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II.

Es giebt und hat zahllose Menschen gegeben, die auf untern Lebensstufen dem Auge, das sich nur die Mühe giebt, auf sie zu achten, seltene und verhältnißmäßig ganz wunderbare Kräfte der Seele und Eigenthümlichkeiten des Herzens verrathen. Die gewöhnliche Lebenschronik eines Gebildeten verschwindet an Reiz für den Psychologen gegen viel Tausende von Entwickelungen, die sich nur im niedersten Striche hielten und doch niemals dumpf oder ganz bewußtlos brütend auf plattem Boden hinkrochen. Ja selbst der neuerdings zu so überschwänglichen, etwas unwahren poetischen Ehren gekommene deutsche Bauer und der seinen Auerbach und Jeremias Gotthelf noch suchende deutsche Handwerker kann lange soviel Eigenthümliches nicht erleben, wie manche abenteuerliche Lebensstellung und Beziehung zur gemeinsamen Existenz, mancher Lebenslauf aus jenen Zwischenregionen, besonders der dienenden und auf eine gewisse Regellosigkeit im Gil-Blas-Style angewiesenen Klassen. Ein Streben nach Erfolgen hebt diese Menschen früh aus den Bahnen hervor, die sich den meisten Augen auch für bescheidene Lebensverhältnisse hier einsichtlich und zugänglich zeigen. Eine im Felde arbeitende Bauersmagd ist in dem Werth, den sie für den Menschenforscher oder Dichter ansprechen kann, sehr bald erschöpft oder man müßte denn erfindend übertreiben, künstlich hineintragen, Unmögliches dem Unkundigen als die rosigste, sauberste Aquarellfarben-Möglichkeit darstellen. Aber eine Bauersmagd, die zum Dienen in die Stadt kommt, eine andre, die für einen Fehltritt im Dorfe den Ort ihrer Beschämung verläßt, als Amme sich verdingt und aus wunderlichen und verschnörkelt-verworrenen Lebensverhältnissen oft nicht wieder herauskommt, regt das ganze Interesse an, das wir den zügellosen Abenteuern der spanischen Schelmenromane schenken, wo wir die Gil-Blas oft gescheuter und bedeutsamer antreffen, als die Prälaten und Hidalgos, die sie zu bedienen vorgeben, und wo manche Staatsaktion der Weltgeschichte geeignet ist, eher auf die Gran Tacanos, als auf die Alberonis zurückgeführt zu werden.

Des – vergebt ihm! – ins Plaudern gerathenen Kindes Familie stammt Vaterseits aus dem kernfesten, »hanbüchenen«, plumpberufenen Pommerland. An des Pommerlands und der Uckermark Grenze sollen gewisse Ortschaften, Namens Löcknitz, Klempenow, Dorotheenwalde liegen, Gegenden, die den ganzen Charakter der dortigen Landschaft tragen müssen, feuchte, fruchtbare Sumpfstellen (»Bruuche« genannt), Wald- und Heidedurchwachsen; denn so lebt diese grüne Urheimath in des Knaben Gedächtniß. Vorfahren verlieren sich bis in urälteste, erst schwedische Zeit, dann berichtet die Geschichte Pommerns selbst von einem Bischof zu Wollin aus einem gleichnamigen Grafengeschlecht. Aber Hochmuth komm nicht vorm Fall! Du wirst von gräflichen Bischöfen des eilften Jahrhunderts vielleicht nur in Cölibatsumgehung abstammen! Diese Ahnung hat in der That etwas für sich; denn alle Vorvordern waren arm, aber gelehrt und selbst lehrend. Eine ununterbrochene Reihenfolge zeigt dies alte Pommergeschlecht bald entartet zu Gerichtsschreibern, bald zu Schullehrern und Küstern, stattlichen Armuths- und Kindergesegneten Lebensständen! Der Großvater war Anfangs Patrimonialgerichtsschreiber in jener Zeit, wo zu den erlaubten Justizmitteln der ländlichen Gerechtigkeitspflege noch ein großes, dem Kinde oft geschildertes Faß gehörte, in dessen einem Boden ein Loch geschnitten war, groß genug, um den Kopf des Inquisiten durchzulassen, während die Beine durch zwei entsprechende Löcher im andern Boden hinlänglich Kraft zur langsamen Bewegung, somit in einer Art von Zwangsjacke, behielten. Der junggestorbene Großvater muß trefflich geschrieben haben. Erst Protokollant irgend eines pommerschen Don Holzapfel und seines juristischen Beisitzers Magister Schleewein, wurde er »ob schwächlicher Gesundheit« Schullehrer »wie auch« Küster und scheint als solcher in Löckenitz, Klempenow und »Dortenwalde« auf eine kräftige, männliche Handschrift – wie die Figura der Handschrift seiner Söhne zeigte – gesehen zu haben. Der Brave starb, wie Schullehrer sterben. Sie hinterlassen ein liebevolles Andenken und das Elend der Ihrigen. Den Großvater überlebten eine kranke bettlägerige Wittwe und zwei unmündige, kräftige, des Vaters »schwächliche Gesundheit« nicht dokumentirende Knaben. August und Karl rangirten als Schulmeisterswaisen gradezu mit den Vögeln unter dem Himmel und mit den Lilien auf dem Felde. Sie fanden ihr Brod wohl nicht bettelnd vor den Thüren der andern Leute, aber wahrlich auch nicht in ihrer eignen Hütte. Ein auf Naturalien angewiesener Schulmeister ist schon an sich eine der verzweifeltsten Stufen des modernen Musen-Proletariats; aber eine auf Naturalien angewiesene Schulmeisterwittwe mit zwei hungernden gesunden Schulmeisterwaisen, da müssen die Engel selbst vom Himmel kommen, Herzen