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Während der Doktor durch die Straßen ging, ließ er seiner Lust und Laune alle Zügel schießen, ermahnte saumselige Schulbuben, ihre Classe nicht zu vergessen, und zwei Dienstmädchen, die sich eben zu einem längeren Gespräch anschickten, konnte er mit der Frage: »Und was macht die Suppe unterdessen?« aus aller Fassung bringen.
So ging er seines Weges, und wenn auch nicht dieselben Straßen, die er heute Morgen schon einmal durchwandert, so doch der Richtung zu, wo sein Wohnhaus lag. Ehe er aber dasselbe erreichte, wandte er sich rechts, ging über den großen Marktplatz, bog von diesem in eine enge Gasse, und stand bald vor einem alten Hause mit hohem Giebeldache, dessen Eingangsthür, eigentlich ein Thor, weit offen stand. Es führte in eine große und geräumige Halle, die von massiven Steinpfeilern gestützt wurde und deren Decke, vom Alter geschwärzt, doch eine sehr kunstvolle Holzconstruction zeigte. Links von der Thür ging eine Treppe hinauf, breit, die Stufen von Eichenholz, ebenso das geschnitzte Geländer, eine Treppe, die einstens prächtig gewesen, im Lauf der Zeiten aber alt und wackelig geworden war und nur noch schwer zu erkennende Ueberreste ehemaliger Schönheit zeigte.
Während der Doktor hinaufstieg, krachten die Stufen bedenklich, und wo er das Geländer anfaßte, um sich darauf zu stützen, schien es dem Drucke nachgeben zu wollen; wenigstens wich es einen Zoll aus seiner Richtung, soweit nämlich die abgenutzten Zapfen, vermittels deren es in den Treppenlauf eingelassen war, nachgaben. Glücklicher Weise war die Treppe so breit, daß man weit genug von dem Geländer entfernt bleiben konnte, was aber nicht sehr angenehm war; denn wenn die Stufen auch unten durch das Eingangsthor erhellt wurden, so befanden sie sich doch schon bei der ersten Wendung in ziemliche Dunkelheit gehüllt, und ein einziges Fenster auf dem Gange des ersten Stocks war so mit Staub und Spinngewebe bedeckt, daß es nicht mehr im Stande war, Dienste zu leisten.
Der Armenarzt stieg indessen höher hinauf in den zweiten und dritten Stock; letzterer befand sich schon im Dachstuhle, und die Wohnungen hier waren eigentlich auf dem Söller eingerichtet. Nur eine Leiter führte noch höher auf den obersten Boden des Hauses. Er ging auf eine Thür zu, die sich gerade gegenüber der Treppe befand, klopfte an, und als eine weibliche Stimme herein rief, öffnete er und trat in ein geräumiges Zimmer mit schiefen Wänden, welches, sein Licht durch Dachfenster erhielt, die hinausgebaut waren und so eine ziemliche Vertiefung bildeten. Das Gemach mit weißen Kalkwänden war dürftig möblirt mit einem alten Tische und hölzernen Stühlen. Auf einem großen hölzernen Kasten, der in einer Ecke stand, lagen ein Paar Rehfelle, und derselbe schien ein Sopha vorstellen zu sollen. Ueber ihm sah man an die Wand genagelt das Portrait eines eleganten jungen Mannes, welches mit einem darüber angebrachten Hirschkopfe mit starkem Geweih den Mittelpunkt einer Waffentrophäe bildete, die aus Hischfängern, Jagdmessern, Büchsen und doppelläufigen Gewehren bestand. Trotz der Aermlichkeit des Zimmers sah es hier recht reinlich aus. Der Boden war sauber geputzt und mit weißem Sande bestreut. In einer der tiefen Fensternischen hing ein Vogelbauer mit einem Kanarienvogel. Der Ofen in der Ecke schien nicht geheizt zu sein, denn es war ziemlich frostig im Zimmer; hinter demselben sah man eine Reihe von Schnüren bis zur anderen Ecke ausgespannt, auf welchen neben Wäsche zum Trocknen eine Anzahl von Pfannkuchen hing, die hier zur Zeit augenscheinlich zu einem besonderen Zwecke gedörrt wurden.
In der Fenstervertiefung unter dem Kanarienvogel saß eine Frau, die beschäftigt war, ein Kinderkleidchen zu flicken. Der Eigenthümer dieses Kleidchens kroch neben ihr auf dem Boden umher und bemühte sich, ein hölzernes Pferd zum Stehen zu bringen, was ihm aber nicht gelingen wollte, da dasselbe nur noch zwei Beine besaß, weßhalb es immer nach der einen Seite umfiel. Die Frau mochte in den Dreißigen sein und war ein kleines mageres Weib mit blonden Haaren und einem guten, freundlichen Gesichte, welches aber deutliche Spuren von Kummer und Entbehrungen zeigte. Es war eine von jenen Physiognomieen, auf denen die Jugend nichts hinterlassen hat und in keinem Lächeln von Glück und Freude spricht. Ihr Anzug war ärmlich, aber nett und reinlich, wie ihre ganze Umgebung, ebenso das Kind am Boden, wenn auch dessen Röckchen vielfach geflickt war.
