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Die stillen Genien

Nach den Begriffen, die wir in der Regelmäßigkeit des Verlaufs unserer Lebensbedingungen unmittelbar in unserm Herzen heimisch finden, sind die Steine der Verurteilung der eben geschilderten Handlung bald zur Hand, wie sie auch genug auf Rousseau geworfen worden sind.

Wir lieben ein edles Mädchen, das uns gleich steht, wir gewinnen ihre Hand, und die Ehe schlingt ein Band um uns, das bald in seine Kreise auch Kinder aufnimmt. Wir lieben diese Kinder, sie sind das Unterpfand unseres Glücks, sie fesseln uns an das Leben, und wir leben zuletzt nur noch für sie. Gegen die Heiligkeit dieser Empfindungen hat sich Rousseau vergangen, aber es ist unwahr, wenn man seine Handlungsweise, seine Kinder dem Findelhause zu übergeben, ausschließlich die Folge herzlosen Leichtsinns nennt. In späteren Jahren fühlte er die Unmöglichkeit, sich vor der Welt vollkommen zu rechtfertigen. Die Feinde, die bis in seine nächste Nähe drangen – wie er ewig glaubte unter der Maske der Freundschaft –, drangen auch sehr bald in seine geheimsten Lebensbeziehungen, und die beiden Frauen, Therese und ihre Mutter, die ihn umgaben, hatten ihn auch oft genug wegen Preisgabe ihrer Kinder und Enkel angeklagt. Er vernichtete in dem Zorn und Haß auf die bösartige Pariser Welt die Marken auch schon deshalb, um das Gaukelspiel abzuwenden, das man veranstaltete, ihm eines Tages seine Kinder mit einer gewissen Feierlichkeit wieder zurückzubringen.

Grimm lud Mutter und Tochter zu sich und horchte Details über Rousseaus Leben aus, die er an deutsche Fürsten und die Kaiserin von Rußland als »literarische Korrespondenz« schrieb. Über Rousseau, den Zyniker, den Naturmenschen, den ehemaligen Bedienten und noch jetzt bei allem Ruhme unerschütterlichen Notenschreiber – er schlug die Pension einer Pompadour aus und ernährte sich nur vom Notenschreiben –, konnte man der Wunderlichkeiten nicht genug hören. Man forschte nach Rousseaus Kindern, aber man fand sie nicht mehr; die Marken waren vernichtet.

Düster grollend sah Rousseau alle diese geheimen Eingriffe in sein Leben, und immer maßloser wurde seine Sehnsucht nach Einsamkeit. Selbst in den Wintertagen blieb er im Park von Ermenonville, unter Sturm, der die entlaubten Bäume schüttelte, im Schnee, der rings auf den Wegen, auf den Zweigen gespenstisch leuchtete. Während Therese dann schlief am Spinnrad, Rousseau, ein Blatt Papier vor sich, an der »Neuen Heloise« schrieb und die Lampe düster brannte, sah er dann wohl im Geist geheimnisvolle Schatten um sich her schweben, Gestalten, die dies stille Haus im Walde so gern verwandelt hätten in einen Tempel der Häuslichkeit. Die lichten Engel nahmen die Züge seiner Kinder an. Zwei von ihnen hatten Flügel; diese waren wohl tot – das dritte, ein Knabe, den man Emil getauft hatte, trug noch keine Flügel; er lebte wohl noch. Schwere Seufzer entrangen sich der Brust des Armen, der mit Hülfe der Künste und Wissenschaften die Welt glauben machen wollte, daß Künste und Wissenschaften sie um den Frieden und die Reinheit ihrer Sitten gebracht hätten! Damals mochte ihm schon eine Ahnung gekommen sein, daß die wahre Philosophie nicht die Familie aus der Gesellschaft herleitet, sondern die Gesellschaft aus der Familie.