erweichen, Mehlkästen aufschließen, um mitten in unsrer Civilisation keine Hungerleichen auf die Landstraße zu werfen. Ein Invalid Friedrichs des Großen, dem das Gnadenbrod einer Lehrerstelle die Schulranzen der benachbarten Dorfjugend zutragen durften, hatte doch noch seine Pension für einen bei Leuthen verstümmelten Fuß; aber ein Schulmeister, so von der Schreiberbank seines Wissens und wirklichen Könnens wegen weggenommen, ein wirklicher calligraphischer Dorfgelehrter hinterläßt seinen Kindern Regen und Schnee, Sturm und »Schlack«-wetter, Zittern und Frieren auf der Haide, wenn sie die Reihherum bei vermöglichen und milden Bauersleuten die Kost bekommen und wandern müssen Tag ein Tag aus von Löckenitz nach Klempenow, von Klempenow nach Dortenwalde, pochen müssen an Gehöft und Amthaus und Jägerhütte und Müllerhof, und Abends, wenn ihnen die Engel durch das Herz guter Leute noch für die ewiglich auf's Bett gebannte Mutter zulangen Brot, gedörrtes Obst, Eier, Speck, doch wieder damit weit, weit nach Hause zurücktrollen müssen. Da war kein Wind, kein Regen, kein Schnee, kein Frost, der diesen beiden Schulmeisterwaisen einmal gesagt hätte: Ihr bleibt heute an diesem warmen Kachelofen, der Bauer duldet Euch, die Bäuerin gäbe vor dem Bettgang Sonntags gern noch Eierbier und einen brennenden Kiehnspahn, um ihr aus dem Pommerschen Gesangbuch ein Lied vorzulesen mit kindlichfrommem Stimmchen .... nein, die Jungen mußten zur Mutter zurück mit ihren eroberten Brosamen, mußten ihr Altes noch im Neste atzen, mußten sich selbst noch am Bett der Mutter zeigen, die nicht einschlafen konnte, wenn sie nicht den Abendsegen den Jungen abgehört und jeden Morgen ihnen die flachsblonden Haare selbst gestriegelt hätte von ihrem Bette aus. Es war eine in ihrer Art gebildete Frau, diese kranke Mutter. Alle liebten sie und gaben ihr und den Jungen gern. Im Novembersturm und Jännerschnee, in Julihitze oder Augustgewitter aßen ihre Söhne Reihherum bei einem Pfarrer, einem Jäger, einem Müller, einem Amtmann, drei bis vier Erbpachtbauern, jenen stattlichen fetten Bauern mit den silbernen Thalerreihen auf den langen Röcken, die nach Berlin oder Stettin ihren Roggen, ihren Weizen, ihre Wolle oder Gänsebrüste führen. Die konnten es. Die Kinder dankten mit allen Belohnungen des himmlischen Lebens, gingen von dannen und pochten Abends wieder, ob nun mit erfrornen Fingern oder durchweichten Röcken, an der Hütte der Mutter, die noch Bericht verlangte, Bericht vom Erlebten, und mit diesem Erzählenmüssen in ihren Söhnen eine so übergewaltige Phantasie weckte, daß ein leiser Schimmer davon in einem ihrer Enkel nachbleiben konnte.

 

Denn erzählen konnte der Vater! Erzählen! Sheheresade hätte an ihm einen Meister gefunden. Das war kein ungefähres Berichten, kein unbestimmtes Erinnern, das war das Leben, die Wahrheit selbst, handgreiflich die Thatsache vors Auge gerückt; nun sieh dich satt und vergiß dich selbst darüber! Denn wie käme es, daß der Knabe das niegesehene, autochthonische spickaal- und gansbrustgesegnete Urland der Pommern kennt wie etwa den Rhein oder seine Tasche! Säen, ernten, heuen, dreschen, das konnte auch die Umgebung Berlins, ja Berlin selbst lehren, in dessen Ringmauern wirklich gesäet, geerntet, geheut und gedroschen wird wie auf flachem Lande; aber du treues Pommerland, das du dich bei den Loyalitäts-Demonstrationen deiner Gutsbesitzer in so grundherrlicher Competenz durch deine tausendfachen Unterschriften bewährtest, woher lebt denn der abtrünnige Halbpommer wie leibhaftig in jenen »Bruuchen«, die soviel Heu für die Rindviehzucht abwerfen, sieht im Geiste diese Schaaren von Gänsen, die »mit den Flügeln jauchzend,« wie Homer singt, deine Stoppelfelder wie weiße Leinen bedecken und Winters mit ihren geräucherten Brüsten die Tafeln der Kenner schmücken? In des Vaters Schilderungen glänzte das dem Pommerland nahegelegene Boitzenburg, die Stammburg der stolzen Arnime, als das wahre Land der agronomischen Fabel, wo die Bodenkrume so fett wie mit Butter bestrichen ist, die Kühe in ihrer Milch schwimmen, das Gras von selbst auf die Heuböden wächst, das letzte Korn aus Mangel an Säcken ungeärntet bleibt und die Knechte vom Hofe die Linsen und den Speck Mittags Fuderweise aufgetragen bekommen. O du treues, biedres Pommerland, letzte Vendée des Kreuzzeitungs-Preußenthums! Wie gegenwärtig bist du, obgleich nie gesehen, dem geistigen Auge bis hinab an die Niederungen der Inseln Usedom und Wollin, wo am Strande die Kibitze dahinschießen, deren beinunterschlagenes Wie-der-Windlaufen in guten Stunden der Vater dem Sohn im Felde vormachte, dieselben Kibitze, die uns die kleinen delikaten grünen Eier mit dem goldgelben Dotter und grünlichen Eiweißgallert geben? Woher stammt das Alles so gegenwärtig her, als aus der Erzählerphantasie des Vaters, der der kranken Mutter Kunde aus der Welt von Löcknitz, Klempenow und Dortenwalde bringen mußte?