Beim Eintritt des Arztes blickte die Frau empor, und als sie den Besucher erkannte, wollte sie aufstehen, um ihm entgegenzugehen; doch ließ dieser, der sich mit einigen schnellen Schritten an der anderen Seite des Zimmers befand, das nicht zu, sondern bat die Frau, ruhig bei ihrer Arbeit zu bleiben.
»Mit uns macht man keine Umstände, Frau Brenner,« sagte er in freundlichem Tone, indem er sich einen Stuhl nahm und im Niedersitzen den kleinen Buben, der erwartungsvoll zu ihm empor sah, auf den Kopf pätschelte. – »Und was macht Palmarum?« fragte er.
»Franz befindet sich wohl,« entgegnete die Mutter und blickte mit inniger Liebe auf den Knaben.
»Palmarum,« wiederholte der Doktor lachend, indem er das zerbrochene Pferd in die Hand nahm und bemerke,, in welch trostlosem Zustande sich das Spielzeug des Knaben befand, »da müssen wir nächstens einmal für ein neues Pferd sorgen; doch mußt du dir vorderhand zu helfen wissen. Schau' her: wenn ein Pferd nur zwei Beine hat, so lehnt man es an die Wand, daß es nicht umfallen kann. Item, nun steht es. So, – so, – wenn du dir das merkst, so kannst du um das ganze Zimmer herumcarriolen.«
Der Knabe, offenbar vergnügt über das gute Auskunftsmittel, befolgte den gegebenen Rath und kroch mit dem kleinen hölzernen Gaul an den Wänden umher.
»Da ich gerade in der Nähe war,« sagte der Armenarzt, nachdem er dem Spiel des Knaben eine Weile zugeschaut, »so konnte ich es nicht versäumen, einmal von selbst wieder nach Ihnen zu sehen, denn rufen lassen Sie mich doch nicht, Frau Brenner; Sie sind eine geizige Frau, die mich nicht brauchen mag, item, die mir nichts zu verdienen geben will.«
Bei diesen Worten fuhr ein trübes Lächeln über die Züge der Frau; dann versetzte sie mit sanfter Stimme: »Gott sei Dank, daß wir Ihrer Hülfe in der letzten Zeit nicht bedurft haben; aber wenn Sie kommen, freut es mich gewiß, Herr Doktor; Sie sind immer so guter Laune, und es ist gerade, als wüßten Sie eine Krankheit schon im voraus zu bannen.«
»Ja, wenn das wäre, Frau Brenner, so könnten wir uns Geld genug verdienen; aber es gibt auch Leute, denen meine heiteren Worte zuwider sind. – Apropos, was macht denn die Großmutter?«
»Sie sitzt wie gewöhnlich in ihrem Zimmer und näht. – Sie werden sie doch auch besuchen?«
»Versteht sich. Später werde ich nach ihr sehen. Eigentlich aber,« fuhr er mit einem Male ernster werdend fort, »hätte ich mit Ihrem Manne zu sprechen. Er ist wohl nicht zu Hause?«
»Nein, nein,« erwiderte die Frau; »er ist nicht da, wird auch erst gegen zwölf Uhr zum Essen kommen.«
Bei der Erwähnung ihres Mannes hatte sie die Arbeit in ihren Schooß sinken lassen und blickte den Doktor fragend, fast ängstlich an.
»Machen Sie nur kein so wichtiges Gesicht,« sagte dieser lächelnd; »weiß der liebe Gott, ich glaube, schon eine Frage allein kann Sie in Angst versetzen!«
»Ach ja,« versetzte sie; »Sie haben nicht ganz Unrecht, denn wenn man nach ihm fragt, so hat es selten was Gutes zu bedeuten.«
»O, er ist im Ganzen recht zufrieden; auch fiel in der letzten Zeit nichts vor. Wir nehmen uns aber auch alle in Acht. Wissen Sie, lieber Herr Doktor,« setzte sie gutmüthig hinzu, »mein Mann hat eigentlich einen recht harten Dienst, und wenn er müde und verdrießlich nach Hause kommt, so wundert es mich gar nicht, daß er wegen jeder Kleinigkeit heftig wird. – Haben Sie ihm was Unangenehmes zu sagen?« fragte sie plötzlich nach einem augenblicklichen Stillschweigen.
Der Doktor hatte seinen Stockknopf unter das Kinn gestützt, und da er seine Augen aufwärts gegen die Helle wandte, so sah man nichts als die spiegelnden Brillengläser. Auf die Frage der Frau schüttelte er gleichmüthig mit dem Kopfe und erwiderte: »Eigentlich Unangenehmes habe ich nicht, ich wollte nur ein paar Worte mit ihm reden wegen des Gottschalk.«
»Was ist denn mit Gottschalk?« fragte die Frau besorgt, während der Blick ihres Auges plötzliche Angst verrieth. »Hat es etwas mit seinem Meister gegeben? – Doch nichts Schlimmes, will ich hoffen?«
Der Armenarzt schüttelte den Kopf und entgegnete so ruhig wie möglich: »Frau Brenner, regen Sie sich nicht immer so auf; jetzt zittern Sie schon wieder an Leib und Seele, das sehe ich Ihnen an, und wenn ich Ihren Puls untersuche, so schlägt er geschwinder, als nöthig ist.«
Die Frau antwortete nur durch ein trübes Lächeln; um aber den Armenarzt von ihrer Ruhe zu überzeugen, nahm sie ihre Arbeit wieder auf; doch schien ihre Hand in der That die Nadel nicht so fest zu führen, wie einen Augenblick vorher.
