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»Elf Uhr!« murmelte Friedrich Brandstädter und wechselte in seinem Korbstuhl unter der breitschattenden Kastanie die unbequem gewordene Stellung.
»Was für eine Plebejerin ist die Natur! Sie hat schon die Hälfte ihres Tagewerks hinter sich. Und ich ... ich fange an, es ihr nachzumachen, zu guter Letzt.«
Eine weiche Lässigkeit wie von einer magischen Hand ausströmend, die ihn kaum berührte, hauchte über seine Lider. Das Bild der sonnigen Parkeinsamkeit weit in der Runde stahl sich als letztes schwaches Erinnern in seine verlöschenden Augen und hüllte ihn in Dämmerung wie in einen grünen Schleier.
Brandstädter mochte den Fünfzig nahe sein, vielleicht sie überschritten haben. Das volle dunkle Haar war an den Schläfen ergraut. Auch der schwarze buschige Schnurrbart, der den sinnlichen Mund wie ein Dach überschattete, zeigte manche graue Fäden. Der Ausdruck des im Halbschlaf Zurückgesunkenen hatte etwas Finsteres und Abweisendes. Zwei tiefe Furchen stiegen steil von den breiten Nasenflügeln zu den Mundwinkeln hinab, als seien sie vom Leben selbst hineingepflügt worden, um Bitternis darin zu säen. Die fahle gelbliche Hautfarbe ließ auf die Stubenluft vieler Tage schließen. Und doch glomm es über der breiten schön gemeißelten Stirn, die wuchtig das etwas vergrämte Gesicht beherrschte, und über den scharf und fein geschnittenen Zügen noch wie ein Nachschimmer von versunkener Jugend.
Ein schwaches Flüstern schläferte durch die vielästige Krone des hochstämmigen Kastanienbaumes zu Häupten des Dämmernden und erstarb wieder, erwachte von neuem in einer der alten Buchen, die oberhalb auf dem sanft ansteigenden Wiesenplan in kleinen Gruppen beieinander standen, und verlor sich in der Waldmauer droben auf der Höhe, deren dunkle Wellen den Ewaldschen Park nach Westen hin abschlossen. Es klang wie ein einziges tiefes Atemholen, das von dem sonnenglitzernden Seespiegel zu Füßen des Parkes und den östlichen jenseitigen Uferhügeln ganz sacht heraufschwoll, bis zur westlichen Waldhöhe mählich wieder nachließ und endlich einzuschlafen schien, um gleich darauf ostwärts neuerdings anzuheben und wispernd über die uralten Buchen- und Kastanienwipfel gen Abend hinzustreichen.
Der Himmel funkelte in einem tiefen unergründlichen Meeresblau, das wie eine Kristallglocke über die Welt gestülpt schien. Es mußte wohl Föhn sein, der über die aufgetürmte Alpenmauer, am südlichen Horizont, herübergequollen war und sein blendendes Licht durch alle Weiten des Firmaments ergoß.
Sebastian, der Gärtner, kam langsam den Weg vom Seeufer heraufgeschlurft. Die Sense hing ihm nach rückwärts über die Schulter. Lange hatte man den scharfen Schnitt ihres Stahls durch Gras und Kraut hin aus der Ferne gehört, manchmal dazwischen ein Wetzen und Dengeln, das hart durch die große Stille des Parkes gellte. Jetzt mit der heraufsteigenden Mittagsstunde ruhte die Arbeit.
Bedachtsam näherte sich der Alte, indem er einen Fuß beim Gehen nachzog. Als das Scharren, das sich mit jedem seiner Schritte auf dem Kiesweg vernehmen ließ, ganz dicht herangekommen war, richtete sich Brandstädter aus seinem Halbschlummer auf, mußte aber vor dem stechenden Blitzlicht des Vormittags gleich wieder die Augen schließen. War sie wieder da, die grelle Wirklichkeit der Dinge, vor der er sich in das Dämmerlicht seiner Seele wie in einen grünbleichen Meeresgrund zurückgezogen hatte?
»Sie sind's, Sebastian?« sagte er dann und strich sich wie erinnerungsuchend über die Stirne. »Wir haben uns lange nicht gesehen. Die Zeit vergeht.«
Sebastian nickte und kratzte sich den Kopf. Wie sich die Schirmmütze verschob, sah man den blankpolierten Schädel des Alten rötlich aufleuchten. Ein schmaler Kranz krauser Haare legte sich wie ein grauer Pelzbesatz um Schläfe und Wangen und lief in einen eisgrauen struppigen Vollbart aus, der bis auf die Brust herunterreichte.
