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Es war ein stiller grauer Herbsttag. Die romantische Ruine des Heidelberger Schlosses in ihrer schwermütigen Schönheit erschien noch melancholischer durch den stumpfen Farbenton, der sowohl ihre gebrochenen Mauern und Thürme, als die Bebaumung und die Vegetation des Schloßberges in trübe Einförmigkeit setzte. Auf der westlichen Terrasse saßen zwei Personen auf einer Bank. Zur Linken hatten sie die großartige und ungemein malerische Masse der Ruine; zur Rechten den einsamen runden Thurm, aus dessen dichter Epheubekleidung zwei schöne, traurig Ritterbilder in Stein gehauen hervorschauen; tief unten zu ihren Füßen die Stadt und den Neckar und die Ebene, die er durchschlängelt und an deren fernen Horizont, über den Rhein hinweg, an hellen Tagen die gewaltige Masse des Domes von Speyer aufsteigt und die Spitze des Donnersberges. Aber die Sonne ging in dichten Wolken unter, die Ferne war verhüllt, das Nahe war reizlos; sogar der schöne, muntere Neckar sah aus wie geschmolzenes Blei.
Die beiden Personen auf der Bank schienen von dem allen gar nichts zu bemerken. Sie waren in tiefer Trauer. Aber die Trauer in ihnen war ungleich tiefer: sie trauerten um die Gattin und die Mutter. Colomba war nicht mehr bei ihnen. Seit Monaten hatte sie schon das Ziel ihrer irdischen Pilgerfahrt erreicht, aber ihrem Mann und ihrer Tochter fehlte sie, wie im ersten Augenblick ihres Abscheidens. Horburg war jetzt tief in den Sechszigern, ganz gebeugt, ganz gebrochen, ein Bild der innerlichsten Trostlosigkeit, ohne Frieden, ohne Hoffnung, ohne Kraft, ein geistiger Oedip – blind für das Göttliche im Menschenleben, im Menschenschicksal, in der menschlichen Bestimmung. Und neben ihm stand seine Antigone – Heliade, die treue Tochter, zärtlich bereit ihn zu leiten und zu führen – aber ach! der Schmerz versteinerte ihn.
Mehrere Jahre hatte die Familie Horburg in Dresden gelebt und sich mit der Schmiegsamkeit der menschlichen Natur, welche ihre gewohnten Umgebungen allmälig gern hat, in ihrem Pavillon eingebürgert. Dort wuchs Heliade heran. Sie war zugleich die Sonne und die Rose im Leben ihrer Eltern, eine holdselige Schönheit – und schöner noch der Seele nach. Colomba vergaß im Anschauen der Tochter den langen Gram ihres gekreuzigten Herzens, das mehr und mehr die Wucht empfand, mit einem andern Herzen verbunden zu sein, das sich von Gott getrennt hat und in der Verleugnung des Göttlichen und im Widerstreben gegen das Göttliche lebt. Die Oberflächlichkeit tröstet sich, wenn ein solcher Mensch nur nicht gerade ein Dieb oder ein Mörder oder sonst ein schwerer Missethäter ist; – sie schlägt den Abfall vom Glauben für nichts an, weil sie selbst keinen lebendigen Glauben und kein zartes Gewissen hat – denn die Zwei gehen immer Hand in Hand: ein starker Bruder, der die zarte Schwester, die sich an ihn schmiegt, schirmt und stützt. Aber der oberflächliche Weltsinn hat überhaupt gar wenig Zusammenhang mit dem Christenthum. Er ist das heidnische Element, welches nie und zu keiner Zeit vollständig vom Christenthum vertilgt wurde – wie im natürlichen Leben auch der gesundeste Körper den Todesstoff in sich nicht vertilgt; und das heidnische Element weiß jetzt so wenig von Gott wie vor zweitausend Jahren und will auch gar nichts von ihm wissen! Es hat seine selbstgeschaffenen Götzen, die man annehmen und fallen lassen kann »nach seiner Ueberzeugung« – während eine reine, tiefe, unerschütterliche Ueberzeugung die Frucht des Gewissens ist, welches der Glaube erleuchtet. Ohne diese Grundlage gibt es nur Meinungen und Ansichten, die je nach Stimmung und Leidenschaft wechseln.
Colomba war fern von oberflächlichem Weltsinn. Sie büßte für die kurze Verblendung ihrer Jugend durch den tiefsten Kummer, den es auf Erden gibt: Kummer über den Untergang einer Seele. Sie wußte, daß Apostasie – Todsünde sei. Sie sah im Geist eine blutige Prozession durch die achtzehn Jahrhunderte des Christenthums wandeln, von dessen Anbeginn bis auf unsere Tage, zahllos, zu Tausenden, zu Millionen, Männer und Weiber, Greise und Kinder, Priester und Krieger, Reiche und Arme, Hochgeborne und Sklaven. Sie wandelten in einem Strom von Blut, der aus ihrem eigenen Herzen floß; aber um ihre Stirn leuchteten Strahlen und in ihrer Hand trugen sie die friedliche heilige Palme. Das waren die christlichen Martyrer – und jeder von ihnen sprach zu Colomba: »Uns wurde die Wahl gelassen zwischen Apostasie und Tod; und so schwer ist die Sünde der Apostasie, daß wir lieber in tausend Qualen sterben wollten, als sie begehen.« – – Ist sie aber so schwer, was erwartet den Apostaten, der nicht zurückkehrt, am großen Tage der gerechten Vergeltung? – Eine Ewigkeit der Trennung von dem Gott, den er in der Zeit verschmäht hat – eine ewige Verdammniß! Je älter Horburg wurde, desto größer wurde ihre Sorge, desto nagender ihre Angst. Das Alter hat höchst selten die Energie, mit der Vergangenheit zu brechen, faßt höchst selten einen solchen Entschluß, führt noch seltener ihn aus. Die Epoche des Handelns, der Thatkraft, ist vorüber. Und dann: wer ein halbes Jahrhundert lang den christlichen Glauben verachtet hat, verliert die Fähigkeit, seinen vererdeten Geist nach der Seite des übernatürlichen Lebens voll himmlischer Lehren und idealischen Vorschriften zu erheben. Die Gedanken haben sich zu sehr an materielle – oder wenigstens rationalistische Combinationen und an willkührliche Ungebundenheit gewöhnt, um den Schwung nach einer idealen Sphäre nehmen – und sich darin halten zu können. Bekehrungen in Horburgs Alter sind unendlich selten. Das wußte Colomba, das sah sie ein. Was aber in ihm vorging, wußte sie nicht – nicht, ob das Licht die Finsterniß durchdringen, die Wahrheit den Irrthum besiegen werde. Denn er schwieg. That er es, um ungestört einen heiligen Einfluß wirken und dessen Frucht reifen zu lassen? – oder stand er noch immer auf dem Boden der alten Gleichgültigkeit gegen Religion und Offenbarung? – Diese Frage, diese Ungewißheit nagten an ihrem Herzen, ihrem Leben.
