenstriche von Märt, und mit leisen Seufzern zwängte sich der Thorsteiner in das ungewohnte Stück. – Da, halt, – fallen ihm des Seelchens Puppenschmerzen ein. Wie wär's, wenn er ihr für die arme, so schmählich verstümmelte Lilla einen Ersatz schaffte? Aber dann mußte er schon jetzt in die Stadt gehen, vielleicht daß doch noch ein Laden für Leute, die noch rasch ein Geschenk brauchten, offen war. Er packte Wachsreste und noch verschiedenes in einen Kasten, warf ein großes Cape um seine Pracht und überließ dem erstarrt blickenden Märt sein Schloßgut zur Verwahrung.

Quer durch den Wald die eisige Halde hinunter, wie gestern Märt, konnte er nicht gelangen, so mußte er die Chaussee nehmen, beinahe zwei Stunden Wegs. Nach einer Stunde schon taucht der langgestreckte Bergrücken, der das Schloß trägt, vor ihm auf. Ein schöner Park, jetzt verschneit und dunkel, schlingt seine Arme um den Schloßberg. Zwischen zwei finstern alten Rundtürmen schaut ein feiner Renaissancegiebel ins Tal hinunter; ein Gewirr von großen und kleinen Dächern, so wie sie Notwendigkeit oder die Freude am eigenen kleinen Nestchen im Lauf der Jahrhunderte an die alten Mauern gehängt hatte, machte das früher wohl düstere Bild nun freundlich und lebendig. Jetzt lag der leichte Silberreif eines dünnen Schnees auf jedem Giebel und Vorsprung von Mauer, Türmen und Palas. Unter dem grauen Himmel, dem ein zartes Flockengewirr entschwebte, sah das Schloß so weltfern, so märchenhaft aus, als könnten sämtliche goldhaarige Prinzessinnen, treue und törichte Königssöhne, finstere Könige, kluge Königinnen, die mehr können als Brot essen, aus Grimms Märchenbuch darin gewohnt haben. Seine Künstleraugen liebkosten die fein gewachsenen Formen, in denen jede Zeit ihren Ausdruck gefunden hatte. Aus der Neuzeit stammte freilich nur das recht häßliche Ecktürmchen, auf dem heute, wegen der Anwesenheit des Fürsten, die weißblaue Fahne flatterte.

Wo mochte wohl des Seelchens Reich sein? – Wie gut es da hineinpaßte, die letzte feine, ach gar zu feine Blüte, die der alte Stamm getrieben! – Ob sie wohl heute die rechten Worte gefunden hatte? Gestraft würde sie ja nicht werden, im Gegenteil, der Fürst war nur freudige Überraschung gewesen über den Streich seiner Kleinen, über die Überlegung und Kühnheit, mit der sie ihren Gedanken ausgeführt hatte. Wer ihr das zugetraut hätte? Freilich war auch Märts Nachricht der schlimmen andern zuvorgekommen.

Nun wand sich der Weg eine altertümliche Steige hinauf, eine von jenen, die uns immer wieder mit Verwunderung erfüllen über die Nerven von Menschen und Gäulen, die einst diese Wege benützten. Dann stillverschneite Gärten und eine stille Straße, von hohen schmalbrüstigen Giebelhäusern umstanden, ein uraltes Tor mit Torturm, an den ein Barockhäuschen angeklebt ist, vor dem vor hundert Jahren wohl die strickende Wache weiland Serenissimi saß. – Ganz Spitzweg. – Und gegenüber das Lädchen des Georg Häring, das Entzücken der Braunecker Jugend, wo immer noch verheißungsvolle Zinnsoldatenschachteln, ein Hampelmann und ein winziges Pappkarussel auf Käufer warten. Mit sehr gebücktem Haupt muß sich der lange Thorsteiner hineinwinden, wo ihn die freundliche Frau mit fragendem Erstaunen empfängt.

»Eine Puppe.«

»Ja, aber die angezogenen sind alle ausgegangen, und die andern sind nicht für bessere Herrschaften!«

Eine sei noch da, aber mit der sei leider ein Unglück passiert, und damit zieht die Frau bedauernd eine Puppenschönheit aus einer Schachtel, hellockig, der aber das Näschen schlimm zerstoßen ist. Harro strahlt.

»Herrlich! Ich nehme sie... Nur das Hemdchen, das das Unglücksgeschöpf anhat, ist freilich ein Übelstand. So kannst du nicht zu Hofe gehen, du Ohnenäschen!«

Aber da fällt ihm das Nähröschen ein, mit den vielen Geschwistern. Seinen Kasten unter dem Arm geht er nun die Straße hinauf, wo über einer Steintreppe ein Zeichen hängt, ein etwas merkwürdiger Ochse, in dessen bedauernswertem Haupt schon die Axt steckt. Dort ist zum Glück ein geheiztes Eckchen zu haben, der Frau Postmeisterin eigene Wohnstube, die sie ihm einräumt. Sie selbst steht jetzt drunten in der dampfenden Küche und regiert über eine verwirrende Menge von Töpfen.

»Sie essen doch mit an der Tafel, Herr Graf?«

»Ach bitte, schicken Sie mir etwas herauf!«

Es gelüstet ihn nicht nach der Gesellschaft der alten eingesessenen »besseren Herren«, des Herrn Postverwalters und des Herrn Notars und des Herrn Amtsrichters, über deren mittäglicher Vereinigung die graue Fledermaus der Langeweile ihre Flügel schlägt. Die Posthalterin lächelt sauersüß, verspricht aber das Beste. Es ist gut, daß das Seelchen das folgende, etwas kannibalische Beginnen nicht mitansieht. Mit seinem Taschenmesser zerklopft Harro das dummlächelnde Puppengesicht, daß die auf kleinen Kügelchen sitzenden Augen auf den Tisch herausfliegen. Sein schwarzer Rock ist sehr hinderlich, er könnte schlimme Bekanntschaft mit dem Inhalt des Kästchens machen, das Harro jetzt auspackt. Er entledigt sich also seiner und steht nun in weißen Hemdärmeln da, eifrig mit einem feinen Schnitzmesser an einem Buchsbaumscheibchen hantierend. Eine halbe Stunde später steht der Riese in seinen Hemdsärmeln vor der erstarrten Postmeisterin, ein kleines Pfännchen in der Hand, das auch dem Kasten entstiegen ist, um neben der puffenden Gans seinen Leim zu wärmen.

»Nun, Frau Postmeisterin, das sind unsere Männerkochkünste, einfach, nicht wahr? Ein Glück, daß wir Sie haben, die Gans riecht übrigens vorzüglich.«

Der aufgeregte Postmeister – es sind heute eine Menge Leute da, wegen einer großen Beerdigung – reißt die Tür auf, sieht im Küchendunst den Mann in den Hemdärmeln dastehen und schreit: »Der Martin soll noch einmal heim wollen am Christfest! Heda, trag Er den Koffer hinauf, Nummer siebzehn. Herumstehen in der Küche gibt's nicht.«

»Jawohl, Herr Postmeister. Frau Postmeisterin, achten Sie doch einstweilen darauf, daß der Leim nicht überkocht, der Duft ist leider nicht der beste.« –

Und vor den Mund und Augen aufsperrenden Mägden schultert der Thorsteiner den Koffer des Herrn Lohrmann, Teigwarenfabrikanten aus Offenbach am Main, und trägt ihn auf Nummer siebzehn, wo er ihn mit einem freundlichen Lächeln dem G. Lohrmann hinstellt. Der brummt: »Trinkgeld geb ich erst, wenn ich gehe,« aber der Thorsteiner ist schon wieder bei seinem Leimtopf, der nun offenbar den richtigen Wärmegrad hat, und entschwindet mit dem in die gute Stube.

Jetzt gibt's noch verschiedene Probleme zu lösen, bis die geschnitzte Scheibe richtig unter den flächsernen Locken sitzt, die Augen ihre Schuldigkeit mit Auf- und Zumachen tun, dann beginnt die eigentliche Arbeit.