»Gut und gern drei Jahre wird es her sein. So lange wie der gnädige Herr jetzt verheiratet ist. Der Herr Doktor sind zum letztenmal auf unserer Hochzeit hier zu Besuch gewesen.«
Die Worte des Alten rannen klar und langsam, ein jedes für sich, von den Lippen, als sollten sie wie Glasperlen fein säuberlich eines nach dem andern auf die Schnur gezogen werden. Die Blicke der scharfen wasserhellen Augen waren unter den weißen borstigen Brauen fest auf Brandstädter gerichtet.
»Wie gut Sie das alles im Kopf haben!« erwiderte dieser und lächelte etwas gezwungen. »Die Chronik von Dietramsried. Es wird mancherlei in den Blättern verzeichnet stehen.«
Der Alte nickte nachdrücklich vor sich hin, ohne die Blicke von seinem versunken dasitzenden Gegenüber abzuwenden, und tippte sich ruhig ein paarmal auf die knochige Stirn.
»Wenn das Köpfchen mal anfängt auszukramen! Was da alles drin verwahrt ist! Aber den Schlüssel dazu ... den sollen sie mal suchen.«
Er hielt die hohle linke Hand vor sich hin und sah aufmerksam hinein, als sei der Schlüssel soeben noch darin gewesen und nun wie durch Zauberei verschwunden.
Brandstädter verzog ein wenig den Mund und legte ein Geldstück in Sebastians noch immer geöffnete linke Hand, die sich langsam schloß und die Münze bedächtig in die weite leinene Pumphose versenkte.
»Verwahren Sie den Schlüssel nur weiter so,« setzte er mit einem müden Lächeln hinzu. »Ich weiß ja, daß man sich auf Sie verlassen kann.«
»Das soll wohl stimmen,« erwiderte Sebastian mit dem Ausdruck redlichster Überzeugung in dem verwetterten und zerfurchten Gesicht. »So wahr die Erde rund ist! Der alte Sebastian weiß Bescheid. Man ist nicht umsonst um den ganzen Kürbis herumgefahren. Da ist nichts gelogen dabei. Und wenn der Herr Doktor irgendeinen Wunsch hat... Es bleibt in der Freundschaft...«
Sebastian hatte in seiner gewohnten ruhigen und überzeugenden Art gesprochen, nur bei den letzten Sätzen seine Stimme etwas gedämpft und auf den Weg hinunter zum See, hinauf zum Herrenhaus gleichmütig seine Augen spazieren geführt. Jetzt nickte er befriedigt, als niemand in Sichtweite erschien, und trat vertraulich einen Schritt näher zu Brandstädter heran. Ein leichter Duft von Kirschgeist wie ein zartes Morgenwölkchen schwebte vor ihm her.
Brandstädter, etwas nervös geworden, rückte unwillkürlich mit seinem Stuhl zurück.
»Schon gut, Sebastian! Schon gut!... Wie alt sind Sie nun eigentlich, Sebastian?«
Der Alte strich sich nachdenklich die faltige Haut über den vorstehenden Backenknochen zurecht, wie jemand, der erst noch ein bißchen Toilette machen möchte, und warf einen kurzen prüfenden Blick auf den vor ihm Sitzenden.
»Im hundertundzweiten,« sagte er dann mit ernstem Kopfnicken. »Jawohl! Im hundertundzweiten. Das kann der Herr Doktor mir wörtlich glauben. Auf Jakobi, in drei Wochen, ist wieder mal so ein Jahresring fertig. Aber der alte Eichbaum steht und steht. Da ist kein Wurm und nichts innen. Der mit der Sense kann nicht dagegen an.«
Er hatte, während er sprach, die Sense von der Schulter genommen und hielt sie mit beiden Händen vor sich auf den Boden gestemmt. Die knöchernen Finger umspannten mit festem Griff den Schaft. Die messerscharfe Schneide blitzte in der Sonne. Ein paar Rostflecken zeichneten sich deutlich darauf ab. Brandstädter hatte das Gefühl, als müsse es Blut sein. Die Gestalt des Alten mit der Sense und jener andere Sensenmann, von dem eben die Rede gewesen war, verflossen ihm in eins. Eine Bemerkung des Alten fiel ihm ein, die er in früheren Jahren von ihm gehört hatte.
»Glauben Sie noch immer, Sebastian, daß er Sie nicht holen wird?« fragte er und ertappte sich selbst darauf, daß er seine Worte flüsterte, als dürfe der, der gemeint war, sie nicht zu hören bekommen.