»Der Gottschalk war gestern Abend da?« fragte der Doktor.
»Ja, bis nach Neune. Ich glaube, es war schon ein Viertel, und da lief er eilig weg.«
»Und als er an das Haus seines Meisters kam, war die Thür schon verschlossen.«
»Das hab' ich mir gedacht,« sagte die Frau mit leiser Stimme, »und da wird man mit ihm gezankt haben. Es ist ein armes Kind, der Gottschalk.«
»Allerdings könnte er eine angenehmere Stelle haben. Ist er denn eigentlich mit Lust an das Schneider-Handwerk gegangen?«
»Ach, das könnte ich gerade nicht behaupten,« entgegnete die Frau; »doch wenn es geblieben wäre, wie es Anfangs war, so würde es ihm in der Werkstatt immer noch gut genug gefallen. Mein Mann verschaffte dem Meister Schwörer sämmtliche Livreen seines Herrn, und dafür versprach der Meister mir Wunder was, wie gut es Gottschalk in der Lehre haben und was er alles lernen sollte.«
Der Armenarzt nickte mit dem Kopfe.
»Mit den Livreen,« fuhr die Frau fort, »dauerte es übrigens nicht lange. Alles im Hause der Herrschaft war unzufrieden, und so machte sie Meister Schwörer einmal und dann nicht wieder. Mit dem Verlust der Kundschaft war aber Gottschalk's gute Zeit vorbei, und wenn er auch anfänglich Lust zum Schneider-Handwerk hatte, so ist ihm die jetzt gänzlich vergangen. Und das wissen auch Sie, Herr Doktor – eine Sache, bei der man nicht recht mit Leib und Seele ist, kann nicht gelingen.«
»Hm, hm!« machte der Armenarzt, »das sehe ich wohl ein und der Gottschalk ist sonst ein folgsames und gutes Kind.«
»Ich kann nicht besonders über ihn klagen,« erwiderte die Mutter; »das Einzige, was ich auszusetzen hätte, er kann zuweilen überlustig sein und gibt manchmal zu gescheidte Antworten für sein Alter.«
Das Letztere, obgleich es ein Vorwurf sein sollte, sagte sie doch mit einem Anfluge von Wohlbehagen.
Der Doktor stützte das Kinn auf den Knopf seines Stockes, und es war komisch anzusehen, wie er den Kopf scheinbar auf diesem hin und her bewegte.
»Item,« sagte er nach einer Pause, »auf diese Art wäre es mit dem Schneider-Handwerk nichts.«
»Das will ich nicht denken,« sprach fast erschrocken die Frau; »was sollte man denn mit dem Buben anfangen? Um Gott, nein, da würd' ich einen schönen Spektakel mit meinem Mann erleben! Aber was sehen Sie mich so sonderbar an, Herr Doktor?«
Bei diesen Worten ließ sie ihre Arme in den Schooß sinken und blickte ihrerseits den Arzt an, aber nicht nur sonderbar, sondern im höchsten Grad erschrocken. Man sah, wie sie mühsam athmete.
»Frau Brenner,« erwiderte ernst der Armenarzt. »Sie werden mir zugeben, daß es mit Ihnen schwer ist, irgend etwas Geschäftliches zu besprechen. Jetzt thun Sie gleich wieder und schauen mich so entsetzt an, als müßte ich Ihnen das größte Unglück verkünden, und ich habe Ihnen, weiß Gott, nichts Schlimmes zu sagen.«
»Aber doch etwas zu sagen,« entgegnete die Frau mit leiser Stimme.
»Ja, allerdings; einen Rath zu geben oder einen von Ihnen zu hören. Doch können Sie nicht von mir verlangen, daß ich mich von Ihrer Alteration aus dem Concept bringen lasse. Item, was ich Ihnen zu sagen habe, das will ich Ihnen nicht verschweigen. Aber wir wollen hineingehen zur Großmutter, die ist so resolut, daß sie im Nothfall uns Beiden was abgeben kann.«
Die Frau nickte leicht mit dem Kopfe, stand auf den Vorschlag sogleich auf und ging an die Thür des Nebenzimmers, die sie öffnete, worauf sie hineinschaute, ein paar Worte sprach und dann den Armenarzt bat, näher zu treten.
Dieser hatte unterdessen in der Geschwindigkeit dem kleinen Bübchen aus einer Verlegenheit und aus der Ecke geholfen, denn dort hing die Wand schief in das Zimmer hinein, und der hölzerne Gaul mit zwei Füßen wollte trotz der größten Bemühungen weder gerade stehen bleiben noch fortmarschiren, sondern fiel hartnäckig auf die Seite, was der Doktor dadurch zu umgehen wußte, daß er den Gaul in einen spitzen Winkel mit der Wand brachte, worauf das Bübchen vergnügt lächelte und die Promenade um sämmtliche Zimmerwände ihren ungestörten Fortgang nahm.
Frau Brenner war unterdessen in das Nebenzimmer getreten, hielt aber die Thür geöffnet und winkte nun dem Arzte, näher zu kommen.