Das leicht erwärmte Wachs wird über die Scheibe gegossen. Und nun modelliert er mit seinen langen Künstlerhänden, von denen jeder Finger seinen eigenen Verstand zu haben scheint. Aus den nur vorgeschatteten Umrissen wird mit erstaunlicher Schnelligkeit ein Kindergesicht, ein feiner Nasenrücken, apfelrunde Wänglein, ein Mund, den ein erwachendes Lächeln umschwebt, über die starrenden Augen senken sich breite Lider. In das glasige Blau hat er einen dunkeln Farbenstrich hineingeheimnißt, der ihnen ein merkwürdiges Leben verleiht. Eben kommt eine verlegene Magd mit einer halbkalten Suppe. »Sie haben drunten solchen Trubel...« Nun ist er fertig.

Da liegt unter den hellen Härchen ein feines, nur ein wenig jüngeres und runderes Ebenbild des Seelchens, ohne den leisen Schmerzenszug, der ihm gestern an dem Kinde aufgefallen ist, und der sich in seiner Erinnerung vertieft hat.

Er ißt sein halbkaltes Essen mit großer Eile, denn nun gilt's, das Nähröschen, das neben den steilen Bäumen wohnt, aufzusuchen. Also hinaus vors Städtchen... Kinder begegnen ihm, die ihre neuen Kapuzen und Müffchen spazieren tragen, und von denen die meisten an irgend einem Springerle oder gar Lebkuchen herumbeißen. Es findet sich sogar ein ebenso rothaariges Schwesterlein vom Nähröschen darunter.

Das Nähröschen ist mit Recht über den Besuch am Christfest erstaunt. Sie sitzt mit einem Buch inmitten ihrer Weihnachtsgeschenke und hebt ein freundliches Gesicht unter einem roten federigen Haarschmuck empor. Als sie aber das kleine Kunstwert sieht, ist sie voll Entzücken.

»Wie goldig! Man könnte meinen, es sei unser Prinzeßchen, nur daß das nicht so rotbackig und vergnügt aussieht. Ein feines Kleid, das langt nimmer, aber zu einem weißen Hängerchen hab ich noch den Stoff da.«

Und sie kramt allerhand aus einer Kommode unter vielen Ermahnungen an die andrängenden Kleinen, daß sie ja nicht das schöne Prinzeßchen »antappen«! Und sie erzählt: »Dem Prinzeßchen tut jeder gern etwas. Es ist immer sanft und lieb und hat's nicht zum besten. In der letzten Zeit ist's auch immer weniger geworden. Die Missen und Mamsellen sind auch nicht zu freundlich mit ihm.«

Harro hat sich hingesetzt auf eine Truhe und die Beine übereinander geschlagen, das jüngste, rothaarige Kind auf die Knie gehoben, wo er es reiten läßt. Darum wird das Nähröschen auch so zutraulich. »Die Fräulein Braun mag es am liebsten, die lacht doch auch mit ihm und läßt es ein bißchen tun, was es will. Aber eine leichtsinnige Haut ist die. Die wird auch schuld gewesen sein, daß das Prinzeßchen fort ist. Bei der Miß hätte es sich nicht getraut. Die ist eine greuliche! Die sagt: Die Deutsch sind ein Schweine, und Prinzeß will auch Schweine werden! Das macht, weil das Prinzeßchen nicht baden will morgens. Man hört das arme Ding durch den ganzen Prinzessinnengang schreien und wimmern. Bosheit ist's nicht bei dem, das hat kein böses Äderchen. Wer weiß, ob es nicht wegen der Baderei fortgelaufen ist.«

»Wer badet die Kleine?« Das Nähröschen sieht erschrocken auf, der Ruinengraf sieht aus, als unterdrücke er einen gewaltigen Zorn. Du lieber Gott, da hat sie am Ende sich in etwas hineingeredet!

»Fräulein Braun,« antwortet sie ganz verschüchtert. »Die ist jetzt schon im Schlamassel. Gestern sei sie wie von sich gewesen. Untersuchen hat der Fürst nicht mehr wollen gestern, wer daran schuld sei. Aber die Miß dreht es jedenfalls auf die Fräulein Braun hinaus und die auf die arme Babett!« Die fleißigen Hände haben inzwischen nicht geruht, und es ist alle Aussicht vorhanden, daß das Puppenkind heut abend zu Hofe gehen kann. In dem großen Gang, der vor dem Zimmer des Fürsten gegen den herrlichen Turnierhof mit seinen drei übereinander gebauten Steingalerien gelegen ist, und an dessen Wänden die berühmte Geweihsammlung hängt, wandelt der Fürst mit seinem Domänenrat, einem kleinen, spindeligen, aufgeregten Herren, auf und ab. Das graue Schneelicht fällt in den Gang, der nach dem Hofe zu verglast ist. Die gelben Glasaugen einer ausgestopften Wildkatze funkeln aus einer Nische, und ein leichter Lufthauch bewegt ein wenig die ausgebreiteten silbergrauen Flügel eines Fischreihers, der von der Decke hängt.

»Und nun, Herr Domänenrat, helfen Sie mir aussuchen. Ums Himmelswillen nichts Banales. Die Sache müßte womöglich eine persönliche Note haben.«

»Fähr und Brendel haben eine Auswahl geschickt, da Durchlaucht noch ein Geschenk für den Herrn Hofrat wollten, – es findet sich vielleicht etwas darunter.«

»Ach, das ist immer das gleiche. Und die »beziehungsvollen« Sachen sind immer die schrecklichsten. Und dann könnte es den Thorsteiner verletzen: sein Vater war mir der angenehmste Nachbar. Schade, daß der Sohn sich das Leben so furchtbar verdorben hat.«

Der Domänenrat zuckt die Achseln; eine eigene Ansicht zu äußern, scheint ihm im Augenblick nicht opportun.

»Wenn wir unter den alten Sachen suchten? Künstler sollen doch immer auch an Antiquitäten Freude haben.«

Die beiden Herren gehen den Gang hinunter zu einer Wendeltreppe, die sie auf die untere Galerie führt; die ist offen und ein kalter Schneehauch bläst ihnen entgegen. Am Ende des Ganges öffnet sich ein schmales düsteres Gemach, in dem eiserne Schränke in der Wand eingelassen sind. Der Domänenrat entfernt sich, um die Schlüssel zu holen, und der Fürst tritt in die tiefe Nische des vergitterten Fensters. Draußen wird das Flockengestieb dichter, es schimmert nur noch schwach der Wald von der jenseitigen Bergwand herüber. Halb träumend blickt der Fürst hinaus, und seine schönen dunkeln Augen verlieren den etwas starren Blick, der ihnen sonst eigen. Sein Haar und Bart ist noch schön dunkelbraun, sein schmales Rassegesicht mit dem Spitzbärtchen und den etwas vorstehenden Augen erscheint in dem fahlen Schneelicht, wie er in der Nische lehnt, schattenhaft und wie aus einem alten Gemälde heraus. Es hat einen eigentümlich müden Ausdruck, von der Müdigkeit alter Geschlechter, die so viele Jahrhunderte stürmischen und oft so jammervollen deutschen Lebens, nicht geschichtslos, wie die Menschen in dem wie in einem Nest geduckten Taldörfchen – sondern tätig und leidend miterlebt haben. Nun rinnt ja das letzte Korn aus der Sanduhr, wie bald wird das alte Geschlecht sich zur Ruhe betten. Dorthin, wo schon die vielen vorausgegangen sind und nun schlafen in blaßleuchtenden Zinnsärgen, mit Wappenschildereien und Sprüchen bedeckt, in ungefügen dunkeln Truhen, so viele, daß nur noch für einen Sarg Raum zu schaffen ist neben dem silberbeschlagenen Sarg, der des Fürsten junges Glück aufgenommen. Warum mußten seine Gedanken heute in langen Trauerschleppen in diesen Räumen herumsteigen? Macht es das Schneelicht oder dieser düstere Raum, in dem so viel verborgene Schätze liegen? Edelsteine und Gold, die einst auf weißen jungen Busen geleuchtet und gebebt, sich um feine Stirnen geschlungen, die erbleicht, und an Händen geglänzt, die längst im Tode erstarrt sind.