Der Alte sah ihn forschend an und deutete auf seine Sense.
Brandstädter nickte und faltete die Hände über der Brust, während er zurückgelehnt mit halbgeschlossenen Augen in das funkelnde Blau der Unendlichkeit hinaufstarrte.
»Sie sind also entschlossen, uns alle zu begraben?«
»Wenn's mal sein muß... Ich hab' schon eine ganz runde Zahl begraben.«
Der Alte wischte sich mit dem Handrücken über den Mund, als sei ihm von der guten Aussicht das Wasser darin zusammengelaufen, und schulterte die Sense von neuem auf.
»Wollen Sie denn ewig leben, Mann?« meinte Brandstädter, ohne seine Stellung zu verändern.
»Einer kann ja mal den Anfang machen,« entgegnete Sebastian, »und aller Anfang ist schwer. Das wollen wir ruhig abwarten. Der Kaiser Barbarossa soll ja auch noch immer leben im Berg Kyffhäuser und der ewige Jude erst recht. Den hab' ich selbst gesehen vor jenen Jahren.«
Brandstädter richtete den Kopf ein wenig in die Höhe.
»Sie haben den ewigen Juden gesehen, Sebastian?«
»Mit dem Bündel auf dem Rücken! Auf Ehr' und Seligkeit! Zwischen Jaffa und Jerusalem. Ja, weiß Gott! Wie ich noch zur See gefahren bin, nämlich, muß der Herr Doktor wissen.«
Brandstädter lächelte verschlossen und musterte mit fremdem Blick den Alten, der unter den hundertjährigen Buchen des Parks kein Ende für sich absehen wollte.
»Kriegen Sie's denn gar nicht satt, Mann?« hob er nach einem Weilchen wieder an. »Ihr ewiges Graben und Hacken, Säen und Ernten! Langweilt Sie das nicht zu Tode?«
Der Alte stand vor ihm, die Sense auf der rechten Schulter, und hielt die scharfen wasserhellen Augen unter den borstigen Brauen fest auf ihn gerichtet. Eine weiße Haarsträhne fiel ihm rückwärts auf den groben Hemdkragen. Zwischen den tausend Runzeln und Äderchen seines wetterbraunen Gesichts blinzelte es wie flüchtiger Sonnenschimmer durchs Gewölk.
»Satt kriegen?« antwortete er. »Nein! Das man ja nicht! Satt kriegen, das heißt so viel wie kapitulieren.«
Er rückte die Sense ein wenig auf der Schulter und deutete auf die teppichbunten Parkwiesen.
»Die Butterblumen, die kriegen es satt, die nimmt die Sense, aber was eine richtige Distel ist... Gott bewahre! So was wächst immer wieder nach. Ja! Ja! So was gibt Arbeit für einen alten Gärtnersmann.«
Er nickte nachdrücklich vor sich hin und schlurfte leise murmelnd weiter, den sanft ansteigenden Kiesweg entlang. Nur wenige Schritte oberhalb gabelte sich der Pfad. Geradeaus ging es höher in den Park hinauf und durch eine wellige Mulde dem Waldkamm entgegen, der oben als langgezogene dunkle Mauer in den leuchtenden Junihimmel zackte. Rechts führte eine kurze Kastanienallee zum Ewaldschen Herrenhause, dessen gelblicher zweistöckiger Bau halb versteckt zwischen Büschen und Bäumen blinkte.
Als der Alte gerade an der Stelle war, wo der rechte Wegast abbog, trat ihm Nina von Ewald aus der Kastanienallee vom Herrenhause her entgegen. Sie war nicht mehr als mittelgroß, aber so gut gewachsen, daß sie größer erschien, als sie war, und konnte Mitte, höchstens Ende Zwanzig sein.
Sie hatte aschblondes, ins Silberne schimmerndes Haar, von dem die dunklen Brauen und Wimpern auffallend abstachen, eine gerade, griechisch geschnittene Nase und schmachtende rote Lippen. Ihre biegsame, jugendlich volle und zugleich mädchenhafte Gestalt im lichtblauen Morgenkleide von kimonoartigem Zuschnitt wiegte sich beim Gehen leicht in den Hüften, was der ganzen Erscheinung etwas Schwebendes, Rhythmisches und zugleich Lässiges, Sinnliches gab. Im Gegensatz dazu schienen die sehr regelmäßigen Züge ihres Gesichts eher einen herben, ja strengen Ausdruck zu tragen. Wenigstens in Augenblicken der Versonnenheit wie jetzt, wo sich in ihre wohlgebildete Stirn eine tiefe Falte senkrecht bis zur Nasenwurzel eingegraben hatte und einen dunkeln Schatten in die mädchenhafte Klarheit des übrigen Gesichts tuschte.