Die beiden Brüder, August und Karl, kamen mit der Zeit aus dem Lande, das da heißt Vorpommern, in das andre Land, das da heißt Hinterpommern. Die Schulmeisterwaisen strebten Großes an. Sie hätten ja Bauernknechte werden können, die Kraft dazu hatten sie. Sie wollten aber dem Stammbaum des Hauses, der bis zu Grafen und einem Bischof reichte, Ehre machen. Der Aelteste lernte in Stettin deßhalb das Schneiderhandwerk, der Jüngste, des Erzählers Vater, folgte und wurde noch etwas Vornehmeres, ein Maurer. Für zwei so arme Existenzen, zwei solche Schneeflocken zur Osternzeit, die ein Sonnenstrahl wegthauen kann, war es eine Heldenlaufbahn, sich fünf Jahre lang bis zum »losgesprochenen« Gesellen ehrlich und bieder oben auf zu erhalten; sie wurden mit einem Stolze, der auf ihrer Lebensstufe die vollste Berechtigung hatte, Gesellen und konnten nun auf die Wanderschaft gehen. Aber die unruhige abwechslungsgewöhnte Dorffreiherrlichkeit regte sich mit der gewonnenen Freiheit. Erst kommt der Mensch, der muß, dann doch wieder der Mensch, der will. Sie hatten jenen ausgehalten, nun kam dieser in die Versuchung. Der Aelteste, der Schneider, ging nach Berlin, suchte »Condition« und wurde – der Diener eines Großen. Der Jüngste, der Maurer, folgte, arbeitete an einem Bau in der damaligen »Syrupsstraße« – die Zeit Friedrichs des Großen hatte der ersten so hochgepflegten und blühenden Zuckersiederei (1749) zu Ehren diesen süßen Namen einer der Straßen gegeben, die den Spittelmarkt mit der Waisenhausbrücke verbinden – erlebte aber das Unglück, daß ihm das eine Auge von ausspritzendem heißem, eben gelöschtem Kalk halb geblendet wurde. Der Bruder machte Anträge, eine so gefährliche Lage zu verbessern. Er kannte längst des Maurergesellen schwache Seite. Es war das Pferd. Die Koppeljungen von Löcknitz waren des Vaters beste Freunde gewesen. Mit ihnen hatte er sich auf jungen Fohlen getummelt, mit ihnen war er bügellos in die Schwemme geritten. Der Maurergesell brauchte nur die Reitpferde des Grafen von Brühl zu sehen und schon griff er nach der Striegel und dem Wassertrog. Graf Brühl, Erzieher eines der Söhne des Königs, wußte den neuen jungen Freund seiner Pferde so zu schätzen, daß er ihn, als der hohe Zögling seinen ersten eignen Hofstaat erhielt, dem Prinzen selbst empfahl. Jetzt in der königlichen Manêge wurde die Kunst des Reitens noch einmal vom Sattelschluß bis zum Grabensprung theoretisch durchgemacht. Prinz Wilhelm, ein gemüthlicher und bei den traurigen zurückgezogenen Verhältnissen, in denen der in der Geschichte gewürdigte Vater die eigene königliche Familie zu leben zwang, in Bescheidenheit aufwachsender Jüngling, gewöhnte sich so an den ersten Pfleger seines neuen Marstalls, den jungen pommerschen Dorfsohn, daß sie lebenslang sich nicht wieder aus dem Auge verloren. Die ersten selbstständigen Reisen nach Böhmen, Sachsen, Schlesien, den Feldzug von 1806, den Rückzug und den Aufenthalt in Königsberg, die Freiheitskriege und nach ihnen noch manches Jahr des Friedens und des gerüsteten Manövers hielten Herr und Diener, der Eine in Gnaden, der Andre in Treuen zusammen. Welche Fülle von Erlebnissen, deren Erzählung und winterabendlich hundertfach wiederholte Darstellung die Phantasie des Kindes mit allen Zaubern der Fremde und der buntesten Lebensbeziehungen erfüllte! In Berlin gab es keine ächten Berge zu sehen; aber lebendig, zum Greifen nahe hingen ächte Berge über dem Haupte, wenn die Rede war von den Engpässen Böhmens, den Schluchten des Riesengebirges, von Felsen, die über der Straße so weggingen, daß man sie im Reiten fast mit dem Hute berührte. Diese Schilderungen von himmelhohen Gebirgen, tiefen Thälern, siedendheißen Quellen, wildreißenden Strömen und den hunderterlei verschiedenen Benennungen für das dem gemeinen Mann überall zunächst Gerückte, Maaß und Gewicht, Brot, Butter, Fleisch, Eier, Käse und die hunderterlei Abweichungen in der Volkssitte fürs Grüßen, fürs Danken, fürs Fluchen, fürs Schäkern und Necken, alles das stammte aus des Prinzen erster Bildungsreise mit seinem Gouverneur, dem Grafen von Brühl. Und nun kam die Erzählung vom sogenannten »unglücklichen Krieg.