Auch die Smaragde liegen darin, die seine Frau bei den glänzenden Festen am Kaiserhofe getragen. Da liegen sie ... Der Rat hat die Schlüssel und das große Buch gebracht und den Kasten geöffnet. Dies Armband auf dem weißen Samt gebettet – der grüne Stein sprüht wie ehedem –, das den Arm schmückte, den feinen Arm, der sich einst um seinen Hals geschmiegt. Der Fürst nimmt es heraus und läßt die Steine durch seine Hand gleiten.

»Dies ist für meine Tochter einmal. Schließen Sie wieder, ich meinte die alten Sachen.«

Der Domänenrat öffnet sehr ungern, eigentlich weiß nur er und sein großes Buch und seine stille Sammlerfreude, was darin ist. Diese Dinge, die alle ihr Schicksal gehabt haben! Manches Stück ist darunter, dessen Gebrauch man kaum mehr kennt, – da funkelt ein fast barbarisch wirkender Rubinschmuck in Silber gefaßt von barocker Arbeit. Lauter hängende Blutstropfen, könnte man meinen. Seltsam geschmückt mußte die Frau sein, die ihn trug. Der Fürst nimmt das Halsband heraus, es hat keine Jahreszahl an dem hinteren Verschluß wie die meisten anderen, es hängt ein kleines Pappschildchen daran, worauf in steilen Buchstaben steht: Schmuck der Gräfin von Brauneck, der Thorsteinerin. † 1678.

»Der Thorsteinerin! Wahrhaftig!« rief der Fürst. Nun fällt ihm ein, daß er gehört hatte, es solle eine alte Verwandtschaft existieren! Das Halsband geht ja natürlich nicht, aber es ist doch gewiß noch etwas da mit dem Thorsteiner Wappen.

»Ende des siebzehnten Jahrhunderts, Durchlaucht,« sagt der Domänenrat. »War eine arme Zeit, es ist zu verwundern, daß immer noch so viel da ist.« »Wie hieß der Gemahl dieser Thorsteinerin?« »Heinrich Friedrich, Durchlaucht, und hier ist sein Ring; er scheint zu dem Schmuck gehört zu haben. Auch ein Rubin, nur in Gold gefaßt, und ähnliche Arbeit.«

An dem Ring hängt dasselbe Papptäfelchen, aber eine andere Schrift, eine ungelenke Hand, die mehr Schwert als Feder gewohnt sein mochte, und ein Wort, das in seiner harten Kürze von einem alten Schmerz redet: Mein Sohn †.

»Der Sohn starb also vor dem Vater; hatte dieser Heinrich Friedrich irgendwelche Bedeutung für die Geschichte des Hauses?«

»Nein, Durchlaucht, wenn man nicht sagen will, daß er der Vater des ersten Fürsten war.«

Auf der Goldplatte unter dem Rubin ist des Thorsteiners Wappen eingraviert und ein Spruchband. »Können Sie den Spruch entziffern?«

»Er heißt: Gottes Will hat kein Warumb.«

Der Fürst seufzt: »Gottes Will hat kein Warum; sie müssen festere Herzen gehabt haben, die Alten. Ist dies das einzige Stück, welches das Wappen trägt?«

»Nur noch ein Stirnband, uralt, karolingische Arbeit, Gold; es war eine Erbtochter, die Thorsteinerin. Graf Heinrich Friedrich hat eine Menge Schmuck getragen. Er muß so eine Art Elegant des siebzehnten Jahrhunderts gewesen sein. Spangen, Ketten, Schuhschnallen, Hutschnallen. All das ist offenbar nie mehr benützt worden, und alles trägt das Zeichen auf dem Täfelchen: Mein Sohn †.«

Der Fürst wog den Ring nachdenklich in der Hand: »Eigentlich wäre mir etwas anderes lieber gewesen, als gerade ein Ring. Nun, dieser Heinrich Friedrich hatte keine weitere Bedeutung.« »Er starb sehr jung, der einzige Sohn.« Der Fürst sah auf das Täfelchen. »Der einzige, es mag ihm bitter schwer gewesen sein, doch hatte er ja einen Enkel. Nun schließen Sie die Kästen, bitte, es steigt ja doch immer irgendwelcher alte Jammer aus diesen Sachen heraus. Machen Sie den Eintrag und legen Sie das Täfelchen dazu; ich freue mich doch sehr, daß ich etwas gefunden habe,« sagte der Fürst. Er dachte: »Dies Geschenk mit seinem eigenen Wappen schließt so ganz aus, daß ich ihn seine verpfuschten Lebensumstände fühlen lassen will. Er hat mir den größten Dienst erwiesen. Wenn er Porträts malt, könnte ich ja ein Bild der Kleinen bei ihm bestellen; wenn es gar zu schlecht ist, braucht es ja nicht aufgehängt zu werden. – Aber das jetzt gleich zu tun, so gewissermaßen aus Erkenntlichkeit, widerstrebt mir doch. Er käme sich so sehr auf sein jetziges Niveau heruntergedrückt vor. Das hat er sich freilich selbst gewählt, aber es ist eine Liebenswürdigkeit, es zu ignorieren. Ob er nicht am Ende doch geschwenkt worden ist? Man hätte ihn, wenn er es nicht zu toll getrieben, ja immer als Dekorationspièce gebrauchen können! Diese Prachtgestalt! Sogar in der Aufmachung! Angenehm ist mir's ja nicht, wenn ich zu den Leuten mit gerecktem Halse sprechen muß.«

Der Fürst ging mit seinem Ring in der Hand durch die Galerie in den sogenannten Prinzessinnengang, dessen hohe Oberfenster auf den Hof hinausführten. Da hingen auch einige Geweihe an den Wänden, die vielleicht aus andern Räumen daher gewandert sein mochten: sonst hing da Bild an Bild, weiß gepuderte Schönheiten des achtzehnten Jahrhunderts. Ein dicker Herr mit roter Nase, in einem pflaumenfarbigen Roquelore, war wohl für manche Generation fürstlicher Mägdelein eine Art Popanz gewesen, er stierte aus verquollenen Äuglein. Nun hatte er etwas seinen Nimbus verloren, ein breiter Riß lief über sein Gesicht; er wurde Kutscher Hack genannt, nach dem rotgesichtigen Kutscher, der das Gepäck führte, weil seine Gurkennase für die Equipagen zu wenig dekorativ befunden wurde. Der Fürst trat in einen kleinen Vorplatz ein, als sich stürmisch die Tür öffnete und seine Tochter ihm entgegenlief. Eben war sie den Händen der Fräulein Braun entronnen und schon im Festgewand, aus Spitzen und weißer Seide, duftig und frisch mit silberglänzender blauer Atlasschärpe. Aber das Gesichtchen sah fast schattenhaft aus dieser Pracht heraus, nur die großen Augen strahlten in erwartungsvoller Freude.

»Papa, ich hörte dich kommen, ich wollte dir entgegen gehen,« rief sie, »aber Fräulein Braun war nicht mit meiner Schleife fertig. Ich höre dich immer auf dem Gang gehen, wenn du kommst, und wenn du fort bist, hör ich dich auch.«

Über des Vaters Gesicht glitt eine Wolke, und er sagte mit etwas lehrhaftem Ton: »Abwesende hört man nicht gehen.«

Er ging mit ihr in das große freundliche, aber recht einfache Zimmer hinein und setzte sich mit ihr an den runden Tisch, auf dem eine grüne Decke lag, und zog die hinweg, daß die alte Eichenplatte zum Vorschein kam. Dann lachte er:

»Kleine, das ist nun dein Reich, früher war es meines, da müssen noch meine Kritzeleien sein. Die Decke haßten wir, sie lag stets zusammengeballt in einem Winkel. Sieh! dies Geweih ist an einem heißen Sommertag entstanden, während einer griechischen Stunde. Und nun, Kleine, freust du dich auf heute abend?« Das Seelchen schmiegte sich an ihn und sah ihn nachdenklich an.