Sie bemerkte Sebastian erst, als sie in seiner nächsten Nähe war, und fuhr mit einem kleinen Schrei zusammen. »Mein Gott! Bin ich erschrocken!... Die verrückten Nerven!« setzte sie nach einem Augenblick kopfschüttelnd hinzu. »Man braucht doch vor Ihnen keine Angst zu haben, Sebastian?«
Sie stand beobachtend, ein wenig lauernd vor ihm und verschränkte die Arme ineinander. Über ihr Gesicht irrte ein ungewisses Lächeln.
»Wie ist das, wenn man so alt ist, Sebastian? Früher bin ich immer vor alten Leuten weggelaufen. Ich weiß selbst nicht, warum. Vielleicht weil ich mir eingebildet habe, die sind so alt, daß sie von Rechts wegen gar nicht mehr am Leben sein dürften, und man spräche mit jemandem, der eigentlich gar nicht mehr auf der Welt ist. Irgend so etwas ganz Dummes!... Nein! Aber sagen Sie mir, Sebastian, wie ist das, wenn man so ganz... ganz alt ist?«
»Da muß die gnädige Frau schon bei wem anderen fragen,« entgegnete Sebastian kopfnickend und bedächtig. »Bei einem, der noch hübsch ein paar Jährchen älter ist als unsereiner. Vielleicht, daß so einer Bescheid weiß.«
Nina hatte schon nicht mehr auf die Antwort des Alten gehört. Sie war ganz in ihren Gedanken und schien nach dem passenden Ausdruck dafür zu suchen.
»Ich meine,« fuhr sie fort, »wie das sein muß, wenn man so uralt ist, das Leben liegt hinter einem, alles, was schön ist, man hat nichts mehr zu erwarten, nichts, nichts... Und da hinten, da steht...«
Sie stockte unwillkürlich und schauerte leicht zusammen.
»Da hinten, da steht der hier,« ergänzte Sebastian und schüttelte mit einem kurzen festen Griff den Schaft seiner leise klirrenden Sense. »I! das sind so Gedanken für junge Leute. Später ist einer froh, wenn er das Leben hat und seine Arbeit machen kann. Der hier kommt schon, wann er soll, oder manchmal auch nicht. Das ist so und so, wie es gerade für einen bestimmt ist.«
Er rieb sich nachdenklich hinter dem Ohr und trollte sich mit der Sense auf der Schulter langsam weiter. Bei jedem Schritt kratzte sein linker etwas nachgezogener Fuß vernehmlich auf dem Kiesweg.
Nina blickte ihm nach und schüttelte den Kopf wie über etwas Unbegreifliches, das aber doch da war und sich nicht ableugnen ließ. Nach ein paar Schritten wandte der Alte sich noch einmal um und legte den Zeigefinger bedeutsam an die Nase. Die scharfen Augen unter den weißen Brauen blinzelten listig.
»Heute abend wieder im Parkhaus?... Wie sonst?«
Nina nickte ihm hastig ein paarmal zu und bedeutete ihm, zu schweigen. Ihre Wangen, soeben noch von auffallender Blässe, hatten sich leicht gerötet.
»Schon gut!« murmelte Sebastian. »Die gnädige Frau weiß ja, der Alte ist auf dem Posten.«
Sie warf einen schnellen Blick in die Runde und flüsterte ihm zu:
»Wenn Sie kein Zeichen bekommen, dann heute nicht. Dann gehen Sie nur schlafen.«
»Schlafen gehen!« brummte Sebastian. »Das sagen die jungen Leute so.«
Nina sah ihm von neuem nach, wie er sich hüstelnd auf dem sacht ansteigenden Kiesweg entfernte. Jetzt stand er gerade auf der kleinen Anhöhe, über deren Rand es in die Wiesenmulde und zu dem dort eingebetteten Bachgrund hinunterging. Die dunkle vornübergebeugte Gestalt in dem blendenden Mittagslicht schien sich zu einem großen schwarzen Fragezeichen aufzurecken. Die leicht gebogene Schneide der Sense blitzte wie eine liegende Mondsichel auf dem tiefblauen Sammetgrund des in grenzenloser Weite dahingespannten Himmels.
