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Als der Verfasser dieses kleinen Buches einmal einem im Freien abgehaltenen Festakte beiwohnte, zu dem Tausende und Abertausende von Menschen zusammengeströmt waren, hörte er, wie eine hinter ihm stehende Dame mitten in der feierlichsten Stelle der offiziellen Rede zu ihrer Nachbarin sagte: »Mein Gott – und alle diese Leute wollen mittags satt werden!« Das Wort passte wenig zur Weihe des Augenblicks, aber es verriet die gute deutsche Hausfrau, die stets zuerst an Küche und Speisekammer denkt. Und die Dame hatte gar nicht so unrecht, wenn sie in ihrer weise die Beköstigungsfrage großer Volksmassen aufs Tapet brachte, die ja heute, da die Einwohnerzahl der Großstädte so rapide steigt, brennender als je zuvor geworden ist und unsere Volkswirtschaftler unausgesetzt beschäftigt, von Produktion und Zufuhr geeigneter Lebensmittel hängt heute mehr als je das Wohl und Wehe der großstädtischen Bevölkerung ab; die Erweiterung des Zufuhrgebietes, die Erhöhung und Erleichterung des Absatzes, die Kontrolle des Zustandes und des Preises der Nahrungsmittel sind daher mit Recht ein Gegenstand ernster Sorge für den Staat wie für die Lokalbehörde. Zu den wichtigsten Einrichtungen zur Regelung und Überwachung des Nahrungsmittelverkehrs zählen wir neuerdings die Markthallen.
Ihre Erfindung ist alt. In Paris wurden die ersten schon zu Anfang des 13. Jahrhunderts errichtet, und in Italien hat es wohl seit dem frühesten Mittelalter ganz oder teilweise überdachte Marktplätze gegeben. Aber sie dienten lediglich den lokalen Bedürfnissen eines kleinen Stadtbezirkes. Erst im Jahre 1811 begann man in Paris mit der Anlage einer ausgedehnten Zentralmarkthalle, die heute, obwohl dem Grundplane nach noch immer nicht ganz vollendet, aus zehn großen Pavillons besteht und einen Flächenraum von 25 000 qm einnimmt. Von hier aus werden die zwanzig kleineren Markthallen der Stadt versorgt. Die erste der drei großen Londoner Markthallen, die von Smithfield, wurde 1868 eröffnet, bedeckt 14 320 qm Bodenfläche und ist nur deshalb bemerkenswert, weil für die Zufuhr in der denkbar besten weise durch fünf Eisenbahnen gesorgt ist, die ihren Keller durchschneiden und hier Güterbahnhöfe haben, von den vierzehn Markthallen Berlins wurden die vier ersten, darunter die Zentralmarkthalle 1885 dem Verkehre übergeben. Die Zentralmarkthalle hat 11 600 qm Grund- und 4000 qm Galeriefläche und bietet Raum für 762 untere und 585 obere Stände, erwies sich aber bald als für den starken Verkehr nicht zureichend. Berlin voran ging mit dem Bau einer Markthalle Frankfurt a. M. Die dortige Halle bedeckt nur 4000 qm Grundfläche bei 288 Ständen.
Als Muster ihrer Art in architektonischer Hinsicht gilt endlich die von Hans Licht erbaute und am 27. Mai 1891 eröffnete Markthalle unserer Stadt, der nach dem Urteile aller Fachleute, die in Berlin gemachten Erfahrungen zu gute gekommen sind. Bei einer Grundfläche von 8745 qm und einer Galeriefläche von 1719 qm bietet sie Raum für 933 Stände des Kleinhandels und überdies für die dem Großverkehre zugewiesene Abteilung in der Ausdehnung von 1178 qm. Die Baukosten ohne das Areal beliefen sich auf 2½ Millionen Mark. Über die Zweckmäßigkeit der ganzen Anlage herrscht heute nur eine Stimme. Dennoch gab es bei der Eröffnung des schönen Baues viele, die von dem alten Marktplatze nur mit blutendem Herzen Abschied nahmen und sich mit der neuen Einrichtung nie befreunden zu können glaubten. Aber sie haben sich wider Erwarten schnell mit der Markthalle ausgesöhnt und eingesehen, daß der Schutz gegen Hitze und Frost, Staub und Regen, den Fisch- und Fleischwaren, Gemüse, Obst und Blumen dort genießen, sie vor manchem empfindlichen Schaden bewahrt, und daß, was vielleicht ebenso wichtig ist, die Kauflust der Marktbesucher wesentlich erhöht wird, wenn sie, unbehelligt durch Witterung und Straßenschmutz, die feilgehaltenen Waren gemächlich betrachten und unter den appetitlich aufgebauten Vorräten ihren Bedarf wählen können.
