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Frau von Epinay

Es lebte zu jener Zeit in Paris ein Deutscher, namens Grimm. In Regensburg geboren, hatte er eine gute Erziehung genossen, wurde Lehrer eines deutschen Grafen und kam mit diesem nach Paris. Hier verstand er sich durch eine seltene Gewandtheit im Französischsprechen und -schreiben, die er sich aneignete, durch mancherlei Talente und ein gefälliges Benehmen, besonders aber durch seine musikalischen Fertigkeiten, eine hervorragende Stellung zu verschaffen. Mit den berühmtesten Schriftstellern jener Zeit trat er in Verbindung, und vorzugsweise war es Diderot, der ihm ein inniger Freund wurde. Durch Diderot wurde Grimm in das Haus der Frau von Epinay eingeführt.

Diese Dame gehörte zu den Frauen, die damals die schöne Welt der Künstler, Gelehrten und Dichter um sich versammelten. Aus England war die Mode der »Blaustrümpfe« nach Frankreich gekommen, und bald eröffneten sich die sogenannten »Bureaux d'esprit«, jene geselligen Zirkel, die unter dem Schutz irgendeiner mächtigen und lebhaft fühlenden weiblichen Persönlichkeit in der Gelehrtenrepublik den Ton angaben. Nicht selten befehdete einer dieser Zirkel den andern, eine Dame beneidete der andern die Eroberungen, die sie unter den berühmten Namen des Tages gemacht hatte. Man geizte nach Auszeichnungen durch die Literatur. Man nahm Widmungen an, unterstützte die Talente und verlor sich, wie die Flamme des Geistes doch immer ein verzehrendes Material erfordert, mit diesem oder jenem der genannten Größen des Tages auch wohl in manche Verirrungen des Herzens, die jedoch von dem leichten Geiste der damaligen Sitten übersehen und in der Ordnung gefunden wurden.

Herr von Epinay war ein reicher Finanzmann, der die vollkommenste Achtung der Welt verdiente. Seine Gemahlin teilte diese Achtung, ließ sich aber in der festen Stellung, die sie für sich allein der Welt gegenüber einnahm, ebensowenig hindern als in der Gunst, die sie Grimm, dem gewandten musikkundigen Fremdling, widmete, der sich natürlich Baron nannte. Baron von Grimm galt für den Günstling der Frau von Epinay. Er musizierte mit ihr, er vermittelte ihre Beziehungen zur gelehrten Welt, und während die Damen Gaussin, Houdetot, Bezenval, Tencin, Popelinière und andere in ihren Zirkeln jede einige Namen der damaligen, der Revolution vorarbeitenden Geistesrepublik für sich protegierte, versammelten sich bei Frau von Epinay alle die Namen, die späterhin die berühmte, für die Neuzeit so epochemachende »Enzyklopädie« herausgegeben haben.