Auch Heliade war nicht zu Hause in der Seelenwerkstatt ihres Vaters. Er sagte ihr öfter, wenn sich die Veranlassung bot, es sei ein namenloses Glück, im katholischen Glauben geboren und erzogen zu sein, wie sie und wie ihre Mutter. Wenn sie dann aber sagte, es müsse auch ein großes Glück sein, ihn im späteren Leben mit vollem Bewußtsein und aller Ueberlegung anzunehmen: so sprach er von unerhörten äußeren und inneren Schwierigkeiten, welche einen solchen Schritt fast unmöglich machten.
Peregrin kam während dieser Jahre ganz selten nach Dresden. Er war auf verschiedenen Universitäten und brachte die Ferien entweder bei seinen Eltern auf Schloß Traun oder auf Reisen zu. Nur wußte er es immer so einzurichten, daß ihn sein Weg ein Paarmal im Jahr, an einem Sonntag, durch Dresden führte. Dann ging er in die Hofkirche und da sah er von ferne Heliade. Zuerst hatte er es aus einer Art von Neugierde gethan – ob sie wohl noch da sei, die kleine Fee mit dem blauen Blick und dem schwarzen Blick – oder ob sich ihr Vater vielleicht sonstwohin mit seinem Suchen nach der Ur-Religion begeben habe. Aber die kleine Fee wurde nach und nach eine große Fee und webte sich, in einer ihm ganz unerklärlichen Weise, in sein innerstes Wesen hinein. Er freute sich von einem halben Jahr zum andern mit einer ganz unaussprechlichen Freude auf die halbe Stunde, wo er sie während der Messe sehen würde – das zarte, schöne Profil, die edle, ruhige Haltung, die ernste Andacht. Und wenn sie dann von den Knien sich erhob und mit ihrer Mutter das Gotteshaus verließ, so schaute er ihr nach, als ob ein Stern sich vor seinen Augen in Bewegung setze, als ob etwas ganz Wunderbares vor sich gehe. Aber er folgte ihr nur mit dem Blick. Es genügte ihm zu wissen, daß sie da sei.
Die Welt wimmelt von jungen Mädchen; also sah Peregrin genug derselben, wo er sich auch aufhielt; doch eine Heliade sah er unter ihnen nicht. Mit ihr verglichen erschienen sie Alle prosaisch und gänzlichst ohne feenhaften Zauber. So war er geschützt von der Aegide seines Ideals.
Eines Tages kam er auf der Rückreise von Schloß Traun wieder nach Dresden und wieder ging er am anderen Morgen eiligst in die Hofkirche. Heliade war nicht da. Auf dem Platz, den sie einzunehmen pflegte, knieten fremde Gestalten. Es war Sonntag und früh am Morgen. Sie wird später kommen! sprach er beruhigend zu sich selbst; – und wartete. Heliade kam nicht. Eine Messe folgte der andern; das Hochamt wurde gehalten; Stunde verging auf Stunde; Peregrin wartete bald in der Kirche, bald vor derselben; – Heliade kam nicht. Sie ist fort! wohin? jetzt entschwindet sie mir? sprach er ganz betäubt zu sich selbst. Doch schnell gefaßt eilte er zu einem Diener, der bei der Bibliothek angestellt war und der ihm früher zuweilen Bücher gebracht hatte und fragte ihn, ob er wisse, unter welcher Adresse ein Brief an Herrn von Horburg abzusenden sei. Der Mann verneinte es; setzte aber hinzu, Herr von Horburg habe erst kürzlich Dresden verlassen und zu den Herren Bibliothekaren habe er gesagt, er ginge an den Bodensee, wo seine Frau eine Traubencur gebrauchen solle. Das beruhigte Peregrin etwas. Allein dies Verschwinden mahnte ihn daran, daß er Heliade verlieren könne, durch den Tod . . . oder . . . durch das Leben. Wo war denn ein Wesen, das den Vergleich mit ihr aushielt? mußte nicht die ganze Männerwelt der Unvergleichlichen huldigen? . . . . und wenn sie, die nichts von seinem Dasein wußte oder vielleicht noch die Erinnerung an jene Insolenz hatte, mit welcher er früher ihren Namen genannt – wenn sie eine Wahl träfe . . . . für's Leben . . . . – Nein! sprach er entschlossen zu sich selbst, das wird nicht der Fall sein. Es ist nichts Zufälliges, daß sie in meinem Herzen steht, wie das Heiligenbild in seiner Nische; – nichts Zufälliges, daß über all' meinen Gedanken, meinen Studien, meinem Wollen und Streben, über meinen Freuden und meinen Hoffnungen . . . ein fernes, himmlisches Licht schwebt, dessen Mittelpunkt sie ist. Das muß einen Zweck haben, einen inneren Zusammenhang. Er muß zu Tage kommen, so wie meine Lehrjahre vorüber sind. Die alten Hellenen opferten im tiefen Schweigen den unterirdischen Göttern, um deren Ruhe und Stille nicht zu stören. So habe ich ihr, der Ueberirdischen, schweigend gehuldigt. Aber nun ist's genug! Noch ein Semester in Bonn . . . , und dann suche ich sie . . . . und werde sie finden!