Rousseau hatte es nie gesagt, daß sein »Emil«, mit dem er die Erziehungsmethode des Jahrhunderts revolutionierte und der Vorgänger Pestalozzis, der geistige Vater aller Kinder des achtzehnten und neunzehnten Jahrhunderts wurde, eine Sühne war für das, was er an seinen eigenen Kindern verbrach. Nie konnte er sich ganz von der Vorstellung trennen, daß seine Kinder unter Theresens Leitung verloren gewesen wären, immer erklärte er sich für zu schwach, als daß er bei der großen Lebensaufgabe, die ihn drückte, ihr Schutz und Berater hätte werden können. Allein die Genien seiner eigenen Kinder waren es, die ihm die Feder in die Hand drückten und ihm zuflüsterten: »Schildere der Welt das Glück der Elternliebe! Schildere Kinder, die ihren Eltern die Mühe lohnen durch ihre Liebe!«

Die Wehmut war Jean-Jacques' Muse, als er den Müttern zurief: »Nährt eure Kinder an den Quellen des Wachstums und der Gesundheit, welche die Natur aus eurer eigenen Brust geleitet wissen will!« Die Wehmut war seine Muse, als er jeden, der ein Kind in die Welt gesetzt hatte, auch verantwortlich machte für dessen Bildung und Fortentwickelung. Er stellt ein Modell auf, das er Emil nennt. Er läßt Emil erzogen werden auf die Gefahr hin, einst alles zu verlieren und allein dazustehen im Leben, nur bezogen auf sich selbst, abhängig von sich selbst, ja, in Kerker und Banden noch frei zu sein, sein eigener Herr und Meister. Rousseau sah voraus, daß Europa nicht bleiben würde, was es damals war. Er verkündigte das Zeitalter der Revolutionen. Die Menschen vorzubereiten auf die Umwälzungen, sie im Sturm der zusammenbrechenden alten Bedingungen des Daseins, der Stände, ihrer Unterschiede, nichts sein und bleiben zu lassen als Menschen, fähig zu allem Guten und Großen, das war nach ihm das Ziel, das die Erziehung nicht ernst genug ins Auge fassen konnte. Er wollte Arme erziehen, um Könige zu werden, er wollte Könige erziehen, um von ihren Thronen mit Würde zu steigen.

Das Parlament von Paris verurteilte den »Emil« zur schimpflichsten Vernichtung durch Henkershand. Der Verfasser entzog sich nur durch eine schleunige Flucht dem Schicksal, selbst verhaftet zu werden. So hatte sich die Zeit überlebt, daß die Gesetze und die Anwälte ihres Buchstabens denselben Autor verfolgten, den Fürsten und Fürstinnen beschützten! Der Herzog von Luxembourg gab Wagen und Pferde für eine Flucht seines Nachbars, deren Notwendigkeit Malesherbes in seiner Eigenschaft als Chef des obersten Gerichtshofs von Paris ihnen vorher angedeutet hatte!

Und das Opfer, das Rousseau den Manen seiner Kinder brachte, die er nie wieder sah, stieg mit wohlgefälligem Duft zur Vorsehung empor. Seine tiefste, geheimste, bitterste Reue wurde das Evangelium einer neuen Erziehungsmethode sowohl für die Mütter, die ihre Kinder wieder selbst nährten, wie für die Väter und Erzieher, die damals mit einem durch Rousseau über ganz Europa sich verbreitenden Enthusiasmus ein Geschlecht der Erde zu geben gelobten, besser, stärker, als sie selbst waren.