Im vertraulichen Kreise, unter Diderot, Marmontel, St.-Lambert, Duclos, Condillac und anderen sozusagen belletristischen Philosophen, hatte Grimm von den musikalischen Streitigkeiten des Tages, woran er selbst als leidenschaftlicher Vertreter der Musik seines deutschen Landsmanns Gluck beteiligt war, Veranlassung genommen, von einer neuen Notenschrift zu sprechen, die ein wunderlicher, origineller Kauz schon vor einigen Jahren der Akademie vorgelegt hätte. Der berühmte Rameau hatte dies System, die Töne statt mit Noten mit Zahlen vorzuschreiben, nicht für neu erklärt, und die von dem damals jungen Musiker schon herausgegebene Broschüre war in Vergessenheit geraten. Inzwischen hatte die Herzogin von Luxembourg, die so leidenschaftlich das Piano liebte, neuerdings einem Notenschreiber, der vorläufig nur eine Partitur rasch für sich selbst notieren und dann später ausführlicher kopieren sollte, von dieser Abkürzungsmethode der Notenschrift berichten lassen, und auffallenderweise wäre jener Notenschreiber der Erfinder derselben selbst gewesen. Man hatte sich nun näher nach ihm erkundigt und den merkwürdigsten Lebenslauf eines Menschen erfahren, der nach einem kurzen Ausfluge zu einer gewissen, schon etwas versprechenden Bedeutung plötzlich wieder in die armseligsten Verhältnisse zurückgefallen war und in der Rue Grenelle St.-Honoré wohnte. Grimm erzählte, was man ungefähr von Rousseaus Lebenslauf erfahren konnte, wenn man sich bei Musikhändlern oder beim Dienstpersonal des Herrn von Montaigne erkundigte, den Rousseau als Sekretär begleitet hatte, als Herr von Montaigne französischer Gesandter in Venedig war. »Es ist ein Genfer«, hieß es, »der Sohn eines Uhrmachers daselbst; er entfloh seinem Vater, bei welchem auch er die Uhrmacherei gelernt hatte, kam nach Savoyen, wurde durch zwingende äußere Umstände katholisch, ging nach Turin, mußte daselbst Bedienter werden, hielt aber in keiner Position lange aus. In Chambery wurde er Musiklehrer, wollte komponieren, fiel mehrfach damit durch, kam nach Paris, wollte hier einen Anlauf zur Unsterblichkeit nehmen, schrieb über Musik, komponierte eine Oper, besuchte die Akademiker, war aber, da seine Unreife ihn überall lächerlich machte, froh, eine Schreiberstelle bei Herrn von Montaigne zu finden, der ihn mit nach Italien nahm. Aus Venedig zurückgekehrt, gerät er hier in ein Verhältnis mit einer gewöhnlichen Grisette; diese zieht ihre Eltern und Geschwister nach sich, und so lebt denn jetzt dieser Mann, schon hoch in den Dreißigen, in einer lärmenden und gemeinen Umgebung, schreibt Noten, besitzt eine feine Einsicht in das, was er schreibt, und kann endlich auch seiner zierlichen Handschrift selbst wegen allgemein empfohlen werden.« So hatte Grimms Bericht gelautet.

Frau von Epinay besaß ganz die Frauennatur, die alles Seltsame und Unglückliche liebt. Sie wünschte den musikalischen Bedienten kennenzulernen. Daher die Einladung, die Diderot schon vor einigen Wochen auszurichten übernahm. Diderot übernahm sie, da er der Rue Grenelle St.-Honoré am nächsten wohnte. Doch geriet Diderot inzwischen in ernste Unannehmlichkeiten wegen einer seiner neuesten Schriften. Rousseau wurde vergessen, bis Frau von Epinay selbst auf ihn zurückkam und ihm die schnelle Abschrift einer kleinen Oper übergeben wollte, die einer ihrer Freunde zum Geburtstage ihres Gemahls komponiert hatte. Daher die schriftliche Einladung.

Jean-Jacques machte sich am folgenden Tage auf den Weg; er trug sich wie immer; nur feinere Wäsche mußte ihm diesmal Therese, den Umständen angemessen, geben. Um zwei Uhr stand er, mehr mißtrauisch als erwartungsvoll, vor einem Palais in der Rue Taitbout, wo Frau von Epinay wohnte. Leider traf sich, daß Frau von Epinay verhindert war, Jean-Jacques zu der Stunde, wo sie ihn bestellt hatte, anzunehmen. Die schöne Frau von Popelinière war leider gekommen, um sie abzuholen zum Herzog von Grammont, wo gerade der berühmte Mechaniker Vaucanson seine künstliche Ente Eier legen ließ! Es war das Ereignis des Tages, diese eierlegende, körnerfressende und sogar sie verdauende Ente Vaucansons! Man mußte es für ein Glück halten, in einem Zirkel wie dem des Herzogs von Grammont diese Ente bewundern zu dürfen, und man verurteile Frau von Epinay nicht! Sie hoffte beim Herzog von Grammont dem Erzbischof von Paris zu begegnen. Herr von Beaumont, der Erzbischof, war die Hauptperson, die den Spruch, der über ihren Freund Diderot bereits erfolgt war, vielleicht noch mildern und ihn dem Beichtvater und der Gnade des Königs empfehlen konnte.