Dies Semester wollte aber gar kein Ende nehmen! jeder Tag hatte mehr als vierundzwanzig Stunden! Er bedauerte unsäglich, nicht von Dresden aus am Bodensee gewesen zu sein, um Heliade zu suchen. Hatte er sie gefunden, so würde er ruhig sein: das wußte er. Er war der Zukunft dann gewiß! – Es ging denn doch vorüber . . . . dies endlose Semester und er trat sogleich seinen Ausflug an den Bodensee an. Allein er fand nirgends die leiseste Spur von Heliade und ihrem Vater. Alle die kleinen Städte und Ortschaften rings am Ufer durchwanderte er und durchforschte er. Ueber alle Bewohner und Besitzer von Schlössern und Landhäusern zog er die genaueren Erkundigungen ein – umsonst! der Name Horburg war unbekannt. Nun fiel ihm ein, daß eine Traubencur am Genfer See wahrscheinlicher sei, als am Bodensee, oder daß Herr von Horburg das milde Clima von Montreux für seine Frau aufgesucht habe. Er reiste dahin. Er stellte auch dort mit Hülfe von Gastwirthen, von Lohndienern, von Schiffern, von Nachfragen auf der Briefpost und bei Banquiers die genauesten Forschungen an. Er durchblätterte alle Fremdenbücher in den Gasthöfen von Lausanne bis Montreux und von Montreux bis Genf, um Auskunft über die Reisenden in den letzten sechs bis acht Monaten zu erhalten; aber den Namen Horburg fand er nirgends. Heliade war also weder jetzt in der Schweiz, noch war sie im vergangenen Herbst hergekommen. Sie war also noch irgendwo in Deutschland! Wahrscheinlich – ja gewiß hatte Herr von Horburg vorgezogen, in Deutschland zu bleiben, an der Haardt etwa, wo es ja Orte gab, die wegen ihrer Trauben und ihres milden Clima's berühmt waren . . . wie Dürkheim und Deidesheim.
Nachdem Peregrin auch noch die Seen von Thun, Luzern und Zürich umkreist und umspäht hatte, ging er nach Deutschland zurück, um Heliade zu suchen; – und da, wo er sie nicht suchte, fand er sie: in Heidelberg, auf der Schloßruine. Es war ein schöner Maitag, blüthenweiß, blaßgrün, himmelblau, sonnenhell. Die Natur strahlte in der Glorie des Frühlings und mitten in der Glorie erstrahlte Heliade. Sie ging neben ihrer Mutter, die sich auf den Arm des Vaters stützte und die bleich und vergänglich wie eine Nebelwolke aussah. Das Gefühl eines unerhörten Glückes durchbebte Peregrin: er faßte wieder Fuß auf der Erde, und Welt und Zukunft waren wieder sein. Er blieb in Heidelberg, um sich zu vergewissern, daß Herr von Horburg dort lebe. Er entdeckte, daß in dem Hause, welches die Familie bewohnte, eine andere Wohnung zu haben sei – und er nahm dieselbe auf ein halbes Jahr. Die gutmüthige Hausfrau ersuchte ihn, nicht zu viel tumultuarischen Besuch zu empfangen.
»Nicht meinetwegen,« setzte sie hinzu, »ich bin seit dreißig Jahren an den Lärm der Herren Studiosen gewöhnt und meine Möbel« . . . . –
»Sind es seit fünfzig Jahren!« unterbrach Peregrin sie scherzend.
»Und meine Möbel werden vom Inhaber der Wohnung vergütet, wenn man sie allzu arg ruinirt« – fuhr sie gelassen fort, denn in dem Punkt verstand sie keinen Scherz. »Aber Frau von Horburg, die in dem unteren Stockwerk wohnt, ist von sehr zarter Gesundheit, so daß ein wildes Heer über ihrem Kopf ihr höchst lästig sein würde.«
»Gut,« sagte Peregrin, »ich werde mich still wie ein Mäuschen verhalten und Niemand stören.«
Nachdem er, froher wie ein König, in sein neues Reich eingezogen war, schrieb er an Graf Gorm.