»Nein! Dann lieber jung fort!« durchzuckte es die noch immer in Sinnen Dastehende. Aber sogleich wehrte sie den düstern Gedanken, der nicht zum erstenmal kam, mit einer unwilligen Gebärde ab und ging rasch die wenigen Schritte bis zu Brandstädters Platz hinunter.
»Hast du gehört, was wir sprachen?« fragte sie mit einem schnellen Blick auf Brandstädter, der wieder ganz in sich versunken fortzudämmem schien, und zog sich einen roten Korbstuhl heran, so daß sie etwas seitwärts von Brandstädter zu sitzen kam und ihn mit einer leichten Wendung des Kopfes bequem beobachten konnte.
»Schläfst du, oder willst du nicht antworten?« forschte sie nach einem Weilchen, als Brandstädter noch immer schwieg.
»Ich pflege nicht zu horchen,« antwortete dieser, ohne den Kopf von der Brust zu heben. »Was ich erfahren will, erfahre ich auch so. Wer die Bibel kann, braucht nicht mehr die Fibel.«
Nina dachte einen Augenblick nach.
»Das soll also heißen, du weißt schon wieder alles? Du hast dir schon wieder deinen Vers zurechtgemacht?«
»Ich habe Rudolf Bartholdy immer eine Zukunft gegeben,« erwiderte Brandstädter. »Ihr seid nicht umsonst beide bei mir in die Schule gegangen, jeder auf seine Weise.« Nina sah ihn von der Seite an und biß sich auf die Lippen. Plötzlich brach sie in ein helles Lachen aus, das ihre blassen Wangen mit einer rosigen Anmut gleichsam von innen her durchleuchtete.
»Du bist dir treu geblieben, wie es scheint. Du klopfst auf den Busch und denkst, irgend was wird schon zum Vorschein kommen... Aber selbst wenn es so wäre...«
»Du gibst es also zu,« fiel Brandstädter ein.
»Unsinn! Ich gebe nichts zu. Kein Wort gebe ich zu. Aber selbst wenn irgend etwas vorläge, meinst du, ich würde es dir auf die Nase binden? Nein! Auf so plumpe Art kannst du mich nicht fangen.«
Sie schien den Gedanken sehr erheiternd zu finden, denn sie lachte von neuem hell auf und musterte mit spöttischer Miene das Gesicht des andern.
»Fritzchen! Fritzchen! Die alten Schliche!«
Sie strich ihm mit einer schnellen Bewegung über das Haar und nickte befriedigt.
»Noch der volle Schopf wie früher! Ein bißchen grau geworden. Sonst alles dasselbe... O Raubtier! Immer noch nicht gezähmtes Raubtier!«
Brandstädter hatte sich willig der schmeichelnden Berührung ihrer weichen Hand überlassen. Er fühlte ein leises Prickeln, das ihn von Kopf zu Fuß durchrieselte. Seine Haare knisterten. Er hatte die Augen geschlossen und dachte zurück. War das nicht wie vor Zeiten? Das helle hohe Atelier bei seinem Freunde, dem Maler Sorgius, dessen Stern erst nachher aufgehen sollte und jetzt so hoch im Zenit stand ... Nina als Modell einer Leda oder Jo... Sorgius malte ja damals tagaus, tagein nichts anderes als diese sinnlichen, fleischlichen, verlangenden Erdentöchter und nackten Göttinnen, die er dann aus Mangel an Käufern an alle seine Freunde verschenkte und die ihm nachmals mit Gold aufgewogen wurden...
Ein Nachmittagsbesuch im Atelier... Sorgius war abgerufen worden, sollte erst nach einer Weile wiederkommen ... Nina saß wartend im sandfarbenen Staubmantel auf dem gichtbrüchigen Junggesellensofa des Malers, ganz vertieft in die Betrachtung ihres eigenen jungen Körpers, der ihr von der nahen Staffelei entgegenleuchtete ... Wenige Worte hatten die Bekanntschaft gegeben... Ein schnelles Ineinandertauchen der Blicke, grüßend, begehrend, umwerbend... Ein vergleichendes Hin und Her zwischen dem Mädchenbild auf dem Sofa und dem auf der Leinwand... Warmes Nachmittagslicht des Spätsommertages... Wie war es doch gekommen? ... Er hatte neben ihr auf dem Sofa gesessen... Schulter an Schulter, Knie an Knie... Eine leichte weiche Hand war über sein knisterndes Haar geglitten... Ein Prickeln und Rieseln durch alle Glieder...