»Ich weiß noch nicht.«

»Du weißt's noch nicht? Das wußten wir immer ganz gewiß. Tante Helen, Fedo und ich, wir hatten Kalender und rissen jeden Tag Zettel ab. Fedo hatte einen Prachtskerl gezeichnet, mit dicker Nase, so ein wenig nach dem alten Herrn da draußen.« –

»Dem Kutscher Hack meinst du?« Der Fürst lachte hell auf: »So heißt er jetzt, – nun, gar nicht übel. Und der Dicke hatte einen Zettel zum Mund heraushängen und fraß die Stunden. Das war sein Kalender. Fein war's nicht, aber schön. Und du weißt nicht, ob du dich freuen sollst!«

Er seufzte. Unter seinem Seufzer duckten sich die schmalen Schultern, als träfe sie ein Stich.

»Hattet ihr auch ein Ehrenwort, Papa? Ich meine, wie ihr so klein waret und so vergnügt und den Kalendermann machtet?«

»Kleine, wie kommst du nur darauf! Ich kann mir nicht denken, daß wir damals mit so großen Worten umgingen. Was weißt denn du davon!«

»Viel weiß ich, und du selbst hast's mir gesagt, als du im Sommer mit Onkel Fedo da warst.«

»Ich sollte mit dir über dergleichen gesprochen haben?«

»Du sprachst mit Onkel Fedo über einen Mann und ein Ehrenwort, und ich fragte dich, ob die vielen Leute mit Harnischen und Zöpfen im großen Saal auch eins gehabt hätten? Du sagtest: ja, und gehalten, sonst hingen sie nicht dort.«

Dem Fürsten dämmerte nun selbst etwas dergleichen.

»Du bist ein Wunderliches mit deinen Gedankensprüngen, und das hast du bis heute behalten ... aber was hat das mit dir zu tun?«

Wenn der Vater jetzt das goldumsponnene Köpfchen gegen das Licht hielte, so sähe er aus der grauen sanften Tiefe der Augen die Tränen aufsteigen. Aber er fährt nur ungeduldig fort: »Du weißt ja gar nicht, wovon du sprichst.«

Er griff in seine Westentasche und holte den Ring heraus. »Kleine, den Ring sollst du deinem langen Freund von gestern unter dem Tannenbaum geben. Aber nicht gleich, zuerst sollst du deine Sachen ansehen, – ich habe Herrlichkeiten gesehen! – Sondern erst, wenn ich dir's sage. Gefällt dir der Ring?«

Die Kleine nahm den Ring in ihr blasses Händchen und nickte: »Ich habe ihn schon oft gesehen!«

»Hat ihn dir der Herr Rat gezeigt?« »Ach nein, der nicht. Es ist doch ein schöner junger Herr da, der ihn trägt. Der so schön lachen kann. So schön lacht niemand. Weißt du, er springt manchmal gegen Abend die Wendeltreppe hinauf und hat so viele lustige Bänder an sich hängen und glitzernde Dinge. Er ist der allerschönste von all den Leuten, er hat lange schwarze Locken und so schöne Augen wie du, Papa, wenn du an Mama denkst.«

»Kleine, wann willst du jemand mit langen Locken gesehen haben?«

»Vorgestern abend, als ich mit Fräulein Braun hinauf ging in das rote Zimmer.«

»Kleine,« sagte er streng, »wenn du so viel vom Ehrenwort weißt, – das Lügen verträgt sich schlecht damit.«

Einen Augenblick sieht es aus, als ob sie weinen wollte, aber plötzlich wie ein Regenwölkchen vor einem Sonnenstrahl verflattert, lächelt sie: »Und Harro kommt ganz gewiß und den Ring darf ich ihm geben?«

Erstaunt sieht der Vater das Aufleuchten. Was für ein unverständliches, rätselhaftes Kind, mit seinen Gedankensprüngen! – Seine Schwester fiel ihm ein, die diesen Sommer in ihrer kurzen Weise zu ihm gesagt hatte: »Deine Kleine ist verrückt wie ein Märzhase. Die mußt du zu jemand tun, der sie fest in die Kandare nimmt und für die Welt dressiert. So kannst du sie einmal nicht sehen lassen!« In dem großen Vorsaal steht Harro vor einem langen, in die Wand eingelassenen Spiegel, der seine ganze Gestalt wiedergibt. Die Spiegel in der Ruine gestatten ja nur eine beschränkte Übersicht. »Durch Eleganz bis zur Unkenntlichkeit entstellt ...« murmelt er und winkt einen Lakaien herbei. »Können Sie mir dieses noch an den Gabentisch der Prinzessin hinbesorgen?«

Der Lakai kann es und verschwindet mit dem eingewickelten Puppenkind. Kaum ist er fort, so kommt der Fürst, seine kleine Tochter an der Hand, in den Vorsaal heraus und begrüßt den Grafen aufs liebenswürdigste.

»Welche Freude, daß Sie uns heute den Abend verbringen helfen. Wir sind ja beide gewissermaßen Einsiedler und müssen uns mit dieser einzigen kleinen Dame begnügen.«

Als Harro aber das Seelchen sieht, erschrickt er. Wie sieht das Kind aus! Als halte es sich nur mühsam aufrecht, und doch, als brenne eine verzehrende Flamme in ihr, so leuchten die grauen Augen. Am liebsten hätte er sie auf den Arm genommen und sie gefragt: »Was ist dir, Seelchen?« Aber er hat ja heute kein Recht mehr an das Kind. Und nun gehen sie durch die Reihe der Gemächer in den großen Saal, wo die Lichterbäume schon brennen.

Der große gewölbte Saal mit seinen Pilastern, auf denen vergoldete Wappentiere hocken, die nun in der einzigen Beleuchtung der Weihnachtsbäume seltsame Schatten werfen. Feierliche steife Gestalten, fast alle lebensgroß, sehen von den Wänden, und das Licht der Kerzen flackert in ihren gemalten Augen. Im Hintergrund stehen verschiedene Weiblichkeiten, darunter eine unverkennbare Britin, die Harro mit herzlichem Abscheu betrachtet. Eine hübsche rosige Schwarze, in einer seidenen Bluse und Goldgürtel, ist wohl Fräulein Braun. Ein langer Gabentisch steht zwischen zwei mächtigen Tannen, die dritte Tanne, die größte und schönste, steht allein, gerade vor dem Bilde eines kräftig und kühn blickenden dunkeln Mannes in mittleren Jahren. Es ist das weitaus lebendigste Bild der Galerie, ein Soldatenkopf, breite Brust im braunen Lederkoller, ein langes Schwert in den Händen, das aussieht, als habe es schon Dienst gesehen. Unter dieser Tanne liegen des Seelchens Geschenke, alles was nur ein elegantes Spielwarenlager hergeben mag, drei in Samt und Seide strahlende Puppen, Wägelchen, Eisenbahnen, ein mit Fell bezogenes Pferd. Das ist von Tante Helen. In dem begleitenden Brief dazu heißt es: »Wenn die Kleine einmal den Mut hat, diese Nora zu besteigen, so depeschiere mir.« Das Seelchen wirft nur einen einzigen scheuen Blick auf die Herrlichkeiten, sie hängt immer noch an ihres Vaters Hand. Dann geht sie auf Miß Whart und die andern zu und macht einen schüchternen Versuch, sie an den für sie bestimmten Gabentisch zu führen. Aber die Miß nimmt die Kleine von der Hand ihres Vaters hinweg und flüstert ihr etwas zu. Der Fürst zuckt die Achseln und meint: »Muß es wirklich sein, Miß Whart? Dann Kleine, tapfer drauf los.«