»Lieber Vater! Ein kurzes Sommer-Semester in Heidelberg voll wenig Studien und vielem dolce far niente vervollständigt das deutsche Studentenleben zu schön, um mich nicht hoffen zu lassen, daß Deine Güte und Liebe es mir gönnen werde. Ich bitte also noch um dies halbe Jahr. Daß es mir nicht um Biertrinken und Schlägereien zu thun ist, brauche ich nicht zu versichern. Damit fängt man höchstens an, doch man endet gewiß nicht damit, wenn man, wie ich, Freude an den Studien hat. Doch ebensowenig behaupte ich, daß dies Semester dasjenige meiner eifrigsten Studien sein werde – obschon ich es nicht ohne großen Nutzen zu verleben hoffe.«
Graf Gorm fand Peregrins Wunsch viel zu natürlich, um ihn nicht gern zu gewähren; – und er lebte nun nicht bloß an demselben Ort, sondern unter demselben Dach mit Heliade. Anfangs beseligte und befriedigte ihn dies unerwartete Glück vollkommen. Aber die Wünsche des Menschenherzens sind beweglich wie das Herz selbst und ruhen nicht auf einem Punkt. Was half es ihm, in ihrer Nähe zu sein, wenn er ihr dadurch nicht näher trat! – –
Horburg hatte allerdings wegen Colomba's Gesundheit Dresden verlassen. In den Erinnerungen aus seiner frühen Jugend tauchte die heimathliche Pfalz in der Anmuth auf, womit der Frühling des Lebens die Stätten seiner Kindheit schmückt. Für Colomba war jeder Wohnort diesseits der Alpen gleichgültig; sie fand sich überall zurecht, doch heimisch fühlte sie sich nirgends. Indessen war dieser Schritt ein wenig mehr gen Süden, die erste Annäherung an Italien, ihr doch sehr willkommen. Die Hoffnung auf ihre Rückkehr nach Rom oder doch nach Florenz war innig verwebt mit der Hoffnung auf Horburgs Rücktritt zur Kirche. Daß ihre körperliche Kraft gebrochen sei, fühlte sie; aber für krank hielt sie sich nicht.
»Ich werde nur alt!« sagte sie in ihrer lieblichen Weise zu Heliade, die gar nicht begriff, wie ihre anmuthige Mutter auf den traurigen Gedanken des Altwerdens komme und in der Ueberzeugung lebte, die Mutter sei angegriffen in ihrem Nervensystem – vielleicht durch das nordische Clima, gewiß durch den Gram um den Vater. Inniger denn je stiegen ihre Gebete für ihn zum Throne Gottes empor. Aber was hilft die fromme Fürbitte einer treuen Tochter, ja was hilft sie von allen frommen Seelen hienieden und allen Seligen im Himmel, wenn die Seele sich nicht entschließen will, das Opfer zu bringen, das zwischen ihr und der Gnade Gottes steht und deren Einfluß unmöglich macht. Wer sein staubiges Werktagskleid nicht ablegen will, kann nicht mit dem Festgewand bekleidet werden, in welchem man vor dem König der Ewigkeit erscheint.
Colomba brauchte die Traubencur in Heidelberg und der Winter verging erträglich. Die Personen, welche immer um sie waren, bemerkten nicht, daß sie sich langsam aufzehre – wie das sehr oft den Nächststehenden geht, weil man nicht von einem Tage zum andern den Niedergang wahrnimmt. Als aber der Frühling kam, der Frühling, der Peregrin nach Heidelberg führte, da machte die Krankheit reißende Fortschritte. Colomba wurde nicht in der Weise krank, daß sie das Bett hütete – nur ihr Husten wurde immer hohler und das Athmen immer beschwerlicher. Den Schloßberg ersteigen konnte sie längst nicht mehr. Es stehen aber immer gesattelte Esel bereit, um schwache, kranke oder bequeme Personen hinauf zu tragen – und so konnte sie sich noch einige Zeit in der Frühlingsnatur erfreuen, die zwischen den Ruinen doppelt reizend ist. Aber auf einmal versagten ihre Kräfte. Der Arzt, der sie seit dem vorigen Herbst behandelte, glaubte, daß jetzt das Stadium des langsamen Erlöschens eintreten werde. Sie aber, die bisher nie einen Gedanken an ihren Tod gehabt oder geäußert hatte, sagte zu Heliade, sie möge einen Geistlichen rufen lassen.
»Colomba! – – Meine Mutter!« – – riefen Vater und Tochter voll Entsetzen, denn beide wußten, was dies bedeute.
»O Ihr lieben Thoren!« erwiderte sie mit ihrem schönen, seelenvollen Lächeln; – »ich will ja nicht sterben! . . . . leben will ich.«
Der Geistliche erschien, bei dem sie zu beichten pflegte. Sie empfing die heiligen Sacramente der Buße und der letzten Oelung mit tiefer Innigkeit. In der Frühe des nächsten Morgens brachte er ihr die heilige Wegzehrung, die sie freudestrahlend und mit frohlockender Seele empfing.
»Leben will ich!« sagte sie, indem sie sich in die Kissen zurücklehnte.
Und weil der Priester nach einigen Minuten feierlicher Stille sprach:
»Requiescat in pace;« – –
so erfuhren Horburg und Heliade, welches Leben sie gemeint habe; denn der heil. Bonaventura spricht:
»Nur da ist das Leben, wo kein Tod zu fürchten ist.«
Colomba war nicht mehr. Diese stille, ungekannte, geringe Existenz, deren einziger Reichthum in Schmerz, deren einzige Kraft in Glauben und Liebe bestand – hinterließ eine Lücke, welche sehr oft Andere nicht hinterlassen, deren Kreis viel größer, deren Wirken viel augenfälliger ist und deren Verlust viel unersetzlicher erscheint. Denn da, wo ein größerer Kreis von Trauernden ist, gibt es auch mehr Trost, mehr Zusammenhalten, vermehrte neue Pflichten. Diese beiden Menschen jedoch, für welche Colomba der Mittelpunkt gewesen war, so daß sie zu Dreien – Eines bildeten, fielen gleichsam in zwei Hälften auseinander, als das Band fehlte, welches sich so weich und so stark um sie schlang. Nicht als hätte ihnen die Liebe gefehlt; – aber der Ausdruck der Liebe hat so unendlich viel Schattirungen, und sie selbst zweigt sich in so mannigfaltige Aeste von Vertrauen, Verständniß, Hingebung, Zärtlichkeit – von ich weiß nicht was für sympathische, beseelende, anregende, wohlthuende Gefühle, aus, daß sich zwei Menschen herzlich und aufrichtig lieben – und dennoch in tausend Empfindungen und Neigungen ihres Herzens darben können.