Dieses Gemach, welches der Armenarzt betrat, war viel kleiner, als das erstere, und wenn es auch im Allgemeinen ebenso einfach, fast ärmlich möblirt war, so sah man hier doch manches, was an bessere Tage der Besitzerin erinnerte. So hatte das einzige Fenster Vorhänge von gestreiftem Kattun, auf einer Commode in der Ecke befand sich ein elegant zu nennendes Kistchen von polirtem Holz mit Messingbeschlägen, das Bett hatte eine saubere weiße Decke, und über demselben sah man in einem Goldrahmen die lithographirten Portraits eines vornehmen Herrn und einer vornehmen Dame.
Die Bewohnerin dieses Zimmers, nicht nur von der Brenner'schen Familie, sondern auch von allen ihren Bekannten die Frau Großmutter genannt, saß nahe bei dem Fenster in einem so bequemen als soliden und schönen Lehnstuhl. Es war das eine stattliche Frau, welche man nicht in diesem Hause und in dieser Umgebung zu finden erwartete, eine Frau, deren Aeußeres nicht unpassend erschienen wäre im reichsten Sammtfauteuil im elegantesten Salon, dessen Wände mit seidenen Tapeten bedeckt wären. Sie bot in der That einen eigenthümlichen Anblick, die Frau Großmutter, und wenn man sie dasitzen sah nähend oder mit der feinen weißen Hand ihr Buch haltend, so hätte man glauben können, eine Dame aus hohem Stande mache sich das Vergnügen, vielleicht zu ihrem Zeitvertreib oder ihrer Belehrung das Leben einer geringen Familie, wie die des Jägers kennen zu lernen.
Die Frau mochte im Anfang der Sechziger sein; ihr ehemals schwarzes Haar war stark ergraut, und auf dem immer noch schönen Gesichte bemerkte man Spuren tiefen Leidens. Wenn sie lächelte, so war dieses Lächeln schmerzlich anzusehen, und dabei zeigten sich sehr markirte Züge um Nase und Mund, die sich freilich wieder glätteten, wenn sie ruhig um sich blickte, aber doch nicht so ganz vergingen, um nicht auf dem unteren Theile dieses edlen Kopfes etwas wie Müdigkeit und Abspannung zu hinterlassen. Nur die Augen glänzten ungetrübt und in wunderbarer Frische. Es war das ein prachtvolles Auge, tief dunkel und um so glänzender hervortretend, da das ganze Gesicht der alten Frau mit einer krankhaften, fast erschreckenden Blässe bedeckt war.
Als der Doktor in das Zimmer trat, nickte die Großmutter lächelnd mit dem Kopfe, ohne aber nur den geringsten Versuch zu machen, sich von ihrem Stuhl zu erheben. Der ganzen Haltung, namentlich aber dem imponirenden Blicke der Frau nach zu urtheilen, hätte man dieses Sitzenbleiben für Stolz halten können, aber das war es nicht. Die arme Großmutter konnte leider nur mit fremder Hülfe von ihrem Stuhle aufstehen; sie war seit zehn Jahren gelähmt, und wenn auch der obere Theil ihres Körpers mit vollkommener Freiheit und ungeschwächtem Vermögen wirken und handeln konnte, wenn auch ihre geistigen Fähigkeiten nicht im Geringsten gelitten hatten, so war sie dagegen, was den unteren Theil ihres Körpers betrifft, hülfloser als ein neugeborenes Kind.
Die Großmutter war in ihrer Jugend Kammerfrau einer vornehmen Dame gewesen. Damals hatte sie durch einen Sturz mit dem Wagen einen schweren Fall gethan, durch den ihr Rückenmark, wenn auch scheinbar sehr leicht, verletzt worden; doch dauerte es nicht lange, so zeigten sich schon die Spuren ihrer jetzigen Krankheit. Mit einer Willenskraft, die ihres Gleichen sucht, hielt sie sich manches Jahr aufrecht und besorgte ihre häuslichen Geschäfte, wenn auch oft unter fürchterlichen Schmerzen. Endlich mußte sie ihren Dienst aufgeben und heirathete einen Mann, den sie seit ihrer Jugend gekannt und doch nie kennen gelernt hatte. Sie war unglücklich mit ihm, und als er bald nach der Geburt ihrer einzigen Tochter starb, sah sie ihre geringe Habe so zusammengeschmolzen, daß sie nur im Stande war, durch die angestrengteste Arbeit ihrer Hände sich und ihr Kind zu erhalten. Einige Jahre darauf starb ihre ehemalige Herrin und hinterließ ihr zum größten Glücke, im Andenken an die vielen guten und treuen Dienste, welche sie ihr geleistet, ein kleines Jahrgehalt; denn nun trat die Zeit ein, wo sie an ihren Stuhl gefesselt blieb und ihren Arbeiten nicht mehr nachgehen konnte. Aber das Maß ihres Unglücks sollte deßhalb noch nicht gefüllt sein. Ihre einzige Tochter, welche sie so sorgfältig als möglich erzogen, welcher sie, nachdem sie herangewachsen war, Auszüge aus ihrer eigenen Ehestandsgeschichte, wenn auch auf die schonendste Weise für den verstorbenen Vater, zu Nutz und Frommen mitgetheilt, beging den thörichten Streich, sich nicht nur in ihren jetzigen Mann zu verlieben, sondern Umstände herbeizuführen, welche der armen Mutter eine Einwilligung zur Heirath mit Herrn Brenner abzwangen.