Das Seelchen steht da unter den brennenden Bäumen, so klein, so zart in seinem weißen Kleidchen, daß der lange Thorsteiner ein glühendes Erbarmen in sich aufsteigen fühlt, als geschähe irgend eine Untat an einem wehrlosen weißen Täubchen! Sie soll ja nur aufsagen, die Kleine! Dann klingt das hohe Silberstimmchen durch den Saal, und es ist, als wendeten sich all die gemalten Augen, in denen heut so viel Leben brennt, nach dem Kinde, und die Wachskerzen knistern leise dazu. Kläglich und eingelernt ertönen die Worte des englischen Psalms ... Da stockt sie plötzlich. Miß Whart flüstert eifrig ... noch ein paar stockende Worte ... der Fürst runzelt die Stirn, auf den schmalen Wangen dort brennen rote Flecken ... die ängstlichen Augen suchen den Freund ... da wirft sie die goldene Mähne zurück, fest ihre Blicke auf den Freund gerichtet, fängt sie noch einmal an:

»Es waren Hirten auf dem Felde und es war bei ihnen die Menge der himmlischen Heerscharen, die lobten Gott und sprachen: Ehre sei Gott in der Höhe und Friede auf Erden und den Menschen ein Wohlgefallen.« »Komm her, Kleine,« ruft der Fürst freudig, »zum erstenmal etwas hinausgeführt!«

Es scheint aber doch nicht programmäßig gegangen zu sein, Miß Whart sieht ärgerlich aus.

Und nun werden die Menge schöner Dinge angesehen, die den Damen und Mädchen beschert worden, und dann ziehen die mit ihren Schätzen beladen ab, mit dankendem Knicksen. Nur Miß Whart und Fräulein Braun bleiben da, die das Prinzeßchen an ihren Platz begleiten.

»So war es bei uns in alten Zeiten,« erklärt der Fürst, »zuerst bescherten wir immer den andern, dann erst kamen wir selber dran.«

Darauf ging der Fürst zu seinem Tisch, um mit Lächeln und Stirnrunzeln in Empfang zu nehmen, was die originelle Schwester ausgesucht, und es dem Thorsteiner zu weisen. Dann legte er die Hand auf Harros Arm:

»Nun sehen Sie einmal hinüber, ob das nicht ein Jammer ist? Was man ihr auch geben mag, es ist nie das Richtige.«

Das Kind stand mit auf den Rücken gelegten Händchen. Miß Whart hielt ihr eine rosaseidene Puppe hin, Fräulein Braun hat eben ein kleines Tänzerpärchen aufgezogen, das sich auf einem Kästchen zu einer dünnen Walzermelodie bewegt. Plötzlich kam Leben in die kleine Gestalt, sie schiebt die Rosaseidene energisch hinweg und stieß einen hellen Jubelschrei aus.

»O Papa, o Harro, seht es doch an, ein Puppenkind, es lächelt... O darf ich's behalten, immer, immer?«

»Hat endlich etwas deinen Beifall gefunden, Kleine? Das nenn ich aber Glück!« Das Seelchen sah einen Augenblick nach dem Thorsteiner, dann schlang sie die Arme um ihren Vater.

»Darf ich's behalten?«

»Kleines Närrchen! Es ist doch alles dein Eigentum. Laß mich sehen, was dich so beglückt. Nun, das ist auch schön. Kleine, man könnte glauben, es sehe dir ähnlich. Wenn du einmal so rote Backen hast!«

Das Seelchen hielt die Puppe zärtlich in ihrem Arm. »Wie heißt sie, Harro?« Seltsam, sie schien keinen Augenblick im Zweifel zu sein, woher das Geschenk komme, und doch hatte sie mit dem feinsten Takt vermieden, ihres Vaters Freude zu zerstören. Harro war sehr froh, daß die Kleine so schön geschwiegen, denn es waren ihm doch Bedenken gekommen, ob er mit seinem Geschenk nicht in fremde Rechte dringe. Der Fürst sah nach Miß Whart hinüber, während Harro und das Seelchen sich auf Schneewittchen einigten, und dann zogen sich die Engländerin und die rosa Bluse mit dem Goldgürtel zurück. Der Fürst ging an seinen Gabentisch und entnahm ihm ein Etui, das er Harro zeigte. »Ihre Mutter ... Meine Schwester hat es mir für dies Reiseetui machen lassen. Es kommt eben leider immer doch ein fremder Zug in diese Wiedergaben.«

Es war ein schönes, junges, freundliches Gesicht, braunäugig und blondlockig, die Augen blickten kindlich.

»Sie können auch keine Ähnlichkeit entdecken.«

»Nein, Durchlaucht, doch ist vielleicht durch die Kopie manch kleiner charakteristischer Zug verwischt.«

Er fand die glatte höfische Malerei eigentlich scheußlich und konnte die Rührung, mit der der Fürst die bunte Porzellanpuppe betrachtete, nicht recht begreifen. Nun schließlich mochte ihm das Bild eine schwächer werdende Erinnerung wieder lebendig machen. Der Fürst hatte die Kleine hinter den Tannenbaum gezogen und flüsterte dort mit ihr. Während Harros Blicke von der Miniature zu dem markigen Kriegerkopf an der Wand glitten, sah er durch die Zweige, daß Vater und Tochter etwas miteinander austauschten.

Es stieg ihm das Blut in den Kopf. Wenn sie ihm etwas schenkten! Der Thorsteiner gehörte zu den Leuten, die gerne schenken, sich aber nichts schenken lassen mögen. Daß er nicht daran gedacht hatte! Keine sieben Gäule hätten ihn herüber gebracht! Daß er selbst geschenkt hat, ist schon vergessen. Er sieht sich scheu nach der Türe um, ob nicht unter irgendwelchem Vorwand eine Flucht möglich sei. War er denn ein Lakai, den man für seine Leistung mit einem Trinkgeld belohnen zu müssen glaubte! Menschen, die aus ihrer Lebenssphäre gerissen sind, sind ja immer überempfindlich. Der Thorsteiner ist im Begriff, eine große Torheit zu begehen, nicht die erste in seinem Leben ...

Er stellt die Miniature auf den Tisch, da kommt schon von den Tannenbäumen her, mit ihren leisen, federnden Schritten, mit ihren weißen Atlasschuhen das Seelchen auf ihn zu, die großen, grauen, glänzenden Augen auf ihn geheftet, und trägt feierlich in ihren blassen Händchen einen Ring, aus dem ein roter Strahl bricht. Wie ein Blitz trifft seine Seele das seltsame Gefühl mit unerhörter Stärke: Das hast du schon einmal erlebt! Das hast du schon gesehen ... Den feierlichen Saal mit den goldenen Tieren, die auf den Postamenten hocken, das blasse Elfchen mit dem Blutring in der Hand, die Wände, von denen in rötlichem Schein die gemalten Augen blicken. Verschwunden ist sein Zorn, eine fast angstvolle Feierlichkeit senkt sich auf sein Herz. Da ergreift das Kind seine Hand und streift den Ring daran.

»Von deinem Seelchen. Und du sollst mich immer lieb haben.«

Da wird es ihm feucht in den Augen.

»Ich danke dir, Seelchen.« Und er bringt es sogar fertig, dem Fürsten in wirklicher Herzlichkeit zu danken. Wer den Thorsteiner kennt, wäre billig erstaunt. Und als der Fürst ihm das Kleinod erklärt, da schämt er sich fast ein wenig. Es ist doch sehr freundlich und zart ausgedacht und betont nicht die jetzige Kluft, sondern die alte Zusammengehörigkeit.