Therese blieb auf den Reisen, nach der Schweiz, nach England und, als bessere Zeiten kamen, nach Frankreich wieder zurück, die Begleiterin Rousseaus. Am Abend seiner Tage gab er ihrem Bunde sogar noch die Weihe der Kirche. Er war ihr den Dank schuldig – daß Gewohnheit, Alter und Mangel sie an ihn fesselten. Er lobt sie in seinen »Bekenntnissen«. Er rühmt ihr Sorgfalt und Liebe nach. Sie hatte kein völlig verdorbenes Herz, aber ihre Empfindungsweise war roh und bedurfte der Regelung erst durch guten Rat. Man kann sich des Gedankens nicht erwehren, daß Rousseau sie in den am Abend seines Lebens geschriebenen und hie und da schon verbreiteten »Bekenntnissen« nur deshalb rühmte, weil er fürchtete, von ihr verlassen und dann ganz einsam zu sterben! Ach, wenn sich der Mensch dem Grabe nähert, denkt er mehr, als er davon spricht, an die Bereitung seiner letzten Lagerstatt –!

Diese »Bekenntnisse« existierten nur im Manuskripte, sie wurden von ihm denen vorgelesen, die ihm in der Schweiz, in England, später noch einmal in Paris wohlwollten oder hinter Wohlwollen ihre Neugier versteckten. Therese war zugegen, wenn er las, sie hörte, was er Rühmendes von ihr geschrieben. Er rühmte sie, damit er sie ermunterte, des Ruhmes wert zu sein!

Armer Jean-Jacques! Du kranktest an dir selbst! Die Umstände drängten dir Gedanken auf, die du annahmst und predigtest, während tausend Stimmen oft in dir das Gegenteil riefen! So trotztest du wider dich selbst und zwangst dich, während deine Lippen Freiheitshymnen sangen, wie oft – dein eigener Tyrann zu sein! Die Furcht vor der Inkonsequenz zwang dir Konsequenz ab, und so mißtrauisch warst du gegen dich und die Welt, daß du selbst deiner sehnlichst erwarteten Todesstunde nicht trautest! Aus Besorgnis, sie könnte nicht kommen, beschleunigte Rousseau ihr Kommen.

In der Schweiz, gehetzt, verfolgt von den Genfern und Franzosen, auf der Insel Biel, wo dir nur eine Hütte noch gehörte, die rings die Welle eines kleinen Sees bespülte, an dessen Ufern die Häscher lauerten, dort hättest du jenes Gift nehmen sollen, das du in der glücklichen Freistatt nahmst, die dir Prinz Conti in Montmorency gewährt hatte!

Wie war dieser Selbstmord möglich? Doch wohl nur aus Furcht, aus selbstquälerischer Hypochondrie, aus Angst, so sterben zu sollen, wie man gemeiniglich stirbt. Rousseau tötete sich selbst, um freier zu sein als sein Schicksal. Er wollte sterben – wollte es, um nicht zu müssen.

Wie sich Rousseau in seinen letzten Lebenstagen oft nach der Liebe eines Kindes gesehnt hat, beweist seine Freude, als er einst in der Schweiz einem jungen Manne begegnete, in dessen Zügen er eine Ähnlichkeit mit seinen vor zwanzig Jahren ausgesetzten Kindern entdeckte.

Wie schmerzt es die Dichtung, zu erwiesene Wahrheit nicht entstellen zu dürfen! Glücklich hätte es uns gemacht, ausmalen zu dürfen, daß ein Jüngling schon lange die Fußtapfen des Greises suchte, ihm folgte, sich ihm näherte, seine Dienste suchte, ihn führte, ihn stützte, ihn Vater nannte und zur Rechtfertigung von alledem nichts zum Zeugnis gab, als daß er in einem Findelhause gefunden war, Emil hieß und nichts von seinen Eltern wußte – die Erfindung tritt beschämt zur Seite, verdrängt von der viel erwieseneren Tatsache, daß die Witwe Rousseaus noch Michel Labrousse, den Dächerflüchtling, heiratete.

Wenn jener Jüngling in der Schweiz nicht Rousseaus echter Emil, sondern nur dessen Sühnengel war, so bescheidet sich die Erfindung anzunehmen, daß es irdischer Formen für das nicht bedarf, was in einem unsichtbaren Reiche bewiesen ist.


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