Diese Heirath war nun in der That nicht gut ausgefallen. Herr Brenner, obgleich ein hübscher Mann, war ziemlich roh und jähzornig, und was er von Bildung besaß, schrieb sich vom Walde her und allenfalls aus dem Bedientenzimmer, nicht zu gedenken der kleinen Kneipen, welche der herrschaftliche Jäger mit seinen Kameraden häufig aufsuchte. Er war im Ganzen gerade kein böser Mensch, doch da sich die Familie stark vermehrt hatte und das Einkommen deßhalb nicht gestiegen war, so fehlte es trotzdem, daß die Großmutter den größten Theil ihrer kleinen Pension zum allgemeinen Besten hergab, doch an allen Ecken und Enden, und wenn Frau Brenner auch aufs Aeußerste sparte, um die Schäden und Mängel des Hauswesens so viel als thunlich vor ihrem Manne zu verdecken, so gab es doch Fälle genug, wo ihre Armuth in gar zu nackter und abschreckender Gestalt zu Tage trat.
Wenn es auch nicht zu loben war, daß den Jäger ein peinliches Gefühl überschlich, wenn er aus dem von Ueberfluß strotzenden Hause seines Herrn, aus den glänzend erleuchteten warmen und duftigen Räumen über seine wackelige Treppe in die ärmliche Behausung stieg, so ist dieses Gefühl doch erklärlich, wie denn überhaupt Leute von wenig oder mangelhafter Bildung so gern geneigt sind, Vergleiche mit der Lage ihrer Nebenmenschen anzustellen und sich durch den Unterschied unglücklich zu fühlen.
Wenn auch also die Großmutter zur Begrüßung des Doktors nicht aufstand, so sah man doch an der Art und Weise, wie sie ihm zunickte und die Hand gegen ihn bewegte, daß Beide recht gut mit einander bekannt waren. Der Armenarzt lächelte freundlich, als er die Schwelle des Zimmers übertreten hatte, neigte den Kopf ein wenig auf die linke Seite, wobei er die alte Frau forschend durch seine Brille ansah und sagte im fröhlichsten Tone von der Welt: »Sie werden mir zugeben, Frau Großmutter, daß ich kein Narr zu nennen bin, wenn ich heute wieder seufzend mein Bedauern ausspreche, daß wir Beide uns nicht früher kennen gelernt haben. – Na, das Paar! – Item, Frau Brenner« – wandte er sich an die Frau des Jägers – »Sie würden sich Ihres zweiten Papa's auch nicht zu schämen gehabt haben; denn das werden Sie mir zugeben, wenn bei mir eine Doktorin wäre, die mein Aeußeres pflegte und aufputzte, so sollten Sie Ihr blaues Wunder sehen. Item, es ist jammerschade.«
Ueber die Züge der alten Frau fuhr bei diesen Worten ein kurzes Lächeln, und sie gab dem Doktor zur Antwort: »Es ist von einem Arzte recht schön, wenn er seine Kranken mit kleinen Späßchen zu unterhalten weiß, und darin sind Sie Meister, Herr Doktor, das muß man Ihnen lassen.«
»Ja, wenn es nur ein Spaß wäre,« erwiderte komisch seufzend der Armenarzt; »aber, – item, sprechen wir von etwas Anderem! Doch werden Sie vorher mir noch erlauben, zu bemerken, daß ich wahrhaftig nicht immer spaßhaft aufgelegt bin. Es gibt Leute genug, die mich zu ärgern verstehen, und in dem Falle kann ich sehr unangenehm werden.«
Bei diesen Worten war er an den Stuhl der alten Frau gelangt und bot ihr seine Hand, indem er hinzufügte: »Nun, wie geht's denn eigentlich, Frau Großmutter?«
»So gut wie möglich. Aber kommen Sie in der That nur hieher, um sich nach meinem Befinden zu erkundigen?« sagte die alte Frau, indem sie ihn forschend ansah.
Der Doktor hustete leise hinter der vorgehaltenen Hand, schielte nach der Frau des Jägers hinüber und versetzte alsdann: »Großmutter, Großmutter! ich glaube, Sie sehen einem an, was man denk. Doch werden Sie mir zugeben, daß – zu wissen, wie Sie sich befinden, für mich immer eine Hauptsache ist. Daneben habe ich Ihnen freilich noch etwas vorzutragen, item, Ihren Rath zu hören.«
Die Großmutter blickte ihre Tochter an, worauf diese sogleich einen Stuhl herbeiholte, und während sich der Doktor niederließ, die Brille etwas fester an die Augen schob und dem Stocke mit dem silbernen Knopfe seinen gewöhnlichen Platz zwischen den Knieen anwies, zog die Frau ein feines Taschentuch hervor, fuhr leicht über ihr Gesicht und richtete dann die großen, klaren Augen auf den Armenarzt.
»Es handelt sich um den Gottschalk,« sagte dieser; »und da ich weiß, daß Sie die langen Berichte nicht lieben, so will ich mich kurz fassen. Der Gottschalk war also gestern Abend hier. Er hat sich ein bischen verspätet, und als er an die Hausthür seines Meisters kam, war diese verschlossen; er hatte aber nicht den Muth anzuklopfen.«
»Und es regnete so arg!« setzte Frau Brenner mit leiser Stimme hinzu.