»Und nun wollen wir essen, Graf Thorstein, und du, Kleine, ißt mit uns, und dein Schneewittchen soll auch dabei sein. Wie freu ich mich, daß ich nun endlich deine Wünsche getroffen habe.«

»O Papa,« bittet das Seelchen, »vorher noch etwas anderes ... Aber ihr dürft nicht hersehen ...«

Sie verschwindet hinter den Bäumen, nachdem sie eine neue brokatene Decke von des Fürsten Gabentisch genommen. Eine ganze Weile hört man sie hantieren ... Der Fürst strahlte. »Ihre gestrige Escapade hat ihr gut getan, so lebhaft habe ich sie noch nie gesehen. Letzte Weihnachten war es herzbedrückend, wie still sie war. Nun weiß man allerdings nicht, was bei ihren Überraschungen herauskommt. Sind wohl alle Kinder so rätselhaft?«

»Es wird immer etwas Feines und Liebliches herauskommen,« erwidert Harro, »nur muß man sie vielleicht erklären lassen. Von den Ideen bis zur Ausführung ist bei Kindern immer ein großer Schritt.«

»Jetzt!« erklang's hinter dem Baum. Die Tanne hing die Äste sehr tief herunter, unter den Zweigen halb verborgen lag das Seelchen auf dem Boden, die brokatene Decke um ihre zarte und schmächtige Gestalt gehüllt, bis auf ein wunderschönes blasses, nacktes Füßchen, das aus den Falten heraussah. In den Armen hielt sie das Puppenkind, um das sie die goldenen Haare wie ein Wiegenvorhängchen gezogen hatte. Die Augen hatte sie geschlossen, der kleine Mund lächelte ein wenig. Sie flüsterte:

»Harro, stehe hinter mich und mache den Joseph.«

Es hätte der Erklärung für ihn nicht bedurft, sein Madonnenbild aus der Krippe war in Haltung, selbst in den Falten des Gewandes so getreu nachgebildet, daß ihn die größte Verwunderung ergriff.

»Sehr schön hast du das gemacht. Es ist Maria mit dem Kind.«

Etwas verlegen sah der Fürst darein.

»Ja Kleine, mußtest du denn wirklich dazu Schuhe und Strümpfe ausziehen. Ein Glück, daß dich Miß Whart nicht sieht.«

Die Kleine hob ihr Köpfchen.

»O Harro, warum hast du nicht den Joseph gemacht? Ach, mach ihn doch nur. Nimm Miß Wharts Reisedecke, das Billardqueue dort soll dein Stab sein.«

»Seelchen, ich kann mich unmöglich an Miß Wharts Eigentum vergreifen.«

»Tu den Rock herunter, Harro ...« Die Zumutung, in diesem Milieu in Hemdärmeln dazustehen, erschöpft ihn sehr. Da erlöst ihn der Gong zum Diner.

»Kommen Sie, Harro, unsere kleine Dame soll nachkommen, wenn sie wieder anständig geworden ist.«

Und Seelchen merkt, daß ihr schöner Gedanke nicht recht eingeschlagen hat. Papa hat eben auch die Krippe nicht gesehen. Und sie möchte es so gern wieder gut machen.

»Papa, ich will auf der Nora reiten, daß du Tante Helen depeschieren kannst,« ruft sie und läuft mit ihren feinen nackten Elfenfüßchen auf dem blanken Parkett dahin.

Die gemalten Augen an den Wänden haben heute viel zu sehen ... In dem erlöschenden Licht der Kerzen, von denen eins nach dem andern zum roten Stümpchen herabsinkt, erscheinen sie immer mehr von seltsamer Lebendigkeit. Harro eilt herbei, das Seelchen auf den blanken Sattel zu heben. Sie verfärbt sich plötzlich, sie sitzt oben, die nackten Füßchen von sich gestreckt, aber totenblaß mit schmerzverzerrten Lippen, der Fürst ruft:

»Nehmen Sie sie herunter, sie wird ohnmächtig.« Er eilt fort, einen Diener nach Fräulein Braun zu schicken. Harro hat sie auf seine Arme genommen und auf den Diwan gelegt.

»Seelchen, hab ich dir weh getan?«

»O nein, Harro,« flüstert sie ... »O, du nicht, du nicht.«

»Seelchen, sag mir's, was ist mit dir ... warum willst du nicht baden?«

»Hast du mich schreien hören?« fragt sie.

»Schnell, Seelchen, laß mich wissen ...«

»Ich kann's nicht. Nie. Siehst du, wie der Herr mit dem Schwert zu mir herübersieht! Ich bin nicht echt, wenn ich es sage. Ich will sein wie sie alle!«

»Seelchen, du fieberst ... der alte Herr sieht nicht her, – sag mir's doch.«

Da kommt der Fürst herein. »Diese Fräulein Braun ist nicht zu finden. Nun weiß ich doch, wer gestern der Schuldige war.« Harro nahm ihn beiseite. »Die Prinzessin hat ein Geheimnis, das sie drückt: scheint mir irgendwie verletzt zu sein. Wäre es nicht am besten, gleich zum Arzt zu schicken?«

»Der hat sie heute morgen gesehen, freute sich, daß sie die Tour so gut überstanden. Verletzt, unmöglich. Gestern etwa?«

»Nein, es scheint schon älter zu sein.«

Der Fürst spricht rasch und ärgerlich:

»Will sich denn die Whart gar nicht von ihrem Diner trennen, wenn die Braun nicht aufzutreiben ist. Es ist der Kleinen leider nicht alles zu glauben, sie hat eine zu überquellende Phantasie.«

»Durchlaucht,« sagt Harro so eindringlich, daß der Fürst ihn erstaunt und befremdet ansieht. »Das Kind hat etwas, das es bedrückt ... Ein Geheimnis!«

»Was könnte sie haben, ich kann mich nie länger als eine Viertelstunde an ihr freuen. – Da sind Sie endlich, Fräulein Braun, bringen Sie die Kleine zu Bett und schicken Sie sofort nach dem Herrn Hofrat. Und nun kommen Sie mit mir, Graf Thorstein. Wir lassen uns Bericht geben ... Geh lieb zu Bett, Kleine, ich komme noch, dir gute Nacht sagen.«

Drüben im Speisezimmer, das dunkel getäfelt und mit vielen Porträts an den Wänden behängt ist, glänzen die elektrischen Lichter aus alten venetianischen Kronleuchtern golden und freundlich herab auf die gedeckte Tafel im Schmuck der roten Nelken und des grünstacheligen Laubes der Stechpalme. Die Unterhaltung dreht sich um lokale Interessen, die Jagdangelegenheiten des Fürsten, der doch Harros Jagd gepachtet hat. Er scheint von Zeit zu Zeit hinauszuhorchen ... Als die beiden Herren bei ihrem Nachtisch allein gelassen werden, sagt der Fürst plötzlich:

»Sie haben heute tiefer in meinen Kummer hineingesehen ... Sie als mein Kinsman, wie die Engländer sagen, werden ja ohnedies keinen Gebrauch machen. Meine Kleine wird von Jahr zu Jahr ein größerer Kummer. So früh hat sie die Mutter verloren ... Das hängt wie eine Wolke über ihrem Leben, sie ist häufig krank... aber das ist es nicht allein, ihr Seelenleben scheint in eigentümlicher Weise gestört.«

»Mir scheint,« beginnt Harro bescheiden, »als ob in dem Kinde in hohem Grade das poetische Temperament vorherrsche. Sie verlebendigt alles und sie findet die treffendsten Ausdrücke. Die Pappeln nennt sie die steilen Bäume, die seufzen ... Eine feine Beobachtung. Wie der Wind gerade in alte Pappeln greift ... Das Kind hat eine zarte Seele, auf die alles sehr stark einwirkt. Wie schön ist sie und wie sehr macht die Prinzessin den Eindruck, als ob sie ihr Gesicht irgend woher habe. Ich sehe mich aber vergeblich nach einer Ähnlichkeit um.«

»Schön finden Sie meine Kleine! Das hat mir noch niemand gesagt. Aber die Herren Künstler haben ihre eigenen Anschauungen. Ich kann es nicht finden, so elend wie sie immer aussieht.«

»In wenigen Jahren,« wirft Harro ein ...