Für den Kulturforscher und Menschenbeobachter kann es kaum etwas Belehrenderes und zugleich Unterhaltenderes geben als den Besuch der Stätte, wo die Bevölkerung einer Großstadt ihren Bedarf an Lebensmitteln deckt. Nicht umsonst trieben sich die Philosophen und Dichter des Altertums tagelang auf dem Markte umher, nicht umsonst wird dem Reisenden, der sich über Charakter, Sitten und Sprache einer fremden Nation unterrichten will, empfohlen, seine Beobachtungen auf dem Markte anzustellen. Das bekannte Scherzwort: »Der Mensch ist, was er ißt« hat seine Berechtigung, aber wie der Mensch das, was er essen will, einkauft, und von welchen Gesichtspunkten er sich bei der Auswahl lenken läßt, ist häufig noch viel bezeichnender für ihn, als das, was er kauft.
Und wie viele interessante Menschentypen gibt es in unserer Markthalle zu beobachten! Man sehe sich nur die Hausfrauen an, wie sie zielbewußt und unbeirrt durch alle Anpreisungen der Verkäufer so lange suchen und prüfen, bis sie den Gegenstand ihres Verlangens in der besten Qualität und zum billigsten Preise gefunden haben! Man folge den jungen Haustöchterchen, die eben erst die Schultasche mit dem Marktnetze vertauscht haben und nun, von dem Bewußtsein ihrer hohen Mission durchdrungen, mit ganz unmädchenhafter Bestimmtheit ein wenig vom Preise abzuhandeln versuchen! Oder man beobachte endlich die schmucken Leipziger Dienstmädchen, denen schon Schiller »schöne Naivetät« nachrühmte und die diese Eigenschaft heute noch bekunden, wenn sie von dem Marktgroschen wenigstens einen zum Ankauf eines kleinen Straußes bunter Sommerblumen verwenden! Und wenn man erst von den Verkäufern reden wollte! von den behäbigen Fleischermeistern und den rundlichen Gemüsefrauen, die ihre Runden mit einer Art von gönnerhaftem Wohlwollen behandeln, von den Bauern aus der Umgegend mit ihrem trocknen Humor oder endlich von den Käsehändlerinnen, die wie jener Römer in einer Falte ihres Gewandes Krieg und Frieden tragen und über den Käufer, wenn er Preis und Qualität zu bemängeln sich erkühnt, das Füllhorn ihres Witzes ausgießen, der ebenso scharf und ästhetisch ebenso wenig einwandfrei ist, wie die ältesten Stücke ihrer Marei
Aber auch dem Kunstfreunde kann der Besuch der Markthalle empfohlen werden. Für den, der mit künstlerisch geschultem Auge zu schauen gelernt hat, ist sie eine wahre Bildergalerie, ein Museum, in dem er die köstlichsten Genreszenen, Stilleben, Frucht- und Blumenstöcke zu Hunderten findet, wo er bald auf einen Franz Hals, bald auf einen Jan van der Meer van Delft oder Cornelis Dusart, dann wieder auf einen Jan Weenix, Willem Claes Heda oder Jan de Heem stößt. Daß es an echten Liebermanns und anderen modernen Realisten nicht fehlt, versteht sich von selbst, aber unsere Galerie lebender Bilder ist so reichhaltig, daß sie selbst Gemälde aus dem alten Pompeji aufweist. Man sehe sich nur die Fleischerstände darauf hin an! Gleichen sie nicht den nach der Straßenseite ganz offenen Lädchen antiker Städte? Die blanke weiße Marmortafel, darüber eine Guirlande von Würsten, Draperien von Schinken und Rinderzungen und dahinter im engsten Raume, umgeben von mächtigen Fleischstücken, ganzen Hämmeln und halben Schweinen, der Meister in bunter Bluse und die Meisterin mit schneeweißer Schürze. Alles blitzt und blinkt von Sauberkeit, die blankgescheuerte Messingwage, die Messer und Beile, und über dem Ganzen prangt ein Kalbs- oder Schweinskopf – wer hat das Bild noch nicht im Museum zu Neapel gesehen?