« Erst der Jugendübermuth, als die Armee die alten Zöpfe opferte, dann die hohe Erwartung von der seltnen Kriegeskunst der alten Ueberbleibsel aus Friedrichs des Großen Sagenkreise, vom alten Möllendorf und seinem Schimmel, vor dem sich Napoleon nur ja verstecken sollte! Aber da schon ein dem Prinzen bei Auerstädt unterm Leibe erschossenes Pferd, der erste Kriegeskummer, wie er beim Cid nur um sein Roß Babiéca empfunden werden konnte! Dann die Niederlage, dann die Flucht, dann der Jammer um den Prinzen Louis Ferdinand bei Saalfeld, dann die losplatzende Lächerlichkeit der alten Generale in Steifstiefeln, die die Leute weinend zur Ruhe verwiesen, der Rückzug über die Elbe, General L'Estocqs neues hoffnunggebendes Zusammenraffen der Trümmer, die Schlachten bei Eylau, Friedland, die Königsberger Zeit .... Alles das rollte sich in wildem Getümmel und in rasender Flucht vor dem Kinderauge auf und war das schauerliche Vorspiel einer folgenden, dann aber auch ganz himmlischen Wunderzeit der Siege und des Triumphes ... Napoleon, oft vom Vater in unmittelbarer Nähe gesehen, stand leibhaftig vor dem Knaben, der ihn wie den Teufel haßte. Gelbes Gesicht, weißlederne Hosen, dünnes schwarzes Haar, grüner Oberrock, dicker kurzer gedrungener Wuchs, hohe schwarze Steifstiefeln ... Eins floß so ins Andre und immer war der Refrain dabei der: Man hatte ihn grade so, daß man ihn richtig treffen konnte, wenn Einer hätte schießen wollen oder in Tilsit, auf dem Niemen, beim Friedensschlusse 1807, wo Kaiser Alexander auf einem schwimmenden Flooß mit dem »Bonaparte« zusammentraf, wo er, wenn da Einer gewollt hätte, mit einem Ruck hätte ins Wasser müssen – wie sein Landsmann Fiesko in Genua. Aber, setzte der Patriot hinzu, die Generale, die Gensdarmen, die Mamelukken, die Pracht und Herrlichkeit der gestickten Comödianten-Uniformen, worin die ehemaligen Schneider, Schuster, Friseurs staken! Jetzt beugten sich Kaiser und Könige vor dieser »Räuberbagage« und »dankten ihrem Schöpfer« für einen guten Frieden. Das ganze Leid der königlichen Familie lebte in dem mitfühlenden Manne fast wie ein persönliches. Diese Diener der »unglücklichen« d. h. gedemüthigten Großen sahen die Thränen der Königin Louise wirklich fließen, sahen die Zurücksetzung auch wirklich ihren Herrschaften angethan. Die große zeitungsausposaunte Weltgeschichte, die Strategie der Kabinette und Diplomaten, war diesen bescheidenen Umgebungen unbekannt, aber die unmittelbarste Wirkung aller neuen Zustände in den vornehmen Menschen selbst, in ihrem Stolz und ihren Leidenschaften, fühlten sie wie in sich selbst nach. Der vertriebene Kurfürst von Hessen, der Alte mit dem Zopf, und sein Sohn, der Spieler, von dem man nicht Haltloses und Verkehrtes genug erzählen konnte, mischten etwas Humor in diesen Schmerz. Die hessischen Herren guckten in die Kochtöpfe der Stallbediente, luden sich bei ihren Ehefrauen zu Gaste ein. Die populären Neigungen des künftigen Gemahls der Demoiselle Emilie Orlöp aus Berlin wurden viel belacht und eine eigne Erfahrung bestätigte sich dabei; die nämlich, daß die Kleinen an den Größen viel lieber haben, daß sie sich groß geben, als klein ohne Würde.