»Ach, die Jahre, man hat mich immer vertröstet, aber Gutes haben sie mir nicht gebracht.«

»Die Prinzessin weiß es sehr gut selbst, daß sie Ihnen Sorge macht, und leidet darunter –«

»Das sollte die Kleine wissen,« meint der Fürst naiv, der so und so oft am Tage sein Kind den Sorgenstein nennt ... »Wie kommt es nur, daß sie sich Ihnen anvertraut hat, sie ist sonst so scheu gegen Fremde ...«

»Sie war doch aus ihrer gewohnten Umgebung herausgerissen, das kühne Unternehmen hatte sie in ihrem Selbstbewußtsein gestärkt.«

Der Fürst erhob sich ungeduldig: »Ist dieser Hofrat nicht aufzutreiben? ...«

Er mußte doch die ganze Zeit gehorcht haben... Eben kam der Hofrat, würdig und aufgeregt sah er aus.

»Durchlaucht, die Prinzessin ist in furchtbarer Erregung, sie verlangt dringend nach jemand, der Harro heißt. Eine Untersuchung ist ganz unmöglich ... ich müßte Krämpfe befürchten. Es scheint mir, als ob eine der Damen sie irgendwie gegen mich eingenommen habe!«

Harro, der etwas im Saal zurückgetreten ist, hört noch:

»Kann dieser Harro nicht aufgetrieben werden?«

»Dieser Harro ist Graf Thorstein. Ich kann doch unmöglich –«

In Harros Gesicht steigt eine Blutwelle. Was kann er unmöglich? Ist dies nicht ein Notfall, wo man vergessen könnte, daß er aus der von alltagsher vorgeschriebenen Bahn gewichen war und etwas für sich selbst gewollt hatte?

Da kommt der Fürst zu ihm her, ziemlich verlegen: »Sie müssen nun schon einmal bei uns den Retter machen. Wenn sich die Kinder einmal etwas in den Kopf gesetzt haben. Keine größeren Tyrannen als kranke Kinder!«

Da sagt der Thorsteiner mit einer Stimme, deren seltsame Erregtheit den Fürsten betroffen macht: »Ich bin Euer Durchlaucht sehr dankbar, ich verstehe mich auf Kranke, habe einmal einen Freund gepflegt. Nun bin ich so allein, die Jahre ...«

Heiß dringt es aus seiner Seele.

»Keinem Menschen zu Leid, keinem zu Freud – ein schreckliches Wort ... Und die Kleine ... das wunderschöne Herz, es ging auf vor mir wie eine Blüte in der Winternacht ... Und ich benehme mich jetzt wie ein Narr und Hinterwäldler ... Durchlaucht müssen mir zugute halten ... – Die Einsamkeit, das Ausgeschlossensein. Und heute nun die Güte, die unerwartete, die ich doch fühle ...«

Er stockte wieder. Der Fürst schüttelte seine Hand. Er war selbst bewegt von der Ergriffenheit des andern. Es war ihm nur als eine Verlegenheit erschienen, den langen Thorsteiner mit seinem Kinderstubenjammer zu behelligen.

Das Seelchen lag in einem muschelförmigen Bett, das in einer Wandnische stand, und hatte sich die seidene Decke bis unters Kinn gezogen mit den fieberzitternden Händchen. Ihr Vater beugte sich über sie.

»Da ist dein Freund Harro, was willst du von ihm?« »Er soll mich beschützen und es nicht leiden, daß man mir die Decke herunterzieht!«

Der Fürst zuckte ratlos die Achseln.

»Und er soll mich in meine Decke wickeln und mich herumtragen wie gestern und mir von seinem Haus erzählen.«

Der Hofrat sagte zu dem Grafen: »Tun Sie der Kleinen den Willen, es kommt mir darauf an, daß sie sich möglichst bald beruhigt, und suchen Sie sie zu überreden, daß sie sich untersuchen läßt.«

Er half selbst das Kind in die Decke wickeln, und Harro war so geschickt beim Anfassen, als habe er sein Lebtag nichts anderes getan. Dann geht er mit langen, vorsichtigen Schritten auf und ab, das gelbe Haar flutet über seinen Arm, das Köpfchen ruht an seiner Brust.

Der Fürst hatte sich im Nebenzimmer an seinen alten Tisch gesetzt und trommelte nervös auf der Platte. Eigentlich eine unmögliche Situation. Das ganze Haus voll Frauenzimmer, und er mußte diesen gestern fast noch fremden Mann bemühen. »Ich könnte noch drei Weiblichkeiten anstellen, und die Sache wäre gerade so.« –

Die Miß war kurz erschienen, hatte sich erkundigt und war wieder verschwunden. Sie war doch nur als Erzieherin angestellt. Fräulein Braun schien ganz den Kopf verloren zu haben, sie brachte dem Hofrat immer das Falsche und fragte schon zum drittenmal, ob sie nun zu Bett könne, die ganze letzte Nacht habe sie gewacht. Und es sei noch die Babette da.

Der Hofrat sagte trocken: »Sie bleiben, bis ich Sie entlasse.«

Worauf sie sich in ihrer hübschen seidenen Bluse in die Nische setzte und die Gekränkte markierte. Inzwischen ging Harro auf und ab und erzählte von der Ruine, von der Kuh Selma und daß das Seelchen sehr schnell gesund werden müsse, um die einmal zu sehen und den Brunnen singen zu hören. Und dazu sei es nötig, daß sich Seelchen so bald wie möglich dem Doktor anvertraue. Da zuckt sie schon zusammen.

»Das kann ich doch nicht, Harro ... O Harro, ich darf's ja nicht, bedenk das Ehrenwort ... Wenn ich's nicht halte, mögen sie mich alle nicht mehr ansehen, der Schönste nicht und der Herr mit dem Schwert nicht.«

»Dein Ehrenwort, Seelchen, das ist ja ein Wort so lang wie du selbst. Da bist du doch noch zu klein dazu, das können alle alten Braunecker nicht von dir verlangen.«

Harro steht an einem Fenster, er hört aus der Dunkelheit das Rauschen eines großen Baumes, der mit seinen Ästen fast die Fensterscheiben berühren muß.

»Hörst du, wie die Linde rauscht, es wohnt jemand in der Linde. Wenn du das wüßtest. Aber sie sagen ›Lügen‹ und immer ›Lügen‹. Auch der Papa. Und ich habe ihm doch gesagt, daß ich ein Ehrenwort habe.«

»Seelchen, wenn du nun freilich, trotzdem du so klein bist, ein Ehrenwort hast, so ist es etwas anderes. Hast du es schon einmal gebraucht, oder ist es noch neu?«

»Ich habe es schon gebraucht. Es ist sehr schwer, wenn man noch klein ist, und man muß leiden.«

»Armes Seelchen,« sagt er sanft, er darf sie nicht von ihrem Gedankenpfädlein abbringen. Und es wäre ein Unrecht, dies arme, kleine, zitternde bißchen Menschheit nicht bitter ernst zu nehmen.

»Ein Ehrenwort kann einem auch unter Bedingungen, die später nicht mehr zutreffen, abgenommen werden,« sagt er.

Er kommt sich ziemlich lächerlich vor bei dieser Erklärung.

»Bedingungen weiß ich gar nicht, Harro,« antwortet sie kläglich.

»Tut nichts, wenn nur ich es weiß. Wem hast du es denn gegeben, dein Ehrenwort?«

Er wendet sich, wie er geht; eine Antwort bekommt er nicht, aber plötzlich ist die rosa Bluse aus der Nische verschwunden.

»Seelchen, ich lege dich auf dein Bett, ich hole es dir wieder, dein Ehrenwort.«

»O Harro –« fest klammert sich das Ärmchen um seinen Hals. Er geht hinaus, er rennt aufs Geratewohl einen Gang entlang, eine Wendeltreppe, vier Stufen auf einmal, irgend jemand muß er doch finden. Da sieht er nach oben in der Windung eine rosa Bluse verschwinden ... Noch vier Stufen, dann hat er die entsetzte Fräulein Braun am Ärmel gepackt: »Heda Sie, wohin wollen Sie so schnell, hat der Hofrat Sie entlassen?« Das Fräulein stammelt etwas und fängt dann zu weinen an, wie hübsche Mädchen weinen vor einem jungen Mann ... Aber den ficht das wenig an. Ungeheuer lächerlich kommt er sich vor mit seinem Ehrenhandel auf der Treppe, und doch hängt vielleicht ein Leben daran.