»Ja, es regnete stark,« fuhr der Armenarzt fort; »item, der dumme Bube – dumm war er, das werden Sie mir zugeben, denn sonst hätte er tüchtig angeklopft – blieb im Regen stehen, was weiß ich, wie lange! item, vielleicht eine Stunde, anderthalb Stunden.«
Während die Großmutter ihre klaren Augen fortwährend ruhig auf den Erzähler richtete und sich kein Zug in ihrem marmorbleichen Gesichte bewegte, seufzte Frau Brenner tief auf, ihre Augen zwinkerten, und ihre blassen, dünnen Lippen zitterten eigenthümlich. Es muß für ein Mutterherz ein gar trauriges Gefühl sein, zu wissen, daß ihr Kind, nothdürftig bekleidet, bei Nacht und Regen stundenlang auf der Straße stehen mußte, und es fühlt das mit, als wenn es in demselben Augenblicke erst geschähe. Es hört den Wind sausen und sieht den Regen niederströmen. Es fühlt den einzelnen Tropfen, wie er sich langsam durch das fadenscheinige Röckchen durchdrängt und kältend den zarten, kleinen Körper berührt, den sie an ihrem Busen so oft gewärmt, die kleinen Schultern, Brust und Rücken, die sie mit Tausenden von Küssen bedeckt. Sie sieht ihn frieren, den armen kleinen Buben, und wenn sie das bedenkt, so möchte ihr Herz brechen, daß sie nicht in der Nähe war, um für ihn Regen und Wind auszuhalten. Jetzt aber hilft all ihr Denken nicht mehr, selbst nicht einmal die zwei großen Thränen, die langsam über ihr bleiches Gesicht hinabrollen.
Die Großmutter sieht diese Thränen, doch schüttelt sie leicht mit dem Kopfe, und ihre Tochter bemüht sich, heiter auszusehen, besonders, da sie den Doktor hastig fragen muß: »Und nachher? – Und nachher?«
»Ruhig, ruhig, Frau Brenner!« entgegnete der Armenarzt wobei er seinen Zeigefinger in die Höhe hob; »lassen Sie mir Ihre Alteration sein, Sie werden mir doch zugeben, daß ich nicht mit einem so vergnügten Gesicht vor Sie hintreten würde, wenn dem Buben irgend ein Unglück geschehen wäre.«
»Herr Gott im Himmel, habe Dank!« dachte die Frau.
»Item, es ist kein Unglück geschehen, – item, er hat die Nacht nicht auf der Straße zugebracht, wie Sie wohl glauben mögen; ich habe ihn heute Morgen schon gesehen, und es geht ihm gut.«
»Aber etwas Außergewöhnliches ist doch vorgefallen?« fragte die Großmutter.
»Allerdings; indessen bei aller Kälte und Nässe, die der arme Bube ausstehen mußte, doch etwas Lustiges, etwas ganz Lustiges. Es mochte also bald Elf geworden sein, Gottschalk stand noch immer auf der Straße; da kommt zufällig ein Bekannter von mir vorbei, ich kann Sie versichern, ein braver Mann. Sie kennen ihn nicht, Frau Großmutter, item, wohnt mit mir in Einem Hause, kommt also vorbei und sieht einen kleinen Buben in Regen und Wind vor dem Fenster stehen; und, daß ich's nicht vergesse, in dem wichtigen Augenblicke, wo sich der Gottschalk ein Herz gefaßt hat, wo er an die Fensterscheiben geklopft und wo Meister Schwörer, aber erst auf Zureden seiner Frau, die nicht so übel ist, gerade den Hausschlüssel hinauswerfen will. – Nun werden Sie mir aber zugeben, wenn man Nachts so einen kleinen Mann allein auf der Straße stehen sieht, da hält man an und erkundigt sich nach dem Warum – so that denn auch mein Freund. Es ist das eine lange Gestalt mit einem bleichen und hageren Gesichte. Sein Mantel hatte ein blutrothes Futter, was weiß ich! Item, ich will zugeben, er sieht bei Nacht etwas unheimlich aus. Also, – während der Schneider den Schlüssel hinauswerfen will, sagte er zu Gottschalk, er sei ein gottloser Bube, und der Teufel werde ihn gewiß einmal holen. – Da auf einmal steht die lange Gestalt vor dem Fenster, – aber ich bitte Sie, Frau Brenner,« unterbrach sich der Arzt, »sehen Sie doch nicht so entsetzlich alterirt aus, sonst kann ich unmöglich weiter erzählen.«
»Aber es ist mein Kind!«
»Und, lieber Herr Doktor?« fragte die alte Frau mit ihrem ruhigen Blicke.
»Nun, Sie werden mir zugeben,« fuhr der Arzt lustig fort, »daß der Schneidermeister, dem der Kopf voller Dummheiten der Art steckt, des festen Glaubens ist, der Teufel sei wirklich erschienen und habe den Buben geholt.«
Bei diesen Worten zuckte die Mutter schmerzlich zusammen; doch faßte sie sich gewaltsam und fragte nach einem augenblicklichen Stillschweigen: »Und Ihr Bekannter, jener Fremde?«
»Daß der empört war über des Schneiders Hartherzigkeit, brauche ich Ihnen eigentlich nicht zu sagen. Item, er nahm den Knaben nach Hause, hat ihn auf eine rührende Art verpflegt, – ja, Frau Brenner, auf eine rührende Art, und nun ist er wohlbehalten und wohlversorgt, wie ich Ihnen schon sagte, in dem Hause, wo auch ich wohne.«
Die Großmutter hatte dieser Erzählung schweigend zugehört, und als der Doktor geendigt, sagte sie nach einer kleinen Pause: »Nun, was denken Sie?«
»Was ich denke?« erwiderte der Armenarzt, während er seinen Kopf in die Höhe hob und seine Brillengläser im Lichte glänzen ließ, »Sie werden mir erlauben, zu denken, daß man den kleinen Buben nicht mehr zu Meister Schwörer zurückgehen läßt.«
Frau Brenner hatte ihre Hände gefaltet und nickte mit dem Kopfe.