Für Horburg war Colomba Inbegriff und Verwirklichung des Ideals der Liebe gewesen. Was das Herz wünschen, was die Vernunft fordern kann – sie gab es, sie leistete es. Welche blutende Wunde sie seinetwegen in ihrer tiefsten Seele trug – das wurde ihm von Jahr zu Jahr, und je mehr ihr edles, hohes Wesen sich entfaltete, immer deutlicher; aber trotz dieses Seelenschmerzes kannte sie weder Klage, noch Vorwurf, noch Verstimmung, noch irgend eine jener Launen, durch welche die Frau dem Mann drückender sein kann, als durch entschiedene Fehler oder Untugenden. Colomba war eine jener Seelen, bei der man den Ausspruch von Christus dem Herrn begreift, daß im Himmel mehr Freude sein werde über die Bekehrung eines Sünders, als über neunundneunzig Gerechte. Abgeklärt in Glauben und Trübsal wurde das, was Schwäche in ihrem Charakter war, zarte Hingebung, demüthige Willfährigkeit – und das, was Eigenwille in ihr war, eine friedliche Energie, die sich weder durch Schwierigkeiten, noch Mißerfolg überwinden ließ. So stand sie einige zwanzig Jahre an seiner Seite, immer lächelnd, wenn auch mit Thränen im Auge, immer liebend, wenn auch die Dornen der Liebe mehr ihr Antheil waren, als deren Rosen, immer das liebenswürdigste, anmuthigste Weib.
Bei ihr hatte er nie gefühlt, welch eine Last er – für sich selbst sei. Sie trug ihn, sie ruhte ihn aus, sie tröstete ihn, sie ermuthigte ihn. Er konnte nicht ganz an sich selbst verzagen, denn Colomba hoffte für ihn, auf ihn. Ueber der chaotischen Verworrenheit in seiner Seele, zitterte wie ein gebrochener Lichtstrahl der unbestimmte Gedanke, er werde endlich doch durch Colomba seinen Frieden finden.
Und nun war sie dahin, bevor er sich nur mit der Ahnung ihres Todes vertraut gemacht hatte! Sie, die jüngere Frau, ließ ihn allein, den Greis mit dem armen jungen Mädchen, das bitter verwaist in der weiten Welt nichts und Niemand hatte, als nur ihn, den Greis! das an seiner Seite einem freudelosen Leben entgegen ging – und einem noch freudeloseren, wenn der Tod ihn, wer weiß wie bald! abrief. Dazu der Stachel in seinem Gewissen – die innere Zerrissenheit eines Daseins ohne höhere Grundlage und Ziel – der schauerliche Kampf zwischen dem Unglauben und der Vernunft, die unerbittlich zu ihrer Befriedigung den Glauben verlangt: und es war nicht befremdend, daß Horburg unter dieser Wucht, die keine Colomba ihm tragen half, zusammensank.
Nicht anders, nur in anderer Weise, erging es Heliade. Aus Colomba's Herzen quoll ein so reicher Strom von Liebe, daß der Mann und das Kind ihr Genügen daran fanden. Ueberdas verband die tiefste Seelensympathie, ein gemeinsamer Schwung zu den Höhen des Lebens, zu dessen großen Idealen von heiligen Opfern, von himmlischer Vollkommenheit, von allbesiegender göttlicher Liebe – Colomba und Heliade. Sie waren nicht immer die Eine die belehrende und ermahnende Mutter, die Andere das Ihrige, folgsame Kind: sie waren auch Freundinnen im Austausch der Gedanken, in traulicher Mittheilung von tausend Anregungen, welche die Seele empfängt, von tausend Eindrücken, die von allen Seiten sie berühren. Das Alles verlor Heliade! sie war auf Einmal ohne Mutter und Lehrerin, ohne Schwester und Freundin! sie erfuhr auf Einmal, daß ihr Alles fehle! denn der Vater gab ihr nichts, als seine äußere Gegenwart und seinen Schutz nach der Seite der Welt hin. Das traute Verständniß, an das sie gewöhnt war und das sie, weil sie ein ganz innerliches Wesen war, so glücklich machte, daß sie nichts von Allem, was die Jugend zu ersehnen pflegt, begehrte: das war zerrissen! im Grabe das Herz, das für sie schlug, der Mund, der zu ihr sprach, das Auge, das sie in seinem Blick mit Liebe überströmte – im Grabe und todt.
Es war am Abend von Colomba's Beerdigungstag. Sie saßen in dem Zimmer, wo ihr Platz leer war, wo noch die Arbeit lag, mit der sie sich beschäftigt hatte. Seiner Gewohnheit gemäß lag ein Buch vor Horburg aufgeschlagen; aber er hatte keine Ahnung von dessen Inhalt. Er saß unbeweglich da, die Arme über der Brust gekreuzt und vor sich hin starrend, so trüben Blickes, so bleichen, durchfurchten Angesichts, daß es Heliadens stillen Jammer vermehrte. Sie saß ihm gegenüber, auch nach ihrer Gewohnheit beschäftigt mit Handarbeit. Sie nähte an einem schwarzen Flor, auf den zuweilen, wie Silberperlen, ein Paar große Thränen fielen. Dann trocknete sie schnell ihre Augen; aber sie nähte fort, denn sie durfte nie müßig neben ihrer Mutter sitzen und überdas zog die Arbeit ihren Blick von dem trostlosen Vater ab. Keines von beiden sprach. Jedes fürchtete den Kummer des Andern durch ein lautes Wort zu vermehren. Der Pendelschlag der Schwarzwälder Wanduhr klang fast lärmend laut und hart in diese Grabesstille.