»Haben Sie Ihre Stellung in so schnöder Weise mißbraucht und der Prinzessin ein Ehrenwort abgenommen?«

Das Fräulein schluchzt, sie wisse von nichts. Die Prinzessin wisse gar nicht, was sie sage; wenn man ihr alles glauben wolle! Sie sei ja nicht normal.

»Normaler als Sie, Sie verbrecherische Person,« knirscht Harro. »Ist die Prinzessin verletzt worden oder nicht?«

»Das hat sie selbst getan und will's jetzt auf andere schieben. Lassen Sie mich doch gehen, Herr Graf, ich bin so ein armes, schutzloses – –. So können der Herr Graf gar nicht sein. Das Kind ist ja gar nicht normal und sieht tote Leute, wo es Geister doch nicht gibt und es ganz ungebildet ist, wenn man es heutzutage noch glaubt.«

»So nehme ich Sie mit zum Herrn Oberamtsrichter. Der hat ein Zimmer für Gebildete und Ungebildete, dort können Sie dann schön lang sitzen in Ihrer rosa Bluse, bis die Herren alles ausgemacht haben. Seien Sie ganz ruhig, es geschieht Ihnen kein Unrecht, die Herren bringen alles heraus. – Oder wollen Sie lieber mir jetzt nachsagen, was ich Ihnen vorsage: ›Ich erkläre, daß ich zu unrecht der Prinzessin ein Ehrenwort abgenommen habe und gebe es ihr wieder zurück.‹«

»O Gott, o Gott, daß ich ganz unschuldig in so etwas hineinkomme, ich will es ja sagen, Herr Graf, nur lassen Sie mich gehen,« aber sie ist schon allein in ihrer Wendeltreppennische. »Herr Rat, wollen Sie, bitte, die Prinzessin untersuchen, es ist das Mädchen bei ihr ... Fräulein Braun ist unbrauchbar, ich habe sie zu Bett geschickt.«

Dann sitzen die beiden Herren um die erinnerungsreiche Platte, und von innen ertönt ein Wimmern, ein jammervoller Kinderschrei nach dem andern. Der Fürst ist ganz grau geworden. »Das ist ja entsetzlich, Thorstein, Sie bleiben doch bei uns, Sie übernachten hier. Ich bin ja verraten und verkauft. Diese Engländerin, die Hälfte ihrer Tugenden könnte ein Mädchenwaisenhaus ausstatten.«

Der Hofrat kam heraus, er hatte einen sehr roten Kopf und winkte dem Thorsteiner.

»Gehen Sie, bitte, hinein, das Kind ist noch sehr erregt.«

Und während Harro neben der Babett an dem Bette der Kleinen sitzt, muß der Hofrat dem entsetzten Vater seinen Bericht erstatten. Es ist peinlich genug für ihn. Er hatte in der letzten Zeit eine Scharlachepidemie in einem der Walddörfer zu bekämpfen gehabt und war gar nicht ins Schloß gekommen, da man ihn nicht rief. Heute morgen hatte er die Kleine nur einen Augenblick gesehen ...

Das Seelchen will nun auch reden, nachdem sie so lange geschwiegen, und es gibt ihr noch ganze Herzstöße, während sie ihrem Freund erzählt:

»Man muß Umschläge machen, wenn ich nicht schlafen kann, und Fräulein Braun hat mich angerührt und ich habe geschrien, ›es ist zu heiß‹. Aber weil ich immer so schreie, hat sie es nicht weggetan. Das war wie eine heiße Kugel an mir, und ich habe sehr geweint und Fräulein Braun auch, weißt du, wegen Karl. Denn wenn sie es sagt, schickt man sie fort und der Karl heiratet sie nicht. Und nie, gar nie kriegt sie einen Mann und ein Plüschsofa, bis sie ganz alt und runzlig ist. Und muß bei fremden Kindern sein und sich von Missen und Mamsellen ärgern lassen. Und wenn sie Karl nicht bekommt, stirbt sie einfach oder geht ins Wasser, und wenn man sie herauszieht, muß man ihr die Knochen brechen, weil man sie nicht in den Sarg legen kann, wie bei dem Schlosserfritz. O Harro, wenn ich schuldig wäre, daß der armen Fräulein Braun die Knochen gebrochen werden! Da habe ich gesagt: ›ich sage es nie.‹ Aber sie hat es nicht glauben wollen. Da habe ich ihr mein Ehrenwort gegeben. Wir Braunecker haben alle ein Ehrenwort, auch wenn wir klein und noch nicht konfirmiert sind. Das war sie froh und ich auch, und sie sagte: ›Es wird gleich wieder gut.‹ Aber Miß Whart hat herausgebracht, daß sie mich nicht gebadet hat, und da hat sie es tun müssen, und da ist es nicht gut geworden. Und dem Herrn Hofrat habe ich's doch am allerwenigsten sagen dürfen und habe ihn anlügen müssen. Das war nun einmal dabei, bei dem Ehrenwort. Und nicht wahr, Fräulein Braun muß nicht ins Wasser, Harro!«

»Niemals, die rosa Bluse bleibt trocken, ich verspreche es dir, Seelchen, und du hast dein Wort gehalten und bist echt. Und wenn der Herr mit dem Schwert dich sähe, würde er vor dir salutieren, so echt bist du. Und nun kannst du darauf schlafen.«

»Und dem Papa sage, daß ich nicht lüge, nur wenn ich gar nicht anders kann.«

Da berührt etwas seine Schulter. Der Fürst steht an dem Muschelbett, auf dem sein blasses Kind liegt, umflutet von ihrem Goldhaar, ihr rosiges Wachsebenbild neben sich.

»Kommen Sie mit mir, Graf Thorstein! Was sagen Sie zu dieser Geschichte? Ist das nicht herzbrechend, daß ich so betrogen bin mit diesen Teufelsweibern? Kein Wunder, daß sie diesen Megären entrinnen wollte. Und mir hat sie sich auch nicht anvertraut.«

Sie sind in dem Lernzimmer, und der Fürst geht mit großen Schritten auf und ab. »Ihnen vertraut sich das Kind an.«

»Durchlaucht, es hat sich mir auch nicht anvertraut. Ihr Ehrenwort.«

»Soll das mit der Geschichte zusammenhängen.«

»Ja, und sie hat sich täglich darum quälen lassen.«

Und dann erzählt er dem aufhorchenden Vater des armen Seelchens Geschichte, es scheint ihm..., es will ihm bedünken ..., aber er entwirft doch ein Bild von der Kleinen, das dem Vater die Augen weich und leuchtend macht.

»So sehen Sie meine Kleine an, meine arme Kleine. Aber Sie wissen nicht alles.«

»Wie könnt ich! Das Seelchen scheint noch manche Geheimnisse zu haben.«

»Sind Sie immer ein solcher Kinderfreund?«

»Ich verstehe mich mit den kleinen Herrschaften besser als mit den großen. Und wir haben uns auch in einer seltenen Stunde getroffen, als wir beide unsern Christtag suchten. Ich bin in den letzten Jahren ein wenig mit meiner Seele auseinander gekommen. Und das Kind ... es weht ein Lüftchen um sie, vielleicht, weil sie noch so klein, so fein und so einsam ist ... von dorther, wo die großen Geheimnisse wohnen.«

Draußen in der Winternacht rauscht und braust die Linde ... Harro sitzt, die sehenden Augen hinausgerichtet in das Dunkel, einen Hauch von Versunkenheit und Weltverlorenheit um sich. Der Fürst ergriff seine Hand: »Ach, helfen Sie mir doch bei meiner armen, meiner verlassenen Kleinen, bis sie wieder eine Mutter hat.«


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