Brandstädter schlug die Augen auf und mußte sich einen Moment besinnen, wo er sei. Ganz recht! Das war nun zehn Jahre her, bis auf die paar Monate, die noch daran fehlten. Zehn Jahre Leben, eigenes und fremdes. Und Leben war Werden, Wachsen, Kämpfen, Leiden, Aufsteigen, Absteigen ... Wie man gerade an der Reihe war.
»Ja, du hast deinen Weg gemacht, Nina,« sagte er und hatte noch immer diesen etwas abwesenden Ausdruck. »Die kleine Schauspielerin am Walhalla-Theater... Das Modell bei Sorgius hoch oben im Atelier... Der ist übrigens auch mit Siebenmeilenstiefeln gegangen seitdem, wie du weißt. Ja, das ist eine hübsche Strecke Wegs, Nina, von der blonden Jo, die man auf der Staffelei vor sich hatte, und von der Danae mit dem symbolischen Goldregen bis zu dem Schloß hier hinter unserem Rücken.«
»Nennst du es ein Schloß?« fragte Nina mit einem befriedigten Lächeln. »Es ist ja nur ein altes Landhaus. Deine dichterische Phantasie übertreibt wieder einmal.«
»Und bis zu dem Park hier,« fuhr Brandstädter fort, »wo es sich unter den Großvaterbäumen sehr beschaulich nachdenken läßt. Und das wirst du mir zugeben, daß er ja auch etwas geräumiger ist, als unsere enge Klause in der Lohengrin-Straße, wo du mich manchmal besuchtest, wenn dir deine übrigen Verpflichtungen Zeit dazu ließen.«
Nina runzelte ärgerlich die Stirn.
»Was ist das wieder für ein dummes Zeug! Deine übrigen Verpflichtungen! Wie das klingt! Deine übrigen Verpflichtungen! Als ob man Gott weiß was...«
Der Ton, in dem sie Brandstädters Worte wiederholte, hatte etwas drollig Übertriebenes. Ihr Kopf war zurückgeworfen. Ihre Blicke flogen ins Weite, über den blanken Seespiegel fort, der unten zwischen den Uferweiden aufblitzte, und hinüber zu den jenseitigen Höhen, als ob von da drüben aus der bläulichen Ferne die Zeugen ihres Lebens auftreten müßten.
Brandstädter lächelte schwach.
»Wir alle haben Verpflichtungen. Warum hättest du keine haben sollen?« Nina nickte lebhaft.
»Natürlich! Warum hätte ich keine haben sollen! Wer es war alles ganz harmlos. Der Einzige, mit dem ich wirklich zu tun hatte, warst du.«
Sie warf einen flüchtigen Seitenblick nach Brandstädters Gesicht, aber keine Miene darin verzog sich.
»Du stellst mich überhaupt als ein ganz verworfenes Geschöpf hin!« fuhr sie fort, und ihr Ton klang wieder sehr sicher.
Brandstädter zuckte gleichgültig mit den Achseln.
»Das Wort existiert nicht in meinem Lexikon. Du hast dein Leben auf deine Art gelebt und konntest nicht anders. Wenn eine Katze Vögel frißt oder ein Nachtfalter ins Licht fliegt, so tun sie, was sie müssen. Ich nenne niemand und nichts in dieser Welt verworfen.«
»Schöne Grundsätze!« rief Nina. »Du warst mir ein netter Lehrer! Wer weiß, wo ich hingekommen wäre, wenn ich dir weiter gefolgt wäre!«
»Du bist nach Dietramsried damit gekommen, mein Kind. Frau von Ewald darf sich bei ihrem einstigen Lehrer bedanken.«
Brandstädter neigte ein wenig den Kopf und lehnte sich wieder in seinen Korbstuhl zurück, die halbgeschlossenen Augen in das glitzernde Blau der Unendlichkeit gerichtet.
Nina hatte sich vorgebeugt und betrachtete ihren Nachbarn mit einer gewissen forschenden Neugierde.
»So sieht also ein Mensch ohne Gewissen aus! Ich hatte es beinahe vergessen unter den Parkbäumen hier, die Jahre durch.« »Hattest du mich vergessen?« warf Brandstädter hin, ihren Blick auf eine verschleierte Weise erwidernd. »Ich habe dir ja auch Zeit dazu gelassen. Dein Frieden hier unter den Parkbäumen ist nicht von mir gestört worden. Du hast dich unbehindert ausleben können. Jetzt bin ich allerdings da.«
Nina sah ihn betreten an.