Wo man auch weilen mag, man wünscht sich Altmeister Menzels Augen, um all die köstlichen Motive zu genießen, welcher Formenreichtum, welcher Farbenzauber! Da sind die Fischstände! Aus breiten Tafeln sind sie aufgeschichtet, die Bewohner der kühlen Tiefe. Da liegt der mächtige Rheinsalm mit den silbernen Schuppen und dem rötlichen Fleisch und daneben der grünliche Hecht, die schwarzblaue Schleie, der braune Karpfen, die gefleckte Scholle und der weiße Schellfisch. Und in den Trögen plätschert's und springt's, da sucht der Wels geschäftig den Grund ab, da schnellt die Forelle empor, da schlängeln sich die schwarzen Aale durcheinander, da stehen die zierlichen Rotfedern in unbeweglichen Gruppen. Und in den Körben krabbeln und klettern die Krebse und Hummern und zwicken sich, als ob sie sich gegenseitig für ihr Schicksal verantwortlich machen wollten. Und erst die Gemüse und Fruchtstände! Wenn wir durch ihre Reihen wandern, mutet es uns an, als wären die Jahreszeiten für die Speisekammer belanglos geworden. Die Kunst des Gärtners und die modernen Verkehrsmittel lassen uns vergessen, in welchem Monat wir leben. Ananas und Pfirsich reifen in den Glashäusern des Nordens und das junge Gemüse, das am Montag noch die Sonne Algiers und Maltas beschien, prangt am Sonnabend schon in unserer Markthalle. Noch sehen wir – heute am letzten Tage des Juni – ganze Körbe weißen Spargels mitten zwischen den Bergen von grünen Schoten, Bohnen, Kohlrabi, von gelben Möhren und Rüben, aber schon gesellen sich den Erstlingen unserer heimischen Gärten die Blumenkohlköpfe des Südens zu. Neben dem Schnittlauch prangt schon die junge Zwiebel, neben dem Kopfsalat die schlanke Gurke, neben dem roten Radieschen schon der schwarze tiroler Rettich. Auch der Wald hat seinen Segen gespendet: die bräunlichen Steinpilze, die gelben Pfifferlinge, die zartfleischfarbenen Champignons und vor allem ganze Ladungen roter Preißel- und schwarzblauer Heidelbeeren, jene unschätzbaren Gaben, mit denen eine gütige Natur die rauhen Gebirgsgegenden unseres Vaterlandes für das Fehlen so vieler anderer guter Dinge entschädigt. Sie leiten uns zum Obst hinüber, zu all den tausenden Körben und Körbchen, aus denen uns Erdbeeren und Kirschen, Stachelbeeren und Johannisbeertrauben, Himbeeren und Frühbirnen, Aprikosen und Pfirsiche entgegenlachen, welche Farbenpracht, welcher Duft! Die kräftigsten Tone bringen die Früchte des Südens in das Bild, die leuchtenden Apfelsinen und Citronen, die glühenden Tomaten und die gelben Melonen Ungarns. In jedem Stande sehen wir ein anderes Bild, stets mischen sich die Farben der großen Malerin Natur zu neuen Nuancen und Effekten. Bald überwiegt rot, bald orange oder gelb, aber nie wirkt das Gemälde schreiend grell, das gebrochene Licht sorgt für Abtönungen und Übergänge, und der aufsteigende Dunst, der keinem, noch so gut ventilierten starkbesuchten Raume gänzlich fehlt, bringt eine Sfumato hervor, wie es selbst ein Lionardo nicht überzeugender auf die Leinwand zu zaubern wußte.
Als wahre Kabinetstücke koloristischer Kunst präsentieren sich auch die Blumenstände: Es sind keine blumistischen Seltenheiten, die wir dort zu schauen bekommen, keine Meisterstücke moderner Pflanzenkultur, es sind vorwiegend die alteingebürgerten Zimmer- und Fenstergewächse, wie Geranien, Fuchsien, Petunien, Reseda, Kapuzinerkresse, Rosen, Nelken, Verbenen, Heliotrop, hie und da auch eine Palme, Dracäne, ein Myrthenbäumchen, ein Laurustinus oder ein Philodendron und diese alle nicht einmal in besonders starken und vollen Exemplaren, aber in ihrer bunten Zusammenstellung wirken all die Stöcke und Stöckchen, als hätte sie ein Maler mit sorgfältiger Überlegung zu einer Farbensymphonie vereinigt, die frei von jeder Dissonanz ist, weil jede einzelne Note hier zurücktritt und alles sich in Harmonie auflöst. Nur da, wo auch abgeschnittene Gartenblumen feilgehalten werden, pflegt diese oder jene Farbe zu dominieren, bald das leuchtende Rot des Mohns, bald die zarteren Töne der kultivierten großblumigen Campanulaceen, bald das Sammtblau der Iris, das Weiß der Lilie oder das Gelb der Sonnenrose. Wollte man uns in dieser Ausstellung von Blumenstücken mit dem Amt des Preisrichters betrauen, wir würden den Feld- und Wiesenblumensträußen, wie sie die Frauen und Mädchen vom Lande mit Geschick und Geschmack vor unseren Augen winden, die große goldne Medaille zuerkennen. Steckt in diesen scheinbar so kunstlosen Bindereien, in diesen schlichten Büschen von Blumen, Laub und Gräsern wirklich die höchste Kunst, oder muten sie uns Großstadtmenschen nur deshalb so freundlich an, weil sie liebe Erinnerungen in uns wecken, Erinnerungen an Waldesschatten und wogende Kornfelder, an Wiesenduft und murmelnde Quellen?