Wie wurde dagegen des Prinzen Art gerühmt! Der Vater erzählte: Du warst geboren. Ein schöner Märztag im Kometenjahr. Die Sonne schien auf's Bett der Mutter. Sie wollte hinaus, so prächtig roch es nach Hyazinthen und Frühjahr. Nach acht Tagen war schon die Taufe. Neun Pathen; der zehnte war der Prinz. Am Abend, da der Sekretär eine goldne Bescheerung vom Schlosse in die Wiege warf, ging's hoch her. Bis in die Nacht wurde getafelt, gesungen. Die Mutter wird aber krank. Da bestellt der Prinz die braune Venus, eine Stute, die er selbst gekauft hatte. Bist traurig, redet er den Diener an. Ich weiß schon, du hast die Landkarte beim Manöver verloren ... Hoheit – ... Schon gut, es ist eine neue gekauft. Künftig Ledertaschen für Landkarten! ... Man reitet eine Stunde. Der Prinz wendet sich alle zehn Minuten um und will die Venus gelobt haben. Er hatte sie selbst gekauft ... Geht sie nicht superb?.. Hoheit, ein Punkt im Auge ... Wetter, mit Euerm Punkt! Weil ich sie gekauft habe, hat sie einen Punkt im Auge ... Sie wird blind werden, Hoheit ... Ist nicht wahr! War ein armer Rittmeister, dem ich das Pferd abgekauft habe; hat keinen Punkt ... Aber Hoheit ... Hat keinen Punkt! Hättet Ihr das Pferd eingekauft, der Stallmeister und die Andern, dann hätte die Venus keinen Punkt. Nun hab' ich einmal eingekauft, so soll sie einen Punkt haben!.. Damit die Sporen gegeben. Dann wieder inne gehalten ... Bist so traurig? Was ist? Hoheit ... Der Junge gesund? ... Die Frau ... Krank? ... Sterbenskrank... Leibarzt soll kommen. Und so lange sie stillt, soll sie von meinem Tisch essen und meinen Burgunder trinken! – So wurde der Junge mit Milch aus Prinzenkost getränkt und hatte in spätern Jahren auf die bittern Vorwürfe, wie man bei solchen Verpflichtungen sich unter den Turnern, den Demagogen, den Liberalen und »Gottesleugnern« betreffen lassen konnte, kaum eine andre Antwort als die: Was kann man gegen so nährende Muttermilch! Es giebt zwei Welten, die des Herzens und die des Geistes. Die Pflichten und Rechte beider gleichen sich hienieden nicht aus.

 

Die Lichter, Farben, Raketen, Feuerwerke des Erzählungsstoffes aus den Befreiungskriegen lassen sich nicht wiedergeben. Das war eine Lichtgirandole der Begeisterung nach dem Brande von Moskau! Die Niederlage der »großen Armee« durch Frost und Hunger wurde vom Vater mit dem ganzen parteiischen Gefühl vorgetragen, das im Naturmenschen das Unglück des Feindes für eine Quelle von Freude nimmt. Niemanden mehr, als den unter dem »Bonaparte« kämpfenden Deutschen wurde das Elend des Winters von 1812 in alle Gliedmaßen gewünscht, den Bayern zumeist, die »in Schlesien grausamere Wirthschaft getrieben, als die Franzosen.« Die Erhebung war natürlich die Erhebung »Preußens«, nicht »Deutschlands«, das solcher angestammter Hohenzollersinn nicht kannte, sondern gewöhnlich nur unter dem Namen zusammenfaßte: »Aller Herren Länder.« Preußen war es, das in Schlesien, der Lausitz und in Sachsen das blutige Vorspiel eröffnete. Die zarteste Blüthe der schlesischen und märkischen Jugend wurde wie mit einem einzigen Sensenschnitt hinweggerafft. Der Prinz stand bei Blüchers Hauptquartier, als dessen Seele Scharnhorst dem Knaben wie ein grübelnder, denkender, ernster Genius des Schicksals geschildert wurde. Bei Großgörschen, wo der Prinz einen Cavallerieangriff commandirte, fiel jener gewissenhafte Kritiker der braunen Venus, ein Stallmeister, der den Eigennamen »Major« führte, ein geliebter, beweinter, treuer, brandenburgischer »Froben.« Nach dem Waffenstillstande und der mitgerittenen Schlacht an der Katzbach traf den Vater bei Leipzig, wo das knatternde Niederfallen der verklammenden Gewehrkugeln regelmäßig mit etwa in Kohlfeldern niederprasselnden Tausenden von Erbsen verglichen wurde, eine Prallkugel in den Rücken, die ihn nach schmerzlichem Aufschrei ohnmächtig vom sich bäumenden Pferde warf. Die besorglichst theilnehmenden, vom Prinzen und von Blüchern zugerufenen Worte der Hülfe und des Bedauerns standen, wenn auch unsichtbar, doch wie mit Gold geschrieben für ewig über des Hauses Schwelle. Der herzlichste Antheil des Prinzen kann ermessen werden nach einer Zeltkameradschaft, die in Schlesien des eignen Dieners Hemden trug und bei manchem einsamen Ritt aus dessen Brodbeutel und Feldkessel aß. Die Wirkung des Schusses ging über eine betäubende Erschütterung nicht hinaus. Thüringen, Hessen, Nassau wurden rasch durchschnitten. Oft klagte der Abenderzähler die Wildheit der Soldaten auf deutschem Boden an, von denen er wörtlich sagte: »Die Bauerlümmel denken immer, gleich hinter ihrer Garnison fängt Feindesland an.