»Der Gottschalk hat einen aufgeweckten Kopf; schreiben und rechnen kann er wie ein Alter; und, Frau Großmutter, wenn ich Ihnen sage, daß ich ihn sehr wohl leiden kann, so werden Sie mir zugeben, daß das auch etwas ist, obgleich ich weder reich noch vornehm bin. – Item, man sucht eine passende Beschäftigung für ihn, und über diesen Vorschlag wollte ich Ihre Meinung hören.«
»Aber mein Mann?« fragte besorgt die Frau des Jägers.
Der Doktor machte eine leichte Bewegung mit der Hand gegen die alte Frau, wobei er versetzte: »Das muß schon die Frau Großmutter so freundlich sein, über sich zu nehmen. Ist sie doch die Einzige,« setzte er achselzuckend hinzu »die mit dem Herrn Brenner gehörig fertig wird. Nicht wahr, Frau Großmutter?«
»Ich kann wohl sagen, er respektirt mich,« antwortete die alte Frau mit ihrem unbeweglichen Gesichte.
»Hat auch seine Ursachen, hat wahrhaftig seine Ursachen,« versicherte der Armenarzt. »Item, man muß ihm Alles sagen; vor allen Dingen, daß der Schneider steif und fest glaubt, der Teufel habe den Buben – habe sich ins Spiel gemischt,« verbesserte er sich, als er bemerkte, wie Frau Brenner ihre Lippen zusammenpreßte. »Aber er darf Niemandem sagen, wo der Knabe ist, und Sie auch nicht, das muß ich mir ausbitten. Heute oder morgen muß Meister Schwörer hieher kommen, er muß das Verschwinden Gottschalks anzeigen, und das gibt einen kolossalen Spaß. Sie werden mir erlauben, daß ich mich wie ein Kind darauf freue.« – Er rieb sich vergnügt die Hände. »Habe ich Recht oder Unrecht?« fragte er alsdann.
Der Mutter des Knaben mochte diese Geschichte nicht ganz behagen; sie schaute fragend auf die alte Frau, die mit ihren glänzenden Augen in weite, weite Fernen zu blicken schien und mit der Hand leicht über ihre Stirne fuhr.
»Meint Ihr nicht, Mutter?« fragte schüchtern Frau Brenner.
»Bst! bst!« sagte der Doktor mit einer abwehrenden Handbewegung, »die Frau Großmutter denkt nach und wird schon das Richtige finden.«
Darauf stützte er das Kinn auf den Stockknopf, blicke an die Decke empor, blinzelte mit den Augen und machte mit dem gespitzten Munde Bewegungen, als pfeife er irgend eine unhörbare Melodie. Nach einem längeren Stillschweigen hustete die Großmutter leise, fuhr mit dem Taschentuche abermals über ihr Gesicht und sagte dann mit einem kleinen, kleinen Lächeln: »Herr Doktor, ich habe Sie zu gern, um Ihnen den Spaß zu verderben, denn ich sehe Ihnen an, daß Sie viel Werth darauf legen. Thun wir also so, wie Sie wünschen. – Wenn dein Mann nach Hause kommt,« wandte sie sich an ihre Tochter, »so schicke ihn zu mir, ich werde ihm die Sache aus einander setzen, und dann kann er mit seinem früheren Freunde, dem Meister Schwörer, machen, was ihm gut dünkt.«
»Bravo! bravo!« jubelte der Arzt. »Und Herr Brenner ist der Mann, den Schneider tüchtig zwischen die Zange zu nehmen. – Verdient es auch, daß er ein bischen gekniffen wird. Das ist eine trostlose Wirthschaft in dem Hause. Mich dauern nur Weib und Kinder.«
»Er gehört zu den sogenannten Frommen?« fragte die Großmutter.
»O ja,« seufzte der Doktor, indem er auf eine wahrhaft komische Art die Augen verdrehte. »Zu denen, die immer eine halbe Elle Tuch mehr brauchen, als jeder andere ehrliche Schneidermeister, und die mit der glühenden Nadel nähen, so daß alle Nähte schon nach vier Wochen aus einander platzen. – Aber jetzt muß ich mich schleunigst entfernen,« setzte er hinzu, indem er aufstand. »Habe heut Morgen schon ein paar kostbare Stunden verplaudert. Frau Großmutter, halten Sie mich in gutem Andenken. Einen der nächsten Abende werde ich wieder kommen und eine Partie Piquet mit Ihnen spielen, item, der Frau Großmutter das Geld abgewinnen.«
Die alte Frau lächelte ein klein wenig, worauf Doktor Flecker lustig rief: »Nun, das werden Sie mir aber doch wohl zugeben, und gnädigst erlauben, daß ich mein Geld nicht verliere; item, unter einer Quint und vierzehn Aß werde ich es schon gar nicht thun. – Adieu, adieu!«
Frau Brenner begleitete den Armenarzt auf den Gang hinaus; doch war dieser nicht der Mann, trotz der vorgeschützten Eile sich so schleunig zu entfernen. Zuerst blickte er nach dem Palmarum, der mitsammt seinem zweibeinigen Pferde aus dem Zimmer verschwunden war, und als er ihn auch draußen auf dem Corridor nicht sah, schien die halb angelehnte Küchenthür, durch welche dichte Wasserdämpfe herausqualmten, auf den Armenarzt eine besondere Anziehungskraft auszuüben.