»Das sagst du so sonderbar! Du kommst mir überhaupt recht merkwürdig vor, seit du jetzt hier bist.«
»Es war ja vielleicht mein Geschäft auf dieser Welt, merkwürdig zu sein. Du hattest das nur vergessen.«
»Gott sei Dank! Das wäre etwas Schönes gewesen, mit deinen Grundsätzen hier auf dem Lande, in der Einsamkeit!«
»Unter dem Rauschen der Bäume! Das du früher nie recht vertragen konntest. Also auch das hat sich geändert ...«
»Nichts hat sich geändert! Das macht mich oft ganz verrückt und melancholisch, dieses schreckliche Rauschen, Tag für Tag! Es ist, als ob man sein Leben ganz hörbar, ganz fühlbar verrauschen sieht.«
Nina hatte den Kopf in die Hände gedrückt, wie wenn sie die Ohren verschließen wolle vor der eintönigen Melodie, die der Wind gerade wieder vom Seegestade her durch die dunklen Wipfel der hundertjährigen Buchen und Kastanien heraustrug.
»Frau von Ewald und die kleine Nina von ehedem, das scheint also doch nicht so weit auseinander,« sagte Brandstädter und verzog sein Gesicht zu einer Art von Lächeln. »Vielleicht auch in andern Dingen nicht. Zum Beispiel mit den gewissen Grundsätzen, die man abgelegt haben will. Das ist wie mit dem Gehen und Atmen. Man weiß gar nicht mehr, daß man es tut. Es geschieht unbewußt. Aber deshalb geschieht es doch.«
Sie hatte den Kopf etwas zurückgebogen und jetzt sah man, daß ihre griechisch geschnittene Nase ein ganz klein wenig abgestumpft war und kaum merkbar in die Höhe ging. Brandstädter erinnerte sich plötzlich, diese Beobachtung schon am ersten Tage ihrer Bekanntschaft gemacht zu haben.
Ninas Ausdruck veränderte sich. Sie brach in ein helles Lachen aus.
»Weißt du, wie du jetzt aussiehst?« sagte sie zu Brandstädter, der im Nachdenken, wie er es manchmal zu tun pflegte, die Augen verdreht hatte. Sie wollte etwas sagen, besann sich aber.
»Nein! Nichts! Es fiel mir nur so ein, wie man das Weiße in deinen Augen sah. Ich glaube, es war am ersten Tag bei Sorgius oben im Atelier. Du hattest das schon damals an dir. Ich mußte so lachen...«
»Und äußertest,« ergänzte Brandstädter mit ernster Miene, »ich sehe aus wie ein Kalb, das gerade abgestochen wird.«
»Pfui!« lachte Nina. »Was für ein Ton das damals war!«
Aber sie wurde sogleich wieder ernst und fuhr lebhaft fort:
»Was sollte das vorhin heißen? Deine dumme Bemerkung gleich zu Anfang?«
Brandstädter sah sie unter halbgeschlossenen Lidern fragend an. »Nun ja, deine Anspielung auf Rudolf. Du bildest dir doch wohl nicht ein, daß ich Ewald untreu bin?«
Sie hatte unwillkürlich ihre Stimme etwas gedämpft und warf einen schnellen Blick nach rückwärts, einen zweiten dann auf Brandstädters Miene. Aber es schien nichts darin vorzugehen. Die Augendeckel waren ihm fast ganz zugefallen, so daß es aussah, als seien Fensterläden bis auf einen schmalen Spalt heruntergelassen.
»Habt ihr eigentlich Bartholdys schon lange bei euch?« fragte er nach einer Pause mit etwas gelangweiltem Ton und kreuzte die Arme unter seinem Kopf.
Ninas blasse Wangen überflog wieder eine schnelle Röte, die ebenso rasch verblich.
»Meine Schwägerin ist seit über einem Jahr bei uns im Hause,« antwortete sie leichthin. »Ihr Mann, der Geheimrat, war vor ein paar Jahren gestorben. Hans Lebrecht wollte nicht, daß sie so allein steht in der Welt. Die beiden Geschwister lieben sich ja so zärtlich. Sie ist eine prachtvolle Frau. Ich verehre sie sehr.«
Brandstädter nickte ein wenig.
»Da tust du recht und wohl daran, mein Schatz. Sophie von Ewald ist das Höchste, was man sein kann: eine Natur. Wir sind zusammen jung gewesen, wenn man so sagen darf. Nur mit dem Unterschied, daß sie es geblieben ist.«
Nina wandte etwas neugierig den Kopf zu Brandstädter.