« In Wiesbaden wurden die heißen Bäder, die an der Quelle gesottenen Eier und möglicherweise sogar gebrühten Hühner bewundernd erwähnt. Bei Caub ging es über den Rhein. Die Gefahren und Entbehrungen wuchsen; aber die neuen Menschen und neuen Sitten reizten nur um so mehr des Kriegers Lust. Zahlreiche Erzählungen folgten von einsamen Meierhöfen, verlassenen Dörfern, versteckten Waldhinterhalten, niedergebrannten Städtchen, Plünderungen, Gewaltthätigkeiten, Jammerscenen aller Art. Einreden von Humanität und Billigkeit wußte der Humor erlaubter Selbsthülfe achselzuckend zu pariren. Was halfs? Es war Krieg! Die Geschichte eines eroberten Kalbes, eines heimlich versteckten Schweins, die mit Marderspürkraft aufgefundenen versteckten Hühnerkörbe bildeten Episoden von tragikomischer Umständlichkeit und konnten im Drange der Verhältnisse nicht anders enden, als mit dem besten Wunsche, das Verstecken ihrer armen Habe möchte den unglücklichen Einwohnern nicht im Mindesten gelungen geblieben sein. Stereotyp war bei diesen Begegnissen auch die Thatsache, daß die dem Vater widerwärtigsten Faullenzer, die großsprecherischsten Ordonnanzen oder »schnauzmäuligsten« Offiziere, die feigsten Cavaliere im Gefolge der hohen Herrschaften, die Schreiber, die Federfuchser, die Oekonomen bei allen diesen Fouragirungen immer die gewaltsamsten und rücksichtslosesten Tyrannen waren. Hier wurde von den Beutelustigen derselbe Sarras gezogen, der sonst beim Kampf in der Scheide stecken blieb, hier drohte der Feigling mit Niederschießen und führte ein »großes Maul«, während er, sowie nur ein paar Kugeln herüberpfiffen, mäuschenstill davonschlich. Von einer großen Anzahl dieser »Heimtücker«, deren Heldenthaten nur in Essen und Trinken bestanden – wie sie später auch die ewigen Tafelhelden und mit dem patriotischen Zaunpfahl nach Orden und Gratificationen winkenden »Erinnerungsfresser« zu bleiben schienen – wurmte es den Erzähler oft, daß sie später wirklich im Frieden die fettesten Anstellungen, für ihre krummen Buckel die einträglichsten Aemter bekamen. Es sind das die Menschen, die dem Knaben schon früh die ewige Niedertracht der menschlichen Natur zeigten und in andern Lagen, unter andern Bedingungen, bei unsern neuesten politischen Kämpfen und dem mehrfachen Umschwunge der öffentlichen Meinung die bekannten scheußlichen Rollen von Menschenentwürdigung und Gesinnungslosigkeit gespielt haben.

Nach den Schlachten von Laon und Montmartre im Gefolge des Yorkschen Corps, bildete dann der Einzug in Paris den Glanz dieser Abenderzählungen, die die Geschichte von dem Ringe krönte. Die Boulevards! Das war etwas mehr, als das Berliner Unter den Linden! Das Palais-Royal, die Tuilerien, die Champs-elysees wurden Zauberworte für die Kindesseele, die in dem Gewühl von Kosaken, rothröckigen Engländern, beinbaaren Schotten, Ungrischen Husaren und der eigenthümlichsten aller Nationen, genannt die Pariser selbst, sich früh zurechtfand und auf die behaglichste Art sich bei einem elsasser Sattler auf dem Boulevard St. Marceau einnistete, wo der Erzähler im Quartier lag und von der französischen Gattin dieses Landsmannes so viel galante Späße berichtete, daß die Eifersucht der Mutter rege wurde und ein liebevoll nachdrücklicher Anstoß und das drohende Wort: »Schäme dich, Alter!« diesen Schelmereien einen Uebergang zum Cirkus von Franconi bahnte. Die Pferdedressur blieb auch auf fremdem Boden des Pommers liebste Leidenschaft. Franconi's berühmter Hirsch, der durch einen sprühenden Feuerregen gejagt wurde, war das letzte und prächtigste Bouquet aller dieser Berichte, unter dessen glitzernden Lichtern und dabei wie unter einer rauschenden Musik dann endlich den gaffenden Jungen der »Sandmann« mahnte, ins Bett zu gehen ...