Da durchzitterte ein melodischer Ton die tiefe Stille – ein Ton von so reinem, überirdischen Klang, daß Horburg und Heliade aufhorchten, ob das nicht ein Gruß für sie aus einer bessern Welt sei. Und der Ton schwoll immer süßer und mächtiger an wie ein immenses, untröstliches Weh – und brach dann in seiner Ueberfülle in tausend weichen und reichen Modulationen wie in eine Garbe von Klagen aus. Und dann sank die Klage zusammen in einem großen, stillen, weiten Thränenmeer. Das dauerte kaum eine Viertelstunde, dann verstummte Alles.
»Woher kommt diese himmlische Musik?« fragte Horburg mit einem tiefen Athemzug.
Heliade wußte es nicht. Keiner von ihnen beachtete die Mitbewohner des Hauses und deren Wechsel.
»O wenn diese wunderbare Musik doch wieder beginnen wollte!« sagte Heliade mit sanften Thränen; »das ist eine Sprache, die wir verstehen.«
Aber sie begann nicht wieder und Horburg und Heliade sanken in ihr Schweigen und in ihre trüben Gedanken zurück. Am andern Abend hub sie jedoch auf's Neue an, zuerst der vibrirende Klageton als Grundlage aller Modulationen, die dann in Cataracten von Schwermuth ausbrachen und verhallten.
»Das ist ein großer Künstler,« sagte Horburg; »weßhalb mag er hier so still leben?«
»Vielleicht trauert auch er um eine theure Abgeschiedene!« sagte Heliade.
Das währte einige Tage. Immer erhuben sich gegen Abend die himmlischen Töne und flossen wie ein Balsam lindernd über zwei schwere Herzen. Bald dauerte die Musik längere, bald kürzere Zeit; nie lange genug, um zu ermüden. Aber eines Abends erklang sie nicht.
»O weh!« sagte Heliade, als die gewohnte Stunde vorüber war – »die Nachtigall ist verstummt.«
»Ja!« sagte Horburg in seiner trüben Weise, »das geschieht den Nachtigallen früh.«
Und er verfiel wieder in das dumpfe Schweigen, das wie Blei auf ihm und auf Heliade lastete. Sie fragte schüchtern, ob sie ihm etwas vorlesen solle, was ihm zuweilen angenehm gewesen war. Er antwortete:
»Ich danke Dir! es würde Dich umsonst ermüden; ich bin nicht im Stande, den fremden Gedanken zu folgen, die eigenen sind zu überwältigend.«
Das arme Kind schwieg und kehrte auch zu trüben Gedanken zurück.
Am andern Morgen erschien die Hausfrau bei Herrn von Horburg und stellte ihm die Frage, ob ihm das Violinenspiel nicht lästig sei.
»Durchaus nicht! Wie kommen Sie darauf?«
»Der Herr Graf hat mir den Auftrag gegeben; denn wenn es Sie stört, will er lieber nicht spielen.«
»Was ist das für ein Graf?«
»Ein junger Graf Gorm, der hier studirt und seit vierzehn Tagen hier ist. Seine Violine kam aber erst vor acht Tagen mit all seinen Sachen aus Bonn, wo er studirt hat.«
»Ich danke dem Grafen Gorm sehr für seine freundliche Rücksicht,« erwiederte Horburg, »und ich bitte ihn, mit seinem vortrefflichen Spiel fortzufahren, wann und so lange es ihm beliebt.«
»Nun das freut mich, denn es wird den Herrn Grafen freuen,« sagte die redselige Frau. »Der ist ganz anders, als die Herren Studiosen zu sein pflegen! . . . nichts von burschikosem Wesen, von Trinkgelagen, von Raufereien! Ein Paar Collegia, seine Bücher, seine Violine, ein Spaziergang: das ist sein Leben, tagein, tagaus. Merkwürdig für einen so jungen Herrn! . . . . Und immer allein. Daher spricht er auch wenig – ganz außerordentlich wenig,« setzte sie mit einer bedauernden und bedenklichen Kopfbewegung hinzu; und Horburg benutzte die kurze Pause, um mit einem Anflug von Ungeduld zu sagen:
»In der That . . . höchst merkwürdig! – Haben Sie also die Güte, dem Grafen Gorm mitzutheilen, daß sein Violinspiel mir viel Vergnügen macht.«
Heliade war zugegen. Als die Hausfrau von einem jungen Mann sprach, der immer allein und schweigsam sei, fiel ihr unwillkürlich ein, daß sie seit kurzer Zeit jeden Morgen, wenn sie in die Messe ging, einen jungen Mann neben dem Weihwasser stehen sah. Sie hatte ihn nie angesehen und ihr dichter schwarzer Kreppschleier hätte ohnehin ihren Blick gehemmt; aber genug, er war ihr aufgefallen und fiel ihr ein. Wenn sie kam, war er schon da, wenn sie ging, war er noch da . . . . und immer auf demselben Platz . . . . und seit etwa vierzehn Tagen. Diese ruhige Regelmäßigkeit stimmte überein mit den Gewohnheiten des Grafen Gorm. Sollte das der Violinspieler sein, der täglich pünktlich in die Messe ging? der Gedanke freute sie; – sie wußte nicht warum.
Abends begannen wieder die himmlischen Klänge. Peregrin spielte schöner und länger als je zuvor. Er trat in einen Seelenverkehr mit Heliade. Aus den Tönen baute er eine Brücke im Reich der Geister auf, um sich ihr zu nähern. Dies wurde die liebste Stunde des Tages für Horburg und Heliade. Der Schmerz, der wie eine Geierkralle sein Herz umspannte, löste sich in Wehmuth auf und war das auch eine vorübergehende Stimmung, so empfand er sowohl als Heliade sie doch als eine große Erquickung – Maienregen auf vertrocknetem Erdboden.