Armer Jean-Jacques! Das »Nebeneinander« unserer Weltbeziehungen kennt nur Gott und ahnt allenfalls ein Dichter, den man, wie den Schreiber dieser Zeilen, um seine Aufstellung eines Romans des »Nebeneinander« verhöhnt hat. – Die Dienerschaft sprach nicht von der Gefahr des mutigen Diderot, der einige Jahre auf der Festung von Vincennes sein freies Denken büßen konnte, sie sprach nur von dem für die Masse noch größeren Ereignis des Tages, Vaucansons künstlicher Ente. Du glaubtest dich dieser Ente geopfert, und doch opferte dich Frau von Epinay nur einem Werke der Liebe, das vorläufig noch etwas höher stand als das Glück, dich kennenzulernen!

Jean-Jacques stieg nicht wenig verdrießlich die Stufen des glänzenden Hotels nieder, das Frau von Epinay bewohnte. Für ihn war die Demütigung so gut wie erwiesen. Aber die Dame hatte ihn keineswegs vergessen. Sie hatte Befehl gegeben, daß der Portier ihn zum Haushofmeister hinaufschickte, und dieser hatte eine große Arbeit für ihn in Bereitschaft, die handschriftliche Partitur einer Oper, die im Familienkreise einstudiert werden sollte zu Herrn von Epinays Namenstage, einer Oper, die ein Dilettant verfaßt hatte. Er hatte das, was er zu finden erwarten konnte, ja, sogar etwas Besseres, als er gefürchtet hatte. Er hatte gefürchtet, man wollte sich über ihn, einen, ehe er nicht einmal emporgestiegen war, schon heruntergekommenen Schöngeist lustig machen. Und doch war es ein Sonnenstrahl gewesen ungewohnter, aufgegebener Träume, der so vor ihm hin zitterte und seltsam blitzte, als er am Hotel Epinay geklingelt und der Torweg, der in den Hof führte, aufgegangen war. – Die Erwartung war Schmerz geworden, ein Zucken des verletzten Ehrgefühls, ein Krampf des Zornes und eine Auflösung doch zuletzt nur wieder in Wehmut. Einsam war ihm zumute, und mitten im Gewühl der Straßen fing er schon sein gewohntes gedankenloses Träumen wieder an.

Jean-Jacques erwartete nicht mehr viel von der Welt. Er war vom Leben schon so hin und her geworfen worden, hatte für jene Zeit so außerordentlich viel schon gesehen, kannte Italien und Deutschland, hatte die reichste Vergangenheit hinter sich, eine Vergangenheit, die sich in einen Roman des Herzens teilte und in die Geschichte einer Selbstbildung ohne alle äußere Anleitung, welche zweite Hälfte nicht weniger ein Roman war.