Die später erst halb und halb verstandene Geschichte vom Ringe bestand aus Fragmenten, die vielleicht einen Zusammenhang gehabt haben mögen, wie dieser:

Ein Elsässer Sattlergesell, Caspar Pfeffel, kommt nach Paris und sucht Arbeit. Er findet deren genug bei Michel le Long, Sellier anglais, d. h. einem Pariser Sattler, der in glänzenden Riemen, blanken Steigbügeln und leichten blaßgelben Sätteln nach englischer Art arbeitet. Michel le Long hat das blühendste Geschäft, ein schönes junges gutes Weib, aber eine elende Gesundheit. Er ahnt sein Uebel, die Schwindsucht, und bereitet sich vor, zu sterben. Voll Wehmuth bedenkt er, was aus seinem Weibe, seinem Geschäft werden wird. Mit Kindern war seine Ehe nicht gesegnet. Caspar Pfeffel, sein bester Gesell, konnte sein Bruder sein, aber er wurde gehalten wie der Sohn im Hause. Der deutsche Arbeiter war der geschickteste seiner Art, der fleißigste, der zuverlässigste. Michel le Long hustet des Nachts und stöhnt am Tage. Er berechnet das baldige Ende seines Uebels und weist die Tröstungen seines liebenden Weibes zurück. Wie er abzehrte, wie seine Hand abmagerte, sah er einst recht an einem Ring, der ihm eines Tages, wie er still am Fenster sitzt und von der Sonne sich wärmen läßt, von den Fingern rollt. Caspar Pfeffel, in der Nähe arbeitend, hebt den Ring auf und behält ihn auch, denn der Meister wurde gerade am Fenster angerufen. Im Abwarten des Gespräches am warmen Boulevardfenster ist der Ring vergessen. Caspar Pfeffel hatte ihn so lange an den Finger gesteckt, bis der Besuch abgefertigt war. Er will ihn zurückgeben, er sieht sich um, Michel le Long aber ist in sein Kämmerchen gegangen, hat sich gelegt, bleibt liegen, bleibt acht, vierzehn Tage liegen ... in drei Wochen ist der Meister todt. In dem Kämmerlein mußten eigne Worte mit dem Weibe gesprochen worden sein. Sie kam oft verweint aus der Thür, schwankte fast beschämt durch die Werkstatt, und wenn Caspar Pfeffel an den Ring des Meisters erinnerte, hörte sie nicht darauf. Jedes Mal zog er ihn ab und jedes Mal nahm sie ihn doch nicht und jedes Mal ging er langsamer von den verquollenen Fingern, denn Caspar Pfeffel war gesund und frisch und wohlgenährt. So behielt Caspar den Ring einen Tag, vier Wochen, sechs Monate, ein Jahr, fast lebenslang, denn nach diesem Jahre wurde die Wittwe sein Weib, Caspar Pfeffel Michel le Long's Nachfolger. So lebten beide manches Jahr, getröstet durch die heilende Zeit und das treugebliebene Glück im Geschäft. Nur daß auch ihnen Kinder fehlten, minderte das Maaß der Freude. Da führte das sinkende Gestirn des »Corsen« die Fremden nach Paris. Caspar Pfeffel erhielt deutsche Einquartierung. Seine neuen Hausgenossen, Monsieur Charles und der schöne Dorich, konnten nicht angenehmer wohnen, als unter Riemzeug, Sätteln und Steigbügeln. Monsieur Charles, nicht so unzuverlässig wie der schwarzlockige Kamerad, wurde der Liebling des Hauses, der Gallopin Madame's, der gemüthliche Anschluß bei jeder Lustparthie nach St. Cloud oder Versailles, der gelehrige Schüler der ganzen Firma le Long Veuve im französisch Parliren. Necken und galantes Schäkern muß da so um sich gegriffen haben, daß es kein Wunder nahm, als die dicke behäbige Frau Sattlermeisterin einst den vom Finger des guten Caspar zufällig abgestreiften und von Monsieur Charles zum Scherz angesteckten Ring als ein Omen für ihre Zukunft erklärte. Die Geschichte wurde erzählt und der Ring nun wirklich nicht dem gesundheitsstrahlenden Caspar Pfeffel zurückgegeben, sondern es hieß: Monsieur Charles sollte der dritte Gatte der schönen Pariserin werden! Vielleicht wollte der deutsche Reitersmann schon Rechte in Anspruch nehmen und veranlaßte die Meisterin zu einer sinnigen Strafe. Sie holte ein Etui, verlangte den Ring, legte ihn hinein und übergab beides Monsieur Charles mit der Bedeutung, es daheim à Madame son epouse mitzubringen als Erinnerung an das schlimme und die Männer verwildernde Paris. Es war kein Trauring, sondern ein einfacher goldner Reifen zum Zierrath. Die Verlockung, ein solches Geschenk mitzubringen, war zu reizend und die deutsche Epouse trug wirklich den Ring mit sorgsamster Hut bis ins Grab. Im Ahnungsgefühl, daß der Ring den dritten Mann der Sattlerin bedeuten konnte, noch dazu ihren eignen, den Vater ihrer Kinder, wurzelte sich der Ring so fest ins Fleisch, verwuchs das Symbol der Pariser Gefahren und der schalkhafte Gruß einer guten und auf die gemeinsamen, durch alle Welt gehenden Frauenrechte bedachten Französin so in dem Finger der Mutter, daß man, als sie hochbetagt starb, den Ring geradezu hätte durchfeilen müssen, wenn man ihn nicht hätte mit in den Sarg geben wollen. Der Pariser Ring rostet auf dem Hallischen Kirchhof ...