»Graf Gorm ist für Dich wie der Hirtenknabe David, der die Traurigkeit des Königs Saul mit seinem Harfenspiel verscheuchte, mein lieber Vater,« sagte sie zärtlich.
»Armes Kind,« versetzte Horburg, »meine Traurigkeit wird nur flüchtig gemildert, doch nie verscheucht. Neben dem unvergänglichen Gram um Deine Mutter steht die Sorge um Dich! Gegenwart und Zukunft sind schwarz.«
»Nicht die Zukunft, mein lieber Vater! Nicht meinetwegen betrübe Dich! – Gott sorgt für mich . . . . und ich habe ja Dich« – erwiderte sie und küßte seine Hand.
»Armes Kind! was hast Du denn an mir und wie lange wirst Du mich überhaupt noch haben!«
»Sprich nicht so!« rief Heliade; – »ich kann das nicht aushalten! . . . . Meine Mutter ist bei Gott und mein Vater ist bei mir: also bin ich kein armes Kind.«
Er schwieg, um ihr nicht weh zu thun; aber irgend ein tröstliches, ermunterndes Wort wußte er ihr nicht zu sagen und nicht das peinliche Gefühl von ihr zu nehmen, daß sie nur ein Gegenstand der Sorge für ihren Vater – und nicht im Stande sei, ihm Freude oder Trost zu bereiten. Dadurch wird einem jungen Wesen, welches das Bedürfniß und das Verlangen hat, mit dem Herzen zu leben – das Herz in der Brust zerdrückt.
Peregrin hielt das seine mit beiden Händen fest, um nicht jeden Morgen vor Heliade auf die Knie zu fallen und es ihr anzubieten. So mußte sie sein, sie, die er lieben konnte, so vom Himmel herabgestiegen, in solcher unentweihten Zurückgezogenheit lebend, ein solches Ideal der Jungfräulichkeit wie Heliade. Wie sie ging, wie sie stand, wie sie sich regte und bewegte – das Alles war so einfach, so natürlich, so ungezwungen und trug gerade in dieser Einfachheit das feinste Gepräge einer heiligen Züchtigkeit.
Wie soll das werden? fragte er fort und fort sich selbst; – ich kenne sie so gut und liebe sie . . . . natürlich! kennen und lieben fällt zusammen – einer Heliade gegenüber! . . . Aber einem Peregrin? . . . das ist zweifelhaft. Und doch muß sie mich kennen lernen.
Täglich gegen Abend machte Herr von Horburg einen Spaziergang mit Heliade. Peregrin merkte sich genau ihre Tageseintheilung, ihre Gewohnheiten und richtete danach die seinen ein. Aber was half ihm das! – Ich kann sie doch nicht auf dem Spaziergang wie ein Wegelagerer überfallen! dachte er. Zuweilen ging er ihnen aus weiter Ferne nach, so daß er nur gerade Heliadens schlanke, hohe, schwarze Gestalt erkennen konnte. Das war ihm angenehm! so erschien sie ihm als das Geheimniß der Liebe: fern, dunkel, unwiderstehlich anziehend, beseligend.
Zuweilen ging Peregrin seinen Gedanken nach, die ihn eines Tages auf den Weg zum Kaiserstuhl führten. Bei einer Biegung des Weges sah er plötzlich Herr von Horburg vor sich hergehen, aber allein, ohne Heliade. Das ermuthigte ihn. Heute oder nie! dachte er – und holte mit einigen starken Schritten Horburg ein. Dieser blickte auf, als er den scharfen Fußgänger hörte. Da grüßte ihn Peregrin und sagte mit leichter Verlegenheit:
»Ich bin der Violinspieler . . . . und möchte Ihnen danken, daß Sie mich ermuthigt haben, mit meinem Spiel fortzufahren, Herr von Horburg.«
»Ich habe Ihnen zu danken, denn Sie thun mir wohl,« entgegnete Horburg. »Es ist eine seltene Gabe, die Kunst auf eine solche Höhe zu erheben, daß sie zu den Wohlthätern der Menschheit zählt.«
»Würden Sie mich unbescheiden finden, wenn ich Sie bitten wollte, mir das, was Sie Wohlthat nennen, zu vergelten?«
»Gewiß nicht! nur wird die Vergeltung kaum in meiner Macht stehen.«
»Doch! . . . und überschwänglich – wenn Sie mir den Zutritt bei Sich gewähren.«
»Ich lebe sehr zurückgezogen,« sagte Horburg ausweichend; »junge Leute finden bei einem alten Mann keine Unterhaltung.«
»O!« sagte Peregrin zögernd, »ich suche Höheres als bloße Unterhaltung.«
»Und das wäre?«
»Die Hand und das Herz . . . . von Heliade!«
»Von Heliade?« rief Horburg und blieb grenzenlos erstaunt mitten auf dem Wege stehen. »Sie kennen ja gar nicht meine Tochter!«
»Ich kenne sie besser, als ich mich selbst kenne.«
»Nun aber . . . . meine Tochter kennt Sie ganz und gar nicht, Graf Gorm!« versetzte Horburg kalt.
»Das ist leider nur zu richtig!« rief Peregrin; »und da dieser Zustand für mich unerträglich wird, so flehe ich kniefällig um die Gewährung meiner Bitte; denn das ist das einzige Mittel, um demselben ein Ende zu machen.«
Horburg blieb abermals stehen und sah scharf und kühl in Peregrin's Augen.