»Da wüthet gewiß Judica,« sagte er. »Ich muß einen Augenblick nach Judica sehen.«
»Dort in der Küche sieht es aber gerade nicht schön aus,« meinte Frau Brenner.
»Nun also, dann ist es meine Pflicht, nach ihr zu sehen.«
Und ehe er diesen Satz noch ganz vollendet hatte, war er schon an der Küchenthür und öffnete sie weit. Hinter derselben befand sich ein geräumiges und sehr räucheriges Lokal mit einem großen Herde und einem schwarzen Kaminschooß darüber, den man, sowie ein paar Schüsseln und Teller, die auf dem Rande desselben standen, nur in unsicheren Umrissen durch den qualmenden Wasserdampf hindurch bemerkte. Dieser Wasserdampf stieg aus einer großen Holzbütte auf, an welcher ein junges Mädchen stand, die man auch nur wie eine Nebelgestalt sah.
»Teufel, da wird stark gewaschen!« sagte der Doktor, der auf der Schwelle stehen blieb. Und Frau Brenner rief in die Küche hinein: »Margaretha, komm einen Augenblick heraus!« worauf das Mädchen hinter der Waschbütte vor und auf den Gang trat. Hinter ihr, sich mit der Hand an ihrem Rocke haltend, kam Palmarum, der die Abwesenheit der Mutter benutzt hatte, um einen Besuch in der Küche zu machen und sich dort auf seine Art nützlich zu beschäftigen.
Als der Armenarzt freundlich näher trat und der jungen Wäscherin seine Hand entgegen strecke, wich diese lächelnd zurück, wobei sie auf ihre Arme und Hände wies, die mit dickem Seifenschaum bedeck waren. Trotzdem aber, sowie auch ungeachtet ihres ärmlichen Anzuges, mußte man dieses Mädchen mit Interesse betrachten. Sie war vielleicht siebenzehn Jahre alt, hoch, schlank, untadelhaft gewachsen, und dazu hatte die Enkelin der Frau Großmutter auf eine so merkwürdige Art deren schönes Gesicht geerbt, namentlich die großen strahlenden Augen, daß man hätte glauben sollen, man sähe die alte Frau selbst, befreit von einigen vierzig Jahren, die mit Kummer und Entbehrungen aller Art ihre Züge verhärtet und mit jener so auffallenden krankhaften Blässe bedeckt hatten.
Margaretha war eine prächtige Erscheinung, und wie sie so vor dem kleinen Doktor stand, drücke dieser mit ausgesprochenem Wohlbehagen seine Brille fester an die Augen und blinzelte vergnügt nach dem schönen Mädchen hin.
»Du hättest mich nicht rufen sollen, Mutter,« sagte sie mit einer so sanften Stimme, daß sie fast nicht im Einklange stand mit der imponirenden Haltung und dem ausdrucksvollen Kopfe. »Ich muß mich ja schämen, wenn mich der Herr Doktor so sieht.«
»Possen, Possen!« versetzte dieser. »Sie werden mir zugeben, liebe Judica – Margaretha wollt' ich sagen,« verbesserte er seine Ansprache auf einen Blick aus ihren großen Augen – »Sie werden mir also zugeben, daß ein Arzt alle möglichen Toiletten sehen darf – sehen muß. Item, es war mir rein unmöglich, das Haus zu verlassen, ohne nach Ihnen gesehen zu haben. – Es geht Ihnen gut?«
»Ich danke, Herr Doktor,« sprach Margaretha; »mir fehlt nichts, und ich bin zufrieden.«
»Das ist ein Glück, liebes Kind, das ist ein großes Glück! Wer in unserer Stellung kann das von sich sagen? – Zufrieden! Ja, wenn man zufrieden ist, da ist man auch bedingungsweise glücklich. Und die Wäsche geht gut von der Hand?«
Das Mädchen nickte mit dem Kopfe.
»Nun, dann bin ich für jetzt auch zufrieden,« sagte der gute kleine Armenarzt, wobei er trotz des Widerstrebens von Seiten Margarethens eine ihrer Hände ergriff und sie so herzlich schüttelte, daß der Seifenschaum in weißen Flocken umher flog und er sein Taschentuch hervor zog, um sich abzutrocknen. »Aber jetzt habe ich alle Zeit, fortzukommen,« rief er dann. »Behüt euch Gott mit einander!«
Damit war er schon an der Treppe und hüpfte hinab.
Margaretha blieb noch einen Augenblick stehen, da ihr die Mutter etwas sagte, bevor diese in die Stube zurückkehrte; dann ging auch sie wieder an ihre Arbeit, gefolgt von dem kleinen Palmarum, der mit der rechten Hand ihren Rock festhielt, während er in der linken eine kleine Blechschale voll Wasser trug, worin das zweibeinige hölzerne Pferd lag.