Dem sanguinischen, leidenschaftlichen, abentheuerlich bewegten Charakter eines solchen Vaters hielt das schalkhaftblitzende, freundlichlächelnde, grübelndzweifelnde Auge der Mutter fast den Widerpart. Der pommersche Reitersmann hatte etwas vom Beduinen; immer sich tummelnd, immer unruhig, rastlos, Morgens mit der Sonne auf, im Gespräch das Ende vergessend und dabei doch alles mit Umsicht und Eifer erledigend, ehrgeizig, schnell verletzt und leicht versöhnt. Sein Weib kam im Gegentheil von einem Prinzip der Stabilität her. Ihr Vater, ein Zuckersieder bei den Schicklerschen Entreprisen, der in den äußersten Vorstädten wohnte, hatte von einer einzigen Frau achtzehn Kinder. Die Aelteste war unsre Sophia. Viere von dieser wahrhaft biblischen Nachkommenschaft starben und verdarben. Die Ueberlebenden waren Weber, Handschuhmacher, Hutmacher, alle Gewerbe durcheinander. Alle Handgriffe der Arbeit, alle untern Lebenverhältnisse waren hier vereinigt. Wenn diese Onkels und Tanten kamen, schwirrte und summte es in der einzigen Stube, die hier eine Wohnung vorstellen mußte. Was gab es da nicht zu horchen, zu lauschen, allmälig erst zu begreifen! Wie oft wurde plötzlich leise gesprochen, wie oft leise geklagt und laut geweint! Was gab es da nicht zu rathen, zu fragen, zu mahnen, zu erinnern! Wie viel Leid und Freud hängt sich an das Leben so vieler geringer Menschen und was bringen sie nicht, wenn sie zusammenkommen, für seltsame Nachrichten aus ihrem Pygmäen-Leben mit! Wieviel Noth haben sie nicht zu tragen, wieviel Kummer einzutauschen für nur geringe Freude, wie sie ihnen Sonntags und an einzelnen Festtagen wird! Und doch wie genügsam sind sie! Wie glücklich macht sie eine erwärmte Stube, ein knisterndes Feuer, ein brennendes Licht, ein Fidibus, eine Pfeife, ein Trunk Dünnbier, noch dünnerer Kaffee! ... Wie glücklich sind sie in dem sonntäglichen Reichthum frischer Wäsche, wohl gar eines neuen Rockes, immer aber einer guten Predigt und zuweilen eines jener massenhaften Spaziergänge, die man Ueber-Land-Gehen nennt! Alle diese Menschen von der Mutterlinie hatten etwas Sinniges, Sanftes, Geregeltes, Feines, Bescheidenes ... Der Eine von ihnen, ein Hutmacher, kam auf der Wanderschaft bis Siebenbürgen, hatte in Wien für die feinsten Gewölbe auf dem Graben gearbeitet, hatte Ungarn durchreist und würde nach der Türkei gewandert sein, wenn er Pässe bekommen hätte und die Zeit der Griechenerhebung den Fremden günstig gewesen wäre. Eines Tages, nachdem man ihn seit achtzehn Jahren todt und verschollen geglaubt hatte, erschien ein kleiner vertrockneter Mann, mit Knotenstock, um den Hut Wachstuch, ein Felleisen auf dem Rücken, und sagte: Kennen Sie mich nicht? Die Schwester erkannte ihn sogleich als den Christian. Er brauchte nur seine wie Leder gegerbte Hutmacherhand zu geben, um erkannt zu sein. Er redete die Seinigen mit Sie an. Der Vetter aus Siebenbürgen war so still, so schweigsam, so freundlich. Er legte das Felleisen ab, schloß es auf und gab jedem ein kleines Angedenken von seinen wunderbaren Reisen. Er zog sich den Rock aus, man glaubte, es fröre ihn, er wollte sich am Ofen wärmen. Er zog aber auch die Stiefeln aus; man glaubte wohl, daß die Füße recht durchlaufen und vom Frost heimgesucht waren. Er zog aber auch die Hosen aus. Man dachte: Was hat denn der Vetter Christian vor? Endlich zog er auch noch das Hemd aus. Was soll das werden? Die Eltern merkten etwas und lachten schon. Bis der Vetter dann dastand in einem wunderbaren großen Lederkoller auf bloßer Haut. Kommt, sagte er lächelnd, faßt an! Man betastete ihn. Der Wamms war vom weichsten Ziegenleder, strich sich gar sanft, hatte aber überall harte curiose Buckeln. Die Eltern ahnten schon. Vetter Christian zog auch den Koller aus und stand nun so lange abgewandt splitternackt, bis er sich wieder neu gekleidet hatte. Die Eltern sahen wohl die Bescheerung. Ein Messer, eine Scheere herbei! Jetzt ging es an ein Auftrennen und Lösen. Die Buckeln in dem schweren Wamms waren über und über eingenähte harte Thaler. So geharnischt war der fleißige Hutmacher von seiner Wanderschaft nach achtzehn Jahren heimgekommen. So hatte der ehrliche deutsche Handwerksgesell sein Gespartes in den Herbergen gesichert und sich von den Gefahren frei gemacht, die sein Felleisen bei einer Rast im Walde, einem Nachmittagsschlaf auf kühlem Rasen oder einem Nachtquartier auf Scheunenstroh von schlimmen Kameraden hätte treffen können.

Aber Vetter Christian, was ist der Vetter Christian gegen den Vetter Wilhelm, Wilhelm, den Weber! Vetter Wilhelm, der Weber, war der Aelteste der Brüder und wandernd nur bis Würzburg gekommen. Vetter Wilhelm trieb jene feine Weberei der Musseline. Aber seinem mühsamerlernten Beruf traten für immer die Engländer und die Maschinen in den Weg. Wenn der Vetter – doch wie kann man einen Helden so einführen, einen merkwürdigen seltenen Originalmenschen so gewöhnlich, so ohne Anrufung der Muse, so ohne Beginn eines neuen Kapitels besingen! Steige herab, du heilige Muse der Christen! Klopstocks begeisternde Messiassängerin! Eloah, aus deinen Händen empfing David die Harfe und sang die Thaten Israels wider die Kinder der Philister, begeistre auch uns zum Preise eines Gottsohnes, der, wenn er die Feder ergriffen und nur ein klein, kleinwenig mehr Schulunterricht genossen hätte, zu den beiden weltberühmten Schustern von Nürnberg und Görlitz ein vollkommen ebenbürtiger Dritter gewesen wäre!



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