»Ach Sie fürchten gewiß, daß ich, weil ich so ein Fünkchen musikalischen Genies besitze, auch in die Extravaganz des Genies verfallen könnte,« sagte Peregrin unbefangen.
»Nein!« sagte Horburg kalt, »das fürchte ich ganz und gar nicht. Ich weiß nur nicht, ob Sie ein redlicher Mensch sind.«
Da sah ihn Peregrin mit zwei so guten, schönen, ehrlichen Augen an, in denen sich ein so aufrichtiges Erstaunen über diesen Zweifel aussprach, daß Horburg halb gerührt und halb lächelnd sagte:
»Ja ja, Graf Gorm, das Anschauen hilft gar nichts! Wer sind Sie, woher kommen Sie, was treiben Sie, wie kennen Sie meine Tochter? Das sind Fragen, die mich nahe angehen und die nicht mit einem Blick zu beantworten sind.«
»Ich bin ja glücklich, wenn ich reden darf!« rief Peregrin. Und nun entwickelte er sein Leben und seine Verhältnisse mit den genaueren Einzelheiten und Umständen zur größten Befriedigung Horburgs, der mit tiefem Erstaunen erfuhr, welchen geheimnißvollen Einfluß die ahnungslose Heliade hier geübt hatte. Als Peregrin an die letzte Episode, an seine rasende Rundreise um die Seen der Schweiz kam, sagte Horburg lächelnd:
»Nun, ich sehe denn doch, daß die Extravaganz des Genies auch seine Rolle bei Ihnen spielt.«
»Es kann sein, Herr von Horburg,« entgegnete Peregrin; – »aber an diesem Fall hatte es nicht den geringsten Antheil. Ich suchte nur Heliade . . . . weil ich sie liebe . . . . weil meine Seele ihr zugewendet ist.«
»Das ist eine schöne Liebe,« entgegnete Horburg mit tiefer Rührung, »und ich hoffe, daß Heliade derselben werth ist.«
»Aber wird sie wohl sie erwidern können?« – –
»Graf Gorm, diese ganze Angelegenheit ist so überraschend, so fremdartig, so ungewöhnlich in der civilisirten Welt, daß ich sie weder fördern, noch abbrechen will. Vielleicht entwickelt sich daraus das Glück meines einzigen Kindes . . . und welcher Vater sollte das nicht wünschen! Vielleicht aber fühlt Heliade anders; sie ist einsam aufgewachsen an der Seite ihrer herrlichen Mutter. Ich weiß nicht, was ihre junge Seele bewegt und verlangt; – ich kann Ihnen also durchaus keine Hoffnung geben. Von diesem ganzen Gespräch soll sie kein Wort erfahren. Ein junges Geschöpf könnte sich blenden lassen durch die Vorstellung, eine so tiefe Neigung eingeflößt zu haben. Sie soll sich Ihnen gegenüber vollkommen frei fühlen und frei über sich selbst verfügen. Ich denke, dies entspricht Ihren Wünschen, wenn ich hinzusetze, daß Sie mich besuchen dürfen.«
»Ich bin der glückseligste aller Menschen!« rief frohlockend Peregrin.
»Armes Kind!« sagte Horburg mitleidig. »Das sagten Tausende vor Ihnen . . . . und wurden es nicht.«
»Das kommt daher,« entgegnete Peregrin so ernst, als hätten jene Tausende nie einen ähnlichen Gedanken gehabt, »weil sie ihr Glück bei keiner Heliade in Sicherheit brachten.«
Dann bat er um Erlaubniß, den Spaziergang mit Horburg zu Ende zu bringen und führte die Unterhaltung über allgemeine Gegenstände wie ein gebildeter und denkender Mensch.
»Ich habe auf dem Kaiserstuhl unsern Hausgenossen kennen gelernt,« sagte Herr von Horburg zu Heliade, die an diesem Abend das Sacrament der Buße empfangen und jene Stunden des Spazierganges andächtig in der Kirche zugebracht hatte.
»Ist er so angenehm wie sein Violinspiel?« fragte Heliade.
»Das will ich nicht behaupten; – aber Du wirst ihn kennen lernen, denn er wird mich besuchen.«
»Er ist Dir gewiß angenehm gewesen, lieber Vater,« sagte Heliade, indem sie den Arm um Horburgs Schulter legte und ihn innig anblickte, »denn Du siehst heute etwas weniger traurig aus. Er kann Dich also zerstreuen und erheitern – was ich nicht kann.«
»Geliebtes Kind,« sagte Horburg zärtlich, »wenn ich Dich sehe, denke ich an Deine Mutter . . . und dann blutet mein Herz. Aber so ein fremder junger Mann, mit seinen Hoffnungen, seinen Aussichten, seinem Lebensmuth, der mich an nichts erinnert, ja – der zerstreut mich . . . wenn auch nur oberflächlich.«
»Wie dankbar bin ich dem Grafen Gorm,« sagte Heliade mit schimmernden Augen; – »hoffentlich besucht er recht oft meinen lieben Vater.
In Horburgs bekümmertes Vaterherz war allerdings ein glänzender Hoffnungsstrahl gefallen. Bewährte sich Peregrin, gewann er Heliadens Zuneigung: so war die Zukunft seiner Tochter gesichert, ein schwerer Druck von seiner Brust genommen und er selbst freier in seinen Handlungen und seinem Thun . . . . vielleicht frei genug, um mit ungehemmter Aufmerksamkeit über eine innere Wendung nachdenken und für sie arbeiten zu können . . . . frei genug, um die selbstgeschaffenen Fesseln von sich abzustreifen. Je mehr er darüber nachdachte, desto glückverheißender wurde für Heliade und für ihn diese so ganz unerwartete Erscheinung Peregrins. – –