»Du hast sie wohl einmal geliebt? Sie ist ja noch jetzt eine schöne Frau. Gesteh es nur, ihr habt euch einmal geliebt! Vielleicht liebst du sie heute noch?« Sie hatte ziemlich rasch gesprochen und dabei im Gesicht ihres Nachbarn zu lesen versucht.
Brandstädter strich sich nachdenklich das Kinn.
»Sophie Ewald war eine Flamme, die leuchtete, die wärmte. So wie die Sonne nur leuchtet und erwärmt, mag ihre eigene innere Glut auch noch so groß sein. Aber sie bleibt zu fern. Jedes nahe Feuerchen übertrifft die Sonne an Glut für uns. Wir versengen und verbrennen uns an den nahen Feuerchen und nicht an den fernen Sonnen.«
»Es scheint, daß das ein Vergleich sein soll,« sagte Nina und senkte ein wenig den Kopf.
Brandstädter nickte.
»Es scheint so.«
»Zwischen Sophie und den... den andern, die du geliebt hast?«
»Zwischen der Sonne, die leuchtet, und dem Feuerchen, das brennt. Aber da man aus Fleisch und Blut ist und von dem Feuerchen nicht loskommt, so genügt die Qual für ein Menschenleben.«
Nina hatte den Kopf tiefer gesenkt. Ihre Lider waren halb geschlossen, ihr Mund mit den schmachtenden Lippen leicht geöffnet. Ihr Ausdruck hatte etwas merkwürdig Gespanntes, wie in Erwartung eines Augenblicks höchster schmerzlicher Lust.
Als sie ein paar Momente so verharrt hatte und Brandstädter schwieg, sagte sie, indem sie ihn etwas unsicher von unten her ansah:
»Du sprichst ja nichts? Warum sprichst du nichts?«
»Du weißt jetzt, weshalb ich hier bin,« sagte Brandstädter und starrte unbeweglich vor sich hin. Sie behielt ihre lauernde Stellung bei. Jedes Wort des anderen schien ihr wie eine warme Welle, die sie über ihre Glieder hinrieseln fühlte.
»Du wirst mir doch nicht erzählen wollen, daß du mich noch immer nicht vergessen hast?« sagte sie nach einer kurzen Pause halblaut. »Ein Genie wie du muß doch mit so etwas fertig werden. Es mußte doch einmal aus sein zwischen uns. Das Unglück damals mit deiner Frau...«
Sie hatte sich in Eifer gesprochen. Brandstädter war zusammengezuckt. Sie hielt unwillkürlich inne und legte die Hand auf seinen Arm.
»Weißt du auch, daß ich manchmal das Gefühl habe, ich bin mit schuld an ihrem schrecklichen Ende? Ja! Ja! Glaube mir nur! Ich sehe sie oft vor mir. Sie kommt mich anklagen in der Nacht.«
Brandstädter hatte sich mit einem Ruck erhoben.
»Laß die Toten aus dem Spiel!«
Nina nickte versunken vor sich hin.
»Davon willst du nichts hören. Ich sage dir, ich bin ganz anders dadurch geworden. Ich habe viel durchgemacht in diesen Jahren. Die alten Bäume und das Haus da können davon erzählen.«
Sie war ebenfalls aufgestanden und legte Brandstifter die beiden Hände auf die Schultern.
»Es mußte einmal aus sein. Es ging nicht anders. Sei doch vernünftig! Du hast es ja selbst gewollt, daß ich Ewald nahm. Du hast uns ja zusammengebracht.« Sie hatte ganz dicht in ihn hineingesprochen und schien auf eine Antwort zu warten. Aber Brandstädter schwieg, den Blick ins leere gerichtet. Vom See kam der prustende Pfiff eines Dampfers, der nicht mehr allzu fern schien.
»So rede doch! Rede doch!« rief sie und schüttelte ihn. »Warum leidest du so? Es ist schrecklich, einen Menschen so leiden zu sehen!«
»Dort kommt Rudolf Bartholdy,« erwiderte er und deutete auf einen der Parkwege, die links von der Waldhöhe zur Bachmulde herunter schnitten.
»Still! Kein Wort mehr von dem dummen Zeug!« sagte sie hastig, aber mit großer Bestimmtheit und zog ihn am Arm fort. »Er kommt von der Probe. Wir gehen ihm entgegen. Ich bin neugierig, wie die Probe war.«