Was umgab ihn jetzt? Jetzt, wo er noch ein halbes Kind war und doch schon fast vierzig Jahre zählte? Jetzt, wo es ihm oft war, als müßte sein Leben erst neu beginnen, und wo doch schon sein Haar zu ergrauen anfing? Was er erlebt hatte – an den reizenden Ufern des Genfer Sees, den schneebedeckten Felsenhäuptern von La-Meillerie gegenüber, im italienisch-sonnigen Tale von Chambery, in Turins prächtigen Straßen und Palästen –, das konnte ihm ja keine Zukunft wiedergeben! Er hatte zu zärtlich geliebt und war zu zärtlich geliebt worden! Götterarme schon hatten ihn emporgehoben aus gemeinen Verhältnissen, er hatte den Nektar der Poesie, das Ambrosia der Wissenschaften mit seinen Lippen gekostet; was war im Vergleich mit seiner wunderbaren überseligen Vergangenheit bei seiner ersten Liebe, seinem »Mütterchen«, Frau von Warens, nun seine Gegenwart? Schale Wirklichkeit, unwürdige Existenz, die er ertrug, weil er sich matt, unendlich müde fühlte, er, der selbst in Venedig, selbst unter schwirrenden Masken in toller bacchanalischer Musik der reizendsten Schönheit gegenüber, die vom verschwiegenen Gondeldach an der Marmortreppe eines Palastes nur landen konnte – Zulietta hatte sie geheißen – nur an die Vergangenheit denken und statt sie zu umarmen, weinen mußte. Der Traum der Poesie war ihm längst verflogen, die Himmelsleiter, die ihn zu den Sternen führen sollte, war ja zu kurz gewesen, die letzten Sprossen fehlten, er war wieder niedergestiegen, hatte die Leiter umgestürzt und trug jetzt – die Jacke eines Schreibers mit den Überschlägen gegen Tintenbeschmutzung! Wäre Frau von Epinay geneigt gewesen, ihm ihre Livree anzubieten, er hätte nicht die Kraft gehabt, sie auszuschlagen; er wäre wieder Lakai geworden, was er schon vor achtzehn Jahren in Turin war, in Turin, wo er seinen Glauben wechseln mußte, um nicht zu verhungern. Jean-Jacques, der nie eine Kirche besuchte, der zuweilen tolle Anfälle bekam, wo sich sein Geist wie mit einem einzigen Ideensprunge neben die Größten seiner Zeit, selbst Voltaire, zu stellen vermaß, Jean-Jacques, der zuweilen einen König suchte wie Friedrich in Sanssouci und ihm gegenüber hätte treten mögen mit dem Ausrufe: »Sei du Alexander, ich will dein Aristoteles sein!« – er war nun schon so gewöhnt an diese sogleich wieder eintretende Erschlaffung und Mutlosigkeit, daß ihm der Zufall jede, auch die unscheinbarste Form hätte geben können, denn sein Rückblick ging auf nichts als – Verfehltes. Verfehlt! Verfehlt! Schreckliches Wort auf der Höhe des Lebens, dieses ewig nagende Erwägen dessen, was, so wie es war, ganz anders, ganz anders hätte kommen sollen und kommen können! Dies ewige: »Umsonst! Umsonst!«, das in Luft und Wolken, in Sternen- und Sonnenlicht, auf der Straße, bei jedem Gruße an Menschen und von Menschen ihn mit Bedauern anblickte!

Die Welt, die hinter ihm lag, war wahrlich nicht gering! Er fühlte ihre Größe von irgendeinem, ihm nur noch fehlenden Standpunkte aus! Er sah, daß diese Tausende, die in Wägen, auf Rossen und noch stolzeren Füßen da an ihm vorüberschwirrten, nichts, nichts von dem besaßen, was freilich auch ihm schon nur noch auf dem Kirchhof seiner Erinnerungen schlummerte –! Aber er war fertig und abgeschlossen. Er hatte keinen Wunsch, für die Welt nicht und für sich selbst nicht; er befand sich in seiner Klause leidlich und, den Lärm der Angehörigen Theresens ausgenommen, schätzte er sogar ihre Pflege, ihre Hingebung, ihre rohe Heiterkeit. Andere lebten da statt seiner. Er war ihr Mittelpunkt, er ertrug sie, und sie ertrugen ihn. Er glaubte krank zu sein. Er hatte zwei Kinder, die bisweilen vergessen wurden und von ihm jedenfalls. Es mußte ja auch Hände geben, die diese Kinder speisten und tränkten. Das war seine Existenz. Sie hatte jenen Wert, der unter Umständen den Menschen wichtiger sein muß als Leibnizens Lehre von den Monaden oder des Cartesius: »Ich denke, darum bin ich!« So glich Rousseaus damaliger Zustand recht dem des zerstoßenen Rohrs, wovon die Bibel spricht.

Doch war es kein Apostelwunder, sondern ganz einfach nur eine Tasse Schokolade, die plötzlich alles in ihm ändern sollte.


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